Bunte Steine - Benjamin Bühler - E-Book

Bunte Steine E-Book

Benjamin Bühler

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Beschreibung

Wie unterhaltsam und aufschlussreich es sein kann, sich Menschenbildern sowie wissenschaftsgeschichtlichen Konstellationen über den Umweg von Wissensfiguren aus der Tier- und Pflanzenwelt zu nähern, haben Benjamin Bühler und Stefan Rieger in »Vom Übertier« und »Das Wuchern der Pflanzen« bewiesen. Sie zeichneten nach, wie unschuldige kleine Erbsen ins Kreuzfeuer von Darwinisten, Katholiken und stalinistischen Forschungspolitikern geraten konnten und wie es der virtuellen Mickey Mouse gelang, sich Mitte des 20. Jahrhunderts unter die Tiere aus Fleisch und Blut zu mischen. Mit dem »Machinarium« und dem »Lapidarium« vervollständigen sie nun ihre Wissensgeschichte der epistemischen Dinge. In üppig illustrierten Vignetten über Hamsterräder und Automobile, über Ohrsteine und Flüssigkristalle schlagen sie den Bogen von den Experimenten, die der Psychoanalytiker Josef Breuer zum Gleichgewichtsorgan durchführte, zu den Lagesensoren, die in moderne Smartphones verbaut sind; vom Hamsterrad gelangen sie zu den Tretmühlen, die zur Therapierung Tobsüchtiger ersonnen wurden, und zu den ruhelosen unternehmerischen Selbsten der Gegenwart.

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Seitenzahl: 344

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Mit dem Lapidarium legen die Autoren den vorletzten Band ihrer Tetralogie vor, in dessen Mittelpunkt mit Mineralien und Steinen das dritte Reich der Natur steht. Gerade die Steine, die das Unbelebte verkörpern, erweisen sich dabei als äußerst dynamische Gebilde. Wie bereits für Tier und Pflanze, deren Vielfalt die Vorgängerbände gewidmet waren, so zeigt sich auch für die Steine, daß jegliche Bemühungen, zwischen den Seinsarten Grenzziehungen vorzunehmen, immer wieder selbst an ihre Grenzen stoßen. Zugleich fördert eine Wissensgeschichte der Steine eine Vielzahl spezifischer Phänomene zutage: Dazu gehören etwa Methoden der Datierung oder der Kristallzüchtung, Theorien der Zeitlichkeit oder der agency der Dinge und nicht zuletzt spezifische Disziplinen wie Mineralogie, Biogeochemie oder Quantenphysik.

 In üppig illustrierten Vignetten über Goniometer, Ohr- und Zungensteine, Bezoare und Flüssigkristalle schlagen die Autoren den Bogen von der paläontologischen Semiotik, die Fossilien als Zeichen des Vergangenen liest, zu Experimenten, die der Psychoanalytiker Josef Breuer zum Gleichgewichtsorgan durchführte; von Radionukliden, die nach Atomwaffentests menschliche Körper verstrahlen, über Lagesensoren, die in moderne Smartphones verbaut sind, gelangen sie zu Quarzkristallen, die, einmal entsprechend programmiert, als Äquivalente zu Wünschelruten herhalten können.

Benjamin Bühler ist Germanist und Kulturwissenschaftler. Derzeit ist er als Heisenberg-Stipendiat am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin tätig.

 Stefan Rieger ist Professor am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung (eu 46) und

Benjamin BühlerStefan Rieger

Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2655.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

Inhalt

EinleitungDramatis lapides** Bezoar** Erde** Flüssigkristall** Grenzstein** Kalkspat** Kohle** Ohrstein** Phosphor** Quarz** Radionuklid** Sand** Transuran** Turmalin** ZungensteinLiteraturverzeichnisAbbildungsverzeichnis

Einleitung

Den Rest gab ihm das Auftreten des Dozenten Bohu Wamohu aus Kulahari, der sich in Oxford befand, weil er ein Schwager des Kulturministers war und eine Arbeit mit dem Titel »Der Stein als Antriebsfaktor des europäischen Denkens« vorgelegt hatte.

