Muotathal - SIlvia Götschi - E-Book

Muotathal E-Book

Silvia Götschi

4,8

Beschreibung

Kurz nachdem ein Junge aus dem Muotathal verschwindet und ein Unwetter die Region von der Außenwelt abschneidet, findet die Polizei eine schrecklich zugerichtete Leiche in der Nähe des Höllochs. Handelt es sich um das vermisste Kind? Schnell geraten Asylbewerber unter Verdacht, doch als ein Flüchtlingsmädchen verschwindet, verändert sich die Situation für Ermittlerin Valérie Lehmann grundlegend – und sie kommt einer Wahrheit auf die Spur, die jede Vorstellungskraft übersteigt.

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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete von 1979 bis 1998 in Davos und von 1998 bis 2014 im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.Am Ende findet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma Bildagentur AG/Alamy

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-217-5

Originalausgabe

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Kein Schmerz ist grösser, als sich der Zeit desGlückes zu erinnern, wenn man im Elend ist.

Dante Alighieri (1265–1321)

Schönheit, Anmut, Intelligenz.

Beim Anblick ihres Gesichts musste er an diese drei Wörter denken. Diese wiederum fanden ihren Ausdruck in einem einzigen Wort: Perfektion.

Es war ihm, als hätte er diese junge Frau selbst erschaffen. Mit blossen Händen ihr ebenmässiges Antlitz geformt, die grossen Augen wie blaue Sterne, von einem Halbmond von Brauen gezeichnet. Eine kleine Nase, der wie ein Herz geformte Mund, der lange schlanke Hals. Als sein Blick ihren Körper streifte, fühlte er eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Und diese Haut. Zart wie Alabaster mit einem Schimmer von Gold. Weizengelb ihr Haar, das in sanften Locken über ihre Schultern fiel.

Die perfekte Frau.

Er seufzte.

Schönheit ist definierbar, dachte er. Schönheit ist Mathematik. Ist messbar mit dem Meterband des Schneiders. Ist Augenmass für den, der es beherrscht. Wie ein Fotograf, der die Vollkommenheit in der Perspektive des Betrachters sieht, der so lange am Blickwinkel tüftelt, bis Distanz und Licht übereinstimmen, bis ein wenig Schatten die Konturen weich zeichnet.

Dieses Gesicht!

Vollkommen ausgeleuchtet. Nur die kleinen Furchen im Schwung um Nase und Mund brauchte es, um die Wirkung optimal herauszuholen.

Eine Stirn, glatt und sanft gerundet. Dahinter die Verästelungen des Gehirns, die Windungen und kapillaren Wunderwerke. Eine Intelligenz, die er heute nur erahnte und von der er doch wusste, dass sie da war. In diesem schönen Kopf.

Intelligenz, war er überzeugt, ist sichtbar, drückt sich im Ebenmass der Physiognomie aus.

Befriedigt über seine Erkenntnis trat er vor das Haus.

Früher Morgen. Noch hatte die Sonne den Horizont nicht erklommen. Er roch den Tau, sah seine Tropfen auf dem Gras. Über Nacht hatte es womöglich geregnet. Der Geruch nach Feuchtigkeit streifte seine Nase. Er pflückte einen Grashalm, zerrieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er roch und schloss die Augen. Die Natur empfand er als das Perfekteste überhaupt. Die Natur eliminierte dort, wo es vonnöten war. Das Starke überlebte. So stand es im Gesetzbuch der Erde.

Dieses hatte er auswendig gelernt.

Er atmete tief ein, inhalierte die Morgenfrische, die mit einer Windböe über die Felder getragen wurde. Langsam öffnete er seine Augen wieder, liess seinen Blick über die Wiese unterhalb seines Hauses streifen. Ein Grundstück, das aus einem kleinen Teil Wald bestand. Mit gesunden, kräftigen Bäumen, die ihre Kronen gegen das Violett des Himmels streckten. So erhaben fühlte er sich jetzt.

Er war angekommen.

EINS

Ins Tal hinein kam sie bedenkenlos. Hinaus war es wenige Minuten später nicht mehr möglich. Valérie Lehmann hatte das Wasser kommen sehen. Auf dem Rückspiegel verfolgte sie die Katastrophe, die sich hinter ihr abspielte. Fast explosionsartig stürzte die Flutwelle über die Brücke. Der Bettbach hatte sich innerhalb kurzer Zeit in ein Monster verwandelt. Die Strasse nach Muotathal glich einem reissenden Fluss, durch den sich der Audi TT wie auf einer Achterbahn einen Weg bahnte. Sollte sie aus irgendeinem Grund anhalten müssen, würde sie stecken bleiben. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt. Sturm und Regen peitschten gegen die Frontscheibe. Die Sicht nahm mit jedem Meter ab. Es war, als führe sie in einen umbrabraunen Schlund, ohne das Ziel zu kennen.

Vor einer halben Stunde hatte der Kripo-Chef Dominik Fischbacher sie aufgeboten. Leichenfund am Ufer der Starzlen, eingangs Hölloch. Das Einzige, was Valérie erfahren hatte, war, dass ein Unfall ausgeschlossen werden könne.

Da war zuerst diese Genugtuung gewesen. Ein neuer Fall! Die Schonzeit war abgelaufen. Sie würde als Ermittlungsleiterin dem Ungemach die Stirn bieten. Das war ihr Job. Und nichts anderes. Nach ihrem Spitalaufenthalt im Dezember war sie zum Innendienst verknurrt worden. Sie hatte sich mit allen möglichen lapidaren Fällen auseinandergesetzt und sich immer wieder eingestehen müssen, dass sie nicht dazu geboren worden war, Ermittlungsfehler anderer auszubügeln oder nach ausstehenden Rapporten zu jagen. Alle waren um sie besorgt gewesen. Henry Vischer, bei dem sie polizeipsychologische Unterstützung bekam, hatte ihr geraten, das Trauma zuerst richtig aufzuarbeiten, bevor sie sich wieder an die Front begab. Warum hätte sie etwas aufarbeiten sollen, von dem sie wusste, dass es zu ihrem Polizeialltag gehörte? Die Gefahr, in einen Schusswechsel zu geraten. Nun war es geschehen, und sie konnte es nicht rückgängig machen, höchstens daraus lernen.

Sie musste sich anstrengen. Ihre Augen durchbohrten einen grauen Film aus Wasser, der auf die Windschutzscheibe prallte. Das waren keine Tropfen. Es erinnerte vielmehr an mit einer zähen Flüssigkeit gefüllte Ballons, die reihenweise aufplatzten. Die Scheibenwischer schlingerten von einer zur anderen Seite.

Erst letzte Woche hatte Valérie mit dem Bike einen Ausflug ins Muotatal gemacht. In dieses Hochtal südöstlich von Schwyz, das sie an die idyllischen Seitentäler des Unterwallis erinnerte. Schien die Sonne, standen Felsen, Wiesen und Tannengrün im Einklang mit dem Azurblau des Himmels. Häuser und Landschaft wirkten wie eine Modellanlage, der die Farben den letzten Feinschliff gaben. Auch hier hinten schien die Zeit stillzustehen. Ein Tal, das entschleunigte, in dem der Alltag mit jener Musse angegangen wurde, die vielerorts abhandengekommen war. Von den leuchtenden Wiesen und nach Holz riechenden Höfen war jedoch nichts geblieben als eine undurchdringliche Nebelwand, die das Unwetter vor sich herschob.

Es war erst halb vier und trotzdem fast dunkel.

Der Regen kam von allen Seiten. Auf der Strasse lag der Schlamm jetzt zentimeterhoch. Das Ganze erinnerte Valérie an eine Metapher. Sie fuhr durch die Hölle und würde bald vor einer zweiten stehen. Hinten, am Ende des Dorfes Muotathal, im kleinen Weiler Stalden. Dort, beim Delta der Starzlen, in der Nähe des Höllochs, würde sie heute den Spuren des Leibhaftigen begegnen. Fischbacher hatte sie vorgewarnt, ohne konkret zu werden. Details darüber waren ihm offenbar nicht bekannt. Er hatte ihren Kollegen Louis Camenzind und den Kriminaltechnischen Dienst bereits bestellt. Die Staatsanwaltschaft sei informiert.

Louis, hatte sich Valérie gewundert, weil sie doch soeben den Auftrag erhalten hatte, den Fall zu übernehmen und ihr Team selbst zusammenzustellen. Das sei Zufall, hatte Fischbacher geantwortet. Louis habe in Ried zu tun gehabt.

Wusste der Kuckuck, was.

Ein Blitz riss den Himmel auf. Ein Lichtspiel der Elemente. Unmittelbar darauf folgte ein Knall. Valérie bremste ab. Falscher Reflex. Sie hatte Mühe, wieder anzufahren. Die Räder des tt drehten kurz durch. Der Motor heulte auf. Von der Kupplung drang ein penetranter Geruch durch das Belüftungssystem ins Wageninnere. Valérie gab wieder Gas, genervt, und touchierte eine Mauer, die sie im diesigen Licht nicht beachtet hatte. Oder was war es? Keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Das Fahren verlangte ihr alles ab.

