Herrengasse - Silvia Götschi - E-Book

Herrengasse E-Book

Silvia Götschi

4,8

Beschreibung

Der beschauliche Kantonshauptort Schwyz wird von einer mysteriösen Mordserie heimgesucht. Die Polizistin Valerie Lehmann, erst vor Kurzem in die Zentralschweiz gezogen, sieht sich nicht nur mit einer äußerst skrupellosen Täterschaft, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Während sie um das Sorgerecht für ihren Sohn kämpft, versucht jemand offensichtlich, ihre Arbeit zu sabotieren. Dann zieht sich das Netz um sie herum enger zu.

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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete von 1998 bis 2014 im Kanton Schwyz. Seit der Jugend widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Sie hat sich vor allem in der Zentralschweiz mit der Kramer-Krimi-Reihe und den Davoser Krimis einen Namen gemacht. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/age Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-887-8 Originalausgabe

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En la fiebre de la venganza

también un buen hombre se vuelve bestia.

Im Rausch der Rache wird auch ein guter Mensch zur Bestie.

Von den mexikanischen Indios

Der Schmerz kam später.

Aber da spürte er bereits das warme Blut über seinen Hals rinnen. Er konnte seine Hände nicht bewegen, geschweige denn die Arme. Sie waren in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel ausgestreckt und am Bettpfosten fixiert. Wenn er den Kopf drehte, schaffte er es vielleicht, die Halsschlagader mit seinem Kinn zuzudrücken. Das hatte er einmal in einem Film gesehen. Dies bedurfte der Kraft, die er nicht mehr besass.

Wie lange würde es dauern, bis er ausgeblutet war?

Noch schlug sein Herz.

Ob es noch schlagen würde, wenn nichts mehr durch seine Adern floss?

Hilfe!

Er röchelte. Es gurgelte. Der Klang seiner Stimme erstickte im Blut. War nur in seinem Kopf. Auch da nicht wirklich. Ein Traum, aus dem er erwachen würde. Ein Alptraum.

Hilfe!

Da war niemand.

Die Kraft entfloh. Das Gegenteil von Schwerkraft: Schwerelosigkeit?

Er hatte nicht gewusst, wie warm das eigene Blut war.

Sechsunddreissig Grad? Er meinte, es kochen zu spüren.

Die Decke über ihm begann sich zu drehen. Die Rosette aus Stuck über dem Lampenschirm entfaltete ihre Blätter.

Nein, er lag nicht im Garten.

Konnte etwas Weisses noch weisser werden?

Es ist das Blut.

Mit jedem Herzschlag fand es den Weg aus der Wunde. Pro Minute waren das vierundachtzig Stösse. Er hatte einen viel zu hohen Puls. Über fünf Liter würden es sein, bis er leer war.

Komplett leer.

Er würde sterben.

Niemand, der ihm half. Man hatte ihn vergessen.

Das Zittern vermochte er nicht zu verhindern. Er fror plötzlich. Er litt unter Schüttelfrost, doch nicht der Kälte wegen.

Das Weiss wurde weisser. Die Rose über ihm dehnte sich aus. Es dünkte ihn, als schreite er über eine von Blütenblättern übersäte Wiese. Sah so das Jenseits aus?

Es war das Licht, das ihn anzog.

Er konnte fliegen.

Fliegen.

Einem hellen Universum entgegen, in dem jeder Stern seine höchste Strahlkraft entfaltete. Noch nie zuvor hatte er ein solches Glücksgefühl empfunden.

Er schwebte dieser allumfassenden Kraft zu. Wollte nur noch dorthin.

Die Müdigkeit kroch wie ein Ungeheuer in seinen Kopf.

Kein Gedanke mehr an das Irdische.

Nur ein Gedanke an sich selbst. Warum ich?

Der Übergang fühlte sich an, als träumte er. Das Letzte, was er im Halbbewusstsein wahrnahm, schien vom Loslassen geprägt. Seine Körperfunktionen hatte er nicht mehr im Griff. Und wie ein weit entferntes Aufflackern drang noch einmal etwas Seltsames in sein Gehirn.

EINS

Als das iPhone auf der Küchenablage vibrierte, liess Valérie Lehmann feinsten kolumbianischen Kaffee in die Tasse träufeln. Gewiss war es Katja, der sie am Vorabend versprochen hatte, mit ihr in Zürich einkaufen zu gehen. Valérie hatte vorgehabt, den Donnerstag freizunehmen und dafür über das Wochenende zu arbeiten, wenn im Büro weniger Betrieb war. Sie hatte noch eine Menge nachzuholen. Sie drückte den Knopf an der Maschine und zog die Tasse unter dem Kolben weg. Wenn es um die Zubereitung von Kaffee ging, mochte sie das Altbewährte. Von den Hightechmaschinen hielt sie grundsätzlich nichts.

Mit dem iPhone in der Hand schritt sie zum Fenster, wo sie den Flügel öffnete. Die Sicht auf die Mythen war überwältigend. Ihre Flanken waren eingezuckert. In den letzten Tagen hatte es oberhalb von sechzehnhundert Metern noch einmal geschneit. Der Frühling liess auf sich warten. Das Klima hatte sich verändert, fand Valérie. Nach dem nassen Sommer war der Herbst bis in den Winter hinein mild gewesen. Jetzt musste man büssen.

Sie meldete sich.

In der Leitung knisterte es, bevor Valérie eine Stimme vernahm. «Jole von Reding.»