Es ging ihm darum, daß in den Namen der Menschen, die bahnbrechende Entdeckungen gemacht hatten, der Stein auftritt, z. ‌B. im Namen des größten Physikers (EinSTEIN), des größten Philosophen (WittgenSTEIN), des größten Theaterleiters (FelsenSTEIN), aber auch im Namen der Schriftstellerin Gertrude STEIN und des Philosophen Rudolf STEINer. Was die Biologie betrifft, so zitierte Bohu Wamohu den Verkünder der hormonalen Verjüngung STEINach, und zum Schluß versäumte er nicht hinzuzufügen, Wamohu heiße auf lamblisch soviel wie »Stein aller Steine«.

Lem 2003 [1957], 439

Drei Naturreiche

Die Steine sind als Naturobjekte den Pflanzen und Tieren gleichberechtigt. So brachte der Arzt Emanuel König (1658-1731) die geläufige neuzeitliche Ordnungsform auf den Begriff der drei Naturreiche, denen er denn auch drei Werke widmete: Regnum animale (1682), Regnum vegetabile (1686) und Regnum minerale (1688). Diese Dreiteilung blieb unbestritten bestehen. Dagegen herrschte bezüglich der internen Ordnung der Naturreiche kein Konsens unter den Naturforschern der frühen Neuzeit. Johann Friedrich Gmelin hält im Jahr 1777 fest, es habe zwischen den Jahren 1647 und 1775 über 27 verschiedene Systeme der Mineralogie gegeben (zitiert nach Adams 1954 [1938], 200). Für die Botanik hat Wolf Lepenies von Caspar Bauhin bis Carl von Linné 25 verschiedene Klassifikationssysteme ausgemacht (vgl. Lepenies 1978, 53f.) Selbst nach Carl von Linnés Ausarbeitung der bis heute weitgehend gültigen Differenzierung der Reiche in Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten und Varietäten blieben die Ordnungsformen Gegenstand zahlreicher Kontroversen, insbesondere wenn der Anspruch, ein natürliches System entwickelt zu haben, erhoben wurde.

Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Ordnungssysteme bedurfte es Kriterien für die Auswahl eines bestimmten Systems, welche Georges-Louis Leclerc de Buffon im ersten Kapitel »De la manière d'étudier & de traiter l'Histoire Naturelle« des ersten Bandes seiner Naturgeschichte Histoire naturelle, générale et particulière (1749) mit Hilfe eines Gedankenexperiments präsentierte: Man stelle sich einen Menschen vor, der bei seinem Erwachen aus einem tiefen Schlaf keinen der Gegenstände kennt, die ihn umgeben. Buffon führt diesen Menschen auf ein freies Feld, wo sich ihm Tiere, Vögel, Fische, Pflanzen und Steine darbieten. Dieser Mensch werde zwar zuerst nicht unterscheiden und alles vermengen, bald aber beginne er, leblose von lebendigen Dingen, Pflanzen von Tieren und dann auch auf dem Land, im Wasser und in der Luft lebende Tiere zu unterscheiden. Diese Ordnung sei unter all den bisher gemachten die am wenigsten willkürliche, weshalb sie allen anderen vorzuziehen sei. Dem möglichen Einspruch, man könne ja nicht sicher wissen, wo die Grenzlinien zwischen Tieren und Pflanzen, Pflanzen und Mineralien wirklich verlaufen und wie die drei Reiche der Natur voneinander abzutrennen seien, begegnet Buffon mit dem Hinweis auf die Offenheit und damit Veränderbarkeit des Wissens: Man dürfe die Kategorien eben nicht absolut und ausschließend formulieren.

