Biohacking - Hanno Charisius - E-Book

Biohacking E-Book

Hanno Charisius

4,6

Beschreibung

Bislang war Genforschung Profiwissenschaftlern vorbehalten. Diese Zeiten sind vorbei, meinen die Wissenschaftsjournalisten Hanno Charisius, Richard Friebe und Sascha Karberg. Sie bauten mit einem Mini-Budget ein eigenes Labor auf, analysierten ihre Erbanlagen und hantierten sogar mit potenziell gefährlichen Genen. Mit ihrem zweijährigen Selbstversuch stiegen sie ein in die Welt der »Biohacker« und trafen die Pioniere dieser neuen Amateurforschungs-Bewegung, die sich in Underground-Labors an Krebsforschung versuchen. Wer sind diese Hacker des Lebens-Codes? Welche Chancen und Gefahren birgt die neue Makers-Bewegung der Biotechnologie? Und wie sollten Politik und Gesellschaft auf sie reagieren?

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Hanno Charisius, Richard Friebe, Sascha Karberg

Biohacking

Gentechnik aus der Garage

Mit Illustrationen von Veronique Ansorge

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2013 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Thomas Gerhardy

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Kim Becker

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-446-43554-4

ISBN (Buch) 978-3-446-43502-5

INHALT

Occupy Biology

Kapitel 1Das Schnapsglas-Genomprojekt

Kapitel 2Biotech-Suburbia

Kapitel 3Fast Food aus der Genküche

Kapitel 4Erlaubte und verbotene Früchte

Kapitel 5Der Bürger als Forscher

Kapitel 6Die Sushi-Krise

Kapitel 7Hunde, Läufer und Patienten

Kapitel 8Sag Hi zum FBI

Kapitel 9Euro-Hacker und German Vorsicht

Kapitel 10Bio-Bürger, Bio-Terror, Bio-Zukunft

Hinweise der Autoren

Literaturhinweise und Erläuterungen

OCCUPY BIOLOGY

Eine neue Spezies ist entdeckt worden. Gefunden wurde sie nicht im Amazonasgebiet, nicht auf Madagaskar oder Borneo, es ist auch keine fossile Übergangsform zwischen zwei Ur- oder Frühmensch-Arten. Um eine neue „Art“ Mensch handelt es sich allerdings schon. Sie ist bislang nicht detailliert beschrieben. Über ihre Verhaltensweisen, ihre ökologische Bedeutung, ihr Vorkommen und die Zahl der zu ihr gehörenden Individuen weiß man wenig. Sicher ist nur, dass sie eine größere Bedeutung hat als ein neues Tiefseebakterium, ein bislang unbekannter Tropenschmetterling oder eine lange den Augen der Forscher verborgene nachtaktive Lemuren-Art – sowohl für Biologen als auch für den Rest der Menschheit. Denn zwischen genau diesen beiden ist sie ein Bindeglied, ein „missing link“. Nicht einmal einen wissenschaftlichen Namen hat die neue Subspezies Mensch bislang, aber Homo biologicus molecularis delectationis – der Mensch, der als Amateur Molekularbiologie betreibt – könnte passen.

Seit ein paar Jahren geistern Geschichten über Leute, die sich in Garagen, Küchen, auf dem Dachboden oder im Hobbykeller eigene Labore einrichten, dort Gene analysieren und vielleicht sogar manipulieren, durch die Presse. Mit billig über Ebay und in Drogeriemärkten zusammengekauften Geräten und Zutaten sowie im Internet frei verfügbarem Know-how experimentieren sie angeblich vor sich hin und sind zu Dingen in der Lage, die bis vor kurzem nur in Profilaboren möglich waren. Über die Gefahren – von unabsichtlich in die Umwelt geratenden Gentech-Organismen bis hin zu absichtlich gebastelten Biowaffen – wird von Journalisten und den von ihnen befragten Experten trefflich spekuliert, ebenso über die Chancen – von mehr demokratischer Teilhabe an einer wichtigen Technologie bis hin zur Biotech-Moulinette für die private Küche. Und in fast jedem dieser Artikel werden diese Bastel-Biologen der Gegenwart mit den Computerbastlern der 70er und 80er Jahre und mit den Web-Pionieren und Hackern verglichen, die für unsere von PCs, dem Internet, mobiler Kommunikation und sozialen Netzwerken geprägte Gegenwart maßgeblich mitverantwortlich sind.

Wird also in den Höhlen dieser neuen menschlichen Subspezies eine Revolution zusammengekocht, die mit jener elektronischen Revolution der letzten Jahrzehnte vergleichbar sein wird?

Je mehr wir darüber lasen und auch begannen, selbst zu recherchieren, desto mehr wurde uns klar, dass diese Biohacker, Do-it-yourself-Biologen, Biopunks, Outlaw Biologists oder was für Namen man ihnen auch gab, ebenso unerforscht waren wie ihr Lebensraum und das, was sie tun und wie sie es tun. Wir, das sind drei Journalisten, um die 40 Jahre alt, die normalerweise über Wissenschaft schreiben und die allesamt auch – vor einer gefühlten Ewigkeit – einmal ein Biologiestudium absolviert haben. Wir, das sind auch drei Freunde, die regelmäßig über den Job, den Spaß daran, die Frustrationen dabei und das, was „man mal machen sollte“, diskutieren. Wann immer jene Heimwerker-Biologie zur Sprache kam, waren wir uns über eines einig: wie wenig substanziell über dieses Thema spekuliert wird. Irgendwann kam Sascha die Idee, was man angesichts dieser unerfreulichen Situation nun wirklich „mal machen sollte“: Wer zumindest ansatzweise wissen und verstehen will, was Heimwerker-Biologen können und nicht können, auf welche Schwierigkeiten sie stoßen, welche Wege sie finden, um Probleme zu lösen, und welches Potenzial oder auch welche Gefahr ihr Tun jetzt und in der Zukunft mit sich bringen könnte, der muss selber Heimwerker-Biologe werden.

Wir beschlossen, es mit dieser Art von experimentellem Journalismus zu versuchen. Und wir hatten natürlich keine Ahnung, worauf wir uns da einließen.

Zwei Umzugskartons mit unserer Laborausrüstung, ein paar Aktenordner, einige Gigabyte auf unseren Festplatten, ein Stapel Rechnungen und etwas nicht Bezifferbares, was man als „Erfahrung“ zusammenfassen könnte, bleiben uns nach fast drei Jahren. Und dieses Buch.

Wir haben Anfang 2010 begonnen zu recherchieren, Labormaterial zu kaufen, Biohacker der ersten Stunde in den USA zu besuchen, und im Herbst 2012 haben wir unser Labor bis auf weiteres in Umzugskartons verstaut. In der Zeit dazwischen haben wir Gene verschiedener Organismen, inklusive unserer eigenen, analysiert. Wir haben mit potenziell gefährlichen Genen hantiert. Wir haben ausprobiert und wissen jetzt einigermaßen, welche Methoden im Hobbylabor machbar sind, was man an Zeit, Geld, Geduld, Bildung und Frustrationsresistenz braucht, um im Amateurlabor Ergebnisse zu produzieren.

Wir sind in die Szene eingetaucht, wie es, ohne selbst Biohacker zu werden, nie denkbar gewesen wäre. Wir kennen viele ihrer Protagonisten inzwischen persönlich – und besser, als es durch ein oder zwei Interviews möglich gewesen wäre. Wir haben dabei versucht, uns nach der Maxime des großen Journalisten Hanns Joachim Friedrichs trotz unseres tiefen und persönlichen Einstiegs in das Thema und des persönlichen Kontakts mit vielen der Akteure „nicht gemein zu machen“ mit denen, über die wir berichten wollten. Wir hatten mit ambitionierten Garagenbiologen ebenso zu tun wie mit Top-Forschern, mit Gründern von Gemeinschaftslabors ebenso wie mit dem FBI, mit Träumern ebenso wie mit dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Bundestages. Und wir meinen, jetzt tatsächlich besser über diese neue Spezies informiert zu sein als zuvor und sogar ein paar Dinge gelernt zu haben, nach denen wir anfangs noch nicht einmal fragten.