«Frau Staatsanwalt…!» Valérie schluckte leer. «Frau Dr.von Reding.» Sie hatte mit jeder gerechnet, nur nicht mit ihr. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Valérie hatte sie erst ein Mal aus der Ferne gesehen. Diese kleine, gertenschlanke Frau mit dem Kurzhaarschnitt und den listigen Augen. Man munkelte, sie sei nicht sehr beliebt. Böse Zungen behaupteten sogar, dass man ihr nichts recht machen könne. Und sie sich, wenn sie wütend sei, wie ein Elefant im Porzellanladen benehme– diese zierliche Frau.

«Doktor können Sie weglassen. Frau Lehmann, ich mache es kurz: Letzte Nacht wurde der Arzt Joachim Heinzer in seinem Haus getötet. Er ist Gynäkologe und gehört in Schwyz zur obersten Liga. Auch in der Politik ist er kein Unbekannter.»

«Müsste ich ihn kennen?» Da war eine klitzekleine Erinnerung, die sich jedoch wie ein Schemen wieder verflüchtigte.

«Soviel ich weiss, sind Sie erst kürzlich bei der Kantonspolizei Schwyz vereidigt worden», wich von Reding ihrer Frage aus. «Ihr Chef hält grosse Stücke auf Sie. Ich selbst bin von Ihrer Vita sehr angetan. Sie sind genau die Person, die wir jetzt brauchen. Ich will, dass Sie die Ermittlungen leiten.»

So, wie von Reding es sagte, duldete sie offenbar keine Widerrede. Valérie kam es trotzdem sonderbar vor. Sie arbeitete noch keine fünf Wochen in der Abteilung Leib und Leben und hatte von den Arbeitsgepflogenheiten hier noch wenig Ahnung. Zudem hatte sie noch nicht einmal alle Lehrgänge absolviert, die nach Schwyzer Verfassung verlangt wurden. Andererseits war sie für ihren Scharfsinn bekannt. Das musste wohl bereits die Runde gemacht haben.

«Sie sind unvoreingenommen», sagte von Reding, als hätte sie Valéries Gedanken gelesen. «Der Fall dürfte meines Erachtens heikel sein. Deshalb bitte ich Sie, so rasch wie möglich an den Tatort zu fahren und alles Erforderliche in die Wege zu leiten. Ansonsten halten Sie sich an Major Fischbacher. Ihr Kollege Louis Camenzind wird sich gewiss auch gleich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich habe mir erlaubt, Ihrer Abteilung Druck aufzusetzen.»

Valérie fand keine Zeit, etwas zu erwidern. Von Reding hatte, ohne sich zu verabschieden, aufgehängt.

Dass die Staatsanwaltschaft sich direkt mit ihr in Verbindung setzte, war neu. In Zürich, wo Valérie herkam, wurden die Direktiven mit wenigen Ausnahmen immer vom Kripochef erteilt. Er stand in der Hierarchie der Kriminalpolizei über den verschiedenen Diensten. Er traf die Entscheidungen und verteilte die Einsatzpläne.

Valérie legte das iPhone nachdenklich auf den Tisch zurück. Joachim Heinzer! In welchem Zusammenhang hatte sie diesen Namen schon gehört? Sie griff nach der Kaffeetasse. Das Schemen kehrte zurück. Sie erinnerte sich: Bevor sie nach Schwyz gezogen war, hatte sie im Telefonbuch nach dem Zufallsprinzip nach einem Arzt gesucht. Heinzers Adresse hatte sie in der Agenda notiert. Für den Fall aller Fälle, sollte sie möglichst schnell gynäkologische Hilfe benötigen. Sie hatte aus der Vergangenheit gelernt. Es war ihr wichtig, gewisse Telefonnummern gespeichert zu haben. Dies gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.

Es klingelte wieder. Valérie nahm den Anruf unverzüglich entgegen.

«Hier ist Louis Camenzind. Habe ich dich geweckt? – Dann tut es mir leid.»

Valérie stiess Luft aus. Wie ein Stromstoss ging ein Zittern durch ihren Körper. Wut, Ärger, Erregung: Alles war darin enthalten.

«Weisst du, wie spät es ist?» Sie suchte vergeblich nach ihrer Armbanduhr.

«Fünf nach sechs. Und es ist Donnerstag. Ich hätte dich fast mit ofenfrischen Croissants beglückt. Aber wir haben einen Toten.»

Sie vermied es, von Redings Anruf von vorhin zu erwähnen. Louis sollte noch nicht wissen, dass man sie über ihn gestellt hatte. Sie befürchtete, dass es das Arbeitsklima beeinträchtigen könnte. «Hört sich nicht gut an», sagte sie. «Wer ist es?»

«Joe Heinzer. Er ist… war der Frauenarzt in Schwyz. Meine Mutter war schon bei ihm. Ein guter Arzt… Wenn du mich fragst, hatte er aber zwei Gesichter.»

Der letzte Satz liess Valérie aufhorchen. Gleichzeitig fragte sie sich, warum man einen Arzt umbrachte. War da vielleicht einmal etwas schiefgelaufen? Eine Operation missglückt zum Beispiel?

Valérie musste sich zusammenreissen. Sie wusste ja erst, dass er umgebracht worden war. Aber der Ermittlerinstinkt war geweckt.

Sie schämte sich für den Gedanken: Aber er kam ihr gelegen, ihr erster Toter in Schwyz, denn dieser hielt Louis davon ab, mit ihr frühstücken zu wollen. Das würde sie erst tun, wenn es wirklich einen Grund gab, dass er am Morgen an ihrem Tisch sass. Dies wäre vielleicht in einem anderen Leben der Fall.