Wieder ein Blitz, diesmal direkt über dem Kirchturm, der als Schemen vor ihr auftauchte. Links und rechts Häuser. Muotathal. Ein Donnerkrachen. Und auf einmal dieser Hagel. Kirschgrosse Körner trafen ihren Wagen wie Geschosse. Valérie fuhr unter das Vordach einer Tankstelle, schräg gegenüber dem Fliegerdenkmal, wo schon ein anderer Wagen stand. Hinter beschlagenen Fenstern entdeckte sie zwei Körper, die offenbar die Gunst der Stunde für einen Quickie nutzten. Valérie schaute seelenruhig zu, während sie auf das Nachlassen des Niederschlags wartete. Wehmut überkam sie, ein rascher Gedanke an früher, als sie jung gewesen war. Unüberlegt hatte sie manchmal gehandelt und ebenso geliebt.

Nach gefühlten hundert Minuten startete Valérie den Motor.

Das Dorf war ausgestorben. Nur manchmal dachte sie, eine Gestalt hinter einem Fenster zu erkennen. Jemanden, der wie sie in den brodelnden Rachen sah und sich gewiss fragte, ob dieses Unwetter normal sei.

Der Hagelschauer zog von dannen. Der Regen fiel weiter. Über die Strasse hatte sich ein unebener weisser Teppich gelegt. Wie Schnee im Juli. Valérie fuhr vorsichtig an. Die kritische Stelle beim Dorfausgang meisterte sie souverän, trotz der Sommerreifen. Sie erreichte eine Anhöhe, passierte die Brücke über die Starzlen. Auch hier kam das Wasser. Fast schwarz.

Valérie parkte vor dem Restaurant Hölloch neben dem Camion des Kriminaltechnischen Dienstes und Louis’ Kombi. Zwei Streifenwagen versperrten die Strasse zum Pragelpass. Valérie stieg aus. Sie hatte sich Stiefel und eine wasserdichte Pelerine angezogen, nicht die Arbeitskluft, die sie mochte. Sie folgte den Absperrbändern der Polizei und begrüsste einen Kollegen, der ihr missmutig die Richtung wies. Sie ging die Strasse hinauf bis zu einem Schober und zweigte links auf einen Pfad ab. Was immer auf sie zukommen würde, sie spürte bereits das Adrenalin in ihren Blutbahnen pulsieren. Und sie hatte Hunger. Die Fahrt hierher war anstrengender gewesen als eine Stunde auf dem Crosstrainer im Fitnesscenter.

Auf halber Höhe kam ihr Louis entgegen. Auch er in Gummistiefeln und wetterfestem Anorak. Seine Haare trieften vor Nässe. Er blieb breitbeinig stehen, als wollte er ihr den Weg streitig machen. Er sah müde aus.

«Wahrscheinlich ein Ritualmord», sagte er. «Es weist so ziemlich alles darauf hin.»

Louis spekulierte und dramatisierte gern. Das lag in seinem Naturell. Er verschaffte sich dadurch oft Gehör. Valérie runzelte die Stirn. Zu gern hätte sie erfahren, was er in Ried gemacht hatte. Obwohl sie seit über einem Jahr zusammen arbeiteten und gemeinsam durch Himmel und Hölle gegangen waren, wollte sich zwischen ihnen keine freundschaftliche Beziehung einstellen. Louis’ Charakter war nicht zu greifen. Mal war er sehr zuvorkommend und hilfsbereit, dann wiederum stellte er sich quer. Heute vermochte Valérie keine Seite richtig zu deuten.

Der Weg von ihrem Wagen bis hierher hatte gereicht, dass sie bis auf den Körper durchnässt war. Dagegen nutzte auch die Pelerine wenig. Das Wasser lief ihr über das Gesicht in den Mund und liess einen eigenartigen Geschmack zurück.

Vor dem Eingang zum Höhlensystem arbeiteten die Männer des Kriminaltechnischen Dienstes in weissen Anzügen. Sie wirkten wie Astronauten in einer bizarren Landschaft. Sie durchforsteten die unwirtliche Gegend, kletterten über umgestürzte Bäume und räumten Äste vom Pfad. Nach brauchbaren Spuren suchten sie wahrscheinlich vergebens.

«Ein Ritualmord? Wie kommst du darauf?» Valérie stakste über den glitschigen Pfad, dicht gefolgt von Louis.

«Aha, du hast mich also doch verstanden. Du wirst es schon sehen. Braucht starke Nerven, so etwas … Dort unten am Fluss, der eigentlich ein friedliches Bächlein wäre, wirst du dem Satan begegnen …» Sonderbar, ein ähnliches Wort hatte schon Fischbacher gebraucht. «Mit einer solchen Wucht kam die Starzlen noch nie daher. Wir können froh sein, wurde der Tote rechtzeitig entdeckt … na ja, später hätte es uns dieses Sauwetter erspart.» Louis hielt inne, fuhr jedoch fort, als Valérie nichts darauf erwiderte. Sie liess das Wort «Satan» nachwirken, während sie darüber nachdachte, was es zu bedeuten hatte. «Schuler ist seit einer Viertelstunde hier und flucht, was das Zeug hergibt. Ich kenne ihn gar nicht von dieser Seite. Er komme sich vor wie Sisyphus, hat er gesagt. Kennst du Sisyphus? Der stösst einen Steinbrocken bergwärts –»

«Ist Zanetti schon da?» Valérie ging weiter vorsichtig über den Weg nach unten. Bei jedem Schritt glaubte sie, im Schlamm auszugleiten. Sie verwünschte die Stiefel. Sie hätte Wanderschuhe anziehen sollen oder die mit grobem Profil bestückten Kampfstiefel, die im Keller standen und sie an den letzten Einsatz vor Weihnachten erinnerten.

«Der müsste unterwegs sein.» Louis war jetzt neben ihr. «War er nicht bei dir?»

Nur Louis stellte solche Fragen. Sie liess sie unbeantwortet. Dass Emilio Zanetti und sie seit letztem Dezember ein Paar waren, wussten die meisten. Aber keinen interessierte es so sehr wie Louis.

«Die Hauptstrasse ist unpassierbar», sagte Valérie nur. «Ich war wahrscheinlich eine der Letzten, die unversehrt hierherfahren konnten.»

«Ich weiss, hab’s über den Verkehrsfunk gehört. Schöne Scheisse. Wenn hier hinten die Unwetter losgehen, geraten die Hänge ins Rutschen. Ist nicht das erste Mal.»

Sollte sie ihn fragen, was er in Ried getan hatte?

In das Rauschen des Regens mischte sich das Getose des reissenden Flusses. Keine zwei Meter oberhalb der tobenden Wasser hatten die Techniker ein Zelt aufgestellt, das sie mittels Haken im Boden zu befestigen versuchten. Immer wieder fuhren Windböen in die Plane und plusterten sie wie einen Blasebalg auf.

Valérie schob sich ins Zeltinnere und streifte die Kapuze von ihrem Kopf. Der Motor eines Stromaggregats surrte und vermischte sich mit den unheimlichen Klängen der aufgebrachten Natur. Eine Halogenleuchte war behelfsmässig montiert. Das gleissende Licht fiel auf einen kleinen Körper, über den man eine Wolldecke gelegt hatte.

Franz Schuler von der Kriminaltechnik beugte sich in kauernder Stellung über den Leichnam, unschlüssig darüber, ob er die Decke wegnehmen sollte. Oder hatte er sie eben erst darüber ausgebreitet? Er wandte sich zu Valérie um, als er sie bemerkte. Über sein schweissnasses Gesicht zog ein Schatten und liess ihn versteinert aussehen.

«Ist kein Arzt da?» Valéries Blick schweifte über den eingegrenzten Platz. Überall Nässe, losgelöste Steinbrocken, Schmutz.

«Fischbacher hat Res Stieffel aufgeboten», murmelte Schuler. «Ein Amtsarzt konnte bis anhin nicht gefunden werden. Bei diesem Hudelwetter bleiben die Ärzte lieber im Trockenen …»

Valérie hob die Augenbrauen. Da war jemand ziemlich übel gelaunt. Hatte man ihn etwa aus den Ferien geholt? «Wer hat ihn gefunden?» Valérie wartete vergebens auf seine Antwort.

«Ein Anwohner», sagte Louis an Schulers Stelle. «Er wollte sich vergewissern, dass das Wasser seinen Keller nicht flutete. Da hat er ihn entdeckt.»

«Er soll sich zu unserer Verfügung halten.» Valérie deutete auf die Wolldecke. «Weiss man schon, wer es ist? Kann ich ihn mir ansehen?»

Schuler musterte sie mit strengem Blick. «Willst du das wirklich tun?»

Valérie setzte ein zaghaftes Lächeln auf. «Franz, das ist mehr als ein halbes Jahr her. Ihr braucht mich nicht mit Handschuhen anzufassen. Ich habe das Trauma überwunden. Und zudem, was hat der Leichnam hier mit meiner Schussverletzung zu tun?»

«Das meinte ich eigentlich nicht.» Schuler zog die Decke vom Kopf. «Wie du willst …»

Valérie verstand Schulers Reaktion nicht. Da war nichts Verwerfliches auf den ersten Blick. Ein makelloses Gesicht, umrahmt von einem Gewirk aus Haaren, die einmal blond gewesen sein mussten und jetzt vom Dreck verunreinigt waren. Cameron Diaz im Kleinformat, ihr Klon. Eine zierliche Frau. Als schaute sie zufrieden auf das, was sich über ihr befand. Nichts Beängstigendes, wären da nicht diese kitschig blauen Augen gewesen, die schon zu Lebzeiten den Tod in sich getragen hatten.

Valérie starrte überrascht auf eine Latexmaske, die einem natürlichen Gesicht in nichts nachstand und tatsächlich viel Ähnlichkeit mit der amerikanischen Schauspielerin hatte.