Die Welt der Selbstmach-Biologie sieht am Ende dieser drei Jahre schon wieder ganz anders aus als am Anfang, neue Ideen zirkulieren, neue Wortführer dominieren die Diskussionen, und die Spezies selbst breitet sich aus.

All das wollen wir versuchen, in diesem Buch zu erzählen und einzuordnen.

Die Mitglieder der neuen Spezies, die wir hier beschreiben und in die wir uns selbst auf Zeit verwandelt haben, sind keine komplette Neuschöpfung. Sie haben ihre evolutionären Vorläufer nicht nur in den Computerhackern der vorigen Generation, sondern auch in den Amateur- und Gentleman-Forschern vergangener Jahrhunderte, zu denen so illustre Persönlichkeiten wie Leibniz, Goethe und Mendel zählten. Sie stehen in der noch viel älteren Tradition der Pflanzen- und Tierzüchter seit Anbeginn der Landwirtschaft, sind verwandt mit den Hobby-Astronomen, die in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Entdeckungen machten, mit den unzähligen Käfer- und Schmetterlingssammlern, Vogelbeobachtern und den Freizeit-Botanikern mit ihren Herbarien. Sie haben ihre Vorläufer auch unter jenen Eltern, die nicht akzeptieren wollten, dass ihre Kinder früh an seltenen, zu wenig erforschten Krankheiten sterben, und sich in der wissenschaftlichen Literatur selbst auf die Suche nach Therapiemöglichkeiten machten.

Vor allem aber haben sie viel gemein mit all jenen, die noch nie akzeptieren konnten und wollten, dass Expertenwissen und Hochtechnologie nur in den Händen von politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten gut aufgehoben sein sollen, mit jenen, die Zugang forderten, Zugang durchsetzten. Sie haben einiges gemein sowohl mit Bildungsreformern wie Johann Comenius und Wilhelm von Humboldt, als auch mit jenen, die heute versuchen, die Energieproduktion zu dezentralisieren und zu demokratisieren.

Biotechnologie, Gentechnik, Genanalyse, Biomedizin werden zu den Technologien gehören, die dieses und – wenn es dann noch Menschen gibt – auch die folgenden Jahrhunderte definieren werden. Sie bieten immenses Potenzial, sie mit der gebührenden Vorsicht für gute Zwecke zu gebrauchen – oder sie zu missbrauchen. Anders als bei anderen Technologien, für die seltene Materialien wie etwa Plutonium oder hochkomplexe und fast unbezahlbare Anlagen wie etwa ein Fusionsreaktor nötig sind, ist Biotech inzwischen mit vergleichsweise billigen und einfach zu bedienenden Geräten und Reagenzien zu machen.

Die entscheidenden Zutaten heißen Wissen, Information, Code. Und darin liegt auch die unwiderlegbare Parallele zur Computertechnologie. Die hat innerhalb von weniger als zwei Generationen den Weg von riesigen, multimillionenteuren Rechenzentren in halbzentimeterdicke Hosentaschengeräte zurückgelegt, mit denen man telefonieren, navigieren, Musik hören – aber auch Kinderpornos downloaden, Computerviren verschicken, Menschen virtuell terrorisieren kann. Es ist unbestritten, dass in der Biotechnologie die Möglichkeiten vergleichbar rasant zu-, die Kosten vergleichbar rasant abnehmen. Anfang des Jahrhunderts kostete es etwa drei Milliarden Dollar, ein einziges menschliches Genom zu entschlüsseln, mittlerweile ist das zum Preis eines nicht einmal rostfreien Gebrauchtwagens zu haben.

Die Computer- und Web-Technologie entfaltet weitestgehend eine positive gesellschaftliche, individuelle Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten fördernde, Autoritäten kontrollierende, demokratisierende Kraft. Zu verdanken ist das allerdings nicht vornehmlich wohlmeinenden Regierungen oder sozialbewussten Unternehmern, sondern Nutzern, Hackern, Aktivisten.

Kann Ähnliches im Bereich der Bioforschung und Biotechnologie passieren? Sind die Biohacker von heute vielleicht die ersten Vertreter einer Bewegung, die einmal „Occupy Biology“ heißen wird, oder auch „Biotech of the 99 Percent“? Und welche Rahmenbedingungen sind nötig, damit eine positive Entwicklung wahrscheinlicher wird als eine negative? Das war, neben der Suche nach dem, was schon heute im Amateurlabor machbar ist, die zweite wichtige Frage, die wir uns gestellt haben.

Die meisten Science-Fiction-Visionen, in denen Biotechnologie eine Rolle spielt – von Huxleys Brave New World über Blade Runner, Gattaca, The Sixth Day und Matrix bis hin zu The Cloud Atlas –, sind düster. Ihnen allen gemein ist aber, dass eine autoritäre, totalitäre, Wissen und Technologie monopolisierende Elite die Fäden zieht. Doch das sind nicht die einzig denkbaren Visionen. Eine wirklich schöne neue Welt ist ebenso möglich. Stehen wir heute an einem Punkt, an dem wir selbst mitentscheiden können, in welche Biotech-Zukunft wir steuern? An einem Punkt, an dem wir selber Verantwortung übernehmen müssen, an dem wir die Biotechnologie und alle möglichen Varianten der modernen Biowissenschaft okkupieren sollten? Müssen wir uns die Zutaten, Werkzeuge und Codes dieser Technologien aneignen, um die Weichen richtig zu stellen?

Oder birgt die Biohacker-Bewegung vor allem unkontrollierbare, nicht tolerierbare Risiken? Sind diese vielleicht viel größer als die Chancen, und wäre es deshalb im Sinne der Gesellschaft, das Treiben in den Amateurlabors rigoros zu unterbinden?

Wer soll die Entwicklung im Auge behalten, beurteilen, begleiten, kontrollieren, regulieren? Überlassen wir es den Akteuren selbst, oder ist die Staatsgewalt hier gefordert? Oder stehen hier vielleicht auch jene in der Pflicht, die die Gentechnologie unwiderruflich in die Welt gebracht haben – die wissenschaftlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen und die dort arbeitenden professionellen Wissenschaftler?

Bei aller Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens und der Fragen, auf die wir Antworten suchten, hatten wir in diesen Jahren eine Menge Spaß. Wir haben skurrile Situationen durchlebt und interessante Persönlichkeiten getroffen. Angesichts im Dutzend scheiternder Experimente wurde auch unser Humor auf eine harte Probe gestellt, wir haben unsere selbstironischen Fähigkeiten geschult, sind in Fettnäpfchen ebenso wie in Hundehaufen getreten. Auch das breiten wir auf den folgenden Seiten einigermaßen schonungslos aus. Denn eines waren diese fast drei Jahre auf den Spuren jener neuen Spezies niemals: langweilig.

Kapitel 1 ...

... in dem wir unser Erbgut in Schnaps schwimmen lassen, der DIY-Bio-Oberguru Mist baut, Katzen Laborzutaten fressen, zum ersten, aber nicht letzten Mal das FBI auftaucht, ein Mädchen Anfang 20 ihre Krankheitsgene analysiert und Kamm und Gel nichts mit Frisuren zu tun haben ...

