Bund fürs Leben - Hanno Charisius - E-Book

Bund fürs Leben E-Book

Hanno Charisius

5,0

Beschreibung

Immer mehr Forschungsergebnisse aus Medizin und Biologie zeigen: Der Einfluss von Bakterien auf unsere Gesundheit, unsere Stimmung und unser Denken ist immens. Es fragt sich, wer in unserem Körper eigentlich das Sagen hat. Gleichzeitig glauben wir, Mikroben mit Desinfektionsmitteln und Antibiotika in Schach halten zu müssen. Damit stören wir jedoch das fein justierte Ökosystem des menschlichen Körpers – und verursachen womöglich Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Allergien, Herzkreislaufleiden und Krebs. Hanno Charisius und Richard Friebe machen den Leser mit seinem "Mikrobiellen Ich" bekannt. Sie erklären umfassend, wie die über Millionen Jahre bewährte Beziehung zwischen Menschen und Mikroben unser gesamtes Leben bestimmt und wie wir gesund und in Frieden mit unseren Untermietern leben können. Nominiert für das Wissensbuch des Jahres 2014 - verliehen von Bild der Wissenschaft.

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Hanno Charisius, Richard Friebe

BUND FÜRS LEBEN

Warum Bakterien unsere Freunde sind

Mit Illustrationen von Veronique Ansorge

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2014 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Thomas Gerhardy

Umschlaggestaltung: Birgit Schweitzer, München, unter Verwendung von Illustrationen von © Dawn Hudson – Fotolia.com

Illustrationen: Veronique Ansorge – Fotolia.com/Dawn Hudson – Fotolia.com

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printed in Germany

ISBN 978-3-446-43879-8

E-Book-ISBN 978-3-446-43928-3

INHALT

Einleitung

TEIL I

1 Superorganismus Mensch

2 Expeditionen ins Wir-Reich

3 Die Darm-WG

4 Uralte Feinde, alte Freunde

5 Die Farmen der Tiere

6 Eine kurze Geschichte der Mikrobiologie

7 Auf der Suche nach dem verlorenen Keim

8 Mikroben-Liebe

TEIL II

9 Antibiotika – eine ökologische Katastrophe

10 Wenn Paracetamol zum Gift wird

11 Die zwei Geburten des Menschen und die Sache mit dem Kaiserschnitt

TEIL III

12 Die Schule des Immunsystems

13 Übergewicht, Diabetes und der Einfluss der Mikroben

14 Bauchgefühle – wie Bakterien unsere Psyche beeinflussen

15 Die K-Frage – fördern und verhindern Mikroben Tumoren?

16 Bazillen statt Betablocker?

17 Der kranke Darm

TEIL IV

18 Joghurt für ein langes Leben

19 Milliardenspende für die Gesundheit

20 Die Bak-Strategie – personalisierte Medizin für jedes Mikrobiom

TEIL V

21 Spülen, Entschlacken, Sanieren, Kassieren

22 EM: 80 Mikroben für die Welt

23 Die Darm-AG

Ausblick

Das Reich der Körpermitte

Wer seid ihr, und wenn ja, was macht ihr?

Bund fürs Leben – ein neues Menschenbild

Was Bakterien brauchen

Bakterien und Persönlichkeit

Bakterien und Privatsphäre

Der innere Gärtner

Warum Bakterien unsere Freunde sind

Literaturhinweise und Erläuterungen

EINLEITUNG

»Die Abhängigkeit der Darmmikroben vom Essen macht es möglich, Maßnahmen zu ergreifen, um die Flora in unseren Körpern zu modifizieren und die schädlichen Mikroben durch gute Mikroben zu ersetzen.«

Ilja Metschnikow, 1908

Bakterien sind unsere Feinde. Sie sind Krankheitserreger. Sie sorgen für üble Gerüche. Wo sie sind, ist es nicht sauber, und was nicht sauber ist, das ist nicht gut. »Antibakteriell« ist eines der wenigen Wörter mit »Anti-« am Anfang, das in unseren Ohren einen positiven Klang hat. Und wir schaffen es seit einiger Zeit, mit antibakteriellen Mitteln und mit Antibiotika Bakterien so effektiv umzubringen wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Antibiotika haben, seit sie im Zweiten Weltkrieg erstmals eingesetzt wurden, unzähligen Menschen mit akuten Infektionen geholfen, ja das Leben gerettet, und sie gehören heute zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten überhaupt. Wir desinfizieren und putzen, so gut wir nur können. Wir vermeiden Keime, wo es nur geht.

Trotzdem sind wir heute nicht unbedingt gesünder als zu jenen Zeiten, als Hygiene ausschließlich aus Wasser und Seife bestand. Genau seit der Zeit, zu der wir begannen, im großen Stil Krieg gegen Bakterien zu führen, haben Krankheiten und Gesundheitsprobleme, die zuvor eher selten waren, extrem an Häufigkeit zugenommen: Diabetes, krankhafte Fettleibigkeit, Allergien, Autoimmunkrankheiten sind nur ein paar Beispiele dafür. Ist diese Gleichzeitigkeit reiner Zufall? Oder kann es sein, dass unsere erfolgreiche Keimbekämpfung uns diese Art unbeabsichtigter Risiken und Nebenwirkungen beschert hat? Stören wir ein über Jahrtausende, ja Jahrmillionen eingependeltes Gleichgewicht zwischen uns und den Mikroben in uns, an uns und um uns herum? Und macht uns das krank? Sind Bakterien also sehr häufig nicht unsere Feinde, sondern unsere Freunde?