«Ein Ritualmord, sagte ich doch.» Louis versuchte, Halt auf dem glitschigen Boden zu bekommen.

Valérie liess es zu, dass er sich bei ihr abstützte. «Wegen der Maske? Das ist weit hergeholt. Das sieht eher nach einem üblen Scherz aus.» Sie kniete nieder, entnahm ihrer Jackentasche ein paar Vinylhandschuhe, zog sie über und war daran, die Decke ganz vom Körper zu ziehen, als Schuler sie zurückhielt.

«Wollen wir nicht lieber auf den Gerichtsmediziner warten?»

«Der wird vielleicht nicht kommen.» Valérie hielt erschrocken die Decke in der Hand. Sie spürte den Reflex zu würgen. «Aber das ist doch …»

«Ich habe dich gewarnt. Du hättest auf mich hören sollen.»

«Und das Gesicht?»

«Wie du siehst, habe ich es mit der Maske wieder zugedeckt.» Schuler wand sich, wollte nicht unbedingt Auskunft geben. Die Maske verberge eine Grausamkeit, die er nie zuvor gesehen habe, sagte er endlich.

Valérie erhob sich mit zitternden Knien. Da waren plötzlich diese Bilder und der Anruf vor zwei Tagen von ihrer Kollegin. Fabia verbrachte mit ihrer Tochter Olivia die Ferien bei ihren Eltern im Bisistal. Sie war ganz aufgeregt gewesen. Seppli Schmidig, der neunjährige Junge aus Mutters Nachbarschaft, sei spurlos verschwunden. Seine Eltern hätten eine Vermisstenanzeige aufgegeben, die bis anhin erfolglos geblieben war.

Lag der Sucherfolg vor ihr?

Ein totes Kind, als Promi maskiert? Das war an der Grenze zum Makabren.

Vor allem aber: Was hatte dies zu bedeuten? Paralysiert stand Valérie da. Sekundenlang wie eingefroren.

Ein schmächtiger Junge, völlig entkleidet. Unübersehbar blaue Flecke im Brustbereich. Valérie zählte fünf grosse, frisch oder älteren Datums. Schwer zu sagen. Alter zwischen acht und zehn. Eher unterentwickelt. Ganz deutlich waren die Rippen unter dem Brustkorb zu erkennen. Der Bauch war nach innen gewölbt. Die Beckenknochen standen weit ab. Unterernährt, dachte Valérie und sah sich den Rest des Unterkörpers an, der diesen Verdacht nur bedingt erhärtete. Die Haut war eher schwammig, die Körperkonturen waren wenig profiliert. Hatte er schon lange im Wasser gelegen?

«Die Maske verbirgt das Schlimmste», wiederholte Schuler.

«Du hast sie ihm aus- und wieder angezogen?» Valérie überlegte sich, ob sie Schuler eine Standpauke halten sollte. Warum tat er nicht einfach seinen Job?

«Ich hatte keine andere Wahl. Als ich hier ankam, hatte das Wasser die primären Spuren vernichtet.»

Valérie stiess Luft aus. «Du hast richtig entschieden», sagte sie, obwohl alles dagegensprach. Es war nicht Schulers Aufgabe, den Leichnam zu untersuchen, wohl aber die Spuren in dessen Umgebung. Was hatte er sich dabei gedacht? Zudem hätte er mit seiner Aktion auf ihre oder die Ankunft des Staatsanwalts warten müssen. Es lief gerade alles schief.

«Wir mussten ihn aus dem Wasser ziehen. Er wäre sonst mitgerissen worden. Eine Viertelstunde später, und wir hätten das Nachsehen gehabt.»

Valérie hob beschwichtigend die Hände. Sie griff unter ihre Pelerine und holte ein Foto aus der Hosentasche. Sie hielt es Schuler vors Gesicht. «Ist er es?»

Schuler zuckte mit den Schultern, sah lange auf das Bild. «Hm, schwer zu sagen … Wer ist das?»

«Seppli Schmidig. Er wird seit vorgestern vermisst.»

«Ich kann es dir nicht sagen. Das Gesicht des Jungen hier … es fehlt.»

«Ein Arzt muss her.» Valérie versuchte, sich zu beherrschen. Ein Szenario, das an einen Alptraum grenzte. Und da harrte sie, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Niemand sollte ihr ansehen, wie aufgewühlt sie war. Ein Kind, mager, vielleicht missbraucht, bevor es getötet worden war. Hier hinten im Muotatal, an einem beschaulichen Flecken Schweiz, wo jeder jeden zu kennen glaubte. Oder was hatte Fabia damit gemeint, als sie ihr ebendies sagte?

Valérie kam es vor, als würde ein Film rückwärtslaufen, als sähe sie zurück in eine Vergangenheit, die es ihr verunmöglicht hatte, ein normales Leben zu führen. Sie fühlte sich genötigt, wie damals, als sie sich hatte entscheiden müssen, einen anderen Weg einzuschlagen als den, den sie sich zurechtgelegt hatte. Sie dachte an ihren gewalttätigen Ex-Mann und sah Parallelen zu ihrem Vater. Plötzlich waren diese verdrängten Bilder da. Das missbrauchte Kind – das Monster in ihr drin, das seit ihrer Kindheit im Unterbewusstsein lauerte.

Ihr iPhone klingelte. Fischbacher informierte sie über die aktuelle Wettersituation. Eine Gerölllawine habe die Zufahrt zum Ort Muotathal komplett verschüttet, teilte er ihr mit. Ein Bach habe den Schlamm gebracht. Auch an der Pragelstrasse sei ein Murgang niedergegangen. Die Schadenwehr sei im Einsatz.

«Und was heisst das für uns?» Valérie fuhr sich mit den Händen durch das nasse Haar.

«Dass die Staatsanwaltschaft und der Gerichtsmediziner mit dem Helikopter einfliegen. Doch bevor sich das Wetter nicht beruhigt, wird das nicht der Fall sein.»

Schuler und seine Leute hatten den Leichnam unter den neugierigen Blicken zweier einheimischer Männer ins Haus vor dem Eingang zum Hölloch gebracht. Von hier aus starteten die Touristen jeweils ihr Abenteuer ins Höhlensystem. Zwischen Stiefeln, Helmen und Leuchtwesten legte man den Toten auf einen Tisch. Die Maske hatte er noch auf. Valérie fand Schulers Bitte, diese nicht zu entfernen, unangemessen. Ausgerechnet er, der jegliche Vorschriften missachtet hatte, musste ihr dies sagen. Andererseits würde sie sich auch nicht an die Richtlinien halten können. Aber es war ihre Aufgabe, das, was sie sah, auf Band zu sprechen und erste Schlüsse zu ziehen. Was das Wasser in der letzten Stunde nicht geschafft hatte, würde die Luft in der nächsten tun.

Wenn dem Jungen das Gesicht fehlte, würde sie davon ausgehen können, dass sämtliche Sinnesorgane verstümmelt waren. Schlimmstenfalls war ihm die Haut abgezogen worden. Valérie war auf alles gefasst. In Schulers Beisein nahm sie zuerst die Perücke vom Kopf des toten Jungen. Dann hob sie die Frauenmaske an, deren blaue Augen sie jetzt so vorwurfsvoll ansahen, als dürfte sie sich nicht an diesen Akt wagen.

Valérie wich reflexartig zurück und wäre beinahe über eine Bank gestolpert, die mit Rucksäcken überfüllt war. Zwei Thermoskrüge standen daneben. Die Gruppe, die ins Hölloch hatte steigen wollen, hatte das Abenteuer wohl kurzfristig unterbrochen.

Da war kein Gesicht mehr. Alles verstümmelt, wie zerschnitten, malträtiert. Die Nase war verschwunden, der Mund ein klaffendes Loch, dem ein paar Zähne fehlten. Und dort, wo die Augen hätten sein sollen, war nur der verkrustete Rückstand von Blut zu erkennen.

«Um Gottes willen!» Valérie schrie kurz auf. Musste sie davon ausgehen, dass der Junge von einem Tier angegriffen und verunstaltet worden war? Sie sah genauer hin, nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte. Das waren keine Bisswunden. Eher Spuren von einem Skalpell. Wie ein chirurgischer Eingriff, der misslungen war. Der Wutausbruch eines Geistesgestörten. Valérie spürte Magensäure aufsteigen.

Kein Gesicht. Vorerst keine Identität.

Nur die vage Vermutung, dass der tote Junge hier Seppli Schmidig sein könnte.

Valérie rannte nach draussen. Vor dem Haus lehnte sie sich über den Zaun und würgte den Schmerz heraus. Viel kam da nicht, aber das Stechen auf Brusthöhe blieb. Sie wollte Selbstvorwürfen keinen Platz einräumen. Nach Fabias Anruf hätte sie nicht anders reagieren können, als den Rat zu erteilen, erst einmal abzuwarten. Eine Vermisstenmeldung war nicht in erster Linie ihre Aufgabe. Das war Sache des Fahndungsdienstes. Und der war unmittelbar eingeschaltet worden. Aber wer wusste, ob dieses Kind nicht schon am ersten Tag seines Verschwindens umgebracht worden war? Hätte sie doch eher reagieren sollen?

«Wir müssen uns eine Unterkunft suchen», sagte sie wenig später zu Louis. «Erstens sollten wir uns hier ein Büro einrichten, und zweitens müssen wir hier im Tal übernachten. Das ist nur vorübergehend, bis die Strasse nach Schwyz wieder frei ist.»