DAS SCHNAPSGLAS-GENOMPROJEKT

Mackenzie salzt nach. „Klar, das ist vollkommen ungefährlich“, sagt er und streut noch ein paar weiße Kristalle in sein Glas, „ich hab das selbst schon mal gemacht.“ Vormachen will er es in diesem Moment aber nicht, schließlich braucht er noch einen klaren Kopf. Mackenzie Cowell oder „Mac“, wie er sich gerne nennen lässt, sitzt mit neun anderen an einem großen Tisch und gibt ihnen einen Einführungskurs in Hobby-Gentechnik. Jeder einzelne der Teilnehmer hält in seiner Hand ein Schnapsglas. Es ist halb gefüllt. Inhalt: die jeweils eigene Spucke, etwas Spülmittel und Kontaktlinsenreiniger, eine Prise Salz und 75,5-prozentiger Alkohol. Es sind die Zutaten, die wir brauchen, um einen Blick auf unser eigenes Erbgut werfen zu können. Das Experiment, sagt unser Lehrer, ist so simpel und harmlos, dass man sich den Inhalt dieses Schnapsglases auch auf Ex genehmigen könnte. Der „Shot“ sei einer der besten Drinks, die er je gemixt habe, meint Mac. Aber die Runde verzichtet lieber kollektiv.

Zwei Stunden früher: Es ist ein heißer Samstag im April 2010. Am schon fortgeschrittenen Morgen – Biohacker starten gerne etwas später – sind wir auf der Suche nach dem richtigen Haus in Somerville, einer Nachbarstadt von Cambridge in Massachusetts, gleich vor den Toren Bostons an der Ostküste der USA. Um zehn Uhr soll der Kurs beginnen: zwei Tage, 20 Dollar Unkostenbeteiligung. Mitzubringen ist nichts weiter als das eigene Erbgut. Wir finden die Hausnummer – und fragen uns, ob wir nicht vielleicht doch einem Scherz aufgesessen sind. Auf der Veranda sitzen drei Kerle, gezeichnet von irgendeiner Feier in der letzten Nacht. Sie spucken über das Geländer und machen sich offensichtlich lustig über unsere ratlosen Blicke. Schließlich weist uns einer den Weg zum Hinterhaus. „Ja, schon richtig, das wird schon das sein, was ihr sucht.“

Der Hof ist ein Parkplatz voller Sperrmüll – oder ist es Kunst? Mechanische Konstruktionen aus Holz, deren Zweck wir nicht verstehen. Dazwischen parkt ein windschlüpfriger Honda mit Hybridantrieb, daneben ein Wohnmobil, das Platz für eine Großfamilie bietet. Ein paar Motorräder ruhen noch im Winterschlaf unter Plastikplanen.

Hinter all den Hindernissen kauert ein Holzhaus mit einem großen Garagentor in der Frontwand. Auf der Tür klebt eine kleine amerikanische Flagge, offensichtlich sind in den USA selbst die Hacker Patrioten. Eine Klingel gibt es nicht, auf Klopfen keine Reaktion. Vielleicht hätten wir uns und unserem Erbgut an diesem ersten so richtig die Glieder wärmenden Frühlingstag doch lieber eine Bootstour zu den Walen vor Cape Cod gönnen sollen? Oder einen Besuch in Fenway Park, dem Bostoner Baseballstadion auf der anderen Seite des Charles River, um die famosen Red Sox zu sehen? Tausend Dinge, die man tun könnte an einem Frühlingstag, an dem die Natur hier an der Ostküste der USA in einer grünen Explosion erwacht.

Aber da wir nun schon mal hier sind, pressen wir die Stirn gegen die Scheiben der Tür und erkennen eine professionell eingerichtete Werkstatt für Holz- und Metallarbeiten. Als auf unser Klopfen noch immer niemand antwortet, drehen wir den Türknauf. Es ist offen, aber niemand ist zu hören oder zu sehen. Wir erkennen, wie penibel sauber die Werkstatt ist, an deren linker Wand etwa ein Dutzend Fahrradrahmen hängen. Extremer könnte der Kontrast zum verrümpelten Hof nicht sein – wir treten in einen Raum, der so geleckt wirkt, dass man sich die Schuhe ausziehen will. Entweder hier arbeiten die reinlichsten Handwerker der Welt oder hier wurde noch nie ein einziger Span aus einem Brett gefräst.

Hallo, ist da jemand? Ein Knarzen von oben, wir nehmen die Treppe zum zweiten Stock, und als wir halb hinauf sind, erscheint am oberen Ende ein rundes Gesicht mit Brille darauf und Locken drumherum. „Hallo Leute, willkommen im Boss-Lab.“

Das obere Stockwerk entspricht schon eher unseren Vorstellungen von einem biologischen Labor. An einem mannshohen orangefarbenen Stahlschrank steht die Warnung „Entzündbare Flüssigkeiten“, daneben hängen an den schweren Türen Gedichte und Weisheiten aus dem Hacker-Alltag, hingepinnt mit Kühlschrankmagneten. Ein Regal über der Werkbank trägt Dosen und Flaschen. Destilliertes Wasser, etwas mit dem Namen „SybrSafe“, Kontaktlinsenflüssigkeit, Haushaltsreiniger, alte Wodkaflaschen mit neuem Inhalt, der als chemische Formel über die Etiketten gekritzelt wurde. Eine Flüssigkeit namens „TBE“ steht dort, daneben Natriumchlorid-Lösung, Salzsäure, Natronlauge und eine Dose Agar.

Agar, das wissen wir noch aus fernen Studientagen, kann man zu einem Gelee kochen, Nährstoffe hineinrühren und schließlich zum Beispiel Bakterien darauf wachsen lassen. Aber sicher lassen sich damit auch andere Dinge anstellen. Wir sehen Müllbehälter für festen und flüssigen Laborabfall, Ständer voller Pipetten, eine Zentrifuge, jede Menge leere Glas- und Plastikgefäße, eine Waage, einen Kühl- und einen Brutschrank, Rührmaschinen und ein Gerät, das, wie wir später erfahren, Erbgut kopieren kann.

Das Labor nimmt einen Teil des Obergeschosses dieses Hauses ein, das als Ganzes „Sprout“ heißt und Nerds und Geeks aller Art eine Zufluchts- und Bastelstätte bietet, auf dass ihre Ideen sprießen (englisch: „to sprout“) mögen. Irritierend ist nur, dass der Fußboden hier im Boss-Lab nicht so sauber ist wie unten im „Staubbereich“. Das Laminat klebt ein bisschen unter den Schuhen, Wollmäuse kuscheln sich an die Füße der Regale und Tische.

Neben der Laborecke schließt sich eine Küchenzeile an. Wir sind uns nicht sicher, ob im Kühlschrank, der beide Bereiche trennt, Lebensmittel oder biologische Proben aufbewahrt werden – bis eine Frau in einer Art Poncho von einem Sofa neben der Treppe aufsteht. Während sie die Reste ihres Mittagessens hineinstellt, gibt sie auch kurz den Blick auf den Inhalt frei: Das Kühlgerät wird für beides genutzt.

Sprout ist so etwas wie eine öffentliche Werkstatt mit selbstauferlegtem Bildungsauftrag. Hier können Menschen herkommen, die lernen möchten, wie man eine Drehbank bedient, die einen Tisch schreinern oder unter Anleitung etwas wissenschaftlich untersuchen wollen. Ein pensionierter Physiker hat eben noch den Teilnehmern seines Kurses gezeigt, wie man Flöten baut und stimmt. An einem anderen Tisch beugt sich ein schwarzhaariger Mann tief über eine elektronische Schaltung, aus der sein Lötkolben weiße Dampfwölkchen aufsteigen lässt. Er ist ein Übergangsprivatier, der seine freie Zeit nutzt, um gemeinsam mit anderen Erfindern hier in diesem „Hackerspace“ eine intelligente Stromspar-Steckdose zu entwickeln.