In diesem Buch wollen wir versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Transplantation ohne Skalpell

Das Internet ist für viele Kranke mittlerweile eine mindestens ebenso wichtige Anlaufstelle wie der Hausarzt. Leute mit chronischer Darmerkrankung sind in den Jahren 2012 und 2013 häufiger auf der Website des Musikvereins Grabenstätt gelandet. Die rührigen Musikanten vom Chiemsee bitten dort um »Stuhlspenden«, um den Bau ihres neuen Probenhauses finanzieren zu helfen. Eine Stuhlspende heißt dort: symbolisch einen der Stühle, die im Probenraum stehen werden, für 50 Euro kaufen und dem Verein überlassen.

Das allerdings interessiert jemanden, der an chronischer Darmentzündung leidet, eher nicht.

Wer im Internet Informationen über Stuhlspenden sucht, den plagen Schmerzen im Bauch, Durchfälle, auch Fieber und Nahrungsmittelüberempfindlichkeiten, manchmal zusätzlich sogar ganz andere Leiden von Immunschwächen bis Herzbeschwerden. Eine Stuhlspende, bestehend aus nichts anderem als ein bisschen Darminhalt eines Menschen, der keine dieser Beschwerden hat, soll Linderung oder gar Genesung bringen. Fäkaltransplantation heißt eine solche Übertragung von Darm zu Darm auf Medizinerdeutsch. Das Prinzip: Im Stuhl eines gesunden Menschen, also in seinen Fäkalien, lebt wahrscheinlich auch ein gesunder Bakterienmix, im Stuhl eines Darmkranken ein kranker. Bringt man den gesunden Bakterienmix erfolgreich und nachhaltig in den kranken Darm, dann sollte auch der Darm gesunden.

Es ist, als ob man im Fußball die gesamte Mannschaft auswechselt. Als ob man die untereinander und mit dem Trainer zerstrittenen müden Kicker – sagen wir mal: des HSV im Herbst 2013 – herausnimmt und elf Neue aus dem eingespielten, individuell starken, gut vom Trainer eingestellten Kader von Borussia Dortmund oder Bayern München auf den Rasen schickt.

Vor ein paar Jahren lehnten Mediziner Stuhlspenden und Stuhltransplantationen noch fast durchweg ab. Inzwischen aber haben höchstens noch Pharmaunternehmen, die in dem Naturprodukt Konkurrenz für ihre alten und neuen Darmmedikamente sehen, Probleme mit dem Konzept. In Wissenschafts- und Mediziner-Fachzeitschriften steht immer häufiger davon zu lesen.

Wandel in wenigen Jahren

Ein Blick in die Ausgabe des altehrwürdigen Deutschen Ärzteblattes vom 15. Februar 2013: Dort beschreibt eine Gruppe von Internisten aus Ulm zum allerersten Mal in einer Fachpublikation eine »Stuhltransplantation bei therapierefraktärer Clostridium-difficile-assoziierter Kolitis« in Deutschland.1

Kolitis heißt Darmentzündung. Therapie-refraktär heißt: Die Darmentzündung kommt nach Behandlung immer wieder zurück. Clostridium difficile heißt das Bakterium, das bei solchen Erkrankungen offensichtlich die Schwierigkeiten macht. Stuhltransplantation heißt … aber das erwähnten wir ja bereits.

Selbst aus den medizinisch-nüchternen, in Fachsprache gehaltenen Formulierungen auf diesen acht Seiten kann man leicht herauslesen, wie verzweifelt die 73-jährige Patientin nach immer wieder neuen Antibiotika-Therapien gewesen sein muss. Auf eine kurze Besserung der Symptome von Bauchschmerz bis Durchfall folgte immer ein erneuter Absturz in einen noch schlimmeren Gesamtzustand. Man kann sich auch denken, wie ratlos die Ärzte gewesen sein müssen: optimale klinische Versorgung, neue Medikamente, dann Besserung und Labortests, in denen der Clostridium-Keim nicht mehr nachzuweisen war, und dann ein paar Wochen später Rückkehr des Pathogens, verschärfte Rückkehr der Symptome – und Rückkehr der Patientin in die Klinik.

»Solche Leute sind verzweifelt und oft massiv beeinträchtigt in ihrer Lebensqualität, sie sind auch psychisch stark belastet, haben zum Beispiel Angst, irgendeine Einladung anzunehmen und dort dann etwas zu sich zu nehmen«, sagt Thomas Seufferlein, Chef der Klinik für Innere Medizin I der Uniklinik Ulm. Er hat jenen ersten in Deutschland in einem Fachmagazin dokumentierten Fall begleitet.

Um es kurz zu machen: Der damals 73-Jährigen geht es seither gut, sie fühlt sich wie neu geboren und ist es zum Teil tatsächlich. Neu ist ihr Mikrobiom im Darm, die Gemeinschaft von Abermilliarden Bakterien, die normalerweise bei uns mitisst und uns gleichzeitig Nahrung zur Verfügung stellt, die sich normalerweise für ihren Träger oder ihre Trägerin außer über einen gelegentlichen Pups kaum bemerkbar macht. Die Dame bekam, nachdem ihr Darm gereinigt und sie noch einmal ordentlich mit Antibiotika behandelt wurde, über einen Koloskopieschlauch Fäkalien ihrer 15-jährigen Enkelin verabreicht. Es ging ihr umgehend besser. Genetische Analysen hätten gezeigt, sagt Seufferlein, dass sie nun tatsächlich eine Bakterienmischung in sich trägt, die der von ihrer Stuhlspenderin entspricht. Anders als bei den vorherigen Behandlungen ist also die alte, ungünstige Bakterienmischung nicht zurückgekehrt, auch Clostridium difficile ist nicht mehr nachweisbar.