«Hoffentlich dauert das eine Weile», frotzelte Louis. «Ich wollte schon immer im gleichen Haus schlafen wie du, wenn ich es schon nicht ins gleiche Bett geschafft habe.»

Valérie war zu solchen Spässen überhaupt nicht aufgelegt. Sie strafte ihren Kollegen mit einem vernichtenden Blick. «Was hältst du vom Gasthaus Hölloch? Vielleicht haben die freie Zimmer.»

«Nein, haben sie nicht. Die sind ausgebucht. Ich weiss es, weil ich das Schild gesehen habe. Aber wir könnten uns beim Hotel Alpenblick erkundigen.»

Valérie bat ihn, dies zu organisieren, worauf Louis ungehalten reagierte. Etwas musste ihm über die Leber gekrochen sein. Hatte es mit dem Aufenthalt in Ried zu tun? Sie unterdrückte den Drang, ihn danach zu fragen. Sie kehrte zu Schuler zurück. Er war völlig durch den Wind. Der ansonsten ruhige Kriminaltechniker war daran, seine Beherrschung zu verlieren. Valérie fiel auf, wie unkoordiniert er vorging. Ein Kollege, der neben ihm stand, musste sich ein paar wüste Beschuldigungen gefallen lassen. Sollte sie ihn aufmuntern? Unmöglich, sie selbst hätte jetzt eine moralische Stütze gebraucht.

Bei einem Kindsmord lagen die Nerven blank. Valérie erinnerte sich an Zürich, als sie in einer ähnlichen Lage gewesen war. Eine solche Nachricht den Eltern zu überbringen, war auch für die Ermittler kaum verkraftbar. Es war nicht der Sinn der Natur, dass die Eltern die Kinder überlebten.

Valérie hatte sich so weit gefasst, dass sie mit der Beschreibung des toten Kindes beginnen konnte. Sie sprach in kurzen Sätzen ins iPhone und versuchte, ruhig und sachlich zu bleiben. Es fiel ihr schwer. Das Kind war vielleicht aufs Massivste misshandelt worden, bevor es starb, und wahrscheinlich wie ein Abfallsack in den Fluss geworfen worden. Was für ein Mensch war fähig, ein solches Verbrechen zu begehen? Da waren Macht im Spiel und Unterdrückung. Oder Willkür?

«Scheusslich, nicht wahr?»

Sie hatte Louis nicht kommen sehen. Er stand plötzlich neben ihr und legte ihr den Arm um die Schultern.

Valérie hatte nicht die Kraft, ihn von sich zu stossen, obwohl sie dieses Getue von ihm nicht vertrug. Louis wechselte die Launen wie eine Wespe die Flugrichtung. Sie verabscheute seine Berührungen, die nicht mehr bloss als zufällig durchgingen. Dazu geschahen sie zu oft. Ihre Interventionen fruchteten nur gerade so weit, bis eine neue Situation Louis veranlasste, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen. Provozierte er sie absichtlich?

«Hotel Alpenblick ist okay», räumte er beiläufig ein.

«Haben sich schon Zeugen gemeldet?» Valérie deutete genervt auf eine Gruppe von Leuten, die sich vor den Polizeiabsperrbändern versammelt hatten, mit Regenschirmen und breitkrempigen Hüten. Der Regen störte sie offensichtlich nicht. «Die Katastrophentouristen sind bereits eingetroffen. Ich würde bei denen beginnen …»

«Keine weiteren unmittelbaren Zeugen», sagte Louis und machte sich, als wäre nichts gewesen, auf den Weg zur Absperrung.

Das Gewitter war weitergezogen. An den Berghängen hingen graue schwere Wolken und tauchten das Tal in Dunkelheit. Noch immer regnete es und liess die Starzlen anschwellen.

***

Die grünen Fensterläden sahen wie verwaschen aus. Die Margeriten in den Blumenkisten waren geknickt, einigen fehlten die Blütenblätter. Vor dem Eingang des «Alpenblicks» schaufelte jemand Hagelkörner beiseite.

Valérie hatte den Raum hinter der Rezeption in Beschlag genommen, in dem sie den Computer des Hotels benutzen durfte. Während sie versuchte, ein System in ihren provisorischen Arbeitsplatz zu bringen, klopfte es an der Tür. Auf ihr «Herein» platzte Fabia in den Raum. Ausser Atem, in einem blauen Overall – der letzte Schrei dieses Sommers. Und pudelnass.

«Sauwetter da draussen. Hab den Regenschirm vergessen.» Sie keuchte und fuhr im gleichen Atemzug fort: «Was ist los? Louis wollte mir ausnahmsweise keinen Bericht erstatten. Das ist neu. Hat er von dir einen Maulkorb erhalten?»

Valérie ging nicht darauf ein. «Wie kommst denn du hierher?»

«Nach Louis’ Anruf. Er sagte, dass ihr mich braucht. Mit mehr wollte er nicht herausrücken.»

«Die Strasse nach Stalden ist gesperrt.» Valérie wunderte sich. «Wie war es möglich –»

«Na hör mal, ich bin im Muotatal aufgewachsen. Es gab schon zu meiner Zeit Gewitter. Zu Fuss ist man dann meistens besser unterwegs als mit dem Auto. Ich habe in der Nähe der Husky-Lodge mein Velo abgestellt. Auf der anderen Seite hat das Unwetter nicht so stark gewütet wie hier.» Fabia setzte ein Lächeln auf, obwohl es nichts zu lachen gab. Möglich, dass vom Leichenfund noch nichts zu Fabia durchgesickert war.

Fabia war eine burschikose Frau, und wie sich jetzt herausstellte, ein unerschrockenes Naturkind. Wer bei Blitz und Donner ungeschützt draussen war, brauchte wirklich Nerven. Die Tatsache, dass Fabia im Muotatal gross geworden war, verlieh ihr offenbar Mut. Valérie drehte den Bürostuhl in ihre Richtung. «Der Junge, der vermisst wird …»

«Josef Schmidig?» Fabia stellte sich mit dem Rücken zur Wand, die mit Ansichtskarten und Zeitungsartikeln überklebt war. Auf einem Kalender aus dem Jahr 1984 klebten farbige Kartons – wohl ein Andenken an eine Zeit, in der man die Logiernächte manuell einfügte. «Alle nennen ihn Seppli. Er geht in Ibach zur Schule … in die Heilpädagogische Schule, aber darüber haben wir schon gesprochen. Ein herziger Bub ist er. Immer zu Spässen aufgelegt. Für eine normale Schule hat es leider nicht gereicht. Die Familie zog erst vor einem Jahr ins Bisistal, in den Steinweiler. Wegen Seppli. Sie wohnt seither in der Nähe der Luftseilbahn, die auf die Glattalp führt. Ziemlich abgeschieden.»

«Aha.» Valérie wandte sich wieder dem Pult zu, sah ein paar Dokumente durch, ohne sie richtig anzusehen. Ihr Team hatte sich im Speisesaal eingerichtet. Ausser einer Reisegruppe aus Norwegen, die wegen des Höllochs vor Ort war, gab es keine Gäste.

«Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?» Fabia fuhr mit ihren Händen durchs Haar, das sie sich vor den Ferien hatte abschneiden lassen. Pflegeleichter, hatte sie den Kommentaren in der Abteilung entgegengehalten. Bubikopf, hatte Louis gehänselt und sich somit eine von Fabias perfiden Revanchen gesichert.

Valérie fiel es schwer, sich zu konzentrieren. «Du sagtest, es seien Nachbarn deiner Eltern.»

«Na ja, im Bisistal sind alle Nachbarn … irgendwie. Das Tal ist zwar lang …»

«… aber man kennt sich.»

Fabia stiess sich von der Wand ab. «Was ist eigentlich los? Warum bist du hier? Habe ich etwas verpasst? Louis wollte mir tatsächlich nicht sagen, worum es geht. Nur, dass ihr mich braucht.»

«Es wird seine Gründe haben, wenn wir dich aus den Ferien holen.» Valérie erhob sich. Ihre Kollegin war heute schwer von Begriff. «Wir haben die Leiche eines Jungen gefunden.»

Zwischen Fabias Nase kerbte sich eine tiefe Falte ein. Ihr Gesicht wurde aschfahl. «Sag, dass das nicht wahr ist … Seppli Schmidig?» Es war wie ein Aufschrei.

«So sicher ist es nicht. Darum muss ich alles wissen, was wichtig ist.»

«Ich habe dir ein Foto gegeben, schon vergessen?»

Valérie schwieg, und Fabia kapierte. «Nein, das ist nicht wahr … man erkennt ihn nicht.» Sie schluckte schwer. «Darf ich ihn mir ansehen?»

«Ich möchte dir den Anblick ersparen», sagte Valérie. «Dem Jungen fehlt das Gesicht. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Er ist klein und mager. Sein Körper weist Spuren von Missbrauch auf –»

«Seppli wurde nicht missbraucht», fuhr Fabia ihr ins Wort. «Seine Eltern lieben ihn. Er ist … war in die Familie eingebettet.» Fabia wischte sich mit der einen Hand eine Träne aus dem Gesicht und tippte sich mit der anderen an die Stirn. «Er war im Kopf etwas unterbelichtet, aber ein lieber Kerl … Und jetzt willst du, dass ich es den Eltern mitteile?»

«Noch wissen wir nicht, ob er es ist. Aber wir müssen die Eltern bitten, den Jungen zu identifizieren.»

«Nein, das kannst du nicht von ihnen verlangen. Das geht nicht … Wir könnten einen DNA-Abgleich machen.»

