Bürgenstock - Silvia Götschi - E-Book

Bürgenstock E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Privatdetektiv Max von Wirth ermittelt rund um den Bürgenstock. Der ehemalige Anwalt Max von Wirth erhält seinen ersten Fall als Privatdetektiv: Ein erfolgreicher Jurist hat Selbstmord begangen. So sieht es die Polizei. Doch die Eltern des Toten glauben nicht an diese Theorie. Ihr Sohn war glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder. Von Wirth begibt sich auf eine Spur, die ihn auf den Bürgenstock und ins Haus 'Papillon' führt. Was harmlos beginnt, entwickelt sich bald zu einer mörderischen Jagd nach der Wahrheit.

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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete erst in Davos und dann im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und wohnt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende befindet sich ein Glossar.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/Keystone/GAETAN BALLY, Lumamarin/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-426-1

Originalausgabe

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Alles, was der Mensch insgeheimim Schutz der nächtlichen Finsternis tut,wird einmal ans Tageslicht gelangen.

Khalil Gibran (1883–1931)

Dieser Schmerz! Dieser unsägliche Schmerz.

Er drohte, ihren Körper zu spalten. «Ich kann nicht mehr», keuchte sie, während sie sich verzweifelt an zwei dünnen Pfosten festkrallte, die das obere Ende des Schragens zierten. Seit Stunden kauerte sie abwechselnd mit Herumgehen und Treppensteigen in dieser Stellung. Die Kraft war aus ihren Beinen gewichen. Sie wollte sterben.

Über ihr Gesicht lief der Schweiss in Strömen. Ab und zu wischte die Hebamme ihn ab, kam mit ihrem Gesicht ganz nahe. Sie roch nach Marzipan. Manchmal spürte sie deren Hände auf dem Rücken oder hörte tröstende Worte, die nur zaghaft ihr Denken erreichten.

Am Abend hatten die Wehen eingesetzt. Zuerst war es nur ein feines Ziehen gewesen, das mit der Zeit stärker wurde. Sie kannte es. Es begann im Rücken und breitete sich über den Unterleib aus. Während ihrer Menstruationen hatte sie immer gelitten. Stunden bevor das Blut aus ihrem Körper schoss.

Dieser Schmerz war anders. Intensiver und ging auch nach einer Tasse Tee nicht weg. Er kam, blieb, verschwand. Doch nie ganz.

Sie hatte sich für die Nacht bereit gemacht, als die Fruchtblase platzte. Erschrocken hatte sie sich an ihre mamacita gewandt, die nichts davon wissen wollte. «Kind», hatte sie gesagt, «das hast du dir selber eingebrockt. Warum lässt du dich auch mit einem so viel älteren Mann ein?» Danach waren die Kontraktionen stärker, die Abstände dazwischen kürzer geworden. Sie war ihrem Instinkt gefolgt, war zur Toilette gegangen, wo sie sich auf den Boden kauerte. Mamacita hatte sie so vorgefunden und es nicht übers Herz gebracht, ihre Tochter ihrem Schicksal zu überlassen.

Auf Anraten der Hebamme legte sie sich wieder hin. Sie liess sich vaginal untersuchen. Die Hebamme war anscheinend nicht zufrieden, was sie auf deren besorgtem Gesicht sah. Es wollte nicht vorwärtsgehen. «Erst vier Zentimeter», sagte sie. «Der Muttermund hat sich erst vier Zentimeter geöffnet.»

Sie verstand die Bedeutung nicht. Man hatte sie nie darüber aufgeklärt. Alles war ihr fremd, nur der Schmerz gegenwärtig. Ein Schmerz, der stetig zunahm und schier unerträglich wurde. Und die Tatsache, dass das, was in ihrem Bauch herangewachsen war, heute mit aller Gewalt hinauswollte.

«Ich befürchte, dass dein Becken zu schmal ist», sagte die Hebamme. «Kein Wunder bei deinem Alter. Ich muss den Arzt rufen.» Sie liess sie allein auf diesem Schragen in diesem Zimmer, das man Gebärsaal nannte.

Durch die schräg gestellten Rollläden fiel Licht. Draussen hatte der Smog die Stadt fest im Griff. Seit Tagen schon. Es war heiss und stickig. Hochsommer in Lima. Und die Klinik wie ein überhitzter Reaktor kurz vor dem Bersten.

Wie ihr Leib.

Die nächste Wehe meldete sich an. Ihr Bauch war hart. Der Schmerz fühlte sich genauso an. Er wollte nicht mehr enden. Herzton- und Wehenschreiber begleiteten sie, seit sie im Krankenhaus angekommen war. Das CTG-Gerät spuckte kontinuierlich einen Papierstreifen nach dem andern aus. Sie hörte das Pochen des fetalen Herzens. Es klang unregelmässig, wie ein Echo. Es blieb keine Zeit für Fragen. Die nächste Kontraktion zerriss sie wieder. Sie schrie.

«Du sollst nicht mehr liegen. Kauern musst du.» Die Hebamme war zurückgekommen, half ihr von der Liege. «Und atmen … richtig atmen …»

Atmen! Niemand hatte sie darüber unterrichtet, wie richtiges Atmen ging, als sie in der Nacht in Lima angekommen war. Ihr Vater hatte sie auf dem Truck hierhergefahren. Über diese Strasse mit den Schlaglöchern, von ihrem Wohnviertel aus. Er wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Er hatte sie in die Frauenklinik gebracht.

Da hatte sie ihre Hebamme zum ersten Mal gesehen und erfahren, was mit ihr in den nächsten Stunden geschehen würde. Vater war nach Hause zurückgekehrt. Er hatte sie genauso im Stich gelassen wie mamacita.

Endlich kam ein Arzt.

«Was haben wir?» Er war jung, trug eine Brille und den Arztkittel salopp offen.

Sie musterte ihn und wollte ihn nicht. Sie hasste Männer. Einer von ihnen hatte sie in diese Situation gebracht.

Er habe sie neun Monate durchgefüttert, hatte Vater auf der Schwelle zur Klinik hinausposaunt. Ab jetzt müsse sie allein für sich sorgen. Für sich und ihren Bastard. Noch hallten seine Worte nach.

«Ohne Geburtsvorbereitung. Sie ist erst fünfzehn.» Die Hebamme zeigte auf den Monitor. «Das hier steht uns bevor.»

«Ist sie versichert?»

«Nein, sie kommt aus der Pampa. Ihr Vater hat sie heute Morgen bei uns abgeliefert.»

«Wie schätzen Sie die Geburt ein?»

«Wir haben eine Querlage vor dem Geburtskanal. Ich glaube nicht, dass sich das eine Kind noch drehen wird.»

«Bitte, helfen Sie mir», rief sie. Erneut krallte sie sich an den Pfosten fest, glaubte, dadurch den Schmerz zu verringern. Sie verstand nichts von dem, was zwischen Hebamme und Arzt gesprochen wurde.

Der Arzt legte eine Hand auf ihren Bauch, während er mit der andern ein Funktelefon bediente. Er hielt es ans Ohr. «Jan hier. Bereiten Sie alles für eine Sectio vor.»

EINS

Wenn er gewusst hätte, dass ihm heute ein solches Bild vor die Linse geriet, hätte er sich bequemere Kleidung angezogen. Max von Wirth hatte nicht die Absicht, seine Digitalkamera wegzulegen. Das hier war sein Job, auch wenn er ihm in diesem Moment ans Lebendige ging.

Potz Donner! Dieser Körper.

Der Ton fehlte. Das war ein Hardcore-Stummfilm. Ein Pornoproduzent hätte ihn nicht besser hingekriegt. Der Blick auf das Bett war optimal. Max zoomte das Bild näher. Seine Auftraggeberin würde nicht grosse Freude daran haben, wenn sie die Fotos zu sehen bekam. Die Frau hier war eine echte Konkurrenz. Nahm der Teufel wunder, wo ihr Mann diese aufgegabelt hatte. Fünftausend Franken winkten Max, wenn er sie in flagranti erwischte. Fünftausend Franken für eine Vorführung, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Keiner würde es ihm abnehmen, wenn er später davon erzählte.

Das Liebespaar im Hotelzimmer war seit einer halben Stunde so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass es ihn nicht bemerkte. Hinter Max’ Rücken glitzerte der Vierwaldstättersee, am andern Ufer die Lichter von Stansstad und Kehrsiten. Und durch den Spalt der Vorhänge vor ihm glänzten schweissnasse Körper in wildem Ritt.

Seehotel Pilatus, zehn Uhr an diesem Dienstagabend. Sie hatten im Restaurant gegessen, ein aphrodisierendes Gourmet-Menü in Sternemanier, vom Koch am Tisch zubereitet. Max hatte ihnen gegenüber gesessen, allein mit einem Lamm-Entrecôte in Kräuter-Oliven-Kruste, allerdings in der Küche zubereitet. Das Essen war im Preis inbegriffen. «Bringen Sie mir den Beweis, dass mich mein Mann betrügt», hatte seine Klientin gesagt. Über die Höhe des Honorars diskutiere sie nicht, aber er könne sie selbst bestimmen. Max war viel zu anständig gewesen. Sein Zimmer lag neben dem des Ehebrechers, so hatte sie ihren ungetreuen Ehemann genannt. «Wenn er mit einer andern vögelt, so werde ich ihn von der Gehaltsliste streichen. Dann will ich die Scheidung und seinen Rauswurf aus meiner Firma.»