Anfang April hatte sie den frei gewordenen Posten bei der Kantonspolizei Schwyz angetreten. Sie war hergekommen, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie brauchte nicht nur die räumliche Distanz zu ihm, sondern auch eine örtliche. Ihr vierzehnjähriger Sohn war vorübergehend bei ihren Schwiegereltern einquartiert, bis geklärt war, wo er einmal wohnen würde. Bis dahin würden unter den Anwälten noch einige Schriften zu wechseln sein.

Valérie goss einen Schuss Milch in die Kaffeetasse. Sie erkundigte sich bei Louis, wohin sie kommen müsse.

«An die Obermattstrasse. Die befindet sich oberhalb des Kollegiums.» Louis teilte ihr die Nummer mit. «Ich treffe hier gleich ein.»

«Dann weiss ich nicht, weshalb du mich abholen wolltest. Irre ich mich, oder wäre das ein Umweg gewesen?»

«Für dich tue ich alles.» Louis brach die Verbindung ab.

Idiot!

Valérie vermutete, dass er ihre Einwände nicht geduldet hätte. Er war ihr nicht geheuer. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Sie war vorsichtig geworden. Hinter seiner lockeren Art vermutete sie eine dunkle Seite. Aber das lag daran, dass sie im Moment in jedem Mannsbild etwas Dunkles sah. Sie projizierte den Charakter ihres Gatten auf sämtliche Männer.

Sie wusste, dass sie auch in diesen Belangen neutral hätte bleiben müssen. Die negative Energie gegenüber dem anderen Geschlecht trieb sie jedoch an.

Sie trank den Milchkaffee stehend, beförderte die Tasse in den Schüttstein und begab sich ins Badezimmer, wo sie sich unter die Dusche stellte. Eine Tropenbrause in vier Farbtönen, je nach Temperatureinstellung, und Richard Wagners «Tannhäuser» aus dem wasserdichten CD-Player weckten ihre Lust und die Lebensgeister. Dieses Ritual musste sein, auch wenn die Zeit drängte. Nachdem sie sich abgetrocknet und mit einem Körperbalsam eingecremt hatte, trug sie vor dem Spiegel etwas Eyeliner auf und zog die Lippen mit einem hellrosa Stift nach. Sie schnitt eine Grimasse. Der Morgen konfrontierte sie schonungslos mit den Spuren ihrer Vergangenheit. Sie war jetzt dreiundvierzig, fühlte sich aber an manchen Tagen fast doppelt so alt. Eine Narbe zog sich von ihrem linken Augenlidrand bis hinunter zum Mundwinkel. Ein Souvenir, das sie gern ungeschehen gemacht hätte. Ihre schwarzen Augen sahen heute stumpf aus. Einzig auf ihren trainierten Körper war sie stolz. Mit den regelmässigen Besuchen im Fitnesscenter hatte sie sich körperliche Kraft angeeignet, die sie für ihre Tätigkeit brauchte. Valérie fuhr mit den Fingern durch ihre braunen Haare, die sie auf Kinnlänge trug. Der Kamm erübrigte sich. Danach zog sie sich an.

* * *

Schwyz döste im frühen Morgen des 8.Mai.

Die Sonne hielt sich noch versteckt. Aber heute würde es einen schönen Tag geben, wollte man dem Wetterbericht glauben. Keine Einkaufstour an der Bahnhofstrasse in Zürich also, kein Shopping im Niederdorf. Valérie benachrichtigte kurz ihre Freundin Katja via SMS. Sie würde es, wie immer, nicht verstehen. «Warum muss ich eine beste Freundin haben, die bei der Kriminalpolizei arbeitet», hatte sie erst noch gejammert. «Du tust die Arbeit, die eigentlich den Männern vorbehalten wäre.»

Valérie mochte ihren Beruf. Und ihre Freundin war, was die Ansichten über Männer und Frauen anging, etwas hinter dem Mond. Altbacken, aber lieb.

Nach dem Studium und Lizenziat für Rechtswissenschaften war Valérie in die Polizeischule in Zürich eingetreten, wo sie für das Korps der Kantonspolizei die Ausbildung zur Polizistin absolvierte. Anfänglich hatte sie im uniformierten Polizeidienst gearbeitet. Es war ihr Wunsch gewesen. Während dieser Zeit hatte sie einen Führungslehrgang durchlaufen, geheiratet und ein Kind bekommen. Später hatte sie zur Kriminalpolizei gewechselt und war dort mehrere Jahre im Fahndungs-, später im Ermittlungsdienst tätig gewesen. Sie hatte im Time-Sharing gearbeitet, als ihr Sohn klein war. Anfänglich hatte das einigermassen gut funktioniert, bis ihr Mann seine väterlichen Pflichten vernachlässigte und Valérie gezwungen wurde, ihren Sohn in einer Kinderkrippe unterzubringen. Seit der Trennung war gerade dieser Umstand zu einem Verhängnis geworden.

Kurz vor der Kündigung bei der Kriminalpolizei in Zürich war sie Leiterin der Ermittlungsabteilung gewesen. Dass sie in Schwyz in der Hierarchie eine Sprosse runterstieg, war ihr egal. Hauptsache, sie konnte die Geister der Vergangenheit verscheuchen.

Von ihrem Wohnort aus, einem Vierzimmerappartement in einem mehrgeschossigen Wohnblock in der Rubiswilstrasse, brauchte Valérie keine zehn Minuten bis zum Tatort. Ihr wendiger Roadster, ein AudiTTS, den sie sich erst noch geleistet hatte und der Symbol für ihre wiedererlangte Freiheit war, führte sie mittels Navigation sicher ans Ziel. Der Wagen war vor allem Louis Camenzind ein Dorn im Auge. Er fand, dass es sich nicht gehörte, bei der Polizei mit einem Sportboliden aufzutrumpfen. Aber Valérie vermutete, dass er ihr den Wagen nicht gönnte, zumal er selbst eine biedere Familienkutsche fuhr. Das männliche Auto-Gen war ihr nicht fremd.