Wie alle Bände »unseres Projekts« thematisiert auch das Lapidarium die Frage nach der – mit Michel Foucault gesprochen – Ordnung der Dinge. Widmete sich das Bestiarium der Differenz von Tier und Mensch, das Florilegium den kulturellen Dimensionen der Pflanzen und bezieht das Machinarium das Reich der Artefakte ein, so richtet das Lapidarium seinen Fokus auf eine andere Differenz. Denn die Steine markieren als unbelebte Objekte die Grenze zwischen Nichtleben und Leben, zwischen anorganischer und organischer Natur. Damit steht auch ein Lapidarium im Horizont des Wissens vom Menschen, wie sich etwa am Beispiel der philosophischen Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts zeigt. Während Max Scheler die Unterscheidung anorganisch/organisch voraussetzt und sich gleich dem Aufbau der »biopsychischen Welt« widmet, stellt Helmuth Plessner gerade diese Unterscheidung ins Zentrum seiner Überlegungen zur theoretischen Biologie, um zu konstatieren: Nur lebende Körper haben ein besonderes Verhältnis zu ihrer eigenen Grenze (vgl. Plessner 2003, 175f.). Und schließlich ist hier auch der vielzitierte, die Pflanze ausnehmende Satz von Martin Heidegger anzuführen: »[D]er Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend« (Heidegger 1983 [1929/30], 261). Sowohl Plessner als auch Heidegger rekurrieren hierbei auf avancierte biologische Forschungen, etwa auf Wilhelm Roux' Entwicklungsmechanik, Wolfgang Köhlers Gestalttheorie oder Jakob von Uexkülls Umweltlehre, lassen die anorganische Natur dafür aber völlig unbestimmt. Die anorganischen Objekte stehen somit in der Position eines zugleich eingeschlossenen und ausgeschlossenen Dritten: Ohne sie läßt sich »Leben« nicht bestimmen, zugleich scheiden sie als unmarkierte Objekte aus den jeweiligen Theorien aus – nicht ohne als Gespenster wiederzukehren, etwa in der Kristallisation der Kultur. Darunter verstand der philosophische Anthropologe Arnold Gehlen den Eintritt eines Zustandes auf irgendeinem kulturellen Gebiet, in dem alle darin angelegten Möglichkeiten grundsätzlich entwickelt seien, das heißt, ein »kristallisiertes System« ist nach Gehlen zwar noch beweglich, allerdings finden Neuigkeiten und Überraschungen nur noch in einem bereits »abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundsätze« statt (Gehlen 2004 [1961], 307).

Die Dynamik der Steine

Dabei zeigt gerade der Kristall, daß Steine weder auf leblose Dinge noch auf passive Objekte reduziert werden können, sind ihre Beziehungen zum Reich des Lebendigen doch weitaus vielfältiger und komplexer. Eben aus der Analogie zwischen der Kristall- und der Zellbildung entwickelte der Physiologe Theodor Schwann eine Theorie, gemäß der die Annahme einer spezifischen Lebenskraft obsolet ist, denn, so Schwann in seiner wegweisenden Studie Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Thiere und Pflanzen (1839), die »Grundkräfte des Organismus« stimmen »wesentlich mit den Kräften der anorganischen Natur überein« (Schwann 1987 [1839], 99 und 103). Der Vergleich mit den Kristallen (ebd., 114) öffnete somit in der Zelltheorie den Weg zu einer auf Physik und Chemie gegründeten Biologie – auch wenn Schwanns Theorie einer extrazellulären Entstehung von Zellen ein schnelles Ende fand, denn nach Rudolf Virchow galt: Jede Zelle kann nur aus einer anderen Zelle entstehen (»Omnis cellula e cellula«).