Max war über die Brüstung in Nachbars Balkon geklettert. Er war ein sportlicher Mann, besass genügend Kraft, um sich von einem zum andern Geländer zu hangeln. Er hatte sich versichert, dass er unbeobachtet blieb. Doch in dieser Jahreszeit und in der fortgeschrittenen Abendstunde schienen die Leute vor der Glotze zu hocken. Er erregte keine Aufmerksamkeit.

Sie war brünett, er kahlköpfig mit Brille, die er selbst beim Liebesakt trug. Max fragte sich, was sie an ihm fand. Zwischen ihnen lagen mindestens fünfzehn Jahre Altersunterschied. Es war das erste Mal, dass Max ihnen so nahe kam. Bislang hatte er sich damit begnügen müssen, dass sie einander küssten, wie zwei verliebte Backfische Händchen hielten oder verschmust spazieren gingen. «Das reicht mir nicht», hatte er zu hören bekommen. «Ich will Action.» Als hätte die Vorstellung ihren inneren Schmerz an die Grenzen bringen sollen. Er knipste im Sekundentakt. Der Alte brachte es doch tatsächlich mehrmals hintereinander.

Max hatte genug gesehen und Material gesammelt. Er würde mit gemischten Gefühlen seiner Klientin den USB-Stick aushändigen und wäre somit seinen Auftrag los. Er lechzte nicht danach, in fremde Zimmer zu sehen, und noch weniger, mit der Kamera auf Bilderjagd zu gehen, obwohl das nicht sein erster solcher Auftrag war.

Er kehrte über die Balkonbrüstung zurück in sein Zimmer. Die Szene nebenan hatte ihn aufgewühlt. Er wäre kein potenter Mann gewesen, hätte es ihm nichts ausgemacht. Er zog sich aus, stellte sich unter die Dusche und liess eiskaltes Wasser laufen. Es war ein Kälteschock, der seine Gedanken wieder ins Lot brachte.

Seit die Anwaltskanzlei, in der er gearbeitet hatte, geschlossen worden war und er eine eigene Detektei eröffnet hatte, fühlte er sich täglich tiefer sinken. Vielleicht hätte er eine neue Anstellung gefunden, wenn nicht zur fast gleichen Zeit sein Vater gestorben wäre. Dies hatte ihn an den Abgrund gebracht, an dem er noch immer zu stehen glaubte.

Max fühlte sich unglücklich. Er hatte zu seinem Vater eine gute Beziehung gepflegt. Selbst das Erbe hatte ihm nicht über diesen Verlust geholfen. Er hatte sich damit eine Wohnung in Hergiswil geleistet – ein kleines Trostpflaster, wie er fand. Sie lag am Sonnenhang in der Nähe der Matt. Er genoss einen wunderbaren Ausblick auf den See. Seine Arbeit als Detektiv erledigte er von zu Hause aus. In der Nachbarschaft wusste niemand, was er tat. Im Allgemeinen wurden in seinem Wohnquartier keine Fragen über die Herkunft der Bewohner gestellt. Die meisten seiner Nachbarn gehörten zu den Gutbetuchten, die in Hergiswil den Vorteil eines tiefen Steuerfusses genossen.

Max hatte sich trocken gerubbelt. Mit verwuselten Haaren stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten. Er fand, dass er ganz passabel aussah. Er war gross, hatte schwarze Haare, und seine Haut schimmerte braun, als wäre er andauernd an der Sonne. Seine Augen hatten jenes faszinierende Grün, das in seinen Träumen die Frauen reihenweise umkippen liess. Diesbezüglich besass er gute Gene, die er seiner Mutter Milagros von Wirth verdankte. Durch ihre Adern floss spanisches Blut.

Nachdem Max sich angezogen hatte, entschied er sich für einen Schlummertrunk an der Bar, bevor er nach Hause fuhr. Das Zimmer hatte er nur pro forma gebucht. Er würde morgen zurückkommen, um auszuchecken. Dann würde er wieder einmal über die Bücher gehen müssen. Nach dem Kauf der Wohnung, bei dem auch sein ganzes Erspartes draufgegangen war, musste er sich etwas einfallen lassen. Seine gelegentlichen Einsätze waren mit wenigen Ausnahmen nicht lukrativ.

Max kannte den «Pilatuskeller», ein Dancing, das auch Leute in seinem Alter anzog. Die Bar war legendär. Schon Max’ Mutter war dort Stammgast gewesen, allerdings unter anderen Voraussetzungen als ihr Sohn. Sie hatte, wie sie einmal hatte durchblicken lassen, einfach gern getanzt. Max dagegen mochte das Ambiente hier. Die Musik passte ihm, die von Live-Bands gespielt wurde und nicht bloss aus dem Repertoire eines DJs stammte.

Er lehnte sich ans obere Ende der Theke. Von hier aus sah er sowohl auf die Bühne als auch auf die Tanzfläche, wo sich verliebte Paare zu einer Schmusemelodie drehten. Die Strahlen einer ausgedienten Discokugel rotierten mit ihnen um die Wette. Eine unsichtbare Eismaschine spuckte Nebel in den Raum und verteilte fluoreszierendes Licht.

«Ciao, Max.» Der Barmann wischte mit einem Lappen die Spuren des letzten Gastes vom Tresen. «Lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir, alter Knabe?»

«Franco, hey, habe derzeit viel um die Ohren», log er. Nach dem Tod seines Vaters war er nie wieder richtig in die Gänge gekommen. Doch es lag ihm fern, darüber zu reden.

«Kann ich dir das Übliche bringen?»

«Eine Stange, gern.» Max beobachtete Franco, wie er ein Bierglas geschickt in den Händen drehte, bevor er es schräg unter den Zapfhahn hielt. Franco war im gleichen Alter wie Max, kleiner und dünner. Seine femininen Gesichtszüge versuchte er erst gar nicht männlicher aussehen zu lassen. Im Gegenteil. Er schminkte seine Augen, damit sie grösser und unschuldiger schienen. Er hatte einen gewöhnungsbedürftigen Stil, was die Kleider betraf. Heute trug er eine gestreifte Hose und ein geblümtes Hemd, das dem Outfit eines Clowns in nichts nachstand.

«Und, was tust du so?» Franco schielte zu ihm herüber. «Ich habe gehört, dass du deinen Job als Anwalt an den Nagel gehängt hast.»

«Bereits vor zwei Jahren», sagte Max leicht konsterniert. Franco sprach ihn jedes Mal, wenn er hier war, darauf an.

Franco stellte die Stange hin und rühmte sich des schönen Schaumkragens wegen. «Dein Herr Papa hat sich wohl verkalkuliert mit dir.»

Max’ Herzmuskel zog sich zusammen. Er wollte keine Energie darauf verwenden, die immer gleichen Antworten zu geben. Es hatte gereicht, dass ihm seine Mutter deswegen die Leviten gelesen hatte. «Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er das wüsste», hatte sie gejammert. «Wie kannst du nur einen gut bezahlten Job aufgeben und Privatdetektiv werden! Privatdetektiv! Mach die Augen auf! Es gibt überall Anwaltskanzleien, die dich mit Handkuss anstellen würden.»

Max hob das Bierglas und prostete Franco zu. Dieser wandte sich an neue Gäste.

Die Musiker – zwei Männer mit Gitarre, eine Frau am Schlagzeug und eine Sängerin – wechselten den Slowmodus zu Rock-Pop. Ein Stück aus den 1970er Jahren. Max kannte es aus Mutters Repertoire. Als kleiner Junge war er von ihren Lieblingsstücken täglich zugedröhnt worden. «It’s a Heartache» von Bonnie Tyler. Die Sängerin mimte sie perfekt. Allerdings hätte sie den Afrolook besser weggelassen.

Max nippte am Bierglas. Seine Augen durchdrangen den rötlich schimmernden Nebel, blieben eine Weile an der unteren Körperhälfte der Sängerin haften, und er fragte sich, ob sie noch Jungfrau war. Sie hielt sich am Mikrofon fest, als wollte sie ein Eis-Cornet verspeisen, während ihr Blick in seine Richtung fiel. Kein Zweifel: Sie flirtete mit ihm. Er sah woandershin. Nicht sein Beuteschema.

Plötzlich, als schösse ein Komet auf das Tanzrondell, tauchte dort eine Frau auf. Langbeinig, kräftig, atemberaubend schön. Sie war auf einmal da und aktivierte in Max einen Tunnelblick. Es war lange her, dass eine Frau ihn dermassen in ihren Bann gezogen hatte. Allein bewegte sie sich zur Musik, anmutig, ausserirdisch, so kam es ihm vor. Ein Vollblutweib mit wallender Lockenpracht, die ihr bis über das Gesäss reichte. Rote Haare! Sie hatte verdammt noch mal rote Haare. Oder blonde, die im Licht rot schimmerten. Sie hielt ihre Augen geschlossen, gab sich der Melodie hin. Drehte sich, wand sich, spielte mit Armen und Händen vor ihrem Gesicht, als müsste sie sich eines Gewirks von Spinnennetzen erwehren. Für Max wie eine stille Aufforderung.