Inzwischen, so erzählt uns Seufferlein im November 2013, haben er und seine Kollegen acht weitere Patienten so behandelt, sieben von ihnen sprachen beim ersten Versuch auf die Stuhltherapie an, der achte beim zweiten. »Allen geht es gut«, berichtet der Professor. Er weiß von etwa 20 anderen Gruppen von Internisten in Deutschland, die mittlerweile Patienten mit Clostridium-difficile-bedingten Darmentzündungen mehr oder weniger nach gleichem Schema behandeln, mit Erfolgsraten von etwa 90 Prozent beim ersten Versuch. Durchweg positiv und interessiert sei auch die Reaktion von Kollegen auf den Artikel im Ärzteblatt gewesen. Auch bei Patienten sei »die Akzeptanz erstaunlich hoch, anders als man eigentlich erwarten würde« bei so einer Prozedur.

Noch vor wenigen Jahren hätten Kollegen und Patienten sicher ganz anders reagiert. Da war es unmöglich, Artikel über Stuhlspenden und Stuhltransplantationen überhaupt in einem Fachmagazin unterzubekommen. Doch in sehr kurzer Zeit hat sich das geändert. Auch bei anderen Leiden und Diagnosen, etwa Diabetes Typ 2 und Metabolischem Syndrom,2 verbesserten Stuhltransplantationen in ersten Studien die physiologischen Werte.3

Immer klarer zeigt sich: Wir haben lange einen Teil von uns, der auf Gesundheit und Wohlbefinden einen riesengroßen Einfluss hat, sträflich ignoriert. Das lag nicht nur daran, dass das, was wir von ihm mitbekommen, ziemlich unangenehm riecht, sondern auch daran, dass wir ihn eigentlich überhaupt nicht kannten.

Terra incognita

Die letzte noch praktisch völlig unerforschte Gegend. Unzählige seltsame Kreaturen verbringen dort ihr ganzes Leben in absoluter Dunkelheit und ernähren sich von seltsamen Sachen. Eine Menge Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt, aus schierem Forscherinteresse, aber auch, weil es vielleicht ziemlich lohnend sein könnte.

Artikel in Zeitungen oder Magazinen, die mit solchen Worten beginnen, liest man in den letzten Jahren ziemlich häufig. Gemeint ist dann natürlich die Tiefsee, die viel beschworene »Final Frontier«, die letzte unerforschte Gegend des Planeten, die letzte terra incognita, die dem Entdeckergeist in Zeiten von Google Earth und Pauschalreiseangeboten bis nach Feuer- und Neufundland und von Bissagos bis Galapagos noch Raum lässt. Man kann aber einen Artikel oder ein Buch über eine ganz andere Gegend ganz genauso beginnen. Auch sie liegt in der Tiefe und bleibt dem Auge verborgen, es ist dort auch sehr, sehr dunkel. Weit weg allerdings ist diese Gegend nicht. In jedem einzelnen Menschen findet sich ein solches unbekanntes, weitgehend unerforschtes Land. Es ist bewohnt von unzähligen Lebewesen, von denen bis vor kurzem nur die allerwenigsten überhaupt je ein Wissenschaftler gesehen hatte, ganz zu schweigen von uns normalen Menschen. Es ist die terra incognita namens Darm.

Sie ist voller Leben, das lebenswichtig für den Menschen ist, der es in sich trägt, das über Wohl und Wehe ziemlich entscheidend mitbestimmt.

Das Mikrobiom ist unser zweites Genom.

Die innere Serengeti darf nicht sterben

Mikroben sind überlebenswichtig für uns. Doch sie haben bislang ein massives Imageproblem. Weil zwischen den vielen Tausend gutmütigen ein paar wenige pathogene Keime lauern, bekämpfen wir sie heute großflächig mit Desinfektionsmitteln und Antibiotika. In den Augen einer wachsenden Zahl von Ärzten und Wissenschaftlern ist das allerdings ein Irrsinn. Zu denen gehört auch Roberto Kolter. Der ist für die Welt der mikroskopischen Lebewesen in etwa das, was der Verhaltensforscher Bernhard Grzimek für die Megafauna der Serengeti war.

Zwar hat Kolter nicht so eine prägnante näselnde Stimme wie der legendäre Tierfilmer. Doch der Harvard-Professor spricht sein Englisch immerhin mit einem freundlichen guatemaltekischen Akzent. Wie Grzimek davon beseelt war, den Lebensraum der Wildtiere Afrikas zu erhalten, so wird Kolter davon getrieben, den Lebensraum der Mikroben zu schützen. »In den letzten einhundert Jahren wurden Bakterien vor allem als gefährlich angesehen. Ich will den Leuten erklären, dass sie gut für uns sind.« Er versteht den menschlichen Köper mit seinen Mitbewohnern als ein fein justiertes Ökosystem. Eben eines, das spricht, läuft, isst, liebt und Bücher liest. Wir werden krank, wenn irgendetwas das fein justierte Gleichgewicht in diesem Ökosystem stört. Keimtötende Medikamente wie Antibiotika fallen deshalb in die Kategorie »ökologische Katastrophe«, weil sie nicht nur die Krankheitserreger töten, sondern auch freundliche Bakterien. Dann stirbt auch ein Teil von uns.