Die Betrachtung der Steine als passive Objekte ist demnach nur eine Seite ihrer Kultur- und Wissensgeschichte, denn sie sind alles andere als nur das unmarkierte Gegenüber der dynamisch erscheinenden lebenden Objekte. Die Steine sind vielmehr Akteure, die die Grenze zwischen Unbelebtem und Belebtem immer wieder überschreiten. Als in Ovids Metamorphosen (Ovid 1964, 38) nach der großen, von Jupiter veranlaßten Überschwemmung nur Deucalion und Pyrrha überleben, werfen sie auf Anweisung der Göttin Themis Steine hinter sich, die sodann ihre Härte und Starrheit verlieren und Menschengestalt annehmen. Der in christlichen Sagen erfundene Gral wiederum ist der lebenspendende Stein schlechthin – wenn auch (möglicherweise) nur aufgrund eines Übersetzungsfehlers. Denn in der Vorlage von Wolfram von Eschenbachs Parzival, Chrétien de Troyes' Roman Perceval, bezeichnete der Gral das Gefäß, in dem man die Hostie aufbewahrte. Bei Eschenbach jedenfalls heißt es: »dâ wont ein werlîchu schar. / ich will iu künden umb ir nar. / si lebent von einem steine: / des geslähte ist reine.« (»Die Truppe ist sehr kampferprobt. / Ich sage Euch, wovon sie leben: / alle dort ernährt ein Stein, / in seinem Wesen äußerst rein.«) (Eschenbach 2006, 777f. [469, 1-4]) Die Menschen auf der Gralsburg leben von dem Stein, vom grâl, dessen Wesen rein sei. So hält er Anfortas trotz seiner vergifteten Wunde am Leben, und auch der erste Gralshüter Titurel stirbt trotz seiner unheilbaren Lähmung dank des Grals nicht.

Es ist gerade die Literatur, die die Dynamik der Steine immer wieder herausstellt und somit die Grenzlinien zwischen den Reichen der Natur unterläuft. So ist der Titel unseres Lapidariums denn auch einem literarischen Text entlehnt, nämlich Adalbert Stifters Erzählsammlung Bunte Steine (1852). In der Einleitung zu diesem Buch verweist Stifter auf drei zentrale Semantiken, die mit dem Stein ins Spiel kommen: Erstens erscheint der Stein als Gebrauchsobjekt, denn aus Steinen verfertige man »Täfelchen, Würfel, Ringe und Petschafte« (Stifter 1982 [1852], 17); zweitens als ästhetisches Objekt, wenn ein Stein nämlich »geheimnisvoll glänzte und leuchtete und äugelte« (ebd., 18); drittens als wissenschaftliches Objekt, nämlich als Teil einer Sammlung. Indem Stifter darüber hinaus die Ökonomie, Ästhetik und Wissenschaft der Steine durch seine Erzählungen kurzschließt, knüpft er an die Tradition der Lapidarien an, welche, wie der Orientalist Moritz Steinschneider in seinem kulturgeschichtlichen Versuch über Lapidarien betont, einen »verhältnismäßig reiche[n] Literaturzweig« des Mittelalters bildeten und in denen sich merkantilistische, naturhistorische, medizinische, mystische, magische und moralische Aspekte verschränkten (Steinschneider 1897, 42). Bei Stifter geht es allerdings nicht mehr um die heilsamen Wirkungen oder die Symbolik von Edelsteinen. Wenn er die Steine – die Überschriften der Erzählungen lauten »Granit«, »Kalkstein«, »Turmalin«, »Bergkristall«, »Katzensilber« und »Bergmilch« – in einen literarischen Kontext stellt, hebt er vielmehr ihre vielfältigen semantischen Dimensionen heraus: »Weil es unermeßlich viele Steine gibt, so kann ich gar nicht voraus sagen, wie groß diese Sammlung werden wird.« (Stifter 1982 [1852], 19) Sowohl die Literatur als auch die Wissenschaft schreiben sich demnach entlang den unermeßlich vielen Gegenständen ins Unendliche hinein fort. Stifter schließt hier nicht zuletzt an die Romantik an, etwa wird in E. ‌T. ‌A. Hoffmanns Erzählung »Johannes Kreislers Lehrbrief« aus seinen Fantasiestücken in Callots Manier (1814) gerade ein Stein zum Zeichenträger, das auf ihm wachsende Moos bildet die »seltsamsten Figuren«, »Zeichen«, die sich einer eindeutigen Bedeutungszuweisung entziehen bzw. die gerade den Raum eines unendlichen Spiels der Signifikanten eröffnen (Hoffmann 1966 [1814], 323).