Der Afrolook sang jetzt ein Lied von Phil Collins. Die Sängerin bewies, dass sie fähig war, in verschiedenen Tonlagen zu singen. Das Stück weckte bei Max die Sehnsucht nach einem Schritt in Richtung Tanzrondell.

Kaum hatte er sein Bierglas abgestellt, bewegten sich zwei Halbstarke mit einem unübersehbaren Hüftschwung in die Nähe der Begierde. Max blieb auf seinem Beobachtungsposten zurück und rätselte, was die Schöne aus den Annäherungsversuchen machen würde. Sie tat wie erwartet: nichts. Kurz schlug sie zwar die Augen auf, mass ihre Umgebung mit einem spöttischen Blick ab und gab sich in der Folge ganz sich selbst hin.

Keine Frage: Sie provozierte.

Max trank sein Bier aus.

«Noch eines?» Franco streichelte ihm über die Hand, was Max nicht als freundschaftliche, sondern als erotische Geste verstand, denn er kannte Francos sexuelle Ausrichtung. Schon während der Schulzeit hatte er ihm seine Zuneigung gezeigt.

«Kennst du die?», fragte Max und nickte in Richtung Discokugel.

Franco sah auf. «Ja, sie kommt immer mal wieder hierher, meistens an den Wochenenden.»

«Ihr Name?»

«Keine Ahnung. Ist nicht mein Typ.» Franco schmollte wie ein kleiner Bub, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte.

Max schmunzelte. «Sie hat wohl ein falsches Chromosom.»

Franco grinste zurück. «Falls du nichts vorhast heute Nacht, ich wüsste da schon etwas …»

«Erspar dir die Mühe.»

Geschmeidig wie eine Balletteuse tanzte sie in diesem eng anliegenden Kleid, das mehr preisgab als verhüllte, und den High Heels. Sie war eine echte Sünde. Wohlproportioniert, nicht zu mager – eine gesunde, robuste Frau. Sie brach das Tanzen ab. Augenscheinlich erschöpft wippte sie in Richtung Theke und wurde auf einmal sehr menschlich. Sie schwang sich unmittelbar neben Max auf einen Hocker und schleuderte ihre Haare in seine Richtung. Der angenehme Duft eines Parfüms streifte seine Nase. Er widmete sich dem zweiten Bier, ohne die Bewegungen der Fremden in seinen Augenwinkeln ausser Betracht zu lassen. Sie sah ihn an. Er guckte aufs Glas und seine Hände, die er darum herumgelegt hatte. Einer der zwei Halbstarken drängte sich zwischen ihn und die Frau. Max hörte ihn fragen, ob er ihr einen Drink spendieren dürfe. Sie lehnte ab. Max spürte Schadenfreude.

«Ich habe Sie nicht bestellt», sagte sie nur. Ihre Stimme klang dunkel und rauchig.

Sie sah Max an, wohl in der Erwartung, dass er sich nach ihr umdrehte oder ihr Retter in der Not war. Er trank vom Bier, leckte sich den Schaum von den Lippen. Er fragte sich, wie lange es wohl gehen würde, bis sie ihn ansprach.

Sie bestellte Champagner, einen Rosé. «Mit Erdbeeren», sagte sie. Ihr Blick blieb an Max haften. Er würde sie noch eine Weile zappeln lassen, nahm er sich vor. Die Fremde hatte es offenbar darauf angelegt, seine Schale zu knacken. Franco öffnete eine neue Champagnerflasche, griff nach einer Flûte und wollte einschenken.

«Bitte lieber ein Rotweinglas oder noch lieber einen Burgunderkelch.»

Max warf Franco einen Blick zu. Der erwiderte ihn augenzwinkernd. Das musste der Fremden nicht entgangen sein. «Sie kennen sich?»

«Wir gingen in dieselbe Klasse.» Franco tauschte die Gläser. Er goss den Champagner ein, servierte ihn und stellte eine Schale mit frischen Erdbeeren dazu, die er aus einem Kühlregal gezaubert hatte. «Er sass direkt hinter mir.»

Max erhob sich. Er konnte es nicht vermeiden, der Fremden ins Gesicht zu sehen.

Tatsächlich war er noch nie einer so faszinierenden Frau begegnet. In seiner Hose regte sich etwas. Er begehrte sie bereits, bevor er mit seinen Augen alles an ihr abgetastet hatte. Sie strahlte Kraft aus, ihre Aura war unglaublich. An den Enden ihrer sinnlichen Lippen zeichneten sich Vertiefungen ab, die nicht bloss vom Lächeln stammten. Max glaubte, auf ihnen etwas zwischen wilder Entschlossenheit und Zynismus zu lesen.

«Hab ich Sie vertrieben?» Sie zog kokett eine ihrer Brauen hoch, die wie gezeichnet über ihren Augen lagen. Dabei entgingen ihm nicht die geschwungenen Wimpern. Zu lang und zu dicht für echte.

Er sah sie belustigt an. Sie hatte tatsächlich rote Haare. Ihre Augen waren schwarz und mit einem dunklen Kajal umrandet. Smokey Eyes, fiel ihm ein, und er ging Richtung Ausgang.

Er hatte ihr nicht geantwortet. Er mochte dieses Spiel. Was sie daraus machen würde, gleiste die Fortsetzung des Abends auf. Er kannte das. Sie wäre nicht die Erste, die er von einer Bar abschleppte. Kaum hatte Max die Tür zu den Herrentoiletten erreicht, spürte er eine Berührung auf seinem Rücken. Und ehe er sich versah, prallte er mit dem Gesäss an die Wand.

«Findest dich wohl unwiderstehlich.» Ihre Hand griff in seinen Schritt.

Rollenwechsel. Er kam ausser Atem, fast auf Augenhöhe mit ihr. Sie küsste ihn ohne Voranmeldung. «Du bist unwiderstehlich.» Sie bugsierte ihn durch die Tür in den Waschraum und nestelte während dieses Unterfangens an seiner Hose. Er riss ihre Hände weg. «Ganz langsam, Baby.» Er wollte nicht, dass sie seinen Part übernahm. Er mochte es auch nicht, wenn die Frau ihn beim Tanzen führte. Er hatte seine Prinzipien. Er hob sie auf, setzte sie auf den Rand des Lavabos, schob ihr den Rock hoch. Es hätte ihn erstaunt, wenn sie Unterwäsche getragen hätte.

Sie küssten sich, als ginge es um Leben und Tod.

Alles an ihr war fest und muskulös. Nur ihre Brüste, die er unter ihrem Shirt ertastete, hatten etwas Weiches, Zartes an sich.

Als die Tür aufging, trieben sie keuchend zum Gipfel der Lust.

«Sorry», sagte jemand.

Die Rothaarige hielt kurz inne, sah über Max’ Schulter hinweg. Er ahnte, wie sehr es sie erregte. Sie stiess einen spitzen Schrei aus, in dem Moment, als er die Kontrolle über sich verlor und sie gemeinsam zu pochen begannen. Zu schön, um wahr zu sein.

Später beugte sie sich über das Lavabo, nachdem sie sich erfrischt und den Rock geordnet hatte. Sie zog ihre Lippen nach. Ihre Augen waren frech auf ihn gerichtet. «Ich bin Fede.»

***

Als Max erwachte, brummte ihm der Schädel. Vor dem Fenster zog der Morgennebel seine Spur. Max war es sich nicht gewohnt, unter der Woche so viel Alkohol zu trinken. Nachdem er gut gelaunt mit Fede an die Bar zurückgekehrt war, hatten sie eine Flasche Rosé-Champagner bestellt. Aus Burgunderkelchen, was ihm völlig gegen die Gewohnheit ging. Dazu hatten sie Erdbeeren gegessen, und er hatte sich darauf eingestellt, mehr über die Schöne zu erfahren, die ihm den Verstand geraubt hatte. Fede hatte die Hälfte des Glases in einem Zug ausgetrunken, bevor sie sich erhob und ihm zuzwinkerte. Sie müsse mal für kleine Mädchen. Er hatte ihr nachgeschaut und still vor sich hin gelächelt. Er hatte sie kaum eine Stunde gekannt und sie bereits erobert. Sich erobern lassen. Für einen Moment hatte er sich glücklich gewähnt.

Sie war nicht wieder aufgetaucht.

Max hatte die Flasche unter Francos mitleidigem Blick geleert und bezahlt und war danach nach Hause gefahren. Er hatte sich nicht einmal dazu aufraffen können, Franco nach der Fremden zu fragen. Sie erschreckte ihn. Offensichtlich gehörte sie einer neuen Generation von Frauen an, die den Tarif durchgaben, sich nicht zierten und sich nahmen, was ihnen ihrer Meinung nach zustand. Auch das, was ihnen nicht gehörte.