Über die weissen Fassaden der Villa zeichnete die aufgehende Sonne Baumschatten. Valérie parkte neben Louis’ silbergrauem Kombi und dem Kastenwagen des Technischen Dienstes. Die Strasse selbst lag wie ausgestorben da. Eine graue, von Sonnenlicht geküsste Linie, die ins Nirgendwo führte. Valérie kannte solche Viertel, die von herrschaftlichen Häusern geprägt waren, in denen der Mief des Bürgerlichen durch die Ritzen wehte. Meistens fehlten jedoch die Seelen. Die Häuser dienten bloss als piekfeine Ausstellobjekte, an denen die Mauern sauber und die Fenster blitzblank gereinigt waren. Wie ein Spiegel ihrer Bewohner, denen der kleinste Kratzer Grund für einen Disput gab.

Rot-weisse Bänder mit der Aufschrift «Absperrung Polizei» sirrten im Wind. Valérie zeigte der Türwache ihre Dienstmarke.

Der Eingang lag zwischen zwei eindrücklichen Säulen, um die sich Rosenranken wanden. Filigrane hellgrüne Blätter sprossen hervor. Bevor Valérie ins Entrée trat, stülpte sie sich Plastiksocken über die Füsse. Durch ein offen stehendes Bogentor gelangte sie ins Wohnzimmer. Auch hier machte es den Anschein, als wäre das, was man Wohnbereich nannte, eine Ausstellhalle. Selbst die Teppiche, die jeglichen Laut dämpften, trugen nichts zum Wohlbefinden bei. Das helle Mobiliar wirkte kalt und steril, die Frau am Tisch wie ein Fremdkörper in einer intergalaktischen Landschaft. Sie beachtete Valérie nicht. Sie hatte den Kopf geneigt. Ihr gegenüber sass Louis. Exotisch und wild. Eine eurasische Mischung, denn seine Mutter war Thailänderin, was er ihr am ersten Tag schon erzählt hatte. Die Erbanlagen der Mutter übertünchten diejenigen des Vaters. Seine Haut schimmerte in einem Bronzeteint, seine Augen waren wie Orangenschnitze geformt und liefen an den Enden nach oben aus. Die Haare dicht, schwarz und ungezähmt. Als Louis seine Kollegin bemerkte, gab er ihr ein Zeichen. Er sah auch gut aus, wenn er nicht lachte.

«Oben?», fragte Valérie leise. Bevor sie sich mit allfälligen Zeugen beschäftigte, wollte sie den Tatort inspizieren.

Louis nickte und sah ihr nach. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken und war versucht, sich umzudrehen. Nein, sie hasste dieses Spiel. Und sie hasste im Moment jegliche Konfrontation mit Männern. Sie war gerade daran, ihre kaputtgegangene Ehe zu verdauen. Da hatten Männer absolut keinen Platz. Auch kein Typ wie Louis.

Die Treppe führte neben der Küche, eine in Weiss gehaltene Kochlandschaft und frei von Gebrauchsspuren, ein Stockwerk höher in eine Galerie. Von hier aus gingen vier Türen weg. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Zwei in sterile Anzüge gekleidete Techniker beugten sich über ein pompöses Bett, über das ein schwarzer Baldachin mit Drachenmuster gespannt war, was zur restlichen Einrichtung nicht recht passen wollte. Ein Geruch nach Blut und menschlichen Exkrementen hatte sich ausgebreitet. Valérie hielt sich die Nase zu. «Kann hier jemand das Fenster öffnen?»

«Nein, noch nicht.» Ein dritter Mann fotografierte unter dem gleissenden Licht von Halogenleuchten. Er war der Einzige, der Valérie Aufmerksamkeit schenkte. «Ah, Frau Unteroffizier, nehme ich an.» Er hielt mit der Arbeit inne. Entweder provozierte er sie, oder er kannte ihren Dienstgrad nicht. «Franz Schuler vom Kriminaltechnischen Dienst. Wir haben uns noch nicht bekannt gemacht. Ich war bis vor Kurzem in den Ferien.»

«Oberleutnant Valérie Lehmann.» Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Sie bat um ein Paar Handschuhe. Sie merkte, dass ihr Ton unangebracht war. «Nenne mich Valérie.» Louis hatte ihr bereits beigebracht, dass sich unter den Schwyzer Polizisten alle duzten, egal, auf welcher Stufe sie in der Hierarchie standen. «Wer hat dich informiert?»

Schuler wirkte irritiert. «Major Fischbacher, der Kripochef.»

«Kann ich beginnen?»

«Ich glaube, Dr.Stieffel ist noch nicht ganz fertig. Er ist nebenan. Er kommt sicher gleich zurück.»

Valérie sah zuerst auf den geschlossenen Koffer neben dem Bett, dann auf das, was sich auf dem Bett befand, nachdem die beiden Techniker das Blickfeld darauf frei gemacht hatten. Ihr Herzmuskel zog sich zusammen.