«Das dauert», seufzte Valérie und schritt aufs Fenster zu. «Zudem sind wir hier von allem abgeschnitten.» Sie sah hinunter auf den Platz, wo zwei Lkws der Schadenwehr parkten. Schläuche waren ausgelegt, die wie gefrässige Schlangen den Schutt von der Strasse saugten. Ein Bagger stand schräg auf der Brücke, die über die Starzlen führte, und schaufelte Steine aus dem Fluss. Seit einer Stunde bereits. Über der Landschaft dampften Nebelschwaden, liessen erste Anzeichen von Herbst erkennen.

Valéries Mobiltelefon hatte einen leeren Akku, Fabia hatte ihres vergessen, die Verbindung auf dem Festnetz war unterbrochen. Nachdem Valérie mit Fischbacher telefoniert hatte, musste irgendwo ein Blitz eingeschlagen und eine Relaisstation beschädigt haben. Valérie hoffte, dass der von Fischbacher versprochene Helikopter bald nach Muotathal flog und den Staatsanwalt sowie den Gerichtsmediziner hierherbrachte. Ohne die beiden fühlte sie sich aufgeschmissen.

Fabia riss Valérie aus ihren Gedanken. «Däumchen drehen können wir wohl nicht. Wo ist der tote Junge jetzt?»

«Im Kühlraum …»

«In welchem Kühlraum?»

«Unten im Keller. Wir hatten nur diese Möglichkeit.»

Fabia verdrehte die Augen so, dass die Hälfte der Pupillen unter den oberen Lidrändern verschwand. «Und die Wirtsleute haben dem einfach so zugestimmt?»

«So einfach war es nicht. Wir mussten mit härterem Geschütz aufwarten.»

«Kann ich mir vorstellen.» Fabia steckte sich einen Kaugummi in den Mund. «Ich gehe jetzt. Ich werde meine Mutter darauf vorbereiten müssen, dass sie Olivia eine Weile ohne mich bei sich behalten muss. Morgen bin ich offiziell wieder im Dienst. Bis dahin werde ich mich gesammelt haben und mir überlegen, wie ich Herrn und Frau Schmidig überreden kann, hierherzukommen.»

Valérie schaute ihrer Kollegin nach, wie sie zur Tür ging, sie öffnete und sich auf den Flur schob. Sie unterliess es, mit den Füssen heftig auf den Boden zu treten. Warum hatte sie sich von Fabia dermassen überrumpeln lassen? Andererseits war es heute nicht mehr möglich, von auswärts her nach Stalden zu fahren.

Seit der Schussverletzung vor Weihnachten hatte sich ihre Befindlichkeit verändert. Sie war sensibler geworden. Nicht dass sie Angst davor hatte, ein solcher Angriff könnte sich wiederholen. Doch es war ihr bewusst geworden, dass es manchmal schnell gehen konnte. Nichts war selbstverständlich, zuallerletzt eine hundertprozentige Genesung. Das Glück überhaupt, dass es sie nicht schlimmer erwischt hatte. Die Bilder würden verblassen. Sie war eine Weltmeisterin im Verdrängen. Doch manchmal beschlich sie das ungute Gefühl, man hätte sich gegen sie verschworen. Wenn Fabia ihr Selbstbewusstsein wie gerade eben ausspielte, fühlte sie sich angegriffen.

Valérie blieb sitzen und lauschte dem wiederkehrenden Donnern. Er hörte sich so an, als würden Kugeln auf einer Bowlingbahn rollen. Weiter weg jetzt. Früher hatte Valérie die Sommergewitter gemocht. Nach einem Hitzetag waren sie am Abend einfach da gewesen – von Blitzen und Donner begleitet. Ein kurzer, heftiger und dennoch lauer Regen, der den Geruch nach warmem Asphalt verbreitete. Wenn heute Gewitter über das Land zogen, wurden sie von orkanartigen Stürmen begleitet. Sie liessen Schutt und Geröll zurück, umgestürzte Bäume, überschwemmte Bäche und überall Zerstörung. Die Temperaturen fielen – der lauwarme Regen blieb nur Erinnerung.

Seppli Schmidig! Neunjährig. Heutzutage waren Kinder von neun Jahren ziemlich aufgeweckt. Ihr eigener Sohn war schon fünfzehn. Er lebte in einer Wohngemeinschaft in Zug, wo er auch die Lehre in der Computerbranche absolvierte.

Draussen verflüchtigte sich die Dunkelheit. Valérie hatte keine Lust, den Tagesrapport in den Computer zu tippen. Nicht jetzt. Er wäre sowieso unvollständig gewesen. Valérie brauchte Luft. Am liebsten wäre sie durch den Regen gelaufen, mit nassen Kleidern im Bach gewatet, hätte die Tropfen auf ihrem Gesicht gespürt. So wie Fabia, der das Unwetter offensichtlich nichts ausmachte. Ein Blick auf die Armbanduhr. Halb acht, und sie war mit ihrer Arbeit weder an einem Anfang noch an einem Ende angelangt.

Sie startete den Computer. Sie loggte sich an ihrem Arbeitsplatz in Biberbrugg ein. Wenigstens funktionierte das Internet. Sie gab den Namen des Jungen in die Suchmaschine ein. Im Fahndungssystem Ripol fand sie schnell die Vermisstenanzeige. Josef Schmidig, wohnhaft an der Glattalpstrasse. Der neunjährige Sohn des Franz-Xaver und der Hanna Schmidig wurde seit Sonntagabend, 23. Juli, vermisst. Signalement: eins fünfunddreissig gross, schlank, braune kurze Haare … Sachdienliche Hinweise … et cetera, et cetera … um ein schonendes Anhalten sei gebeten … Das Bild eines Jungen, der wie ein Träumer in die Welt hinausblickte. Grosse dunkle Augen. Dieser staunende Blick, der alles einzunehmen vermochte. Fasziniert schaute Valérie in dieses Kindergesicht. Besondere Merkmale … Valérie schluckte leer.

War Seppli der Tote?

Eineinhalb Stunden später lud Valérie zur ersten Teamsitzung ein. Ohne Fabia. Diese wähnte sie bei ihrer Tochter. Fischbacher hatte sie berichtet, dass ihre Kollegin die Familie des vermissten Kindes informieren wolle. Wann das der Fall sein würde, konnte sie nicht beantworten, nur hoffen, dass sie Fabia richtig einschätzte. Zudem sollte Fischbacher nicht erfahren, wie unkonzentriert Valérie im Moment war.

Im Speisesaal waren die Tische im Kreis aufgestellt. Das Wirtehepaar hatte sogar einen Flipchart aus der Lagerkammer geholt, ein verstaubtes Gestell, das an eine Wäschevorrichtung erinnerte. Auch sonst zeigten sich die Leute sehr kooperativ.

Valérie skizzierte den Fundort der Leiche und setzte ein Fragezeichen.

«In erster Linie müssen wir abklären, ob der Tote im Kühlraum Seppli Schmidig ist. Wenn nicht, wer der Tote ist. Ob es weitere Vermisstenmeldungen von Kindern gibt. Ob es in der Vergangenheit ähnlich zugerichtete Tote gab. Ich möchte zudem ein psychologisches Gutachten, wie ein Mörder tickt, der zu so etwas fähig ist.»

Zu viel auf einmal, dachte sie. Doch mit jeder Minute, in der sie keine Antwort fand, verkleinerte sich die Aussicht auf eine schnelle Auflösung.

Valérie wandte sich an Louis. «Konnte der Mann, der ihn gefunden hat, schon befragt werden?»

«Nein.» Louis schob seinen Stuhl nach hinten. «Den Mann hatte es arg mitgenommen. Herzattacke, teilte seine Frau uns mit. Sie liess Dr. Rast kommen.»

«Interessant», sagte Valérie. «Als wir einen Arzt gebraucht hätten, liess sich keiner finden.» Sie überlegte sich, ob sie diesen Dr. Rast jetzt noch aufbieten wollte, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte vielleicht auch nicht die Befugnis, eine Legalinspektion vorzunehmen. Valérie wandte sich an Louis. «Morgen müssen wir seine Aussage protokollieren. Das dürfte reichen, da wir im Moment dazu verdammt sind, unsere Zeit in diesem … Kaff zu verbringen.» Valérie strich sich eine Strähne von der Wange. Seit dem grausamen Leichenfund schmerzte ihre Narbe im Gesicht, was sie schon eine Ewigkeit nicht mehr getan hatte. Das sei psychosomatisch, hatte Henry Vischer ihr erklärt. Ihre Schramme am Arm hingegen störte sie physisch nie wirklich.

Die Maske! Valérie betrachtete lange das erste und einzige Foto auf dem Flipchart. Schuler hatte es aufgenommen und ausgedruckt. Warum trug der tote Junge diese Frauenmaske? Was hatte der Täter damit bezwecken wollen? Warum erinnerte diese an Cameron Diaz? Kurz drang das Bild einer blonden Göttin durch Valéries inneres Auge. «Wir müssen in Erfahrung bringen, was es mit dieser Maske auf sich hat. Woher sie stammt, wo man sie kaufen oder bestellen kann –»

«Cameron Diaz?», fuhr Louis ihr ins Wort.

«Ist doch sonderbar», entgegnete Valérie. «Was für abartige Phantasien müssen in diesem kranken Gehirn stecken.»

«Du meinst, das könnte ein Ansatz sein?» Louis verkniff sich eine Grimasse. «Und woran denkst du?»