Auf der Kommode neben dem Bett vibrierte das iPhone. Max bekam es in die Finger, bevor es, aufgrund der Vibration, von der Kante auf den Boden gefallen wäre. Er erinnerte sich nicht, Fede die Nummer ausgehändigt zu haben, hätte es sich jedoch in diesem Moment gewünscht. Er schlug die Augen auf und sah auf das Display. Milagros!

Er war hellwach.

Seine Mutter war sechzig, fühlte sich aber nicht so, was sie stets betonte. Das war einer von vielen Gründen, weshalb sie es nicht mochte, wenn er sie Mam nannte. Sie hatte ihn früh bekommen. Da war sie gerade dreiundzwanzig gewesen. Sie sah nicht ein, weshalb sie ihre besten Jahre auf ihr Witwen- und Mutterdasein hätte reduzieren sollen. Das hatte sie ihm erst kürzlich gestanden. Sie wolle noch etwas erleben, als begehrenswerte Frau. Er solle sich vorsehen, sie unter Leuten Mam zu nennen.

Er fuhr mit dem Daumen über den Touchscreen.

«Gracias a Dios», sagte sie ausser Atem. Es klang, als hätte sie einen Halbmarathon hinter sich. «Gut, bist du erreichbar.»

«Mam, schön, dich zu hören.»

«Milagros», sagte sie. «Wir haben eine Abmachung.»

«Ich gehe davon aus, du bist um die Uhrzeit noch zu Hause.» Max hatte sich vergewissert, wie spät es war. Kurz nach sieben. «Niemand hört uns.»

«Du solltest dich daran gewöhnen, mein Junge.» Sie kicherte geheimnisvoll. «Denke niemals –»

«Recht und Gegenrecht, solange du mich nicht ‹mein Junge› nennst.»

Sie ging nicht darauf ein. «Wir müssen uns sehen.»

«Und weshalb?» Max sah den Morgen und den Vormittag bachab gehen. Wenn er sich mit Milagros traf, lud sie ihn im Minimum zum Brunch oder zum Mittagessen ein, und das dauerte Stunden. «Ich habe zu tun.»

«Nichts an deinem Job ist so wichtig, als dass du die Bitte für ein Treffen mit deiner Mutter ausschlagen musst.»

«Worum geht’s?»

«Komm auf den Berg. Wir können das während des Essens besprechen.»

Er hatte es geahnt. Milagros ging davon aus, dass er sich nicht richtig verpflegte. Er müsse einmal am Tag eine warme und vollwertige Nahrung zu sich nehmen, war ihre Ansicht. Max druckste herum. Er hatte sich am Nachmittag mit seiner Klientin verabredet. Er wollte dabei sein, wenn sie den USB-Stick mit den brisanten Bildern in Empfang nahm und sie gleich vor Ort auf ihrem Laptop betrachtete. «Heute geht nicht. Wir müssen das auf morgen verschieben.»

«Das, was ich zu sagen habe, kann nicht warten.» Milagros hatte ihren Ton verschärft. «Ich habe einen Auftrag für dich. Ich gehe davon aus, dass du ihn annehmen wirst. Wenn ich mich erinnere, ist die Hinterlassenschaft deines Vaters für deine Eigentumswohnung draufgegangen, und du bist auf jeden Rappen angewiesen.»

Max mochte es nicht, wenn Milagros ihn auf die Schwachstellen in seinem Leben ansprach. «Du hast also einen Job für mich.» Max nahm es zur Kenntnis. Mit den fünf Riesen des letzten Auftrags würde er – wenn er bescheiden blieb – gut einen Monat leben können. Dann wollte er weitersehen. Zudem hatte er sich fest vorgenommen, nach der Fremden von gestern zu suchen. Der Gedanke an sie brachte ihn zum Schmunzeln. Er würde ihr, falls sie das von ihm erwartete, jedoch nicht hinterherjagen. Er doch nicht.

«Ja, ich habe einen Job für dich», wiederholte Milagros. «Und ich versichere dir, er ist gut bezahlt. Und wenn dir etwas daran liegt, kannst du vor dem Mittag auf den Bürgenstock kommen.»

«Gib mir ein Stichwort.»

«Giorgia und Mauro Lombardi.»

Max schluckte leer. «Sie haben ihren Sohn verloren.»

«Vor zwei Monaten, ja.»

«Suizid.»

«Davon geht die Polizei aus.»

«Der Fall ist geklärt.»

«Nicht für die Eltern des Verstorbenen.»

***

Max betrat die Terrasse. Blauer Himmel im Oktober. Die Nebelschwaden hatten sich verzogen. Die Sonne war noch nicht im Zenit und liess den Vierwaldstättersee zu seinen Füssen glitzern. Bald würde sie hinter dem Lopper verschwinden und das Dorf allmählich in Schatten tauchen. Max sah an den gewaltigen Felsen, der über Hergiswil thronte, ein Ausläufer des Pilatus, furchteinflössend und unheimlich. Ein markanter Bergzug, der auf der Rückseite beinahe lieblich Richtung Alpnach und Sarnen abflachte. Von Hergiswiler Seite aus jedoch wirkte er, je nach Lichteinfall und Wetter, wie ein bedrohlicher Riese, bei dem man nie wusste, was in ihm vorging. Ab und zu hörte man ein Grollen aus seinem Innern.

Max ging zurück in sein Büro. Er verspürte weder Lust am Arbeiten noch an einer sportlichen Betätigung. Selbst das Duschen hatte er als eine Tortur empfunden. Was gestern vielversprechend begonnen hatte, schien heute von seinem Reiz zu verlieren. Einen Moment lang glaubte Max, Fede sei ein Traumgebilde gewesen. Und das Intermezzo auf der Herrentoilette könnte er sich möglicherweise eingebildet haben. Seit zwei Jahren lebte er ohne Beziehung. In seinem Bekanntenkreis gab es keine Frau, die ihn interessiert oder angezogen hätte. Entweder waren sie verheiratet und Mütter oder genügten nicht seinen Ansprüchen. Seine One-Night-Stands, die er fast obsessiv suchte, liessen stets einen schalen Nachgeschmack zurück.

Fede! Es gelang ihm kaum mehr, sie sich vorzustellen. Ihre roten kräftigen Haare, die im Kontrast zu den schwarzen Augen auf eine Rarität schliessen liessen. Sie gehörte wahrhaft zu den selten schönen Exemplaren, welche die Natur produziert hatte.

Irgendwo musste ein Haken sein.

Max zog sich an. Dunkelblauer Anzug, weisses Hemd, Krawatte. Er war ein Ästhet und passte so gar nicht ins Klischee des versoffenen und rauchenden Detektivs, der kaum Wert aufs Äussere legt. Er pflegte sich, hielt sich in Form und hatte Manieren. Dafür hatte Milagros schon früh gesorgt und ihren Sohn zu einem sympathischen und anständigen Menschen erzogen. Sie brüstete sich noch heute damit. Einzig war sie enttäuscht, dass er noch keine Frau gefunden hatte. Mit siebenunddreissig, fand sie, war es an der Zeit, eine Familie zu gründen. Dies widersprach ihrem Wunsch, dass er sie nicht Mam, sondern Milagros nennen musste. «Weisst du», hatte sie ihm neulich gesagt, «falls du Kinder haben solltest, werde ich ihnen eine fidele Grossmutter sein, eine abuela, wie sie im Bilderbuch steht.»

Fede! Ihre Töchter würden so schön sein wie sie, und die Söhne hätten rote Locken.

Max stieg die Treppe hinunter zur Garage, wo sein Ford Mustang GT stand. Schwarz mit roten Lederbezügen und einer Stereoanlage, die den Wagen zum Zittern brachte. Sein ganzer Stolz. Er fuhr auf Thomas Bergersen ab. Er schloss auf, setzte sich hinter das Lenkrad und startete den Motor. Der Mustang schnurrte wie eine Katze. Er fuhr aus der Garage und schlug den Weg zur Sonnenbergstrasse ein, während der Sound ihn einlullte. Links und rechts von ihm zogen neue Häuser vorbei, akkurat angelegte Sträucher und Bäume mit gelben Blättern. Seit seiner Jugend hatte sich das Dorf verändert, war dem Wachstum unterworfen wie fast jeder Ort in der Innerschweiz. Altes musste weichen, um Modernem Platz zu machen. Ob auch Schönerem, blieb eine Frage des Geschmacks.

Max gelangte hinunter bis zur Kreuzung, in die die Hirsernstrasse einmündete, passierte die Unterführung der Autobahn und kam zur Seestrasse. «Two Steps From Hell». Er drehte die Musik lauter und erinnerte sich, dass er im Hotel Pilatus noch nicht ausgecheckt hatte. Er rief über die Freisprechanlage den Concierge an und teilte ihm mit, er würde zu einem späteren Zeitpunkt bezahlen.

Max fuhr nach Stansstad. Schatten und Nässe hatten sich in der Galerie, die die beiden Orte miteinander verband, hineingepresst. Rechtsseitig drückte der Berg mit seinen schroffen Felsen, links spiegelte sich ein blauer Himmel auf dem See.