Lange galten jene Bakterien, die man nicht als Pathogene dingfest machen konnte, auch in der Forschung schlicht als »Kommensalen«. Man sah sie also als Mitesser im nicht-dermatologischen Sinne, als Kostgänger, die sich bei Tische bedienen, ohne wirklich zu stören, aber auch ohne sich zu revanchieren. Inzwischen ist klar, dass es fast unmöglich ist, dass ein massenhaft im Darm auftretendes Bakterium völlig neutral und ohne jeden Einfluss auf den Darmbesitzer vor sich hin keimt. Die Bakterien verstoffwechseln Nahrung, machen daraus andere Stoffe, die entweder von anderen Keimen weiterverwendet werden oder auf selbige auf andere Weise Einfluss nehmen, oder die auf Darmzellen wirken oder durch die Darmwand hindurchwandern, ins Blut, überallhin in den Körper, in die Leber, wo sie wieder umgebaut werden, und so weiter.

Hundert Billionen Mitarbeiter

Geschätzte hundert Billionen Einzellebewesen bevölkern einen jeden Menschen, die meisten davon seinen Verdauungstrakt. Das sind in etwa zehn Mal mehr Zellen, als ein Erwachsener Körperzellen hat. Die bei Menschen in aller Welt bislang insgesamt analysierten Darmbakterien haben zusammen geschätzte 3,3 Millionen verschiedene Gene, deren Funktionen sich auf den Menschen auswirken können – verglichen mit gerade einmal gut 20.000 körpereigenen Erbanlagen. Wie viele Arten und Varianten es normalerweise pro Mensch sind, weiß niemand, Hunderte Spezies könnten es sein, aber auch Tausende. Die meisten Schätzungen liegen zwischen 1000 und 1400, es könnten aber auch sehr viel mehr sein. Sie interagieren miteinander wie Lebewesen in jedem anderen Biotop auch, konkurrieren um Platz und Nahrung, kooperieren aber auch beim Erschließen von Futterquellen, werden beeinflusst von den Umweltbedingungen, die sie vorfinden, geraten unter Stress, wenn das ökologische Gleichgewicht gestört wird, finden dieses Gleichgewicht wieder (oder auch nicht, und ein anderes stellt sich ein), müssen sich gegen Gifte wehren und mit Naturkatastrophen umgehen können.

Während wir angesichts der Zerstörung von Regenwäldern oder Streuobstwiesen, des Verschwindens von Tigern und Orchideen noch mit einem Schulterzucken reagieren können, weil die Regale im Supermarkt trotzdem voll bleiben, betreffen uns Artensterben und ökologische Katastrophen mitten in uns drin unmittelbar. Ob wir etwas davon mitbekommen, ist allerdings eine andere Frage.

Leute, die Clostridium difficile und eine Entzündung in ihrem Darm haben, bekommen dies durchaus mit. Sie haben Schmerzen, Durchfälle, fühlen sich insgesamt schlecht. Das Gleichgewicht in ihrem Darm ist massiv durcheinander geraten, dort leben weniger Bakterienvarianten als normalerweise, und manche, die typisch für gesunde Därme sind, fehlen weitestgehend.

Man kann sich aber auch ganz normal fühlen, während im Darm die Dinge nicht ganz optimal oder sogar ziemlich aus dem Ruder laufen. Die »falschen« Darmbakterien können sich ruhig verhalten und doch Schäden anrichten. Sie können zum Beispiel unterschwellige Entzündungen fördern oder das Hormonsystem und den Stoffwechsel beeinflussen, und das nicht nur im Darm, sondern bis in die letzten Winkel des Körpers hinein. Sie können Tumoren fördern, Herzkrankheiten, wahrscheinlich sogar Depressionen. Die falschen, schlechten.

Die Macht der Mikroben: Vom Darm über die Psyche bis zum Tumor

Und die guten? Sie können all das verhindern helfen und sind damit für die Gesundheit mindestens so wichtig wie richtige Ernährung und regelmäßige Bewegung.

Bakterienzellen und ihre Gene haben nicht weniger Einfluss auf das menschliche Leben, auf die menschliche Gesundheit, als die körpereigenen Zellen und Gene. Und sie haben nicht weniger Einfluss als die Nahrung selbst, die wir uns und ihnen vorsetzen. Egal, ob es um Krebs, Herzkrankheiten, Darmentzündungen, die Psyche oder welchen anderen Gesundheitsaspekt auch immer geht: Wer wissen will, wie bestimmtes Essen wirkt, dem bringt es nur begrenzt etwas, ein Nahrungsmittel zu pulverisieren und seine Inhaltsstoffe im Chemielabor analysieren zu lassen. Wer wissen will, wie Essen wirkt, muss auch die Mit-Esser im Darm einbeziehen. Wer eine Krankheit und ihre Mechanismen verstehen will, darf die in und auf dem Menschen lebenden Bakterien nicht ausklammern. Wer es trotzdem tut, findet sich schnell in einer Sackgasse wieder. So wie jene Mediziner, die über Jahrzehnte mit geringem Erfolg versuchten, Darmgeschwüre zu kurieren, bis endlich anerkannt wurde, dass ein Bakterium die Ursache war. So wie jene Internisten, bei deren Patienten eine Clostridium-Kolitis immer wieder zurückkommt, bis sie es endlich damit versuchen, die gesamte Darmmannschaft auszuwechseln.

Wer herausfindet, welches die guten und welches die schlechten Mikroben sind und wie man, ohne anderswo Schaden anzurichten, die schlechten vertreibt und die guten zum Bleiben bewegt oder ansiedelt, kann die Menschheit sicher ein gutes Stück gesünder machen. Manches ist schon heute möglich, viel mehr mit Sicherheit in nicht allzu ferner Zukunft. Darum wird es in diesem Buch gehen.