Das Reich des Mineralischen ist somit gerade nicht stumm, leblos und passiv, im Gegenteil: Steine führen eine Semiotik der Dinge vor, an welcher deutlich wird, daß von den Dingen eine, wie Hartmut Böhme schreibt, »formative Kraft« ausgeht: »Kurz gesagt: Dinge tun etwas mit den Menschen (und nicht nur wir mit ihnen).« (Böhme 2006, 18f.) Diesem Tun der Dinge geht unser Lapidarium nach: So stellen zum Beispiel Objekte wie der Bezoar oder die Flüssigkristalle die Grenzen der Mineralogie in Frage, während Grenzsteine Unterscheidungen fixieren; fossile Objekte wie die Zungensteine konstituieren eine spezifische Semiotik zur Rekonstruktion des Vergangenen, während Transurane die instabile Materialität moderner Dinge in den Fokus rücken; Kohle konfrontiert die Zeit der Ökonomie mit derjenigen der Sedimentierung, während der Ohrstein unterschiedliche Bewegungsformen experimentell nachstellen läßt und anläßlich des Turmalins neue Akteursmodelle beschreibbar werden. In diesem Sinn untersucht das vorliegende Lapidarium die Modi, in denen Steine als Objekte und als Akteure Dynamiken und Vernetzungen von Wissen erzeugen.

Geologie der Zeit

Vor allem aber stellen Steine etwas mit der menschlichen Zeit an. In Andreas Gryphius' Gedicht »Weicher=Stein« (1663) bringt ein als Kartentisch fungierender Stein nicht nur Freunde aus »vier benachbarten Fuerstenthuemern zusammen«, sondern erscheint als »Ebenbild der Welt / auff der wir Blutt und Leichen // Und Ehr' und Hab und Stand umb ein gewisses Zill // Ja wol die Seele selbst offt setzen auff ein Spill« (Gryphius 1964 [1663], 53). Der Stein erweist sich somit als mehrfache Allegorie (vgl. dazu ausführlich Kaminski 1998, 54-60): Er stellt einen Versammlungsort und zugleich das Ebenbild der Welt dar und ist damit auch die Bühne, als welche die Welt im Sinne der theatrum mundi-Metapher verstanden wird. Gryphius spielt hiermit auf den vanitas-Gedanken an, der Mensch ist, wie es in Gryphius' Gedicht »Es ist alles eitel« heißt, dem »Spiell der Zeitt« ausgesetzt (Gryphius 1963 [1663], 34). Die mit dem Stein aufgerufene Zeitlichkeit verleiht ihm denn auch, mit Walter Benjamin formuliert, einen Platz im »Inventar der Sinnbilder« der Melancholie, hat diese ihren Grund doch gerade in der »Gebrechlichkeit der Kreatur« (Benjamin 1974a [1928], 331 und 321).

Die mit den Steinen in Erscheinung tretende andere Zeitlichkeit sollte zum Charakteristikum der Geologie werden. Der Paläontologe und Wissenschaftshistoriker Stephen Jay Gould schloß für die Beurteilung der Bedeutung der Geologie an Sigmund Freuds Rede von den Kränkungen des Menschen an. Denn Freud habe die große zeitliche Begrenzung, welche die Geologie dem Menschen auferlegte, vernachlässigt, nämlich »the discovery of ›deep time‹« (Gould 1987, 2; den Ausdruck deep time, Tiefenzeit, übernimmt Gould von dem Sachbuchautor John McPhee). Die Melancholie hält denn auch Einzug in die Geologie, wie Gould mit einem Zitat aus George Lyells Hauptwerk Principles of Geology (1833) vorführt:

Such views of the immensity of past time, like those unfolded by the Newtonian philosophy in regard to space, were too vast to awaken ideas of sublimity unmixed with a painful sense of our incapacity to conceive a plan of such infinite extent. Worlds are seen beyond worlds immeasurably distant from each other, and beyond them all innumerable other systems are faintly traced on the confines of the visible universe. (Zitiert nach Gould 1987, 2)