Die Gründer des Sprout wollten einen Platz schaffen, an dem jeder lernen, forschen und Neues basteln kann. Das klingt etwas merkwürdig an einem Ort, von dem aus man die Harvard University und das Massachusetts Institute of Technology (MIT), also zwei der bekanntesten Universitäten der Welt, innerhalb von zehn Minuten erreichen kann. Wahrscheinlich gibt es keinen anderen Platz auf der Welt, an dem es so viele Labore pro Quadratkilometer gibt wie hier in den nördlichen Vororten von Boston. Doch um Sprout-Mitglied zu werden, braucht man keinen Highschool-Abschluss und keinen Scheck über knapp 40 000 Dollar Studiengebühr pro Semester. Der Zugang zu dieser Forschungsstätte ist frei, abgesehen von fairerweise entrichteten Spenden und eventuellen, sehr niedrigen Kursgebühren.

Der noch ziemlich junge Mann mit der braunen Hornbrille, den braunen, etwas wilden Haaren und dem braunen Stoppelbart, der uns in Empfang nimmt, stellt sich mit kräftigem Händedruck als Mac vor. Mackenzie Cowell ist einer der Begründer der Do-it-yourself-Biologie-Bewegung, kurz DIY-Bio, und wir wollen von ihm die Grundtechniken des Biohackings lernen. In dem Werkstatthaus hat er eine Ecke angemietet und dort sein „Boston Open Source Science Laboratory“ eingerichtet. Dass dies dann abgekürzt Boss-Lab ergibt, ist sicher kein Zufall. Obwohl erst 28 Jahre alt, stellt Mac so etwas wie den Archetyp des Biohackers dar. Er ist neugierig wie ein Kind und mit großem Mut zum Scheitern und dann eben Nochmalversuchen ausgestattet, sodass ihm kein Problem zu gewaltig erscheint.

Mac ist getrieben von einer Vision: Er will die biologische Forschung und ihre technische Anwendung zugänglich machen für Amateure. Er will kein Ingenieur sein oder Wissenschaftler, sondern spielen, basteln und sehen, was passiert. Ach, und Geld verdienen will er an der Bewegung auch irgendwann einmal. Mit Kursen zum Beispiel, oder dem Verkauf von Einsteigersets für Neu-Hacker. Mac glaubt daran, dass Biotechnologie in Zukunft so einfach und billig sein wird, dass sie nicht mehr nur in akademischen oder industriellen Labors machbar sein wird, sondern in jeder Küche, nicht komplizierter als Brot zu backen mit einem Backautomaten.

Im Sprout, das Menschen mit allerlei merkwürdigen Interessen unter seinem Dach versammelt, gilt sogar Mac als komischer Kauz. Ein Nerd-Nerd.

Als Biologie-Student des Davidson-Colleges in North-Carolina nahe der Banken-Metropole Charlotte hatte er schon 2005 an einem Wettbewerb namens iGEM teilgenommen, bei dem Studenten aus aller Welt aus einem Set von genetischen Bauelementen biologische Kreationen erschaffen. Von dem Erlebnis war er so begeistert, dass er kurzerhand nach Boston zog und bei den Organisatoren als Hilfskraft anheuerte. Sein Bio-Studium konnte er zunächst nicht fortsetzen, sodass er seinen gerade geweckten Gentechnik-Tatendrang außerhalb der Universität ausleben musste. Verwandte hatten ihm ein Konto mit ein paar Tausend Dollar darauf überschrieben. Mit dem Geld zog er los und kaufte die Laborgeräte einer pleite gegangenen Biotech-Firma, um sich ein Labor einzurichten. Doch alleine zu basteln war dem Studenten auf Dauer zu einsam. Anfang 2008 schrieb er ein paar E-Mails an Leute, von denen er wusste, dass sie ähnliche Interessen hatten. Zusammen mit Jason Bobe, einem anderen Biohacker der ersten Stunde, lud er zu einem ersten Treffen der Do-it-yourself-Biologen im Bundesstaat Massachusetts ein.

An einem Abend im Mai kamen 25 Interessierte in den Asgard Irish Pub an der Massachusetts Avenue, der Straße, die Boston, das MIT und die Harvard University miteinander verbindet. An dunklen Holztischen bei schwerem Bier schmiedete die Gesellschaft der Hobbybiologen Pläne für gemeinsame Forschungsprojekte. Nach ein paar mehr Bieren tüftelte man bereits an Konstruktionsplänen für Laborgeräte. Es herrschte Aufbruchsstimmung.

Etwa in dieser Zeit richteten Bobe und Cowell auch die Website DIYbio.org samt Mailingliste ein. Sie ist bis heute die erste Anlaufadresse für Biohacker aus aller Welt.

Neun Teilnehmer zählt Mac an diesem Aprilmorgen im Sprout. Ein Vater samt Sohn und Tochter sind gekommen, drei Mädchen im Highschool-Alter sowie drei Journalisten. Mac stellt eine braune Papiertüte auf den Tisch und fängt an auszupacken: Spülmittel, Salz, Kontaktlinsenreiniger, kleine Plastikbecher von der Größe eines Schnapsglases, Zahnstocher und eine Flasche braunen Rum mit 75,5 Volumenprozent Alkohol. „Jetzt extrahieren wir unsere DNA in einem Schnapsglas“, sagt Mac und verteilt die Einwegplastikbecherchen. Die nächsten Minuten sitzt die Gruppe im Kreis und versucht, ihre Speicheldrüsen zur Massenproduktion anzuregen und das Sekret möglichst manierlich in den Behälter abzusondern. Um den Fluss zu stimulieren, lässt Mac auf dem Bildschirm seines Laptops gebratene Steaks aufleuchten, und noch ein Linsengericht für die Vegetarier in der Runde, „oder steht jemand auf Broccoli?“

Mac gibt das Wochenendseminar nicht allein. Als Verstärkung hat er die Biohackerin Katherine Aull eingeladen, die gerne Kay genannt werden möchte und wie der Gegenpol zu Cowell wirkt. Der redet schnell und deutlich, wie jemand, der es gewohnt ist zu referieren. Er macht Scherze, hat immer einen guten Vergleich parat und greift Fragen mit der Intuition eines begabten Lehrers auf. Er ist durch die vielen Interviews, die er in den letzten Jahren vor Fernsehkameras, Radiomikrofonen und schreibenden Reportern gegeben hat, trainiert. Aull ist nicht so redselig. Sie hat aber im Gegensatz zu Mac, dessen Talente weniger im Forschen und eher darin liegen, über DIY-Biologie zu referieren, Kursteilnehmern Techniken und Journalisten Visionen zu erklären, bereits ein eigenes Studienprojekt erfolgreich abgeschlossen. Im Jahr 2009, mit 24 Jahren, begann sie ihre eigenen Erbanlagen nach Krankheitsgenen zu durchsuchen. Sie gilt heute aufgrund der Versuche damals in ihrer Studentenbude als erste Biohackerin überhaupt, die auch wirklich etwas gehackt hat – dazu gleich mehr.

Mac und Kay – unterschiedlicher können zwei Menschen kaum sein, die gemeinsame Interessen verfolgen.

Der eine ist ein brillanter Verkäufer seiner Sache und beseelt von der Idee, Biologie in einen Volkssport zu verwandeln. Für Mac ist kein Problem zu groß. Zum Beispiel wird er später erzählen, dass er vergangene Nacht einen Bioreaktor entworfen hat, in dem Bakterien Sonnenlicht in Biotreibstoff umwandeln sollen. Und er weiß, wie man die Webcam eines Computers in ein Mikroskop verwandelt. Super-Mac. Nur zwei der hundert Ideen, nach denen er seinen Mikroblog bei Twitter – „@100ideas“ – benannt hat.