Vor dem Kreisel waren Bagger aufgefahren. Bauarbeiter sicherten den Fels bei der Acheregg. Wieder einmal hatte sich dort Gestein gelöst. Max fuhr über die Brücke, mit einem mulmigen Gefühl. Milagros hatte ihm erzählt, dass der Lopper früher oder später daherkäme. Der Berg sei instabil.

Die Strasse zum Bürgenstock führte teilweise durch einen Wald nach Obbürgen. Fast vier Kilometer lang. Der Weiler lag verträumt in einer hügeligen Landschaft und döste an diesem Vormittag vor sich hin. Ein paar Häuser und eine Kirche zeichneten ein ländliches Ortsbild, das durch eine Gruppe von Kindern auf dem Schulweg erst lebendig wurde. Max fuhr weiter über eine schmale Strasse nach oben, die mit einigen Ausweichstellen versehen war. Ein Fremder, kam er zum ersten Mal hier an, würde kaum diesen Luxus erahnen, der sich auf über achthundert Metern über Meer präsentierte. Die Hotels hatten in der Vergangenheit viel zu reden gegeben. Nachdem der Berg einige Jahre zuvor fast brachgelegen und kaum mehr jemand in die Hotels investiert hatte, lockte er nun Investoren aus Katar an.

Man verkaufe stückweise die Schweiz, hatten sich Stimmen aus der Bevölkerung erhoben. Andere wiederum fanden es durchwegs in Ordnung. Somit würden Arbeitsplätze geschaffen. Nach ersten Bedenken, dass ausschliesslich die Reichen auf den Bürgenstock fahren würden, hatte man die Ansicht korrigieren müssen. Die Preise in den Restaurants waren moderat – das fand auch Milagros. Dem Geschwätz zum Trotz hatte sie sich vor einem Jahr eine kleine Residenz gekauft, in Form eines Drei-Zimmer-Appartements. «Sollte ich Lust auf Entspannung oder körperliches Wohlbefinden haben», hatte sie gesagt, «könnte ich mich sogar im Bademantel zu den verschiedenen Angeboten auf den Weg begeben.» Max wusste, wie rege sie von den kosmetischen und medizinischen Angeboten Gebrauch machte. Sie schlage nur dem Alter ein Schnippchen, war ihre Ausrede, wenn er sie auf diese unverhältnismässigen Ausgaben ansprach. Zudem gehe es ihn nichts an.

Nein, es ging ihn wirklich nichts an. Wenn er aber neben seiner Mutter stand, hatte er oft das Gefühl, sie wäre seine ältere Schwester, die er nie hatte. Er rätselte, wie sie heute daherkam, nachdem er sie eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Dass sie im «Spices Kitchen & Terrace» Dauergast war, musste sie ihm nicht sagen. Sie liebte die asiatische Küche. Dorthin hatte sie ihn eingeladen.

Max fuhr vor das «Bürgenstock Hotel & Alpine Spa». Kaum hatte er den Wagen neben dem roten Teppich abgestellt, eilte ein Bediensteter auf ihn zu und öffnete die Fahrertür.

«Haben Sie reserviert, Monsieur?», wurde Max nett gefragt.

Er überlegte sich, welche Konsequenzen eine Negierung nach sich zöge. Ob er sein Auto in der Folge selbst parken müsste. «Ich habe mich zum Essen verabredet.» Max stieg aus. «Der Schlüssel liegt auf dem Sitz.» Er brauchte wohl keine Anweisungen wegen des Fahrens zu geben. Wer in einem Fünf-Sterne-Haus den Job als Butler ausübte, musste eine Ahnung von den verschiedenen Wagentypen haben. Trotzdem war Max etwas mulmig zumute, als er dem Mann eine Zehnernote in die Hand drückte und ihm sein Lieblingsspielzeug überliess. Wenn es um seinen Mustang GT ging, war das eine heikle Angelegenheit. Ohne noch einmal zurückzuschauen, ging er auf den Eingang zu, wo ihm ein weiterer Hotelangestellter die Tür aufhielt.

Das war Milagros’ Welt. Im Gegensatz zu Max legte sie übertrieben Wert auf Etikette. Und offenbar auch auf eine unvergleichliche Aussicht.

Milagros stand vorn bei der Fensterfront, als sich Max von einem zweiköpfigen Empfangskomitee zu ihr führen liess, nicht sicher, wer von beiden der Chef des andern war.

«Madame, Ihr Besuch ist da.»

Milagros drehte sich um. «Maximilian. Mein lieber Maximilian.» Nur Milagros nannte ihn mit vollem Namen. Sie habe ihn schliesslich so getauft, sagte sie jeweils. Es sei ein Affront, einen solchen Namen zu verunstalten. Max, wie könne man nur. «Schau dir die Aussicht an! Habe ich dir zu viel versprochen?» Heute trug sie ein rotes Kleid, züchtig hochgeschlossen, mit langen Ärmeln und über das Knie reichend. Ihre Figur konnte sich noch immer sehen lassen. Ob sie da nicht manchmal auch künstlich nachhalf, entzog sich Max’ Kenntnis. Die üppige Oberweite, zum Beispiel, hatte er anders in Erinnerung.

Er legte die Stirn an die kühle Scheibe. Vor ihm lag der Vierwaldstättersee, weiter hinten die Bucht von Luzern. Die Stadt selbst eingebettet in eine sanft ansteigende Hügellandschaft, die mit dem Pilatus, den man von hier aus nur erahnte, ihren höchsten Punkt erreichte. Die Hänge waren in orangerote gesprenkelte Farben getaucht, als hätte ein Maler mit einem Pinsel daran sein Temperament ausgelassen. Indian Summer, dachte Max und sehnte sich nach den Reisen in Kanada, als er sich diese noch hatte leisten können.

Milagros bestellte Champagner. Für beide. Sie trank nur Schaumwein. Max vermied es, zu intervenieren. Er mochte Champagner. Doch jetzt hätte er lieber ein Bier gehabt. Bier sei nicht edel, hatte Milagros gesagt, als er einmal zu einem Chateaubriand ein Bier bestellt hatte. Überhaupt erstickte sie seine Meinung jeweils sofort im Keim. Ohne böse Absichten, war sich Max sicher. Sie war einfach so. Und sie litt, genau wie er, am Verlust von Kaspar von Wirth.

Max wandte sich an den Kellner. «Könnten Sie mir den Champagner in einem Burgunderglas servieren?»

«Warum denn das?» Milagros stand der Mund offen.

«So entfaltet sich das Aroma besser. Das ist wie beim Wein.» Max dachte an Fede, die ihre Meinung mit Franco geteilt hatte und ihn daneben so ziemlich alt hatte aussehen lassen.

«Tss, tss …» Milagros verdrehte ihre Augen. «Die Bubbles gehen dabei verloren.» Sie lachte und bestellte ebenfalls ein Burgunderglas. «Sag jetzt nichts … Ich habe uns einen Tisch am Fenster reserviert.» Sie liess sich auf einem der weichen Polsterstühle nieder. «Doch vorerst wollen wir uns den Apéro genehmigen.»

Max beugte sich über sie. «Du siehst bezaubernd aus … Milagros», sagte er und küsste sie auf die Wange.

«Das will ich doch hoffen.» Sie lächelte, wobei ein paar dezente Falten um ihren Mund tanzten. Sie musste sie mit Make-up zubetoniert haben. «Ich habe schliesslich eine Stunde dazu verwendet, mich flott zu machen.» Sie sass kerzengerade da. Sie sass immer so. Das gehöre sich, war ihre Ansicht. Aufrecht sitzen zeuge von Stolz, von Körperbeherrschung und verhindere zudem, dass die Speckrollen über den Rockbund quollen. Das war Milagros.

Ein Kellner brachte den Champagner. Dazu servierte er gebrannte Nüsse.

Milagros musterte sie. «Oh, die sind aber etwas schwarz geraten. Die können Sie gleich wieder mitnehmen. Verbrannte Lebensmittel fördern Krebs.»

«Das sind gebrannte Pekannüsse, die sehen nur so aus.» Max zwinkerte dem Kellner zu. Dieser nahm es gelassen. Er entfernte die Schale mit den Nüssen und ging weg.

Milagros hob den Burgunderkelch, während sie denselben skeptisch betrachtete. «Auf uns zwei Hübschen.»

Max prostete ihr zu. Sein Blick schweifte auf die Stadt Luzern. «Du wolltest mir etwas über die Lombardis erzählen.» Er überlegte sich, ob er mit Milagros essen oder gleich wieder gehen sollte. Dass sie auch immer die reiche Diva heraushängen lassen musste. Er verzieh es ihr. Bevor sein Vater gestorben war, war sie anders gewesen.

«Eine Tragödie.» Milagros nippte am Champagner. «Der Junge war gut dreissig. Im Kernwald soll er sich erschossen haben. In der Nähe des Wichelsees. Eine Gruppe von Halbstarken hat ihn dort gefunden.»

«Da war er bereits seit zwei Tagen tot», sagte Max. Er hatte darüber gelesen.

«Ich verstehe nicht, weshalb die Polizei den Fall als gelöst zu den Akten gelegt hat.»

«Es gab offenbar keinen Verdacht auf Fremdeinwirkung», sagte Max.