Auf einem zerwühlten goldfarbenen Satinlaken lag eine nackte männliche Leiche in Blut und Kot. Ein verstörender Anblick. Valérie erkannte trotz des vielen Blutes, das fast explosionsartig aus dem Körper geschossen sein musste, die durchtrennte Kehle. Bei näherem Hinsehen bemerkte sie den tiefen Schnitt, der seitlich so aufklaffte, dass sie darunter Muskelstränge zu erkennen glaubte. Scharfes Küchenmesser, war ihr erster Gedanke. Und sie sah eine imaginäre Hand mit dem Messer auf den Hals zuschnellen, hinein ins muskulöse Fleisch. Ein Stich, ein Schnitt, eine Drehbewegung des Knaufs. Die Brutalität erschien vor ihren Augen, als würde ein Film vor ihr ablaufen. Ungewöhnlich war die Lage des Toten. Seine Arme waren seitlich ausgestreckt, seine Hände an den oberen Bettpfosten mit Handschellen befestigt. Er sah wie ein Gekreuzigter aus.

«So etwas findet man nicht alle Tage.» Der Mann, der sich unter dem Türrahmen aufbaute, war mindestens einen Meter neunzig gross, hatte schwarzes, gerades Haar und graue, schmale Augen.

Valérie zog sich die Latexhandschuhe über. Ihr Gesicht drückte weder Sarkasmus noch Aggression aus. Sie war höchst konzentriert. Ungeachtet dessen, dass der Mann sie angesprochen hatte, beugte sie sich über den Toten. Sie wusste, wenn ihr im ersten Moment der Leichenbeschauung etwas entging, würde sie es nie mehr finden.

«Gibt es Kampfspuren?» Der Hüne stellte ihr diese Frage.

«Ich nehme an, Sie sind der Tatortspezialist», sagte Valérie und richtete sich auf. «Entschuldigen Sie bitte. Sie müssen der Gerichtsmediziner sein.» Sie sah wieder auf den Hals des Opfers. «Es macht den Anschein, als hätte er sich den Schnitt einfach so machen lassen…»

«Vielleicht zeitgleich während seines Orgasmus…» Der Arzt näherte sich dem Bett. «Sehen Sie die kleinen oberflächlichen Einschnitte entlang des Halses? Es sieht danach aus, als wäre er während des Liebesspiels mehrmals geritzt worden.»

«Und exakt auf dem Höhepunkt stösst die Täterin zu respektive schlitzt sie ihn auf?» Valérie wich einen Schritt zurück. «Sie gehen also davon aus, dass er vor seinem Ableben Geschlechtsverkehr hatte?… Ach ja, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt.» Sie nannte ihren Namen. «Ich bin die leitende Ermittlerin.» Sie kniff die Lippen aufeinander. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.

«Res Stieffel von der Rechtsmedizin Zürich. Leider erreichte mich die Nachricht von dem Tod meines Kollegen in einem ungünstigen Moment…» Er stockte, als vermied er es, noch etwas hinzuzufügen, was nicht für Valéries Ohren bestimmt war, als hätte er ihre Aversion gespürt.

Die Situation war angespannt.

«Sie kennen den Toten?»

«Wir haben zusammen studiert.» Er musterte Valérie einen Moment zu lange.

Sie griff instinktiv an ihre Narbe, versuchte sie, unter dem bohrenden Blick ihres Gegenübers, zu kaschieren. «Sie haben Frauenheilkunde studiert?»

«Das ist schon eine Weile her. Dieses Gebiet erschien mir etwas zu komplex. Ich untersuche ehrlich gesagt lieber tote Körper. Ich meine, von Berufs wegen…» Stieffel zog seine Schultern nach oben wie ein Schuljunge, den man beim Abschreiben erwischte. «Wenn man wüsste, wohin es einen treibt…»

Da war sie wieder, diese Zweideutigkeit der Worte, die Valérie im Überdruss hatte. Nur weil sie eine Frau war, gab es den männlichen Kollegen noch lange kein Recht, so mit ihr zu sprechen.

Stieffel öffnete den mitgebrachten Koffer. Dann besah er sich wieder den Hals des Toten. «Mehrere Verletzungen, wobei die tiefste tödlich war.»

«So weit war ich auch schon», giftete Valérie. «Können Sie die Todeszeit schon bestimmen?»

«Die Raumtemperatur beträgt zweiundzwanzig Grad», vermeldete Schuler, der den Fotoapparat niedergelegt hatte und jetzt an einem Türpfosten pinselte.

Dessen ungeachtet hangelte Stieffel nach einem Fieberthermometer und führte es dem Toten rektal ein. Er wartete, während er Valérie ungeniert anstarrte. Nachdem er es wieder entfernt hatte, griff er nach seinem Diktafon und begann mit den Ausführungen. «Erstbeurteilung zum Leichenfund vom Donnerstag, 8.Mai.» Er nannte die Jahreszahl. «Sieben Uhr drei. Männlich. Name: Joachim Heinzer, fünfundfünfzig Jahre alt, Todesursache: Durchtrennung der Aorta aufgrund Messereinstichs im Bereich des Kehlkopfes… Sechs zwei bis drei Zentimeter lange Einschnitte in der Epidermis, verteilt auf dem vorderen Hals… drei tiefer gehende Einschnitte unterhalb des Kehlkopfes, die jedoch nicht tödlich waren… keine Zyanose…» Stieffel versuchte, den Kopf des Toten zu drehen. «… Totenstarre bis zum Brustbein eingetreten.» Er besah sich die Arme, dann den Rumpf. «Atypisch viele Flecke…»

«Was heisst das?», unterbrach Valérie seine Ausführungen.