Am anderen Ende des Nerd-Spektrums steht Kay, die ihre Gene analysiert und die Ergebnisse für sich sprechen lässt. Konversation führt sie eher mit Bedacht als mit Macht. Auch sie ist bereits von Reportern von Le Monde, von Sky News und dem Wall Street Journal interviewt worden.

Zwischen den beiden Extremen gibt es eine Menge Platz für weitere Akteure. Da sind die Firmengründer, die den amerikanischen Traum in „Vom Reagenzglasspüler zum Millionär“ umdichten wollen. Es gibt auch etablierte Hacker, denen elektronische Schaltkreise und Computercodes zu langweilig geworden sind und die es nun mit Genen versuchen wollen. Da sind zudem professionell geschulte Biologen und Gentechniker, die in ihrer Freizeit Projekte realisieren wollen, zu denen sie während der bezahlten Arbeitszeit nicht kommen oder für die sie ihr Chef nicht bezahlen möchte. Andere wieder glauben, den Tod oder Krebs überwinden zu können. Auch Väter und Mütter, die das Erbgut ihrer Kinder nach der Ursache für eine unbekannte Krankheit durchsuchen, gehören dazu. Andere wollen nur lernen, wie man einen genetischen Fingerabdruck erstellt, vielleicht um einen Vaterschaftstest durchzuführen, ohne ein offizielles Test-Labor einschalten zu müssen. Oder sie bringen sich mithilfe von Fachartikeln selbst bei, wie man nach der Geburt eines Babys Stammzellen aus der Plazenta gewinnen kann. Manche wollen ihr Essen analysieren oder Bäume zum Fluoreszieren bringen, einfach weil sie es cool fänden. Viele von ihnen sind Menschen, die forschen, aber nicht durch die Mühlen der Universitäten gequetscht werden wollen oder können, Schulabbrecher, die das Potenzial, aber nicht die Leidensfähigkeit haben für eine akademische Laufbahn, Unternehmer, die die Biohacker-Gemeinschaft mit bezahlbarer Ausrüstung versorgen wollen, und auch Wissenschaftler in Ländern, in denen öffentliche Forschung nicht mit Milliardensubventionen bedacht wird.

Kay und Mac sind die ersten von vielen Biohackern, die wir auf unserer Bildungsreise treffen. Wir sind unterwegs mit dem Ziel, selber Biohacker zu werden.

Endlich hat jeder eine ausreichende Menge Speichel in seinem zum Probengefäß umgewidmeten Schnapsbecher gesammelt. Jetzt kommt die Wissenschaft. Man kann Molekularbiologie sehr kompliziert klingen lassen, dann hätte Kay nur sagen müssen: „Wir lysieren die Zellen, isolieren die DNA und amplifizieren sie dann.“ Stattdessen sagt sie: „In der Spucke schwimmen Zellen aus unserer Mundschleimhaut. Die werden wir jetzt auflösen, das Erbgut daraus befreien und schließlich sichtbar machen.“ Ein Tropfen Spülmittel ist die erste Zutat. Wir hätten auch Shampoo nehmen können, es geht im Wesentlichen um einen Inhaltsstoff, der in beiden Drogerieprodukten enthalten ist: Natriumdodecylsulfat, eine Substanz, die den Reinigungsprozess erleichtert, weil sie Fett auflöst. Dazu müsse man wissen, erklärt Mac, dass Zellen nichts weiter seien als kleine Fettbläschen. Das Detergenz löst die Membranen der Zellen auf und gibt deren Inhalt frei, darunter jede Menge Proteine und das eigene Erbgut, die DNA.

Alle weiteren Schritte sind nur notwendig, um das Erbmaterial von dem übrigen Schlonz zu trennen, an dem wir heute nicht interessiert sind. Als Nächstes kommt ein Tropfen Kontaktlinsenreiniger dazu – kein Voodoo, versichert uns Mac, sondern Notwendigkeit. In dem Tropfen sind wie im Spülmittel verschiedene Substanzen, doch für uns wichtig sind bloß die sogenannten Proteasen. Das sind Enzyme, die andere Proteine zerstören. Ohne sie werden Kontaktlinsen nicht richtig sauber, und Erbgutmoleküle auch nicht. Damit der lange DNA-Strang halbwegs geordnet in die Zellkerne passt, wird er um Proteine herumgewickelt wie um Garnspulen. Wer also DNA „isolieren“ will, muss möglichst viel von diesen Ordnungshaltern loswerden. Wir traktieren sie also mit den Protease-Enzymen aus der Augenoptik, die ähnlich auch in Fleisch-Zartmacher, Pampelmusensaft oder manchen Waschmitteln enthalten sind.

Den Cocktail mischen wir durch vorsichtiges Schwenken und würzen ihn mit einer Prise Salz. Dieser chemische Trick soll dazu führen, dass sich die noch in unserem Speichel gelöste DNA im letzten Schritt verklumpt. Das Ganze sollte man dann noch einmal eine Minute zwecks optimaler Vermischung locker aus dem Handgelenk schwenken.

Es gibt außer Mac und Kay niemanden am Tisch, der sich dabei nicht zumindest ein bisschen lächerlich vorkommt. Endlich tritt der Rum auf den Plan, und wir kommen zum handwerklich anspruchsvollsten Teil. Der Hochprozentige soll in einer Schicht über unserer Speichel-Detergenzien-Mixtur schwimmen und sich nicht damit mischen. Dazu gießen wir den Rum vorsichtig am Rand des Schnapsglases hinunter und beobachten, wie er sich als braunklare Schicht über die grautrübe Melange legt.

Und dann stellen sich bei allen Teilnehmern die Härchen an den Unterarmen auf. Cutis anserina nennt das medizinische Lexikon das Phänomen, Gänsehaut in einem magischen Moment: Im braunen Rum schlängeln sich weiße Fäden nach oben. Sie sehen bei allen Teilnehmern gleich aus, sind aber sehr individuell. Es ist die DNA von jedem Einzelnen von uns. Dass sie plötzlich in den Rum hineinwächst, hat damit zu tun, dass sie in Alkohol kaum löslich ist, sondern eher in wässerigen Flüssigkeiten. Es ist wie mit einem Tropfen Öl in Wasser, er mischt sich nicht oder breitet sich breit auf der Oberfläche aus, sondern verhält sich so, dass er möglichst wenig Kontakt mit dem Wasser hat – als rundes Fettauge.

Ähnlich verhält sich die DNA, wenn sie mit Alkohol in Berührung kommt: Sie knüllt sich an der Grenze zwischen Spucke und Schnaps zusammen, um ihre Oberfläche möglichst klein zu halten. Dabei zieht das immens lange Molekül immer mehr von seinem Faden aus der Probenlösung in den Alkohol hinein, bis wir es mit bloßem Auge als weiße Schlieren sehen können. Mac wendet zwar ein, dass an dem Erbgutstrang noch jede Menge Proteinschrott und Membranreste kleben, aber das hören wir kaum noch. Mit einem Zahnstocher fischen wir unsere Gene aus dem Becher. Dem Gefühl der Lächerlichkeit beim Becherschwenken folgt ein kleiner Schauer der Nacktheit. Obwohl anhand der Glibberfäden noch nichts von unseren Erbanlagen zu erkennen ist, so hängt hier doch etwas sehr Intimes von einem Zahnstocher herunter. Die Gene in diesen Fäden bestimmen mit, was wir sind. Wir haben, auch wenn wir in diesem Augenblick (noch) nicht darin lesen können, jeweils das molekulare Buch unseres Lebens in der Hand.