Darauf hatte Valérie keine Antwort. «Bis zur nächsten Teamsitzung will ich alles über diese Maske in Erfahrung bringen. Ich wünsche eine unbefangene und sachliche Ermittlung. Lasst euch nicht von euren Emotionen leiten. Ich weiss, es wird nicht leicht sein.»

Louis fuhr auf einmal herum und schaute unter den Tisch, als würde er dort eine Antwort finden. «Verdammt, jetzt hat mich so ein Viech gestochen.» Er klatschte mit der flachen Rechten auf das linke Bein zwischen Socke und Hose. «Eine Bremse, Scheissinsekt …»

«Wir sind auf dem Land», bemerkte Schuler und schob Valérie ein ausgedrucktes Dokument zu, ohne Louis weiter Beachtung zu schenken. «Unser Rapport zur Spurensicherung.»

Valérie überflog ihn. «Keine Fussabdrücke also, keine Reifenspuren, die nicht hierhergehören … keine Stofffetzen an einem Baum …» Während sie vor allem mit sich selbst redete, bedauerte Schuler sein Unvermögen.

«Ich habe lediglich von den Fingernägeln Stoffrückstände entnommen», sagte er. «Das steht ganz am Schluss.»

«Wenigstens etwas», sagte Valérie. «Als hätte der Täter auf das Unwetter gewartet … Es muss doch Zeugen geben.» Sie erinnerte sich an Fabias Kommentar, dass im Muotatal jeder jeden kannte. Und ausgerechnet bei einem Mord hatten sie Scheuklappen getragen. Vielleicht aber verhielt sich die Bevölkerung hier wie die drei heiligen Affen: Sie sah nichts, hörte nichts und sprach nichts. «Die Presse», sagte Valérie, «wird bestimmt auch bald eintreffen. Schon des Unwetters wegen. Ich möchte nichts verlautbaren. Eine erste Polizeinotiz soll morgen an die Medien, jedoch erst, wenn wir mit den Eltern von Seppli Schmidig gesprochen haben.»

ZWEI

Sie hauchten sich nur andeutungsweise einen Kuss auf den Mund. Nicht der passende Augenblick, um einander leidenschaftlich in die Arme zu fallen. Aber ihre Blicke sprachen Bände und verrieten jedem, der sich in ihrer unmittelbaren Umgebung aufhielt, wie verliebt sie noch waren.

Um kurz nach fünf Uhr war der Helikopter auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus Alpenblick gelandet und hatte Emilio Zanetti und Res Stieffel nach Stalden gebracht. Valérie war seit über einer Stunde auf den Beinen. Sie hatte sich das Ausmass des Unwetters beim ersten Dämmerlicht angesehen. Im kleinen Weiler sah es aus, als wäre eine Bombe detoniert. Die Starzlen hatte nicht nur Geröll mit sich gebracht, auch Schneisen in die Wiesen geschlagen und Bäume entwurzelt. Die Wasser hatten sich kaum zurückgezogen, braun und trüb bahnten sie sich den Weg auch ausserhalb des Flussbettes. Während der ganzen Nacht hatten die Schadenwehr und Soldaten, die in der Nähe von Muotathal stationiert waren, die Hauptstrasse freigeräumt. Am Morgen waren sie noch nicht fertig damit.

Valérie stand dem Gerichtsmediziner im Kühlraum gegenüber und war froh, Zanetti an ihrer Seite zu wissen. Seit dem Vorfall im letzten Sommer hatte sie gegen Stieffel eine Aversion, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Stieffel – verheiratet und Vater von zwei Kindern –, für den Treue ein Fremdwort war, war ihr zu nahe getreten; Valérie hatte ihn deswegen nach einem Essen in einem teuren Restaurant abblitzen lassen. Darum verwunderte es sie sehr, dass er sie ihres Entscheides wegen, den Toten hierherzubringen, lobte. Sie hatte damit gehadert, ob es richtig war.

«Ich werde die Legalinspektion vor Ort machen», sagte Stieffel, als hätte Valérie an deren Umsetzung gezweifelt. «Wurde die Körpertemperatur gemessen?»

«Ja, dreissig Grad.» Valérie reichte ihm Schulers Protokoll.

Die Regale, auf denen sich in der Regel Lebensmittel stapelten, waren bis auf ein paar wenige Kartons leer geräumt. Dem Wirt war es nicht recht gewesen, dass der Leichnam hierhergebracht wurde. Er hatte dennoch damit begonnen, den Kühlraum zu entrümpeln. Zu gross war die Angst vor der Lebensmittelinspektion gewesen, sollte man davon Wind bekommen. Eine Leiche im Vorratsraum – da würde er eine Menge Chemie einsetzen müssen, um diesen zu sterilisieren. Nicht auszudenken, welche Konsequenzen das nach sich zöge. Denn erführen erst die Gäste, neben wem Kartoffeln und Karotten gelagert waren, würden sie in Zukunft das Restaurant meiden.

Stieffel entfernte das Tuch vom Körper des toten Jungen. Die Zeit, die zwischen dem Auffinden und dem Aufbahren im Kühlraum vergangen war, erschwerte sichere Ergebnisse der äusseren Leichenschau. Ob der Verstümmelung des Gesichts etwas vorausgegangen war, an dem der Junge gestorben war, war nicht feststellbar. Stieffel untersuchte gründlich sämtliche Körperregionen und Körperöffnungen. Er beendete seine Arbeit, wusch sich in einem angrenzenden Raum die Hände und desinfizierte sie. Er nahm sein Diktiergerät zur Hand und dokumentierte die Veränderungen, die man vor seinem Eintreffen am Leichnam vorgenommen hatte, und seine vorläufige Erkenntnis.

«Erst die Autopsie wird Aufschluss über die genaue Todesursache geben», sagte er abschliessend und drückte die Aus-Taste. «Tut mir leid, ihr müsst euch noch etwas gedulden.»

«Todeszeitpunkt?», fragte Valérie, obwohl, wie sie die Situation einschätzte, auch diese nicht klar sein würde.

«Anhand der Totenstarre schätzungsweise vor achtzehn Stunden.»

Das Unwetter hatte allen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie würden warten müssen, bis der definitive Bescheid eintraf. Ihr war nur nicht klar, wie sie dieses Zeitvakuum überbrücken sollte.

«Herr und Frau Schmidig warten oben.» Sie lenkte von ihrem Unvermögen ab und suchte den Blickkontakt zu Zanetti. Dieser schaute sie fragend an. Das tat er in letzter Zeit öfters, als würde er um sie rätseln. Dabei hätte sie mehr Grund gehabt, sein Leben zu hinterfragen. Von Emilio wusste sie so gut wie nichts. Über seine Vergangenheit zu sprechen, fand er offenbar nicht wichtig. Sie hätte es herausfinden können, doch dies hätte Misstrauen bedeutet, das sie ihm gegenüber nicht eingestehen konnte. Zudem musste er seine Gründe haben, nicht darüber zu sprechen. Valérie schüttelte den Kopf. Sie war unkonzentriert, fühlte sich im Zwiespalt mit sich selbst und der Situation mit Emilio. Immerhin war sie jetzt geschieden. Vielleicht war auch das ein Grund, weshalb sich Emilio ihr gegenüber zurückhielt. Sie selbst war mit sich und der Scheidung so beschäftigt gewesen, dass sie für seine Belange kaum Zeit fand. Sie musste es als sein Feingefühl ihr gegenüber in Betracht ziehen. Er würde gewiss über seine Vergangenheit sprechen, wenn er den Zeitpunkt gekommen sah.

Fabia betrat den Kühlraum. Sie hatte Wort gehalten. Hinter ihr erschien ein magerer Mann mit Schnauzbart, neben ihm eine Frau, die ihn um Kopflänge überragte und ein doppeltes Körpervolumen hatte. Halb beschämt, halb verängstigt folgten sie der Polizistin.

«Das sind Herr und Frau Schmidig aus dem Bisistal», sagte Fabia. «Die Eltern des vermissten Kindes.»

«Bitte treten Sie ein», sagte Valérie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Leichnam zugedeckt war. Sie wusste nicht, was dem Erscheinen des Ehepaares vorausgegangen war, wie Fabia es angestellt hatte, sie hierherzubringen. Valérie war nur froh, dass ihr diese Aufgabe erspart geblieben war.

Herr Schmidig zögerte. «Franz-Xaver Schmidig», wiederholte er Fabias einleitenden Satz, «das ist meine Frau Hanna.»

Hanna Schmidig sah aus, als bliebe sie auf dem Boden kleben, als wäre jeder weitere Schritt in den Raum hinein eine Tortur, der sie nicht gewachsen war. Nur langsam näherte sie sich der Ablage, auf welcher der Tote lag. Sie klammerte sich an ihren Mann, der ihr tröstend über die Hände strich. Es gelang ihm genauso wenig wie seiner Frau, das Zittern zu verbergen. Sein Adamsapfel bewegte sich unter der dünnen Haut auf und ab.

«Ich danke Ihnen, dass Sie sich bereit erklärt haben …» Weiter kam Valérie nicht. Was sollte sie sagen? Dass sie sich bereit erklärten, ihren toten Sohn zu identifizieren? Dass sie besser auf ihr Kind hätten aufpassen sollen? Dass sich heute, an diesem Tag, ihr Leben in den Grundzügen verändern und ein anderes sein würde? Alles ging ihr in diesem Moment durch den Kopf. Wie musste sich diese Ungewissheit anfühlen? Wie die Angst, das eigene Kind unter dem Tuch zu erkennen?