«Er hatte Familie – eine reizende Frau, zwei Kleinkinder und einen Job, den er mochte.»

«Jurist, ich weiss.»

«Er wollte Anwalt werden wie du …» Milagros hielt inne. «Es geht mir einfach nicht in den Kopf, weshalb du dich heute mit so einem unwürdigen Job als Detektiv abgibst. Das passt nicht zu unserer Familie. Von Wirth steht für Intellektualität. Und du ziehst unseren Namen in den Dreck, wenn man es genau nimmt.» Sie wischte sich eine unsichtbare Strähne aus der Stirn. Max betrachtete ihre manikürten und lackierten Nägel und die mit teuren Klunkern versehenen Finger und sah sich in seinem Verdacht bestätigt, dass Milagros seine neue Tätigkeit verpönte. «Jetzt könntest du mir beweisen, dass ich mit meiner Meinung falschliege. Nimm dich des Falles an.»

Aha! Das klang plötzlich anders. Milagros schien doch eine gewisse Sympathie für seinen Beruf zu haben. Max sah jedoch Arbeit auf sich zukommen. Akribische Recherche. Kaum mehr Freizeit, würde er diesen Job gewissenhaft angehen. Andererseits machte er sich mit der Observierung ungetreuer Lebemänner zur Witzfigur. Er war wirklich schon tief gefallen. Der See zu seinen Füssen nahm ihm die Antwort nicht ab. Max setzte das Burgunderglas an die Lippen.

«Du brauchst dir nichts zu überlegen», sagte Milagros. «Deine Zukunft hängt davon ab, wie seriös du ermittelst. Solltest du diesen Fall lösen, könnten wir uns über einen Kredit unterhalten oder einen Erbvorbezug. Du machst mir nichts vor.»

«Du erpresst mich?» Max stellte das Glas auf den Salontisch zurück.

«Deine Intervention bestätigt mir, dass du Geld nötig hast.» Milagros lächelte süffisant. Offensichtlich genoss sie es, ihn zu provozieren. «Ich weiss genau, worauf du nach Vaters Tod spekuliert hast. Aber das ist dir endgültig nicht gelungen, lieber Maximilian. Ich bin froh, hat Vater ein Testament gemacht und dich auf den Pflichtteil gesetzt. Der Rest des Geldes ist auf der Seite für dich und nicht verloren. Aber dazu musst du erst beweisen, dass du dich nicht von ihm abhängig machen willst. Ich verarge es meinem Gatten nicht. – Gott hab ihn selig.» Sie blickte an die Decke, wo kreativ gestaltete Lichtquellen hingen und den Raum beglitzerten. «Kaspars Entscheid kann ich nur gutheissen. Er war ein fleissiger Mann. Dasselbe wünsche ich mir von meinem Sohn. Ich bin froh, hast du wenigstens Manieren. Das Fehlen von beidem wäre für die Umwelt nicht verkraftbar. Du solltest nie vergessen, dass du ein von Wirth bist. Wie sagt man so schön? Adel verpflichtet.» Sie lachte verschmitzt.

Milagros war die Einzige in der Familie, die sich als adelig sah, obwohl sie weit davon entfernt war. Wahrscheinlich hatte sie als kleines Mädchen von einem Prinzen geträumt, der sie aus Valencia, wo sie aufgewachsen war, rettete. Kaspar war zu ihr geritten, hatte sie gesehen und über ihr Herz gesiegt. Das «von» vor Wirth bedeutete ihr alles.

«Giorgia und Mauro sind am Boden zerstört. Sie fühlen sich von der Polizei und insbesondere von der Staatsanwaltschaft im Stich gelassen. Maximilian», Milagros hob ihre Stimme, «ich flehe dich an. Nimm du die Ermittlungen auf!»

«Das ist nicht ganz einfach. Ich kann der Polizei nicht in den Rücken fallen. Wenn das auskommt, könnte das ins Auge gehen.» Max setzte sich.

«So ein Unsinn. Weshalb bist du dann Detektiv?» Milagros schlug ihre Beine übereinander und kam mit ihrem Oberkörper nach vorn. «Meines Erachtens ist das ein Kerl, der im Rahmen der Beweiserhebung gerichtlich verwertbares Beweismaterial zusammenträgt.»

«Ja, wenn er bei der Polizei arbeitet.» Max lächelte vor sich hin. «Der Fall ist abgeschlossen.»

«Genau. Dies macht es einfacher.»

Ausgerechnet seine Mutter musste ihm das sagen. «Du widersprichst jedoch deiner Auffassung, dass dies ein unwürdiger Beruf ist.»

«Es kommt darauf an, wie seriös du an eine Sache herangehst.» Milagros griff nach dem Burgunderglas. «Observationen vor Schlafzimmerfenstern sehe ich nicht als sehr schicklich an. Und komm mir jetzt nicht damit, dass du das nicht fabrizierst.»

«Wie kommst du darauf, ich könnte vor Schlafzimmerfenstern stehen?» Max wandte den Blick erneut ins Tal. Er fühlte sich ertappt. Fehlte noch, dass er sich vor seiner Mutter blossstellte.

«Ach, ich kenne dich doch, Maximilian. Du hattest als Jugendlicher schon voyeuristische Züge. Oder soll ich dich an die Sexheftchen erinnern, die du unter der Matratze gehortet hast?»

«Mam, das passt nun wirklich nicht hierhin. Zudem gehörte das zu meinen pubertären Phantasien, da ja weder du noch Dad mich über gewisse Dinge jemals aufgeklärt habt.»

Offensichtlich hatte Milagros den Seitenhieb bemerkt, denn sie sagte nichts mehr dazu. Sie trank den Champagner aus, stellte das Glas ab und erhob sich. Max stand nach einem kurzen Zögern ebenfalls auf. Er führte seine Mutter auf ihr Geheiss hin zwei Etagen höher ins Restaurant.

Ihr Tisch schwebte wie ein hängender Garten über dem Abhang. So kam es Max vor, während er Milagros den Stuhl zurechtschob, damit sie sich setzen konnte. Die Fensterfront reichte bis zum Boden. Dahinter öffnete sich die Landschaft wie ein Gemälde. Die flammenden Farben dieses Herbsttages liessen die Umrisse des Pilatus gestochen scharf erscheinen, der aus dieser Sicht zu sehen war.

«Habe ich dir zu viel versprochen?» Milagros legte die Serviette auf ihren Schoss. Ein Kellner brachte die Speisekarte und erkundigte sich nach den Getränken. Sie bestellte eine Flasche Blanc de Blancs von Louis Roederer. In Burgunderkelchen, betonte sie. «Maximilian, sag schon. So eine bezaubernde Aussicht geniesst man sonst nirgends.»

Max hatte sich ihr gegenüber gesetzt. «Fantastisch. Ich hoffe, du lädst mich heute noch in dein Appartement ein. Wir könnten nach dem Essen den Kaffee dort trinken.»

Milagros presste ihre Lippen aufeinander.

«Kommt dir das ungelegen?»

«Allerdings. Ich habe mich bereits verabredet.»

«Sieht er wenigstens gut aus?»

«Maximilian, untersteh dich!» Auf Milagros’ Gesicht zeichnete sich Belustigung ab. «Dein Vater ist erst zwei Jahre unter dem Boden, und du hegst solche Gedanken.»

«Entschuldige. Das ist mir einfach so herausgerutscht. Ich wollte damit sagen, dass du eine Augenweide für die Männer bist.»

«Ich glaube nicht, dass das ein gutes Thema ist.» Milagros linste mit zusammengekniffenen Augen über den Tisch.

«Vielleicht sollten wir uns trotzdem einmal darüber unterhalten. Seit Vaters Tod reden wir kaum mehr über tiefschürfende Themen. Auch nicht über ihn. Du verschliesst dich –»

«Du doch auch», unterbrach sie ihn.

Er sah, wie sich Tränen aus ihren Augen lösten, über die Wangen kollerten und dort eine dunkle Spur hinterliessen. «Ich bin noch nicht bereit.» Sie nahm ihre Tasche zur Hand und beförderte ein Kleenex hervor. Vorsichtig tupfte sie damit die Augen trocken. Innert Sekunden veränderte sich ihre Mimik, und sie setzte ein Lächeln auf. «Komm, lass uns ein schönes Menü essen. Als Vorspeise kann ich dir Sashimi empfehlen – Thunfisch und Lachs mit Wasabi und Meerrettich. Ein wunderbarer Einstieg. Danach die Ente …»

«Gut.» Max klappte die Menükarte zu. «Wer zahlt, befiehlt.» Er spürte den Kloss im Hals. Vater. Er fehlte ihm noch immer.

«Du bist aber auch gut drauf heute. Hat es mit deinem Fall zu tun? Hast du überhaupt einen?»

Max dachte an den USB-Stick und seinen Wert, den er in seiner Jackentasche trug. Seine Klientin hätte ihm auch das Doppelte bezahlt. Sie hätte es aus der Portokasse genommen.

Warum tat er sich das an? Warum hatte er sich zu dieser Kurzschlusshandlung hinreissen lassen, nachdem Vater gestorben war? Er musste niemandem etwas beweisen.