Während Kay Aull mit Sascha und zwei weiteren Unerschrockenen noch eine andere Methode zum Isolieren von DNA ausprobiert, die ihrer Meinung nach besser ist und so auch in Kriminallabors benutzt wird, erklärt Mac dem Rest der Gruppe, wie die Erbgut-Kopiermaschine funktioniert und was eine „Gel-Elektrophorese“ ist. Zwar konnten wir unser Erbgut bereits mit bloßem Auge sehen, doch wenn wir uns einzelne Gene näher anschauen wollen, müssen wir sie zunächst vervielfältigen, diese Kopien dann von allem anderen trennen und schließlich sichtbar machen. Dafür brauchen wir die beiden Geräte.

Als Erstes setzt Mac die Kopiermaschine, die Platz für all unsere Proben hat, in Gang. Das Gerät heizt und kühlt im Grunde nur, steuert damit aber chemische Reaktionen, durch die ein einzelnes der etwa 20 000 Gene aus unserer Mundschleimhaut vervielfältigt wird. Sie wird eine Weile brauchen, um aus einigen wenigen Genkopien einige Milliarden herzustellen.

Die beiden letzten Schritte – reinigen und sichtbar machen – werden dann in einem Gel ablaufen, in dem unterschiedlich große Erbgutstücke mit ein wenig elektrischem Strom dazu gebracht werden, sich unterschiedlich schnell zu bewegen und sich dadurch räumlich zu trennen. Diese Gel-Elektrophorese, sagt Mac, muss man sich vorstellen wie ein Sieb. Das muss er aber erst einmal herstellen.

Zunächst wiegt Mac ein paar Gramm Agarose ab und streut das gelblich-weiße Pulver in eine Flüssigkeit, die er „Puffer“ nennt. Es ist nichts als eine wässrige Lösung, die einen bestimmten, für die gerade gewünschte chemische Reaktion notwendigen pH-Wert garantiert. Die Mischung kommt für 60 Sekunden in die Mikrowelle, bis sie siedet. Von dem Pulver ist nichts mehr zu sehen, es hat sich aufgelöst. Behutsam, um keine Blasen zu produzieren, gießt Mac den geruchlosen Mix in eine kleine Wanne aus Plexiglas und versenkt so etwas wie einen Kamm mit nur zehn breiten Zinken in dem, was beim Abkühlen zu einem wackelpuddingartigen Gelee erstarren wird.

DNA-Moleküle sind wegen ihrer chemischen Zusammensetzung negativ geladen. Man kann sie sich wie kleine Magnete vorstellen, die vom Pluspol des elektrischen Feldes angezogen werden, das Mac später mithilfe von zwei Elektroden an die puffergefüllte Kammer samt Gel darin anlegen wird. Kleinere Moleküle bewegen sich schneller in Richtung Pluspol des elektrischen Feldes, weil sie leichter durch die winzigen Poren des Gels, die Mac als Sieb bezeichnet, hindurchfinden. So kommt es, dass sich die Erbgutmoleküle auf dem Weg durch das Gel ihrer Größe nach auftrennen.

Mac hat zehn Minuten gebraucht, um alles zu erklären. Das Kopieren der Gene dauert aber etwa drei Stunden. Pause. Nachdem wir morgens noch unschlüssig und unsicher nach dem Ausbildungslager für Biohacker gesucht hatten, wandern wir jetzt einigermaßen selbstbewusst und orientiert aus „unserem“ Labor ins Freie. Immerhin haben wir unser eigenes Erbgut isoliert, und für die weiteren Experimente sind die Vorbereitungen bereits getroffen. Die den Speichelfluss anregenden Bilder haben ihre Wirkung auch nicht verfehlt. Unsere Mittagspause findet bei einem Mexikaner auf der Elm Street statt, die Burritos mit der frischen Guacamole sind besser als jeder „Mit-alles“-Döner in der Heimat. Heute und hier beginnt unsere eigene DIY-Biologie-Legende.

Doch die Bildung von Legenden ist schwer zu steuern. Auch zur Geburt des Begriffes DIY-Biologie selbst könnte es einen etwas spannenderen Gründungsmythos geben als das, was Mac davon zu erzählen weiß. „Eigentlich ist er eine Erfindung der Medien“, sagt er. Es habe im September 2008 mit einem Interview mit dem Boston Globe begonnen, ein paar Wochen nach dem ersten Biohackertreffen in jenem irischen Pub in Cambridge. Während des Gesprächs mit der Journalistin sei irgendwann der Begriff Do-it-yourself-Biologie gefallen. Zunächst griffen weitere regionale Medien ihn auf. Aber bald hörte und las man den Begriff auch an der Westküste, und schließlich machte er die Runde um die ganze Welt.

Die neuere Geschichte der DIY-Biologie reicht allerdings noch mindestens zwei Jahre weiter in die Vergangenheit zurück. Ende April 2006 schrieb der ungarische Bioinformatiker Attila Csordás (sprich: tschor-dasch) in einem Blog-Post1 eine Ermunterung an all diejenigen, die einen Blick in ihr eigenes Erbgut werfen oder Stammzellen in der eigenen Küche züchten wollen. „Jeder hat das Recht, mit Biomolekülen zu arbeiten und sogar mit Zellen“, statuierte er, mahnte aber auch sogleich ethische Standards an: „Zellen und DNA sind ok, aber keine Experimente mit Tieren oder Menschen.“ Acht Monate später ließ er Taten folgen und veröffentlichte auf seinem Blog2 eine bebilderte Anleitung, die in 21 Schritten zeigt, wie man aus der Plazenta eines Neugeborenen Stammzellen isolieren kann. Besonders schwierig dürften der dritte und vierte Schritt seines Protokolls sein: „Sprechen Sie mit der zukünftigen Mutter und dem Vater und überreden Sie sie dazu, die Zellen zu Hause zu lagern.“ Und: „Überzeugen Sie den Arzt davon, dass er die Plazenta nach der Geburt in eine sterile Flasche steckt und auf Eis lagert.“ Er schätzte die Kosten für das notwendige Equipment damals auf ein paar Tausend Dollar. Viel Geld, gibt er zu, es sei aber besser angelegt als bei dubiosen Unternehmen, die als Dienstleistung anbieten, Nabelschnurblut des Neugeborenen einzufrieren, die Hoffnung der Eltern ausnutzend, dass sich daraus bei Bedarf heilbringende Stammzellen für die Therapie von Krankheiten gewinnen ließen.

Bei Csordás, der seine Idee damals bioDIY nannte, war die Zeit offensichtlich noch nicht ganz reif. Zwei Jahre später war es plötzlich anders, vielleicht auch, weil der Schauplatz jetzt nicht Budapest, sondern die Biotechregion Boston war. Plötzlich war die Aufmerksamkeit groß, sorgte der Hype für teilweise überzogene Erwartungen. Etablierte Wissenschaftler schwankten zwischen Freude über den Enthusiasmus der sich formierenden Gruppe und genervtem Kopfschütteln ob der plötzlich im eigenen akademischen Hinterhof „lärmenden Heranwachsenden“, wie Mac es formuliert. Jedenfalls wurde DIY-Bio zu einer Art Marke.

Zurück im Sprout, nachdem wir den Weg dorthin nun zielstrebig und mit No-Bullshit-Blick durchschritten haben, zeigt das Display des Genkopierers an, dass es nun nur noch eine Viertelstunde dauert. Mac erklärt der Runde derweil, wie man die Pipetten benutzt. Mit den ein wenig wie schlanke Pistolen aussehenden Geräten kann man genau abgemessene Mini-Mengen Flüssigkeit von A nach B transferieren. Mac zeigt auch, wie man die winzigen Gefäße mit unseren Genkopien darin aufbekommt, ohne den Inhalt auf der Tischplatte zu verteilen, und wie man eine Probe davon mit der Pipette entnimmt, ohne den Rest zu verunreinigen. Dann ist noch wichtig, das winzige Tröpfchen Erbgut mit blauem Farbstoff zu versetzen, damit wir die Probe gleich besser sehen können, wenn wir sie in eine der etwa zwei mal fünf Millimeter großen Taschen im Gel spritzen, die der Kamm darin hinterlassen hat. Dann dürfen wir ran und die eigene DNA, die jetzt eigentlich gar nicht mehr eigene DNA ist, sondern nur eine Menge identischer Kopien davon, dem Gel, seinen Poren und dem elektrischen Strom übergeben. Danach schließt Mac die Elektroden an und schaltet den Strom am Netzgerät ein. Wieder warten.