Lyell reagiert hier – mit Bezug auf das Werk des Geologen James Hutton – auf die die disziplinären Grenzen der Geologie überschreitenden Konsequenzen der um 1800 in Erscheinung tretenden Tiefenzeit. Auch wenn hier eine radikale Öffnung der Zeitvorstellung erfolgte, reicht die Tiefenzeit doch bis ins 17. Jahrhundert zurück, denn nach Martin Rudwick war die Geologie als Wissenschaft von der Erde die erste historische Wissenschaft und leistete bereits im 17. Jahrhundert ein Aufbrechen der insbesondere biblischen Zeitauffassung, wie der treffende Titel seiner Studie deutlich macht: Bursting the Limits of Time (Rudwick 2005, vgl. zur Geologie nach 1800 Rudwick 2008).

Ihr Pendant finden Lyells Ausführungen im Werk Stifters, der wie kaum ein anderer die radikale Kluft zwischen der Zeit der Steine und der Zeit des Menschen ausgestellt hat. Seine Erzählung »Der Hochwald« (1841) zum Beispiel beginnt mit einem regelrechten Zoom von einem den »Gränzknoten« zwischen dem böhmischen Land, Österreich und Bayern bildenden »derben Gebirgsstock« und dessen Wald hin zu den Protagonisten der Erzählung (Stifter 1980 [1841], 211). Der in Stunden gemessenen Zeit des Wanderers steht hier eine »wilde Lagerung zerrissener Gründe« gegenüber, bestehend aus dem »dunklen Todtenbette tausendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend« (ebd., 212). Vor dem Hintergrund dieses »Felsentheaters« (ebd., 213) spielt sich die folgende Geschichte ab, die nicht zufällig auf dem Schauplatz einer Ruine enden wird, welche ihre ästhetische Wirkung aus ihrem »Vergangenheitscharakter« erhält, wie es der Soziologe Georg Simmel in seinem Essay »Philosophische Kultur« aus dem Jahr 1911 formuliert. Die Ruine schaffe nämlich die »gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens […] nach seiner Vergangenheit als solcher« (Simmel 1996 [1911], 294). Allerdings verschmelzen bei Stifter die Gegensätze von Vergangenheit und Gegenwart nur bedingt in einer »Einheitsform« (ebd., 295), denn bricht der Beginn der Erzählung die Vergangenheit in eine geologische Tiefenzeit auf, so endet sie gerade mit der Aufhebung der Zeit selbst.

In Stifters Werk affiziert die Zeit der Steine auch die der Menschen. Zwar repräsentieren die Steine die Tiefenzeit, aber sie unterstehen dennoch einem Prozeß der Veränderung, in der Terminologie der Mineralogie des 19. Jahrhunderts ausgedrückt: der Verwitterung. Stifters Texte arbeiten diese »Epistemologie der Verwitterung« poetisch aus, indem in ihnen sowohl Gesteine als auch Traditionen zersetzt werden (Vogel 2013). Die geologische Zeit relativiert somit zum einen die menschliche Zeit aufgrund ihrer Länge, zum anderen verweist die Verwitterung der Steine auf die Instabilität der menschlichen Wirklichkeit.

Mit den Steinen treten aber ebenso Formen der Ermächtigung über die Tiefenzeit auf. Eine zentrale Strategie der Zeitbeherrschung ergab sich aus der Verräumlichung der Zeit durch die Metapher der Schicht. Die Stratigraphie verknüpfte bereits in ihren Anfängen, das heißt im Werk von Niels Stensen (1638-1686), geologische Schichten und Perioden über die fossilen Objekte. Abraham Werner, der große Geologe des späten 19. Jahrhunderts, etwa beschrieb Formationen anhand ihrer mineralogischen Komposition, ihrer topographischen Position und der enthaltenen Fossilien (vgl. Rudwick 1985a, 126). Während die Geologen den Fossilien eher wenig Aufmerksamkeit schenkten, formulierte Georges Cuvier das Prinzip der Stratigraphie gerade angesichts der fossilen Überreste des Palaeotherium (»altes Tier«) folgendermaßen: »the older the beds in which these bones are found, the more they differ from those animals we know today« (zitiert nach Rudwick 1985a, 127). Damit erhalten die Fossilien eine doppelte Bedeutung: Sie sind die Wissenschaftsobjekte der im 19. Jahrhundert auch disziplinär entstehenden Paläontologie, und sie sind technische Objekte der Paläontologie und Geologie, denn als Leitfossilien definieren sie spezifische geologische Epochen. So heißt es im International Stratigraphic Guide (1976): »The purpose of biostratigraphic classification is to organize rock strata systematically into named units based on content and distribution of fossils.« (Hedberg 1976, 45)