«Wirst du den Fall Lombardi annehmen?», fragte Milagros, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Der Kellner nahm die Bestellung auf. Max enthielt sich einer Antwort. Stattdessen liess er seinen Blick neuerlich über die Tiefen schweifen. Auf dem Vierwaldstättersee klebten Boote wie winzige Farbtupfer. Einige zogen Striche hinter sich her, Mungobohnensprösslingen gleich. Und irgendwo in der Ferne existierte eine Frau, die ihm den Atem geraubt hatte. Ein süsser Stich auf Brusthöhe liess seinen Puls schneller schlagen. Herauszufinden, wer sie war, schien ihm eine Aufgabe, die je länger, desto mehr Gestalt annahm. Andererseits musste er Geld verdienen, wollte er seine Wohnung und den gehobenen Lebensstil behalten. Er nehme sich lediglich eine Auszeit, suggerierte er sich manchmal ein, wenn er seine eigenen Beweggründe nicht mehr verstand. Er hatte sich den Job als Detektiv anders vorgestellt, als untreue Männer und Frauen zu observieren. Aber man hatte nicht auf ihn gewartet. Auf die Kleininserate, die er im Wochenblatt ausschrieb, reagierte man anders als vermutet. Sein Vierzeiler lockte die Leute an, mit denen er heute zu tun hatte. Der Fall Lombardi wäre genau das, nach dem er schon so lange Ausschau gehalten hatte.

Nur kam er zeitlich zu früh.

«Woran denkst du?» Milagros riss ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte die Bestellung aufgegeben.

«Entschuldige bitte mein unzimperliches Vorgehen von vorhin.»

«Habe ich doch längst vergessen. Ich bin nicht nachtragend. Widmen wir uns den schönen Dingen des Lebens. Tun wir etwas für unser Seelenwohl. Wir lassen es uns gut gehen. Jetzt sind wir hier und geniessen Speis und Trank und die Aussicht. Der Moment, mein lieber Maximilian, ist alles, was wir haben.»

«Wir wollten aber über das Geschäftliche sprechen.»

«Alles zu seiner Zeit.»

«Eben hast du mich gefragt, ob ich den Fall Lombardi annehmen würde …»

«Und? Wirst du?»

Max griff nach dem Burgunderkelch. «Ich habe es mir überlegt. Ich nehme ihn an.»

ZWEI

Die Enttäuschung der Auftraggeberin war gross gewesen, als Max ihr gestern am späteren Nachmittag den USB-Stick mit den brisanten Bildern überreicht hatte. Sie träfen sich jeden Dienstag- und jeden Freitag- sowie Sonntagabend im Hotel Pilatus, hatte er ihr mitteilen müssen. Immer im gleichen Zimmer. Sie trügen sich als Ehepaar ein, gingen dann, wie er annehmen müsse, zuerst für ein Schäferstündchen nach oben, bevor sie sich im Restaurant verköstigten und sich danach für die lange gemeinsame Nacht einrichteten. Die Klientin hatte ihm das Honorar bar ausbezahlt. Womöglich hatte sie noch etwas auf ihrem Schwarzgeldkonto gehabt. Dann hatte sie ihn mit den Worten verabschiedet, er solle sich nie mehr blicken lassen.

Max stand im Bad und rasierte sich. Sein Arbeitgeber hatte damals die Anwaltskanzlei von einem auf den andern Tag geschlossen. Später kam heraus, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte. Wohin, hatte niemand erfahren. Um eine würdige Nachfolge hatte er sich nicht gesorgt, und eine sogenannte Auffangfirma hatte es nicht gegeben. Ein Dutzend Anwälte hatte auf der Strasse gestanden. Bis auf Max hatte jeder nach kurzer Zeit wieder einen Job gefunden. Max hatte die Arbeitslosigkeit als Chance nutzen wollen, sich von der immensen Arbeit zu erholen. Dass er spät in die Nacht hinein und manchmal sogar über die Wochenenden hatte arbeiten müssen, war für seine Überlegung ebenso ausschlaggebend gewesen wie die Idee, mit seinem Vater einige Zeit etwas gemeinsam unternehmen zu können. Als am letzten Tag der Segelflugsaison Kaspar von Wirth von einem Flug nicht mehr zurückgekommen war, hatte es eine tiefe Wunde in Max’ Leben geschlagen.

Er zog sich an. Er wusste nicht genau, wohin ihn der Weg führen würde. Milagros hatte ihm noch lange in den Ohren gelegen. Es war ihr ernst gewesen. Als gute Freundin von Giorgia Lombardi wolle sie ihr im Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen. Den Rahmen der Möglichkeiten sah sie in ihrem Sohn. Max hatte ihr jedoch unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er bestimmte, wann er wo wen treffen wollte.

Er war nicht schlüssig. Er setzte sich an die Bartheke, die die Küche vom Wohnzimmer abtrennte. An der Wand hing ein Bild, das ihn und seinen Vater vor einem Segelflieger zeigte. Sie waren stets gemeinsam unterwegs gewesen. Manchmal hatte Max seinen Vater mit seiner Remos GX geschleppt. Oft war ein Freund von ihnen eingesprungen, wenn Max mit seinem Vater im Zweiplätzer am Himmel gleiten wollte.

Seit Vaters Tod war er nie mehr in seiner Maschine gesessen, geschweige denn in einem Segelflugzeug. Wie seine Mutter hatte auch er die Lebenskraft verloren. Milagros hatte es jedoch früher als er geschafft, dieses Tief zu überwinden. Max hatte ein paar Monate mehr gebraucht.

Er bereitete sich einen Latte macchiato zu, schnappte sich ein Stück Brot und die Morgenzeitung und liess sich Zeit. Im Gegensatz zu andern Tagen fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er starrte Löcher in die Sätze, sah die Buchstaben verschwommen. Zwischendurch blitzte die Todesanzeige auf. Kaspar von Wirth auf seinem letzten Flug. Zwei Flügel am Rand der Anzeige, die ebenso Engelsflügel hätten sein können und nicht diejenigen seines Seglers, der geborsten auf der Südflanke des Pilatus gelegen hatte.

Max griff nach der Notiz, die ihm Milagros überreicht hatte. Die Adresse von Melanie Lombardi, der Witwe des Toten vom Wichelsee. Er hatte keine Ahnung, wie er ihr begegnen würde. Noch musste der Schmerz über den Verlust ihres Gatten gross sein. Max wusste, wie sich das anfühlte. Vielleicht war sie gerade daran, sich davon zu erholen, und er würde eine Narbe aufreissen.

***

Er hatte nicht viel erwartet, zuletzt diese Villa, die aus dem Schatten zweier Mammutbäume auftauchte wie ein Relikt einer längst vergessenen Zeit. Er hatte, bevor er nach Sarnen gefahren war, den Namen «Lombardi» gegoogelt. Roberto war der einzige Sohn des Chefarztes Dr. Mauro Lombardi gewesen, der in der Hirslandenklinik in Luzern als Handchirurg tätig war. Seine Mutter Giorgia war eine gebürtige Visconti, deren Vorfahren in einer Adelsfamilie wurzelten. Das hingegen wusste Max von Milagros. Weshalb Lombardi den Chefarztposten bekommen hatte, hatte sie ihm nicht verraten. Möglicherweise war die Herkunft seiner Frau ausschlaggebend für diesen Karrieresprung gewesen, denn der damals scheidende Chefarzt war ein guter Freund der Viscontis, die aus Mailand stammten.

Die Villa leuchtete in der Vormittagssonne aus der Ferne betrachtet wie ein Juwel. Über der Fassade lag ein irisierendes Licht, das sie einen Moment lang verwunschen aussehen liess. Von der Strasse her war sie nicht einzusehen, dafür wirkte sie mitten in diesem grosszügig angelegten Garten pompös. Ein Anwesen, das in den Anfängen des 20. Jahrhunderts entstanden war und den Geruch nach Nostalgie verbreitete. Links und rechts einer breiten Treppe strotzten Säulen, die sich über zwei Stockwerke bis zum Dachgeschoss erhoben. In den Sprossenfenstern spiegelten sich Himmel und Bäume. Alles schien blitzblank poliert, als diente das Haus für Ausstellungszwecke und nicht als Heim einer vierköpfigen Familie.

Max hatte seinen Wagen an der Strasse abgestellt und sich über die Gegensprechanlage neben dem Briefkasten angemeldet. Ein schmiedeeisernes Tor war von allein aufgegangen, bevor er sich auf den mit Kieseln belegten Weg Richtung Treppe machte. Er stieg über die Stufen und landete auf einem Podest. In einer Reihe akkurat aufgestellter Blumenkisten wuchsen rosa und violette Zinnien. Er drückte die Klingel, die im Gegensatz zum Rest zu einer modernen Elektronik gehörte wie auch die Videoüberwachung über der Tür.