Mac glaubt, dass sich ein ähnliches DIY-Bio-Netzwerk auch ohne das Interview im Jahr 2008 und ohne ihn oder Jason Bobe gebildet hätte. „Vielleicht hätte es dann noch zwei oder drei Jahre gedauert. Aber alle Grundsteine waren bereits gelegt, als wir damit anfingen.“ Tatsächlich ist das Selber-Probieren und Basteln mit molekularer Biologie kein isoliertes Phänomen. Kaum eine traditionelle Branche ist sowohl in Amerika als auch in Europa seit Mitte der 90er Jahre so gewachsen wie die der Bau- und Heimwerkermärkte. Selbermachen können ist inzwischen mindestens so angesehen wie sich Fertiges oder gar Angefertigtes leisten können. In den USA hatte sich zudem früh eine spezielle Selbermach-Kultur entwickelt, die besonders durch die Möglichkeiten der Vernetzung im Internet Schwung aufnahm. Das Phänomen wurde von Medien aufgegriffen, Bastelmagazine wie Make und Messen wie Maker Faire entstanden und wurden in kurzer Zeit sehr erfolgreich. Es entwickelte sich wieder ein Bewusstsein, dass Produkte, die es zu kaufen gibt, deshalb noch nicht unbedingt fertig sein müssen, sondern vom Benutzer verändert und verbessert werden können – wenn man erst einmal verstanden hat, wie sie funktionieren. Hardware-Hacking hieß dieser Ansatz bald, obgleich er mindestens so alt ist wie die Idee, dass man ein gekauftes Kleid mit Schere, Nadel, Faden und ein bisschen Ahnung auch selber kürzer machen kann.

Zudem waren bereits andere Forschungsfelder von Amateuren infiltriert worden. Das fing bei der Archäologie an und hörte bei der Suche nach außerirdischem Leben noch lange nicht auf (siehe Kapitel 5).

Nicht nur die Medien interessierten sich sofort dafür, was Amateure so mit Erbgut in improvisierten Laboren anstellen können. Nur ein Jahr nachdem Mac die Website DIYbio.org ins Leben gerufen hatte, begann die amerikanische Bundespolizei FBI, Treffen mit den Biohackern zu organisieren, die von Jahr zu Jahr größer wurden. Während wir darauf warten, dass unsere Gene durch das Gel-Sieb wandern, diskutieren Mac und Kay, ob es wohl eine gute Idee wäre, einmal die Akten einsehen zu wollen, die das FBI wahrscheinlich über sie angelegt hat. Und sie fragen sich, wie viele der inzwischen über 2000 Mitglieder der DIY-Bio-Mailingliste wohl von Steuergeldern bezahlt werden, damit sie das Treiben dort im Blick behalten. Sie diskutieren das Thema so nüchtern, dass wir uns fragen, ob sie uns gerade veräppeln wollen. Aber Mac erklärt: „Diese Leute machen sich bei allen Treffen immer viele Notizen. Niemand weiß, was sie da aufschreiben, aber natürlich wandern die in irgendeine Akte.“

Ob ihre E-Mail-Konten überwacht werden? Und wir damit inzwischen auch ins Blickfeld der Fahnder geraten sind? Während noch ein Schauder unsere Rücken hinunterläuft, hören wir Mac fluchen. Er steht an der Gel-Elektrophorese und schaut verzweifelt. „Wir müssen es morgen noch einmal versuchen.“ Er habe die Elektroden falsch herum angeschlossen, die Proben sind in die falsche Richtung gewandert und aus dem Gel herausgerutscht. Alle unsere Copy-Gene schwimmen jetzt in einem Pufferbad, und kein gesalzener Kontaktlinsenreiniger-Schnaps der Welt kriegt sie dort wieder heraus. Der Farbstoff immerhin zieht hübsche blaue Schlieren in der Flüssigkeit, in der das Gel badet.

Um es vorwegzunehmen: Niemand hat an diesem Wochenende einen anderen Blick auf sein eigenes Erbgut erhascht als jenen, den der weiße Glibber aus dem Schnapsglas ermöglicht hatte. Vielleicht sind die Unterschiede zwischen Amateuren und Profis doch größer, als mancher wahrhaben mag.

Ob dieser Gedanke uns selbst eher ermutigt oder verzweifeln lässt, wissen wir in diesem Moment nicht genau. Sind wir eigentlich Amateure oder Profis? Jeder von uns hat zumindest in grauer Vorzeit ein Biologiestudium hinter sich gebracht, der eine eher klassisch, der andere eher modern. Außerdem schreiben wir regelmäßig über Biotech-Themen, der eine nur ab und zu, der andere ständig. Labors von innen gesehen allerdings haben wir seit Jahren höchstens als Besucher. Sind wir totale, chancenlose Amateure, oder doch zumindest ein bisschen reaktivierte Profis, denen in der DIY-Biologie vielleicht doch einiges gelingen kann? Wir werden die Antwort bald erfahren.

Katherine „Kay“ Aull ist, wie viele der DIY-Bio-Pioniere, alles andere als eine Amateurin. Am MIT hatte sie sich zur Bioingenieurin ausbilden lassen und dieses Studium mit einem Nacht-Job in einem Biotech-Unternehmen finanziert, das künstliche Gene herstellt.

Kay ist so groß, dass sie nicht so recht zu wissen scheint, wohin mit ihren langen, dünnen Gliedmaßen, aber wenn sie spricht, dann schwingt in ihrer Stimme trotz geringer Dezibel-Werte das Selbstbewusstsein eines Menschen mit, der üblicherweise recht hat mit dem, was er sagt. Mit diesem Selbstbewusstsein entschied sie sich auch, ihr eigenes Labor in ihrem Kleiderschrank einzurichten. Wo andere Leute T-Shirts stapeln, da hat die heute 27-Jährige einen Genkopierer stehen, den sie für 90 Dollar bei Ebay ersteigert hat, und noch jede Menge andere Laborausrüstung, vor allem improvisierte: einen Reiskocher, zu einer Destilliermaschine für Wasser umgebaut zum Beispiel, oder einen Leuchttisch, der Erbgut sichtbar macht und aus blauen Weihnachtsdeko-Lichtern gebastelt ist.

Als wir Kay treffen, liegt ihr Experiment schon eine Weile zurück, doch ihr Schranklabor hat sie noch immer, für neue Versuche und Analysen. Während wir uns unterhalten, streichen uns die Katzen der Studenten-WG um die Beine. „Meine Regel ist, dass ich für die Heimexperimente nichts verwende, was giftig für Menschen oder Katzen sein könnte“, sagt Kay und streichelt einen ihrer vierbeinigen Mitbewohner. „Tatsächlich hat meine Katze einmal ein Stück Agarose-Gel gefressen.“ Geschadet hat dem Tier das nicht.