Die Verbindung zwischen Erdschichten und Zeitperioden markiert aber nicht nur eine zentrale Technik der relativen Zeitbestimmung, sondern erzeugt auch eine vor allem in den Humanwissenschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wirkmächtige Metapher. Dabei wird erstens die bei Charles Darwin durchaus netzwerkartig gedachte Evolution zu einer linear und hierarchisch organisierten »Stufenleiter des Fortschritts« (Haeckel 1872, 278; vgl. dazu ausführlich Bowler 1988), zweitens verlagern sich die geologischen Schichten in das Innere des Menschen und schreiben solchermaßen die geologische Zeit in den Körper ein. In Wilhelm Bölsches dreibändigem Werk Das Liebesleben in der Natur (1905) zum Beispiel lagern im menschlichen Leib »Altersschichten« wie in einem Bergwerk aufeinander (Bölsche 1905, Bd. II, 157), der Leib sei die »tiefere selbständige Schicht der Individualität« (ebd., 388). Der Psychologe Ernst Kretschmer wiederum leitet aus dem Schichtcharakter eine ganze Psychopathologie ab, denn Krankheiten wie Hysterie oder Schizophrenie seien dadurch gekennzeichnet, daß »entwicklungsgeschichtlich niedrigere psychomotorische Funktionsweisen an die Oberfläche kommen« und die Führung über die entwicklungsgeschichtlich höheren Zentren übernehmen (Kretschmer 1939, 45). Es ist somit das »Durchschlagen« der entwicklungsgeschichtlich älteren, und das heißt stets niederen Zentren, das zu Krankheit, Irrsinn oder Verbrechen führt. Auf den Punkt brachte die Verlagerung der Schichten in den Körper Gottfried Benn in seinem Essay mit dem sprechenden Titel »Der Aufbau der Persönlichkeit. Grundriß einer Geologie des Ich« (1930). Benn macht in diesem Essay, der sich wie eine Diskursanalyse der Humanwissenschaften liest, im Schichtungscharakter des Psychischen den Kerngedanken der modernen Humanwissenschaften aus.

Die Zeit läßt sich aber nicht nur durch Fossilien bestimmen, auch die Elemente selbst fungieren als technische Objekte der Zeitmessung, wie die verschiedenen radiometrischen Methoden vorführen, welche auf der Zerfallsrate von Atomkernen beruhen. Radioaktive Isotope charakterisiert man hierbei anhand ihrer Halbwertszeit, der Zeitspanne also, innerhalb deren die Hälfte der Kerne zerfällt, und der bei dem Zerfall freiwerdenden Energie. Da die radioaktiven Isotope unterschiedliche Halbwertszeiten haben, lassen sich mit ihnen auch unterschiedliche Zeitdimensionen abdecken. Zum Beispiel zerfällt Kalium 40 in ca. 1,3 Milliarden Jahren zur Hälfte in Argon 40, so daß man mit Kenntnis der Halbwertszeit sowie der Konzentration der Anteile von Kalium und Argon das Alter des jeweiligen Gesteins bestimmen kann. Für biologische Fragestellungen eignet sich dagegen die Kohlenstoff-14-(14C)-Methode, weil 14C (Halbwertszeit ca. 5760 Jahre) gemeinsam mit dem gewöhnlichen Kohlenstoff 12C durch Photosynthese in den Stoffwechsel der Pflanzen gelangt. Da ein toter Organismus kein neues 14C aufnimmt, läßt sich so das Alter des organischen Materials feststellen (vgl. ausführlich zu solchen Methoden Dalrymple 1991; Hedmon 2007).