Es hätte Max gewundert, wenn nicht eine Haushälterin, so doch die Hausherrin ihn in Empfang genommen hätte. Er war darauf vorbereitet, nicht jedoch auf die füllige, grosse Mittfünfzigerin in Schürze und Kopftuch, die ihn unter dem Türrahmen begrüsste. Mehr als die Frage nach dem Grund, weshalb er hier sei, brachte sie nicht über die Lippen. Widerwillig liess sie ihn eintreten und blieb fortan an seiner Seite. Wenn Max ihr ins Gesicht sah, entdeckte er nichts als Abscheu und Augen, die Arglist ausstrahlten.

Er betrat eine Vorhalle, die mit ihrer Kälte und Unpersönlichkeit sogar die zwei Palmen übertünchte, die in riesigen Messingtöpfen neben einer Treppe standen und mit denen man, wenn auch bemüht, dem Interieur eine warme Note zu vermitteln versuchte. Den Ausruf des Erstaunens konnte er gerade noch zurückhalten, nicht jedoch den Blick nach oben, wo unter dem Dachbalken ein riesiger Lüster hing. Instinktiv machte Max einen Schritt vorwärts, um nicht in dessen Fallwinkel zu stehen. Dabei entging ihm nicht die Erscheinung auf der Treppe. Im Moment der Feststellung, dass sich eine Frau schemengleich von oben nach unten bewegte, musste er an eine Inszenierung denken. Ihre fragile Gestalt steckte in einem bodenlangen schwarzen Kleid. Max brachte den Verdacht nicht los, dass sie sich rein optisch in die Rolle der trauernden Witwe begeben hatte – dort oben stand das Drama in Menschengestalt. Wirkliche Trauer, fand er, sah anders aus.

«Madame, Ihr Besuch ist da», hörte er die Haushälterin neben sich sagen. Nach dem Klang ihrer Stimme musste sie grossen Respekt vor ihrer Arbeitgeberin haben.

Melanie Lombardi. Max schätzte sie auf um die dreissig, mit schwarzen langen Haaren, die madonnenhaft um ein helles Gesicht fielen. Er hatte sich vorab keine Vorstellung von der Frau gemacht. Das einzige Bild, das er von ihr besass, stammte aus Milagros’ Fundus, die es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, wo immer sie war, die nach ihrer Ansicht interessanten Szenen mit ihrem iPhone festzuhalten. Klammheimlich hatte sie sogar auf Roberto Lombardis Begräbnis ein paar Bilder geschossen. Ob sie Max für seine Ermittlungen von Nutzen sein würden, blieb dahingestellt. Im Internet war Melanie Lombardi nicht abgebildet gewesen.

«Sie müssen Maximilian von Wirth sein.» Es war abzusehen gewesen, dass Melanie Lombardi ihn mit vollem Namen ansprach. Damit liess sich nicht nur durchblicken, dass sie zu den sogenannten Bessergestellten gehören wollte, sondern auch viel Wert auf Sitte legte – diese Eigenart kannte er von Milagros.

Auf dem untersten Treppenabsatz angekommen, bemerkte er, wie gross Melanie Lombardi war. Sie sah ihn auf Augenhöhe an. Sie verwehrte ihm jedoch den Handgruss. Anstatt dessen forderte sie ihn auf, ihr in den Salon zu folgen. Während Max hinter der Frau herging, hatte er Zeit, sie ungeniert zu betrachten. Sie bewegte sich wie ein Mannequin auf dem Laufsteg, mit einem unverwechselbaren Schritt, bei dem man glaubte, sie würde demnächst über ihre eigenen Füsse stolpern. Melanie Lombardi schaffte es ohne das geringste Straucheln in einen Saal, der Max’ Atem zum Stocken brachte.

Allein beim Anblick des Wohnzimmers musste Max an die Eventualität denken, dass sich Roberto Lombardi der unterkühlten Atmosphäre wegen das Leben genommen haben könnte. Wie hielt es ein feinfühliger und warmherziger Mann, wie seine Eltern ihn beschrieben, in solch einer zur Schau gestellten Einrichtung aus? Hier wurde auf fast unsympathische Art gezeigt, was man hatte. Andererseits hatte Roberto Lombardi das Geld in die Ehe gebracht. Melanie Lombardi war eine «Gewöhnliche» gewesen, wenn denn dieser Vergleich angebracht war. Das hatte Max von einem Internetbericht, in dem sich der Autor desselben in einem offensichtlich spöttischen Unterton über Roberto Lombardis Angetraute lustig gemacht hatte. Sie war als Tochter eines Klempners in Sarnen aufgewachsen, hatte das Gymnasium und danach die Pädagogische Hochschule abgeschlossen, bevor sie Kindergärtnerin wurde.

Heute allerdings war von ihrer Vergangenheit nichts mehr übrig. Sie hatte sich in die Rolle der reichen Lombardi-Visconti-Erbin hineingelebt – mit Haut und Haaren. Ob sie auch mit dem Herzen dabei war, musste Max erst herausfinden. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern.

«Nehmen Sie doch bitte Platz», sagte Melanie Lombardi und liess sich auf einem der vier antik anmutenden Ohrensessel neben dem Salontisch nieder. Im mit Relief bestückten Cheminée dahinter loderte ein Feuer und verschlang die Holzscheite wie der hungrige Rachen eines Drachen. «Darf Ljubica Ihnen einen Tee anbieten?»

Tee! War ja klar. Etwas anderes hatte Max nicht erwartet. Hier trank man Tee, und dies vermutlich aus erlesenem Porzellan. Er lehnte dankend ab.

Melanie Lombardi wedelte die Haushälterin, die neben dem Tisch wartete, mit einer einzigen Handbewegung weg. Dann wandte sie sich an Max. «Meine Schwiegermutter hat darauf gedrängt, Sie zu empfangen. Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, sässen Sie nicht hier. Traurig genug, dass ich meinen geliebten Mann verloren habe. Ich bin gerade daran, meine Ohnmacht in den Griff zu bekommen. Ich habe absolut kein Bedürfnis, eine Wunde aufzureissen, die am Verheilen ist. Mein Leben geht weiter, genauso wie das meiner Kinder. Die Polizeiarbeit ist abgeschlossen. Roberto hat sich selbst umgebracht, aus welchen Gründen auch immer. Es zu erfahren, macht ihn nicht wieder lebendig.»

Max hatte geahnt, dass es ein schwieriges Unterfangen sein würde. Ihre emotionale Kälte konnte gespielt, aber auch echt sein. Ihr lastete etwas Theatralisches an. Er hatte gelesen, dass sie bis vor der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind am Theater Sarnen geschauspielert hatte. «Ihre Schwiegereltern sehen das anders», wagte er einen Vorstoss.

«Schwiegereltern?» Melanie Lombardi zupfte nervös an ihrem Kleid. «Es ist Giorgia, die meinen Gatten nicht in Frieden ruhen lässt. Sie hatte Roberto zeitlebens unter ihren Fittichen.»

Hörte er da nicht einen bitteren Unterton heraus?

«Ich bin bereit, nach der Wahrheit zu suchen», warf er ein. «Ihre Schwiegereltern glauben nicht an Selbstmord.»

«Wahrheit! Wahrheit!» Melanie Lombardi sah durch ihn hindurch. Ihr Blick verlor sich in den Weiten des Wohnzimmers, blieb am Cheminée haften, in dem die Flammen weiter an den Holzscheiten leckten. «Was würde es ändern? Ich muss selber damit fertig werden. Ich kann von Glück reden, muss ich nicht am Hungertuch nagen wie viele andere Frauen, deren Ehepartner getürmt oder weggestorben ist. Die Hinterlassenschaft meines Mannes wird meine Existenz und die unserer gemeinsamen Kinder sichern. Und meine Eltern geben mir den Halt.» Sie fuhr sich über die feucht gewordenen Augen. «Ich habe nicht die Kraft, noch einmal alles durchzumachen. Die Polizei hat mich nach Robertos Tod mit Fragen gelöchert. In der Zwischenzeit habe ich keine neuen Erkenntnisse erlangt. Also bitte, Ihre Anwesenheit ist nur vergeudete Zeit. – Mag es für Giorgia noch so schwierig sein, den Suizid ihres vergötterten Sohnes zu akzeptieren, das ist nicht mein Problem.»

Mit einer solch schroffen Abweisung hatte Max nicht gerechnet. Allem Anschein nach hatte sie sich nebst der Kälte auch noch einen Panzer umgelegt, der jeglichen Versuch, in ihr Inneres vorzudringen, unmöglich machte. Er sah ein, dass Melanie Lombardi sich dem Schicksal gefügt hatte, wenn auch auf ihre persönliche Weise. Trotzdem wollte er nicht klein beigeben. Er hatte dem Ehepaar Giorgia und Mauro Lombardi versprechen müssen, sich ihrer Schwiegertochter anzunehmen und sie im schlimmsten Fall vehement zu bearbeiten. Sie wüssten, dass Melanie etwas vor ihnen verschwieg, hatten sie ihm während des Gesprächs anvertraut, das er auf dem Weg hierhin mit ihnen geführt hatte.

Möglicherweise war das nur so dahingesagt gewesen, um ihn für den Fall zu sensibilisieren.

«Erinnern Sie sich an den Tag, als Ihr Mann verschwand?»

Melanie Lombardi räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. «Nein.»