Res Stieffel nahm Valérie die Entscheidung ab. «Frau Schmidig, sind Sie in der Lage, das Kind hier zu identifizieren?»

Sie schwiegen. Unter das hektische Atmen der Frau hatte sich das stockende des Mannes gemischt. Valérie zählte die Sekunden, in denen die Welt stillzustehen schien. Noch etwas länger, und sie hätte den Raum verlassen müssen. Unumstritten befand sie sich noch nicht auf ihrem geistigen Hoch. Und psychische Kraft musste sich anders anfühlen.

Franz-Xaver Schmidig machte endlich einen Schritt vorwärts. «Noch ist nicht sicher, dass es unser Sohn ist.»

«Das ist richtig», sagte Valérie sich räuspernd. Sie bemühte sich um einen festen Ton. «Deshalb sind Sie hier.» Und im gleichen Augenblick fiel ihr ein, wie unzimperlich ihr Vorgehen war. Aber die Zeit drängte. War die Identität des Kindes erst einmal sicher, wären damit auch die Fragen einfacher und die Zusammenhänge ersichtlicher. Andererseits sprach alles dagegen. So oder so würden es schwierige Ermittlungen werden.

Behalte einen kühlen Kopf, suggerierte Valérie sich ein. Das hier ist nicht real. Kann es nicht sein.

Schmidigs warfen einander einen verbissenen Blick zu. Franz-Xaver Schmidig nickte. Stieffel schob langsam das Tuch über den unteren Körperbereich des Toten. Magere Beine wurden sichtbar, das kleine Geschlecht, die Beckenknochen, die blauen Flecke. Hanna Schmidig starrte darauf. Ihre Blicke wanderten vom Hals an abwärts. Jede Faser des Körpers verschlang sie mit den Augen. Plötzlich stiess sie einen gutturalen Schrei aus. Sie torkelte rückwärts und wäre gefallen, hätte Stieffel sie nicht aufgefangen.

«Das ist nicht unser Sohn! Bei Gott, das ist nicht unser Sohn!» Hanna Schmidig rappelte sich von selbst wieder auf. Es schien, als wiche eine Zentnerlast von ihr. In ihr blasses Gesicht kehrte Farbe zurück. «Seppli hat über dem Knie eine gut sichtbare Narbe. Im letzten Sommer war er mit dem Velo gestürzt. Dr. Rast hat sein Knie genäht … Zudem fehlen ihm an beiden Füssen die mittleren Zehen.» Sie stürmte auf ihren Mann zu und fiel ihm in die Arme. «Seppli lebt. Er ist irgendwo da draussen und fürchtet sich …» Sie brach in Tränen aus.

Getrieben von der Erleichterung, schloss Fabia Frau Schmidig in die Arme. Für Valérie war diese Tatsache nur ein Aufschieben weiterer Dramen, aber Grund genug, die Schmidigs über ihren Sohn auszufragen. Ihr Bauch sagte ihr, dass Sepplis Verschwinden etwas mit dem toten Jungen zu tun hatte. Das konnte kein Zufall sein. Seit dem Angriff auf sie hatten sich ihre Sinne geschärft, sie hatte sich seelisch verändert und war sensibler geworden. Sie wandte sich an Franz-Xaver Schmidig und bat ihn, ihn und seine Frau unter sechs Augen sprechen zu dürfen.

«Es wird auch langsam Zeit, dass uns die Polizei ernst nimmt», polterte Franz-Xaver Schmidig drauflos, was Valérie diesem schmächtigen Mann gar nicht zugetraut hätte. Ganz eindeutig war die Anspannung von ihm gewichen, und er liess seiner Frustration freien Lauf.

Ein Gefühl von Hilflosigkeit bemächtigte sich Valéries. Und wie der Flügelschlag eines Schmetterlings streifte ein Gedanke ihr Gehirn. War es möglich, dass die Schmidigs etwas verdrängten? War der tote Junge vielleicht doch ihr Sohn? Wollten sie es nicht wahrhaben? Ein DNA-Abgleich würde den endgültigen Beweis erbringen. Valérie sah sich um. Hanna Schmidig hatte ein verweintes Taschentuch zurückgelassen. Valérie steckte es unbemerkt in einen Asservatenbeutel.

Sie kehrte, den anderen folgend, nach oben in den Speisesaal zurück. Eine Serviceangestellte war daran, die Tische zurechtzurücken und sie mit Set, Besteck und Gläsern aufzudecken.

«Stopp! Halt! Wer hat Ihnen gesagt, dass wir die Tische nicht mehr brauchen?» Valérie vergriff sich kurz im Ton. «Der ganze Saal hier ist von uns beschlagnahmt. Hat Ihnen Ihr Chef nichts mitgeteilt?»

Die junge Frau liess erschrocken eine Gabel fallen. «Ich habe soeben meinen Dienst begonnen. Sorry, habe mir noch gedacht, dass gestern ganz schön was los gewesen sein muss … aha, die Polizei hat sich bei uns einquartiert. Und wo, bitte schön, sollen unsere Gäste heute zu Mittag essen?»

«Das ist nicht unser Problem.» Valérie begleitete die Serviceangestellte zur Tür. «Zutritt für Unbefugte verboten», sagte sie und verabschiedete die Frau. Sie hatte überreagiert, für eine Entschuldigung war es zu spät. Sie wandte sich an Schmidigs, die sie bloss anstarrten. «Bitte nehmen Sie Platz. Der Saal hier wurde kurzfristig umfunktioniert. Sobald die Strasse nach Schwyz freigeschaufelt ist, verschwinden wir.»

Schmidigs setzten sich. Sie wirkten wieder gefasst. Der Schein trog, war sich Valérie sicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Sohn noch lebte, war grösser geworden, und ob er gefunden würde, hing davon ab, was sie über Seppli zu berichten imstande waren. Valérie nahm Block und Schreibstift zur Hand. «Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?»

Hanna Schmidig legte ihre Arme auf den Tisch und fixierte ihre Fingernägel. «Am Sonntagabend. Nach dem Essen ging er in den Schopf hinter dem Haus. Masha hatte fünf Junge geworfen …»

«Masha?» Um eine Kuh ging es wohl nicht.

«Unsere Katze», antwortete Hanna Schmidig. «Seppli liebt sie über alles. Wir dachten uns nichts dabei, als er um neun noch nicht zurück war. Seppli vergisst oft die Zeit, wenn er bei Masha ist. Als er aber um halb zehn nicht im Haus war, ging mein Mann zum Schopf. Er kam ohne Seppli wieder.»

Valérie machte sich Notizen. «Was taten Sie als Nächstes?»

«Wir gingen zu Gwerders. Sie wohnen einen halben Kilometer weiter unten von uns, Richtung Muotathal. Seppli trödelt oft bei ihnen herum. Schon wegen der kleinen Olivia, der Enkelin der Gwerders. In diesem Sommer war sie ja Dauergast.»

Fabias Tochter. Valérie notierte den Namen und kreiste ihn ein. «Olivia ist, soviel ich weiss, knapp zwei Jahre alt. Ihr Sohn ist neun. Wie kommt es, dass er sich mit einem so kleinen Mädchen abgibt?»

Franz-Xaver Schmidig räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. Er war nicht bereit, darauf eine Antwort zu geben. Er sah seine Frau an, hob die Augenbrauen und kniff den Mund zusammen.

«Je mehr ich über Ihren Sohn weiss, umso leichter fällt es mir, sein Verschwinden zu rekonstruieren.» Valérie beobachtete Hanna Schmidigs Reaktion.

«Seppli ist, wie soll ich es nennen, ganz närrisch auf die Kleine», sagte endlich Franz-Xaver Schmidig, schien jedoch seine Wortwahl im gleichen Atemzug zu überdenken. «Kaum ein gleichaltriges Kind will mit unserem Jungen spielen. Das merkt er … Er ist sehr sensibel.»

Valérie wollte diese Antwort vorerst im Raum stehen lassen. «Bei den Gwerders war er folglich auch nicht. Wo könnte er sich denn noch aufgehalten haben?»

«Bei den Einzigen», sagte Hanna Schmidig.

Valérie hob ihre Augenbrauen. «Wie kann ich das verstehen?»

«Bei den einzigen Negern im Sahli», ergänzte Franz-Xaver Schmidig.

Hoppla! Valérie schaute auf. «Wie bitte?» Diesen diskriminierenden Ausdruck hatte sie schon lange nicht mehr gehört. «Was meinen Sie damit?»

«Ja, bei den Flüchtlingen aus Eritrea», vervollständigte Franz-Xaver die Aussage. «Seppli fürchtet sich vor ihnen …»

«Und trotzdem geht er dorthin?»

«Seppli ist fasziniert von deren dunkler Haut», redete sich Hanna Schmidig heraus.

Valérie kniff die Lippen aufeinander. Offenbar suchte die Frau nach einer plausiblen Erklärung und merkte nicht, wie fadenscheinig das klang. Überdies fielen Valérie deren bebende Lippen auf.

«Haben Sie sich bei den Asylsuchenden erkundigt, ob Ihr Sohn dort gesehen wurde?»

«Die verstehen kein Deutsch», sagte Franz-Xaver Schmidig.

«Aber Sie waren dort.»

«Ja, wir haben auch dort nach Seppli gesucht.»

«Wo befindet sich denn diese Unterkunft?»

«Ganz in unserer Nähe», sagte Hanna Schmidig. «In etwa hundert Meter Entfernung. Richtung Glattalp.»