Stieffel stoppte das Aufnahmegerät. «Nach seinem hohen Blutverlust zu urteilen, ist das eher ungewöhnlich.» Er sah auf das Fieberthermometer, aktivierte das Aufnahmegerät wieder und fuhr fort: «Körpertemperatur vierundzwanzig Grad. Todeszeitpunkt schätzungsweise: zwischen dreiundzwanzig und zwei Uhr… Im Genitalbereich zahlreiche Rötungen und Fissuren infolge heftigen Verkehrs…» Er drückte die Aus-Taste.

«Wie heftig?» Valérie war in Gedanken versunken.

«Ungewohnt heftig», sagte Stieffel. «Allerdings keine rektale Penetration.»

«Also keine gleichgeschlechtliche Aktivität.» Valérie griff nach ihrem Notizblock, den sie in der Jackentasche mit sich trug. Sie notierte: Augenscheinlich aggressives Verhalten während des Geschlechtsakts. Abnorme Brutalität. M.E. deutet alles auf Rache hin, was der finale Schnitt zeigt.

Sie wurde jäh abgelenkt, weil Louis ins Zimmer trat.

Die beiden Männer standen sich gegenüber, und Valérie fiel auf, wie unterschiedlich sie waren. Was Stieffel in der Grösse, machte Louis in der Breite wett. War der eine schlank, fast mager, repräsentierte der andere ein ansehnliches Muskelpaket am Oberkörper. Den gläsernen Blick, wenn sie Valérie betrachteten, hatten sie beide.

«Frau Heinzer hat ihren Mann heute Morgen um halb sechs in diesem Zustand gefunden», vermeldete Louis.

Er sah wirklich gut aus. Unter anderen Umständen hätte sie…

«Sie war weg?» Valérie blinzelte wiederum auf den Toten. Dessen Gesicht wirkte aschfahl. Die Augen standen offen, als hätte ihn vor seinem Hinschied etwas sehr verwundert. Eine der Iriden war nach innen Richtung Nasenrücken gedreht.

«Das teilte sie mir so mit.» Louis’ Stimme hatte ein aussergewöhnliches Timbre, das sie erst einmal bei einem Radiomoderator gehört hatte.

«Und kommt um halb sechs nach Hause?» Sie runzelte die Stirn. «Eine sonderbare Zeit und nicht sehr glaubwürdig. Wo war sie? Gibt es da einen Geliebten?» Eindringlicher Blick auf den tödlichen Schnitt.

«Bei einer Freundin. Diese habe sie hier vor der Haustür abgeladen und sei weiter nach Zürich Flughafen gefahren, weil sie um zehn einen Flug hat. Sie reist für ein halbes Jahr in die Staaten.»

«Okay, wir brauchen trotzdem die genauen Angaben dieser Freundin.» Valérie starrte erneut den Toten an. «Und er hat die Abwesenheit voll ausgenutzt und ein Schäferstündchen mit einer rabiaten Frau abgehalten.»

«Eine Frau?», wunderte sich Louis. «Steht denn das schon fest?»

«Nur so eine erste Reflexion. Nach den Labortests werden wir es wissen, ob weibliche Körpersäfte vorhanden sind sowie Haare und Hautpartikel.» Ihre Pupillen bewegten sich von der Leiche weg in den Rest des Raumes. «Hat man eine Tatwaffe gefunden?»

«Hm… nein, noch nicht. Man sucht noch danach.» Louis starrte schwer schluckend auf den Leichnam. «Ich habe schon von Sexpraktiken gehört, da wird dem Partner die Luftröhre zugehalten, bis er fast erstickt. Soll luststeigernd sein. Aber dass jemand mit einem Messer fuchtelt und… Ob es ein Unfall war?»

«Die Frage kann ich dir leider nicht beantworten. Doch ich bezweifle es. Da hat jemand im Affekt gehandelt. Gibt es ein Handy?»

Schuler reichte ihr ein Smartphone. «Wir haben es bereits überprüft. Es ist codiert.»

«Dann schickt es jetzt gleich in die IT-Abteilung. Ich will erfahren, mit wem das Opfer vor seinem Tod telefoniert hat. Und jetzt will ich mich im Haus umsehen und dann mit der Frau des Toten sprechen.»

«Ich habe sie schon befragt», sagte Louis. «Viel habe ich nicht aus ihr herausgebracht. Sie steht noch unter Schock. Der Polizeipsychologe ist jetzt bei ihr.»

«Vielleicht wird sie mir die Fragen eher beantworten können. Ich meine, so von Frau zu Frau…»

«Du zweifelst an meinen Fähigkeiten?» Louis gab sich untröstlich.

«Die kenne ich noch nicht», konterte Valérie schlagfertig. Ihr entging nicht die Röte, die sich über Louis’ Gesicht zog. Er schwieg, und sie dachte, dass sie zu weit gegangen war. Es war ihr nicht möglich, solche Bemerkungen sein zu lassen. Seit ihr Mann sie vor zwei Jahren zum wiederholten Mal betrogen hatte, wurde sie von ihnen befallen wie von einem hartnäckigen Virus. Zynismus oder Bitterkeit drängten sich auf. Es musste raus, in welcher Form auch immer.

«Könntest du hier fertig machen? Ich bin dann mal unten.» Sie verabschiedete sich von Stieffel.

Auf der Türschwelle blieb sie stehen. «War eigentlich die Staatsanwältin schon hier?»

«Nur kurz», sagte Louis. «Sie hatte es sehr eilig.»