Mit den Steinen eröffnet sich somit zwar ein unermeßlicher Zeitraum, der insbesondere im 18. Jahrhundert die biblischen Zeitvorstellungen verblassen läßt, zugleich aber bieten sie sich selbst an als Werkzeuge der Bändigung dieses Abgrunds der Zeit. Allerdings kann es sich stets nur um flüchtige Ermächtigungen handeln. Die Stratigraphie leistet schließlich zuerst einmal eine relative Zeitbestimmung, während die radioaktiven Uhren zwar der absoluten Zeitmessung dienen, doch nicht selten vervielfachen sich diese absoluten Zeiten aufgrund unterschiedlicher Meßmethoden und -agenten. Ein weiterer Aspekt der Zeit der Steine ist die Konfrontation unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Denn während zum Beispiel die Millionen von Jahren erfordernde Bildung fossiler Rohstoffe einen Prozeß der Entschleunigung darstellt, erfolgt deren Verbrauch gerade im Modus der Beschleunigung. Und zu guter Letzt eröffnen die Steine auch umgekehrt den Raum der Zukunft: ob das Zeitalter des Anthropozäns eingeläutet wird oder ob Zukunftsvisionen eine menschenleere Welt der Steine entwerfen.

Wie kaum ein anderer hat der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois das imaginative Potential der Steine ausbuchstabiert. Sein Buch Pierres (1966) folgt dabei selbst einer imaginativen Ordnungsform, wenn er kieselhaltigen Sinterungen, Kupfer, Achat, Quarzphantom, widernatürlichen Steinen oder auch Dendriten, den Verzweigungen auf Steinen, Kapitel widmet. Pointiert bringt er hierbei die Zeitlichkeit der Steine auf den Punkt: »Von Steinen spreche ich, die älter sind als das Leben und die nach ihm, wenn es das Glück erfuhr, auf ihnen zu erblühen, auf den erkalteten Planeten fortdauern.« (Caillois 1983 [1966], 6) Bei Caillois dreht sich solchermaßen die Opposition von lebendig und leblos, denn es seien die Menschen, welche die Steine, die noch als zerbrochene ganz seien, um ihre Dauerhaftigkeit, ihre Härte, ihren Starrsinn und Glanz beneideten.

Wie Caillois' Schriften über Steine so geht auch dieses Lapidarium den diagonalen Verkettungen des an, mit und durch Steine konstituierten Wissens nach. Sein Gegenstand sind Wissensformen wie Mineralogie und Geologie, Geophysik und Biogeochemie, Theologie und Ökonomie, Paläontologie und Veterinärmedizin, Quantenphysik und Radioökologie. Indem wir unter die Kategorie Steine – der Offenheit unserer bisherigen Ordnungslogik treu bleibend – auch Fossilien, chemische Elemente und selbst die Erde oder tierische Exkremente fassen, gehen wir sowohl dem für dieses Naturreich spezifischen Wissen nach als auch seinen Rändern, an denen sich eine andere Geschichte des Lebens, der Zeit, des Menschen und nicht zuletzt des Sozialen abzeichnet.

Benjamin Bühler, Stefan Rieger

Bezoar

Ein rätselhaftes Ding zwischen Land und Meer, zwischen Stein und Baumharz ist der Bernstein. Die chemische Analyse spricht für die Zugehörigkeit zum Mineralreich. Auch wird aus ihm Öl bereitet, das dem Erdöl verwandt ist. Dagegen scheinen die in ihm gefundenen Blätter, Moose und Insekten für die Herkunft von Bäumen zu sprechen. Dies sind aber nur übriggebliebene Umrisse und gleichsam Schatten der eingeschlossenen Dinge: denn der Körper selbst ist längst verzehrt, und man findet ihn beim Öffnen niemals.

Leibniz 1949 [1749], 139

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