Stuhlspenden sind dabei nur eine von vielen Optionen.

TEIL I

DER MIKRO-MENSCH

1SUPERORGANISMUS MENSCH

Mit jeder Geburt beginnt sich eine Lebensgemeinschaft zu formieren aus einem Menschen und hundert Billionen Bakterien. Zusammen bilden sie eine Allianz fürs Leben.

Ein lang anhaltender Schrei. Ihn in seinem Wesen zu beschreiben, ihn nachfühlbar zu machen, wäre nicht einmal Hemingway oder Saint-Exupéry gelungen, selbst Murakami würde daran scheitern. Alles, was man sagen kann, ist: Er geht durch Mark und Bein. Der Mann, der ihn aus nächster Nähe hört, ist einigermaßen hilflos, tupft seiner Freundin mit einem Stück strahlend weißer Baumwolle die Stirn, hält mit der anderen Hand ihre Hand, sucht ihre Augen und dann fragend die der Hebamme. Seine Freundin fixiert mit weit aufgerissenen Augen einen Punkt im Nirgendwo irgendwo dort, wo die Wand und die Decke des Kreißsaals weiß und cremefarben zusammentreffen.

Kurze Entspannung. Dann folgt schon der nächste Krampf, der nächste Schmerz, der nächste laute, hell-gläserne, markerschütternde Schrei. Der Muttermund ist schon weit geöffnet, das Köpfchen schon sichtbar. Die Hebamme verlangt nachdrücklich von der Frau, zu pressen, pressen, pressen, ja, ja, ja, ja … Dann geht alles ganz schnell, das Köpfchen rutscht durch, die Hebamme hilft der Frau mit geübten Ansagen und Griffen, auch den Rest des kleinen Körpers aus dem ihren herauszubringen. Der erste Schrei des gerade zum Baby gewordenen Fötus. Abnabeln. Abtrocknen. Dem Kind geht es gut, es kann sofort zur Mutter. Es wird ruhig, dem Vater fließen die Tränen. Die Augen der Mutter schauen schräg nach unten auf den kleinen Kopf, funkelnd. Glückwünsche.

Wer einmal bei einer normalen, erfolgreichen Geburt dabei war, als Praktikant im Krankenhaus zum Beispiel wie einer der beiden Autoren dieses Buches, wird diese Momente nie vergessen. Beteiligte Väter und Mütter natürlich auch nicht, auch wenn manche berichten, sich eher nicht so genau erinnern zu können wegen all der Aufregung und der beteiligten Stresshormone.

Es ist laut im Kreißsaal, es wird auf Hygiene geachtet, ein neues Leben kommt offiziell an auf Erden.

Gleichzeitig passiert aber noch etwas anderes. Geräuschlos. Unhygienisch. Sehr inoffiziell. Aber auch sehr lebendig.

Wer einmal bei einer Geburt dabei war, wird sich auch daran erinnern: Sie ist bei aller Sauberkeit, die im Kreißsaal herrscht, bei aller strahlend weißen Baumwolle, bei aller Klinikatmosphäre doch kein klinisch reiner Vorgang. Das Baby muss sich durch die Scheide der Mutter hindurcharbeiten. Die ist bekanntermaßen voll mit allen möglichen Mikroorganismen, meist sind es zu großen Teilen Milchsäurebakterien. Bei dem Druck, der im Unterbauch herrscht, fließt meist auch etwas vom Darminhalt aus dem sehr nahen Anus nach außen und gerät in den Bereich, wo das Baby durchmuss. Und der Enddarm ist einer der mikrobenreichsten Lebensräume, den Planet Erde zu bieten hat. Das Kind wird mit all dem überzogen, es schluckt davon, in der Pofalte setzt sich etwas davon ab und gerät in den kleinen Enddarm, unter die kleinen Fingernägel schiebt sich auch etwas. Mit dem Kind wird auch ein neuer Wirt für unzählige verschiedene Mikroben geboren, die auch durch das erste Abreiben und Abtrocknen nur zum Teil wieder weggewischt werden und sich bald zu vermehren beginnen. Wenn die Mutter das Neugeborene in den Arm nimmt, kommen Bakterien von ihrer Haut dazu, wenn sie es zum ersten Mal stillt, noch mehr von den Brustwarzen durch den Mund. Und wer das alles eklig, unhygienisch, gefährlich, therapiebedürftig findet, liegt in fast allen Fällen ziemlich falsch.

Happy Birthday, Bakterien

Der Geburtstag, der allererste oder nullte, wie immer man ihn nennen will, ist nicht nur der Beginn eines hoffentlich langen und einigermaßen gesunden und glücklichen Lebens. Er ist auch der Tag der Geburt einer Lebensgemeinschaft, der Beginn eines Bundes, der sich erst nach dem Tod wieder auflöst. Es ist eine stille, unbemerkte Selbstverständlichkeit. Es beginnt eine Beziehung, die am Anfang sehr dynamisch und voller Veränderungen ist, gefolgt von einer Stabilisierung der Verhältnisse, in der sich Mensch und Mikroben aufeinander eingestellt haben und ihre Gegenseitigkeit zum gegenseitigen Vorteil leben. Zwar kann sich im Leben, mit dem Älterwerden oder durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse oder auch der Ernährung immer wieder ein wenig ändern in der WG Mensch, doch mit den meisten unserer Partner bleiben wir für immer zusammen.