Kay gilt heute – obgleich man es gerade aufgrund der informellen Natur der DIY-Bio-Bewegung nicht genau wissen kann – als diejenige, die als Erste ernsthaft mit einem konkreten Ziel und erfolgreich DIY-Biologie betrieben hat. Sie wollte wissen, ob sie ein Gen geerbt hat, das ihren Vater und einige andere in Kays Stammbaum an der Eisenspeicherkrankheit Hämochromatose hatte erkranken lassen. Bei Hämochromatose scheidet der Körper überschüssiges Eisen aus der Nahrung nicht aus, sondern lagert es in den Organen ab. Die Erkrankung tritt dann auf, wenn man von beiden Eltern je ein mutiertes Hämochromatose-Gen geerbt hat. Kay wollte im Heimexperiment prüfen, ob sie wie ihr Vater zwei defekte Genversionen hat. Wäre das der Fall, hätte sie noch rechtzeitig eine Therapie starten können, um bei sich Organschäden zu verhindern.

Um ihre Frage zu beantworten, brauchte sie ihr eigenes Erbgut, gewonnen aus der Mundschleimhaut, und sogenannte Primer als spezielle Zutaten für die in ihrem Schrank stehende Gen-Vervielfältigungsmaschine. Primer sind kleine, aber spezielle Stücke Erbmaterial, die es möglich machen, entweder das normale Gen zu vervielfältigen und später auf einem Gel sichtbar zu machen oder das krankhafte. Kay bekam sie über eine Biotech-Firma namens Codon Devices, für die sie eine Zeitlang gearbeitet hatte.

Tatsächlich fand sie in ihrem Erbgut die mutierte Genkopie ihres Vaters. Sie konnte aber auch das intakte, von ihrer Mutter vererbte Gen bei sich nachweisen. Das heißt, sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht an Hämochromatose erkranken, da für den Ausbruch der Krankheit beide Genkopien defekt sein müssen.

Neue Wissenschaft, wie sie aus Profi-Laboren erwartet wird, war Kays Arbeit nicht, aber eine neue Weise, Wissenschaft anzuwenden: persönlich, individuell, und von der betroffenen, interessierten Person selbst durchgeführt.

Sie hätte auch einfach einen Gentest bei einem Arzt machen lassen können so wie ihr Vater. Es waren dessen eher schlechte Erfahrungen, die sie dazu antrieben, es selbst zu versuchen: „Der Doktor drückte ihm nur ein zehnseitiges Dokument in die Hand, das eigentlich für Genetiker, nicht für Laien bestimmt ist“, erzählt Aull. „Mein Vater ist Ingenieur, kein Biologe, und quälte sich, das alles irgendwie zu verstehen.“ Das habe sie motiviert, den Gentest selbst zu versuchen, um „Leuten in einer ähnlichen Situation klarzumachen, dass Gentests keine Zauberei sind, sondern auch nicht schlimmer als ein Ölwechsel am Auto.“

Dazu kam eine große Portion Ehrgeiz. Sie wollte zeigen, dass man „so etwas“ in einem improvisierten 500-Dollar-Labor genauso bewerkstelligen kann wie in einem Institut mit Millionen-Budget. Dafür musste sie nicht die Wissenschaft oder auch nur einzelne Techniken neu erfinden, sondern nur die Art, Wissenschaft zu betreiben. Bei ihr kommt es eher auf Kreativität und Improvisationsfähigkeit an, und nicht auf die beste Ausrüstung. „Das Aufregendste an DIY-Biologie ist, dass es jeder tun kann, es ist keine Magie, sondern Chemie“, sagt Kay Aull.

In ihrem Schranklabor hätte sie auch nach Erbanlagen für andere Krankheiten wie zum Beispiel Parkinson oder manche Formen von Krebs suchen können. Doch anders als bei Hämochromatose hätte sie dann mit der Diagnose nicht viel mehr anfangen können, als mit der Last dieses Wissens zu leben, bis die ersten Beschwerden auftreten. Denn bei den meisten Krankheiten, deren Risiko genetisch bestimmt oder zumindest mitbestimmt ist, gibt es bislang kaum oder keine Möglichkeiten, das Ergebnis eines Gentests zur Vorbeugung zu nutzen. „Jeder Mensch trägt solche genetischen Geheimnisse in sich, das Wissen darum kann sehr belastend sein“, sagt Kay.

Wer Do-it-yourself-Biologie betreibt, macht sich besser vorher Gedanken, ob die Resultate auch Schaden anrichten oder andere unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich ziehen könnten.

Erstaunlich ist nicht nur, was Kay Aull mit einfachsten Mitteln über sich herausfinden konnte, sondern auch, wie wenig sie das Ganze – von Gebrauchtgeräten bis hin zu den speziellen Genfragmenten – kostete. Könnte ihr Gentest für die persönliche Genetik einmal das darstellen, was der erste Apple-Computer im Jahr 1976 für unseren digitalen Alltag heute bedeutet? Hat der erste selbstgemachte Gentest einen Weg in eine Zukunft der personalisierten Medizin eröffnet? Kay Aull blickte in ihre Erbanlagen und erspähte dabei weit mehr als nur ein Krankheitsrisiko – sie lernte etwas über sich selbst. In diesem Sinne ist sie wahrscheinlich tatsächlich die erste echte Biohackerin, denn bevor man eine Software oder eine Maschine umprogrammieren kann, muss man sie verstehen.

Kay, die heute in San Francisco lebt und dort „Quantitative Biologie“ studiert – ein Fach, das versucht, Physik, Mathematik, Biologie, Informatik und Ingenieurswissenschaften unter einen Hut zu bringen –, ist vielleicht die erste echte DIY-Experimentalbiologin gewesen. Mac war vielleicht der erste DIY-Bio-Lobbyist. Die einzigen sind die beiden schon lange nicht mehr. Und um moderne Biologie außerhalb der Grenzen von Unis, Akademien und Biotech-Unternehmen zu betreiben, verlässt sich auch längst nicht jeder auf ein Kleiderschranklabor oder eine Ecke in einer Gemeinschafts-Bastelwerkstatt.

Kapitel 2 ...

... in dem wir mitten in der Nacht ein Geheimlabor besuchen, uns über Teppichboden wundern, misstrauisch beäugt werden und ein paar Biotech-Pferde durchgehen sehen, um schließlich in New York großen Kindern auf dem Gen-Spielplatz zuzuschauen und an den deutschen Frauenfußball zu denken ...

BIOTECH-SUBURBIA

John Schloendorn kämpft gegen den Tod. Nicht gegen seinen eigenen, sondern den Tod. Es ist ein für ihn unerträglicher Fehler der Natur, dass der menschliche Körper altert und irgendwann nicht mehr funktioniert. Deswegen kämpft er mit allen Mitteln, um den Schalter zu finden, der das Altern abstellt. Er kämpft mit seinem Herzen, seinem Hirn und selbst mit seinem eigenen Blut. Sein Arbeitsplatz ist allerdings kein Labor in einem Biotech-Konzern oder an einer Universität, sondern eine Garage im Silicon Valley.

April 2010. Über uns kalifornischer Frühlingssternenhimmel, um uns herum amerikanische Vorstadt. So wie man es sich vorstellt: Ein Einfamilienhaus sieht aus wie das andere, sogar die Grashalme vor jedem Anwesen sind auf dieselbe Millimeterlänge gestutzt. Es ist schon halb elf in der Nacht, aber hinter den Bäumen donnern die Autos über den Freeway, als müssten Tausende jetzt schnell sehr, sehr Wichtiges erledigen. Der Straßenzug hier aber wirkt schon wie im Tiefschlaf, was wahrscheinlich auch tagsüber nicht anders ist. Nur hinter drei Fenstern flackern noch bläulich Fernsehbilder. Das Haus, vor dem wir geparkt haben, ist dunkel. Dabei sollten wir hier John treffen.

Unter dem Garagentor hervor bricht sich ein dünner Lichtstrahl den Weg in die Nacht. Wir klingeln an der Haustür, und einen Augenblick später steht ein schlaksiger Mann vor uns, der uns ohne Umschweife durch eine fast leere Küche und einen kahlen