Die einfühlsamen Worte des Polizeipsychologen nutzten wenig. Elvira Heinzer sass erstarrt in der Wohnküche und bohrte Löcher ins Tischtuch. Sie war eine gepflegte Erscheinung und gehörte, wie Valérie vermutete, zu den Frauen, die viel Zeit in ihrem Leben darauf verwendeten, geschminkt, frisiert und adrett gekleidet den Tag zu beginnen. Ihre Fingernägel waren makellos lackiert, ein teurer Klunker steckte am rechten Mittelfinger. Obwohl sie ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte, war sie darauf bedacht, das Verlaufen des Eyeliners unter Kontrolle zu halten. Sie tupfte sich immer wieder vorsichtig ihre Augen ab. Sie trug ein hellgraues unifarbenes Kleid mit Ausschnitt, aus dem ein unnatürlich voller Busen hervorblitzte, und um ihren Hals eine Perlenkette in einer gröberen Ausführung als der Ring.

Valérie, die vom Haus einen Augenschein genommen hatte, scheuchte den Psychologen– einen Kahlköpfigen mit randloser Brille– vom Tisch weg und setzte sich Elvira gegenüber.

«Gehen Sie gnädig mit ihr um», flüsterte der Psychologe Henry Vischer und platzierte sich in der Nähe des zweiflügligen Kühlschranks, um in der Not eingreifen zu können.

Valérie warf ihm einen nichtssagenden Blick zu. Die Angst um Elviras Befindlichkeit schien nicht begründet. Wer auf goldfarbener Bettwäsche unter einem schwarzen Baldachin schlief, verriet ihr eine gewisse Kaltschnäuzigkeit. Dass sie das Bett mit ihrem Gemahl geteilt hatte, war offensichtlich. Im ganzen Haus war nirgends ein zweites Bett zu finden gewesen.

Valérie setzte ihr Diktiergerät in Betrieb und legte es auf den Tisch.

«Muss das sein?» Elvira schien aus ihrer Lethargie zu erwachen.

Valérie ignorierte es. «Frau Heinzer, sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?»

«Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig», kam es leise zurück.

«Ich gehe davon aus, dass Sie hier wohnen.»

«Natürlich, das Haus trägt meine Note.» Elviras Stimme schlug einen höheren Ton an.

«Auch das Schlafzimmer?»

Mit diesem undiplomatischen Angriff hatte Elvira nicht gerechnet. «Sie meinen, wegen des Baldachins?» Sie zog ihre Stirn kraus. «Tatsächlich. Denken Sie, was Sie wollen, aber ich schlafe noch immer mit meinem Mann.» Und als hätte es einer Relevanz bedurft, fügte sie hinzu: «Wir sind jetzt seit über dreissig Jahren verheiratet. Aber wir lieben uns noch immer.»

«Ihr Mann ist tot.» Valérie schätzte ihr Gegenüber so ein, dass sie ohne Weiteres einen unzimperlichen Dialog würde führen können. Sie kannte diese Gattung Frau, die so tat, als wäre ihr Ehemann ihr Ein und Alles. Dabei war sie froh, wenn er am Morgen die Wohnung früh verliess, sie untertags nicht behelligte und am Abend möglichst spät zurückkehrte, wenn sie bereits im Bett war und nicht damit rechnen musste, zum Beischlaf gezwungen zu werden. Ihr machte man nichts mehr vor. Sie traute Elvira Heinzer sogar völlige Gefühlskälte zu.

«Sie haben ausgesagt, dass Sie Ihren Mann bei Ihrer Ankunft heute Morgen früh im Schlafzimmer gefunden haben.»

«Ich kam um Viertel nach fünf zurück. Daraufhin ging ich in die Küche, um das Frühstück zuzubereiten. Mein Mann macht sich um diese Zeit gewöhnlich bereit. Um sieben beginnt normalerweise sein Dienst in der Praxis. Aber die Stille im Haus kam mir unheimlich vor. Joachim ist morgens immer sehr laut. Heute hätte ich die Stille mit den Händen greifen können. Das fiel mir zuerst auf.»

«War die Haustür verschlossen?»

«Die Tür ist immer verschlossen. Sie hat ein Schnappschloss, das sich nur von innen ohne Schlüssel öffnen lässt.»

Valérie notierte: Heinzer muss die Täterschaft in die Wohnung gelassen haben.

«Als Sie ins Schlafzimmer gingen, was haben Sie da vorgefunden?»

«Ja, was denn?» Elviras Stimme bekam einen krächzenden Unterton. «Joachim lag mit aufgeschlitzter Kehle auf dem Bett. Und es stank ganz fürchterlich.»

«Haben Sie ihn angerührt?»

«Nein, Gott bewahre. Ich sah sofort, dass er tot war. Schrecklich, ihn da in seinen eigenen Ausscheidungen zu sehen.»

«An wen haben Sie sich gewandt?»

«An meine Freundin Lene, die unterwegs nach Kloten war. Sie riet mir, die Polizei anzurufen, die Nummer117…»

«Sie hätten auch die Nummer144, den Notfalldienst, anrufen können.»

«Ich sah doch, dass er tot war… Sie müssen verstehen, ich war ziemlich durch den Wind, wusste nicht wirklich, was zu tun war. Ja, und mein Gott, ich habe mich geekelt.»

«Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Ihren Mann im Bett liegen sahen?»

«Wie meinen Sie das?»

«Die Frage dürfte unmissverständlich gewesen sein.» Valérie beobachtete sie mit wachsendem Misstrauen. Ihr Blick streifte kurz den Kahlköpfigen, welcher mit versteinerter Miene seine Bemerkungen im Zaume hielt. Valérie sah ihm an, wie wenig Gefallen er an dem Gespräch hatte. Eigentlich müsste es ihm schon längst aufgefallen sein, dass Elvira ihnen beiden etwas vormachte.

«Ich war zornig.»

«Sie waren zornig. Und weshalb? Haben Sie etwas gesehen, das dieses Gefühl rechtfertigt?»