Das Mikrobiom – so wird die Gesamtheit der in und auf einem Menschen lebenden Mikroorganismen genannt – und sein Gastgeber, sie sind idealerweise von Anfang an und bis zum Schluss Freunde. Fürs Leben.

Den Ausdruck »Mikrobiom« soll der große, mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Bakterienforscher und Molekularbiologe Joshua Lederberg (1925 – 2008) um das Jahr 2000 herum erfunden haben. So schreibt es zumindest der heute gerne als großer Mikrobiomforscher bezeichnete Jeffrey Gordon in einem seiner Fachartikel.4 Praktisch zeitgleich mit der ersten Entzifferung eines menschlichen Genoms bekam also jenes »zweite Genom«, bestehend aus Millionen weitgehend noch unerforschten Mikroben-Genen, gerade erst seinen Namen. Es hat allerdings nicht nur einen. Ein Bakterienkollektiv wird auch als Mikrobiota bezeichnet oder, etwas altmodisch, dafür aber poetisch, als Darmflora, obgleich dort ja eher keine Pflanzen wachsen.

Dass Bakterien, aber auch viele Pilze und sogar Viren, nicht nur nutznießende, nicht wegzukriegende Trittbrettfahrer unseres Lebens sind, nicht nur Mitesser und 37-Grad-Heizungsschmarotzer, sondern dass sie hie und da auch ganz nützlich sein können, diese Erkenntnis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nur langsam ihren Weg gebahnt. Dass sie mehr als nur ganz nützlich sind, sondern maßgeblich über Wohl und Weh’ eines Menschen, über Krankheit und Gesundheit, ja Leben und Tod mitentscheiden, das stellt sich erst seit wenigen Jahren heraus.

Wir leben wie selbstverständlich mit unseren geschätzt hundert Billionen Mikroben, die insgesamt deutlich mehr als tausend Arten angehören, zusammen.

Und wie so häufig im Leben merkt man erst, wie wichtig etwas Selbstverständliches, immer Präsentes ist, wenn es fehlt oder nicht mehr richtig funktioniert. So ganz ohne unsere Bakterien hätten wir ziemliche Probleme, wir könnten normale, abwechslungsreiche Nahrung nicht mehr ordentlich verdauen, unsere Haut würde ihre effektive Schutzfunktion einbüßen, wir wären ein offenes Scheunentor für alle möglichen anderen Mikroorganismen, inklusive gefährlicher Krankheitserreger.

Wer zum Beispiel von bösen Streptokokken verschont bleiben will, dem gelingt das am ehesten, wenn er gute Streptokokken hat. Denn die verweigern ihren Krankheiten auslösenden Verwandten ziemlich effektiv den Zutritt. Es ist wie in jedem gut funktionierenden Ökosystem: Wenn eine ökologische Nische besetzt ist, ist es für Neuankömmlinge, wenn sie nicht durch irgendetwas ihren direkten, etablierten Konkurrenten deutlich überlegen sind, sehr, sehr schwierig, sich durchzusetzen.

Das biologische Wir entscheidet

Wir bilden uns als Menschen viel auf unsere Individualität ein. Jeder ist etwas ganz Besonderes, Einzigartiges. Jeder und jede hat seine oder ihre Alleinstellungsmerkmale – Charaktereigenschaften, Talente, Fähigkeiten, diesen unverwechselbaren Blick, die Stimme, die Gene. Doch bei aller Individualität – allein stehen wir nicht im Leben, nicht einmal der mürrische Einsiedler auf Neufundland lebt ohne Gesellschaft, auch in und auf und an ihm sind all die Mikroorganismen an- und eingesiedelt.

Und nicht nur das: Wir sind mit all dem Winzlingsleben so aufs Engste verknüpft, tauschen uns mit ihm so intim aus, dass es kaum mehr möglich ist, hier die berühmte psychologisch-soziologisch-anthropologische Linie zwischen dem Selbst und dem oder den »Anderen« zu ziehen. Die Bakterien auf unserer Haut haben Schutzfunktionen, die denen der Hautzellen selbst in nichts nachstehen. Bakterien im Darm schließen Nahrung teilweise effektiver für uns auf als unsere eigenen Enzyme, Bakterien in der Scheide einer Frau sind für die erfolgreiche Fortpflanzung vielleicht nicht ganz so wichtig wie Spermien- und Eizellen, aber sie leisten ihren Beitrag, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung bei der Abwehr von weiblichen Harnwegsinfektionen.

Jeder Mensch ist also im Grunde das, was Soziobiologen einen »Superorganismus« nennen: eine Gemeinschaft von vielen einzelnen Lebewesen, jedes davon mit einer gewissen Individualität, jedes im eigenen Interesse vor sich hin arbeitend und letztlich doch im ständigen Austausch, in ständiger Kommunikation und gegenseitiger Kontrolle ein großes Ganzes nährend und einigermaßen stabil haltend. Dieses große Ganze heißt dann Cindy aus Marzahn, Michael aus Kerpen oder Herbert aus Bochum. Gut sieben Milliarden solcher Superorganismen der Kategorie Mensch gibt es derzeit, dazu kommen all die anderen Tierarten. Auch sie sind, soweit bekannt, allesamt unsteril und voller Mikrobenleben. Dazu kommen wohl auch so ziemlich alle Pflanzen, auf deren Blättern, an deren Wurzeln, Rinde und Früchten die mikroskopisch kleinen Nützlinge und Unschädlinge regieren. Sogar der Terroir, der spezifische Geschmack eines Weines von einer bestimmten Lage, soll Mikroben auf den Trauben geschuldet sein.5

Biologen haben für Organismen, bei denen sich irgendwann herausstellte, dass sie eigentlich enge, symbiotisch kooperierende Gemeinschaften mehrerer Organismen und Arten sind – Korallen zum Beispiel –, den Begriff »Holobiont« erfunden. Auch der Mensch erscheint inzwischen als Holobiont, könnte man mit Max Frisch sagen.