«Uns ist bekannt, dass Sie erst vor einem Jahr an Ihren heutigen Wohnort gezogen sind. Können Sie mir den Grund erklären, weshalb Sie …»

«… warum wir von der Zivilisation hierhergezogen sind, wollten Sie fragen?» Franz Xaver Schmidig stemmte entschlossen seine Hände in die Seite. «Die Ruhe und die Landluft tun unserem Sohn gut.»

«Er geht in Schwyz zur Schule, oder irre ich mich?» Valérie nahm ihm diese Begründung nicht ab, zumal sie auch davon ausgehen musste, dass Schmidig seinen Beruf ausserhalb des Tales ausübte.

«Richtig», sagte Hanna Schmidig. «Seppli besucht die Heil… Er kehrt jeden Abend zu uns zurück.»

Valérie liess es dabei bewenden, zumal sie Schmidigs tadelnden Blick auf seine Frau erhaschte. Offenbar wollte er nicht, dass sie etwas zugab, was auf Sepplis Gesundheitszustand hingewiesen hätte. «Was können Sie mir noch über Ihren Sohn berichten?»

«Nichts», kam es von Schmidig zurück. «Sie haben sicher ein Foto von ihm.»

Valérie schob den Schreibblock von sich. War sie bei den Schmidigs auf einen wunden Punkt gestossen? Warum zierten sie sich, ihren Jungen so zu beschreiben, wie er wirklich war? Auf konkrete Fragen erhielt Valérie nur unvollständige Antworten. Schmidigs wollten mit der Wahrheit nicht herausrücken, einer Wahrheit, die ihr Leben vor ihr entblösst hätte. Dass sie vielleicht nicht fähig waren, ihrem Sohn gute Eltern zu sein. Dass sein Verschwinden ihr Verschulden war. Dass der angebliche Velounfall kein Unfall, denn vielmehr eine dem Sohn zugefügte Verletzung war. Valérie bemerkte, wie erschöpft Hanna Schmidig war, und ohne die Federführung seiner Frau würde auch Franz-Xaver Schmidig nicht zu weiteren Informationen bereit sein.

«Eines müssen Sie mir erklären: In der Vermisstenmeldung heisst es, dass um schonendes Anhalten gebeten wird. Gibt es etwas, das ich unbedingt erfahren müsste?»

Schmidig sah seine Frau an. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, was Hanna erwiderte. Valéries Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen. «Ja?»

«Seppli leidet unter einem geistigen Defizit. Er ist nicht nur ein schwacher Schüler, er hat ein zerebrales Problem.»

Valérie trat vor das Haus. Die Rotoren des Helikopters ratterten. Der Luftzug, der dabei entstand, wirbelte Feuchtigkeit durch die Luft und Gegenstände wie tanzende Partikel im Auge eines Hurrikans. Über den Bergen hatte es aufgeklart. Blauer Himmel tauchte zwischen Wolkenschlieren auf, als hätte ein Maler ein abstraktes Gemälde auf die Leinwand der Natur gepinselt. Die Menschen waren aus ihren Häusern gekommen. Sie räumten Wege und Plätze frei. Dort, wo einst blühende Gärten gestanden hatten, überzog ein Film aus Lehm die Erde. Eine einsame Pflanze, die dem Schutt getrotzt hatte, sah etwas verloren aus. Ein trauriges Bild. Es würde Monate dauern, bis die Wiesen wieder leuchteten, die Pflanzen sich erholt hatten und der Schmutz aus den letzten Winkeln beseitigt war. Dann würde der Winter einkehren und das Desaster einige Zeit unter einer weissen Decke verbergen. So gesehen hatte der Schnee eine gute Seite.

Sie spürte einen warmen Atem an ihrem Nacken. Ehe Valérie sich umdrehen konnte, umfassten sie zwei starke Männerarme.

«Emilio!» Sie hatte ihn vermisst. Er war erst gestern Morgen aus dem Tessin zurückgekehrt. Eine alte Sache hatte ihn dorthingeführt. Worum es ging, wollte er nicht sagen. Da war sie wieder, diese Ungewissheit, die sie manchmal zum Verzweifeln brachte. Dieses Ungleichgewicht in ihrer Beziehung. Emilio hatte fast alles über ihre Vergangenheit erfahren. Nächtelang hatten sie wach nebeneinander im Bett gelegen, und Valérie hatte über ihre kaputtgegangene Ehe geredet und den Kampf um ihren Sohn. Wie er sich unter dem Einfluss seines Vaters von ihr entfremdet hatte, und wie fremd er ihr in den letzten Jahren geworden war. Emilio hatte ihr die Tränen getrocknet und ihrem Leben wieder einen Sinn gegeben.

«Ich werde mir heute die Unterkunft für Asylsuchende im Bisistal ansehen.» Valérie wand sich aus Zanettis Griff. «Möchtest du mich dabei begleiten?» Sie warf ihm einen schmeichelnden Blick zu, in der Gewissheit, dass er davon absehen würde.

«Nein», kam es prompt zurück. «Ich habe mich mit Franz Schuler verabredet. Er will mich zum Tatort begleiten.»

«Zum Fundort», korrigierte Valérie. «Noch wissen wir nicht, ob der Junge an der Starzlen umgebracht wurde.»

«Und ob er überhaupt umgebracht wurde», sagte Zanetti. «Ich muss mich vergewissern, dass das unser Fall ist und dass ich die Ermittlungen definitiv einleiten kann.»

«Darauf allerdings deutet so ziemlich alles hin.» Valérie fuhr Zanetti über den Arm. Ihr war nicht klar, weshalb er ihre Arbeit in Frage stellte. «Die Ermittlungen sind bereits im Gange. Oder glaubst du, dass der Junge auf der Glarner Seite des Pragelpasses umgebracht wurde?»

Zanettis Blick verlor sich in ihren Augen. «Pass auf dich auf.» Er wollte loslaufen.

Valérie schluckte den Ärger hinunter. Emilio musste genauso unter diesem furchtbaren Fall leiden wie sie und verliess sich auf die letzte Hoffnung, dass es nicht ihrer war. «Wir hören voneinander», sagte Valérie gepresst. «Spätestens um zwei zum Brainstorming. Bis dahin bin ich zurück.»

Ihr einst schwarzer TT glich einer verdreckten Karre. Was Sturm und Regen nicht geschafft hatten, gelang der Schadenwehr. Unmittelbar neben Valéries Wagen hatten sie die Schläuche ausgefahren und beseitigten den Schutt von der Strasse, was allerdings nicht ohne Spuren zu hinterlassen vor sich ging. Einer der Schläuche war defekt; die Fontäne aus dem Leck hatte genau auf den TT gezielt.

Fluchen half nichts. Der Mann hinter dem Lenkrad zog die Schultern hoch, deutete mit den Händen eine Entschuldigung an und sah dann allerdings halb belustigt zu, wie Valérie in den Wagen stieg. Ihr Fehler. Sie hätte einen Streifenwagen nehmen können, als sie gestern von Biberbrugg hierhergefahren war. Der Schaden über dem rechten vorderen Rad war zum Glück nicht gross. Ein Kratzer, weiter nichts. Die Ursache war nicht ganz klar. Ein Randstein vielleicht. Aber sie hätte ihn vermeiden können.

Die Strasse ins Bisistal führte sie an Schutthaufen und Absperrungen vorbei. Dort, wo die Muota über die Ufer getreten war, verbarrikadierten Traktoren die abzweigenden Wege. Die Zufahrt zur Husky-Lodge war für Autos gesperrt. Valérie fuhr im Schritttempo, bis sie weiter oben die lehmige Strecke hinter sich gebracht hatte. Offenbar ein Bauer, der mit verschränkten Armen am Rad seines Traktors stand, nickte ihr zu. Als sie an ihm vorbeifahren wollte, stellte er sich ihr in den Weg. Valérie stoppte und liess die Fensterscheibe runter.

Ein beleibter Typ mit feistem Gesicht strahlte sie an. «Willst du, dass ich dir die Karre wasche, äh?» Sein Lachen widersprach jedoch seiner gedrungenen Körperhaltung. Ein komischer Kauz. Sein Alter war schwer zu schätzen, zwischen dreissig und fünfzig. Er hatte ein rotes Gesicht, das sich lichtende Locken umgaben wie ein Kranz, wären da nicht die auffälligen Geheimratsecken gewesen, die diesen Vergleich nur bedingt zuliessen. Sein Hemd hatte in den letzten Wochen kaum eine Waschmaschine von innen gesehen; es hing ihm hinten über den Hosenbund.

«Gibt’s denn hier eine Waschanlage?»

Über das feiste Gesicht zog sich ein unheimliches Grinsen. «Nein, äh, aber genug Wasser und Druck auf der Leitung.»

Valérie wusste nicht, was sagen. Sie winkte ab und gab Gas im Leerlauf. Der Typ sprang zur Seite. Valérie hatte ihm diesen Reflex gar nicht zugetraut, wusste aber im nächsten Moment, dass sie sich mit dem Typen keinen Freund geschaffen hatte.

«Typisch Unterländer, äh», rief er ihr nach, als sie mit ihrem TT davonschoss.

Anmache brauchte sie nicht. Im Rückspiegel sah sie, wie der Mann ihr den Stinkefinger zeigte und sich davonmachte. Er schritt auf ein baufälliges Haus zu, das sie hinter dem Traktor nicht beachtet hatte. Sie sah Bretter und allerlei Unrat vor dem Eingang liegen, bevor sie sich auf den Weg konzentrierte und in eine Kurve fuhr.