«Ich dachte, was für eine Sauerei.»

Valérie zog die Augenbrauen nach oben. Sie notierte: Emotionale Kälte. Könnte der Schock sein.

«Hatte Ihr Mann Feinde?»

«Wie soll ein Gynäkologe Feinde haben?», fragte Elvira beinahe verbittert. «Die Weiber haben ihn vergöttert. Die waren scharf darauf, sich bei ihm auf den Schragen zu legen und die Beine breit zu machen.»

«Na, na…»

«Ist doch wahr! Joachim hat mir manchmal die absurdesten Geschichten erzählt. Über die heissblütigen Weiber jenseits der fünfzig, die meinen, noch begehrenswert zu sein. In seiner Praxis roch es manchmal wie in einem Freudenhaus nach opulenten Parfumdüften…»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Weil ich ab und zu in der Praxis ausgeholfen habe…»

«Als Praxisassistentin?»

«Als seine Frau. Ich half ihm bei der Buchhaltung.»

Valérie verzichtete auf eine Bemerkung. Elvira Heinzer machte auf sie einen verwegenen Eindruck. Wahrscheinlich litt sie selbst sehr darunter, dass sie die fruchtbaren Jahre hinter sich hatte. «Hat er denn auch Geburtshilfe geleistet?» Valérie warf immer wieder Blicke zu Henry Vischer, dem der Dialog nicht mehr geheuer schien. Er verdrehte die Augen und knetete seine Handknöchel weiss.

«Joachim? Selbstverständlich! Geburten sind lukrativ. Die meisten Babys werden nachts geboren. Dann kann man wenigstens noch vom Nachttarif profitieren… Nur die Ausländerfrauen gingen zu Ärztinnen, wegen des religiösen… Sie wissen ja… Von den Verschleierten gab es selten welche, die man in seiner Praxis antraf. Oder sie kamen in Begleitung ihrer Männer. Untersuchen durfte mein Mann sie allerdings nicht. Im Nachhinein gab es immer Zoff wegen der Rechnung.»

«Wie meinen Sie das?»

«Mein Mann musste auch Flüchtlingsfrauen untersuchen. Da rückte schon mal das kantonale Flüchtlingsamt an. Das sind richtige Rappenspalter. Joachim hat sich oft darüber beklagt, dass er infolge des Papierkrams für die wesentliche Arbeit kaum noch Zeit finde. Er stand immer ziemlich unter Druck.»

«Wurde er bedroht?»

«Nein, das hätte er mir mit Sicherheit gesagt.»

«Hatte Ihr Mann eine Geliebte?»

Elvira zögerte zu lange. «… Nein, hatte er nicht.»

«Dann hatte er also eine», folgerte Valérie.

«Mein Gott, Sie kennen ja die Männer. Wenn sie in die Midlife-Crisis kommen, glauben sie, jedem jungen Gör hinterhersehen zu müssen. Da laufen sie halt Gefahr, denen hin und wieder zu verfallen. Aber etwas Ernstes ist es meistens nicht. Und wenn er eine Geliebte gehabt hätte, wäre es mir bestimmt aufgefallen.»

«Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Ihr Mann vergangene Nacht jemanden bei sich.» Dies war zwar nicht bewiesen, verfehlte aber die Wirkung nicht. Valérie verwendete Provokation als Mittel dafür, ihr Gegenüber aus der Reserve zu locken.

«In meinem Bett?» Elvira tat so, als würde ihr diese Tatsache erst jetzt bewusst. «Ich dachte, es sei ein Raubmord gewesen.»

«Fehlt denn etwas?»

«Ich habe noch nicht nachgesehen.»

«Dies sollten Sie unter Aufsicht meines Kollegen noch tun. Wann haben Sie das Haus gestern verlassen?»

«Bereits am Nachmittag.»

«Haben Sie für den Todeszeitpunkt ein Alibi?»

«Für wann denn?»

«Zwischen dreiundzwanzig und zwei Uhr.»

«Sagte ich nicht, dass ich bei meiner Freundin übernachtet habe?»

«Ihren Mann haben Sie nicht mehr gesehen?»

«Nein, erst heute Morgen– oder das, was von ihm übrig geblieben ist.»

«Gut, fürs Erste lassen wir es. Mein Kollege wird Ihnen mitteilen, wann Sie für das Protokoll auf dem Polizeikommando sein müssen. Bis dahin sollten Sie mir sämtliche Adressen der Patientinnen Ihres Mannes mitbringen.»

ZWEI

Zeitgleich mit den Leichenbestattern traf Fabia Ulrich in der Villa ein. Sie stürmte die Treppe hoch, hastete ins Schlafzimmer und blieb keuchend vor Louis stehen, der sie mit einem missfälligen Blick musterte.

«Verdammt, es ist Donnerstagmorgen früh. Ich bin nicht auf Pikett. Zum Glück ist mein Mann zu Hause und schaut nach unserem Baby.»

Louis zeigte sich wenig beeindruckt. «Das tut er ja immer… Wer hat dich denn aufgeboten?»

«Fischbacher natürlich. Ist er noch nicht hier?»

«Lehmann ist da, genügt das nicht?»

«Der Chef hat mich darüber informiert. Sie soll die Ermittlungen leiten. Warum lässt du dir das gefallen, Louis?»

«Das wird schon seine Richtigkeit haben», wich Louis aus. «Zudem hat sie einen höheren Grad als ich.»

«Sie ist erst einen Monat hier und übernimmt bereits das Zepter. Mensch, Louis, es wäre an der Zeit, dass du mal den Finger rausnimmst.»

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