Oder, wie die Sozialdemokraten es formulieren würden: Das Wir entscheidet.

Unser Holobionten- oder Superorganismus-Dasein bedeutet aber alles andere als eine Nivellierung oder Ent-Individualisierung. Im Gegenteil. Jedes Wir ist sehr speziell.

Jedes Mikrobiom ist einzigartig

So wie jeder Mensch einen eigenen, einzigartigen Fingerabdruck hat, eine individuelle Stimme, Lebenserfahrungen, die niemand anderes genau so teilt, ein eigenes einzigartiges Genom (selbst eineiige Zwillinge unterscheiden sich ein bisschen), so hat auch jeder Mensch seinen mikrobiellen Fingerabdruck.

Keine zwei Menschen sind gleich. Und keine zwei Menschen sind gleich besiedelt.

Allerdings, und das ist einer der Gründe, dass es dieses Buch gibt, ist diese Besiedlung zwar, soweit man bis heute weiß, relativ stabil und widerstandsfähig. Aber sie ist auch dynamisch. Man kann auf sie jedenfalls besser Einfluss nehmen als auf ein Gen oder »die Gene«. Es ist zum Beispiel ziemlich wahrscheinlich, dass ein fünfjähriges Großstadtkind nach drei Wochen Urlaub auf dem Bauernhof einen deutlich anderen Mikrobenfingerabdruck haben wird als davor. Auch wer massiv wegen einer nachgewiesenen Infektion mit pathogenen Bakterien Antibiotika schlucken muss, hat danach eine andere Bakterienmischung in sich. Das wäre ihm oder ihr zumindest zu wünschen, denn wenigstens die Schadkeime sollten dann verschwunden sein.

Aber natürlich trifft ein Antibiotikum immer auch andere, gute Keime, die aber erfreulicherweise meist wieder zurückkommen (siehe Kapitel 9). Es ist diese Resilienz des Mikrobioms, die uns einerseits sehr nützlich ist – denn sonst würden Antibiotika, aber auch jede Lebensmittelvergiftung noch mehr und dauerhafteren Schaden anrichten. Es ist aber auch genau diese Resilienz des Mikrobioms, die Therapien mit Mikroben bislang schwierig macht. Denn ein einmal etabliertes unerwünschtes Bakterium durch ein anderes, vielleicht gesundheitsförderliches zu ersetzen, ist deutlich schwerer, als Michael Ballack aus der Fußball-Nationalmannschaft herauszuekeln. Darin, Wege zu finden, wie man einerseits die Widerstandskraft eines gesunden Mikrobioms verstärken und es vielleicht gezielt hie und da um weitere Nützlinge ergänzen kann, wie man aber andererseits ein offensichtlich auf Abwege geratenes oder auch nur von Bösewichten durchsetztes Mikrobiom befrieden kann, wird eine der größten Herausforderungen der Medizin dieses Jahrhunderts bestehen.

Was ist Ihre Mikrobenadresse?

Woran kann man erkennen, ob jemand in einer bestimmten Stadt wohnt? Am Eintrag im Personalausweis? An der Meldebescheinigung? Daran, wie man, siehe oben, sich selbst (Marzahn) oder eine Schallplatte (Bochum) nennt? Das wäre einigen nicht ganz armen, aber den Steuerbehörden ihrer Heimatländer nicht gewogenen Persönlichkeiten sehr recht. Dann könnte, wer in einer Steueroase gemeldet ist, trotzdem all seine Zeit in Leimen oder Kerpen oder Bochum verbringen. Ob die Promis ihrer zumindest teilweisen Anwesenheitspflicht am Meldeort wirklich nachkommen, verrät noch nicht einmal ein Gentest. Ein Bakteriengentest jedoch kann das.

Jeder Aufenthaltsort hinterlässt Spuren im Mikrobiom. Wenn man etwa dem Pionier der Forschungsrichtung, Peer Bork vom Europäischen Molekularbiologischen Labor in Heidelberg, glaubt, ist es nicht nur möglich, anhand einer Analyse der Bakterien-Gene aus dem Darm ziemlich sicher zu sagen, ob jemand den Großteil seiner Zeit in Heidelberg verbringt. Für ein paar Tage könnte man auch bei einem Reporter, der gerade in Borks Labor zu Besuch war, das bakterielle Neckarstädtchen nachweisen.

Das menschliche Mikrobiom ist also stabil und doch veränderlich. Es trägt Signaturen, die ihm lebenslang (manche bei der Geburt erworbenen Spezies), ein paar Wochen lang (Wohnort Heidelberg) oder auch nur für ein paar Tage (Besuch in Heidelberg) eingeschrieben sein können.

Das menschliche Mikrobiom ist individuell, aber gleichzeitig kann man die Zugehörigkeit zu großen und kleineren Gruppen aus ihm ablesen. Die Gruppe »Mensch aus Heidelberg« ist eine davon, die Gruppe »Mensch mit Hund als Haustier« ist eine andere, die Gruppe »Lebt in Frankreich« eine weitere. Bei der Zuordnung zu Ländern waren für Bork und seine Kollegen insbesondere solche Gene hilfreich, die Bakterien resistent machen gegen Antibiotika. Für jedes Land scheint es ein typisches Muster von Resistenzgenen zu geben.

Wo kommen die Bakterien her? Aus dem Essen, von jeder Oberfläche, die man berührt, von jeder Hand, die man schüttelt, von jeden Lippen, die man küsst. Oder aus der Luft. Es klingt nicht sehr appetitlich, und um es vorwegzunehmen, es schadet uns nicht, aber man muss es so sagen: Der gesamte Planet ist im Grunde mit einer dünnen Schicht Fäkalien bedeckt. Menschen, die in Berlin-Friedrichshain wohnen, wissen, wovon die Rede ist. Für alle anderen: Es hängt dort mit den Hunden zusammen. Auch wer einmal über eine kleine griechische Insel gelaufen ist, wird den Geruch von Ziegen-Dung für Wochen nicht mehr los. Und wer glaubt, dass die Gülle, die Bauern auf ihre Felder pumpen, zwar stinkt, aber ansonsten keine Spuren in der Atmosphäre hinterlässt, irrt. Es wimmelt in der Luft, die wir einatmen, nur so von Bakterien und ihren Sporen. Viele von ihnen lassen sich gerne, vorübergehend oder dauerhaft, im Superorganismus Mensch nieder.

Das erste Geburtstagsgeschenk von Mama

Wir haben die Mutter mit ihrem Neugeborenen jetzt lange genug in Ruhe gelassen. Also zurück zur jungen Familie vom Anfang des Kapitels. Der Vater hat die beiden inzwischen im Rollstuhl auf die Wochenstation geschoben. Die Mutter hat das Kind angelegt bekommen, es hat schon etwas getrunken. Zunächst fließt wenig Flüssigkeit heraus aus den Brustwarzen, und die erinnert, wenn man sie sieht, auch nicht so sehr an Milch. Das Erste, was kommt, ist eher klar und enthält unter anderem eine Substanz, die es den während der Geburt erworbenen Bakterien zu erleichtern scheint, im Magen-Darm-Trakt Halt zu finden. Als Nächstes fließt das sogenannte Kolostrum, die Vormilch, die das Baby unter anderem mit Abwehrmolekülen versorgt.

Dann, vielleicht am zweiten oder dritten Tag, schießt die Milch ein. Erst jetzt bekommt das Kind signifikant Kalorien und Flüssigkeit. Dass es während der Expedition durch die Scheide dort vor allem Milchsäurebakterien vorgefunden hat, war sicher kein Zufall. Sie übernehmen, solange das Kind ausschließlich Muttermilch bekommt, die Vorherrschaft; sobald zugefüttert wird, werden sie weniger. Sie dienen dann aber erst einmal noch weiter als Helfer für die Besiedlung mit anderen, jetzt sinnvollen Bakterien. Die ersten Probiotika – Keime, die gute Darmbakterien fördern – bekommt das Kind also von seiner Mutter.

Nach dieser Erstversorgung besorgt sich das Baby seine Bakterien auch eigenständig, indem es die Welt in den nächsten Monaten mit seinem Mund erkundet. Dabei hilft der Körper des Kindes den Bakterien wahrscheinlich sogar, indem er das eigene Immunsystem dämpft. Das haben bislang zumindest Versuche an Mäusen gezeigt.6 So scheint es für die Mikroben einfacher zu werden, beim neuen Wirt Unterkunft zu bekommen. Die häufigeren Infektionen, die damit einhergehen, scheinen ein angemessener Preis zu sein für die ordentliche Besiedelung des Kindes.

Schon um den zweiten Geburtstag herum hat sich im Darm ein Mikrobenmix eingestellt, der sich von dem bei der Geburt deutlich mehr unterscheidet als von dem, den derselbe Mensch an seinem 82. Geburtstag noch mit sich herumtragen wird.

Anderswo, etwa auf der Haut, im Ohr oder im Mund, haben sich bis dahin ebenfalls die Dauergäste installiert.

Kein Mensch ist eine Insel, so schrieb es der Poet John Donne. Aber jeder Mensch ist ein Planet. Ein Planet mit vielen Ökosystemen von A wie Achselhöhle bis Z wie Zehennagel. Im nächsten Kapitel schicken wir eine Expedition dort hin.

2EXPEDITIONEN INS WIR-REICH

Jeder Mensch ist ein Planet und bietet zahlreiche und höchst unterschiedliche Lebensräume – Seen wie das Auge, Wüsten wie die Fingernägel, Oasen wie den Bauchnabel, Savannen und Feuchtgebiete. Mikroben nehmen diese Angebote gerne an.

Bei einem der beiden Schreiber dieses Buches hängt ein Bild des jungen Alexander von Humboldt an der Wand. Der alte Druck hat bei einem Trödler an der Berliner Karl-Marx-Allee fünf Euro gekostet. Er hat ein paar Kratzer und andere Spuren der Zeit. Es ist außer Fotos von der Familie das einzige Porträtbild im Haushalt. Warum er? Für Leute, die über die verschiedensten Bereiche von Wissenschaft schreiben, hat Humboldt eine besondere Bedeutung. Er war in so ziemlich allen wissenschaftlichen Disziplinen umfassend gebildet, als Forscher produktiv und als Kommunikator begabt. Er sah Wissenschaft immer auch im Zusammenhang mit Kultur und sozialer und politischer Entwicklung, engagierte sich für Benachteiligte und nahm gegen die Sklaverei Stellung. Er war einer der ersten Globalisierungs-Analysten. Er war auch so ziemlich der Erste, der genauestes Messen, Vergleichen und Wiederholen als Voraussetzung aller guten und verlässlichen Wissenschaft propagierte und selbst akribisch praktizierte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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