Tod an der Goldküste - Silvia Götschi - E-Book

Tod an der Goldküste E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Inspiriert von einer wahren Begebenheit. Als die vermögende Witwe Merlinde Vonlanthen auf einer Kreuzfahrt ausgeraubt wird, ahnt niemand, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Doch wenige Monate später wird sie erneut überfallen. Kurz darauf wird ihr Bodyguard in ihrer Villa ermordet – und Merlinde gerät unter Tatverdacht. Das Detektivpaar Maximilian von Wirth und Federica Hardegger nimmt sich des Falls an. Wer will der alten Dame schaden? Auf der Suche nach der Wahrheit tun sich menschliche Abgründe auf – und Maximilian und Federica geraten selbst in Gefahr.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Andrea Merten/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-903-7

Originalausgabe

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Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.

Mark Twain, 1835–1910

«Du verdammte Schlampe!»

Der Mann, dem sie vertraut hatte, schlug mit der Schuhspitze auf sie ein. Immer schneller wurden seine Tritte dorthin, wo sich ihre rechte Niere befand. Entweder verstand er etwas von Anatomie, oder er machte es willkürlich. Sie vermutete Letzteres. «Wie lautet der Code für den Safe? Los! Sag schon! Rück heraus damit!»

Sie lag auf dem Rücken, der Rollstuhl war gekippt. Neben ihr ein Spiegel, in dem sie sich sah. Ausgestellt wie eine Gekreuzigte, mit gespreizten Beinen und Armen. Zerbrechlich irgendwie. Der Rock war über die Knie gerutscht. Sie schämte sich für ihr Gebrechen, noch mehr wegen ihres Exponiertseins, hätte gern die Augen geschlossen. Doch sie schaute hin. Schaute genau hin. In die Fratze ihres Angreifers, den geifernden Mund. Wie hatte sie sich dermassen in ihm täuschen können?

Sie war unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nur Tränen der Schmerzen rannen über die Wangen und vernebelten den Blick. Sie hatte Mühe mit dem Sprechen, kam nicht darum herum, zu reden, wollte sie am Leben bleiben. Er hatte ihr gedroht, sie zu töten, sollte sie auf seine Forderung nicht eingehen. «Siebzehn … elf … zweiundvierzig.» Gregorys Geburtsdatum. Zahlen, die sie nicht vergass. Niemals.

«Na also, geht doch.»

Der Mann kickte mit seinem rechten Fuss erneut in ihre Seite, als wär’s ein Dank für die Zahlenkombination. Endlich. Nach einer gefühlten Ewigkeit. Sie zuckte heftig, biss die Zähne zusammen. Es war der falsche Moment, in Selbstmitleid zu ertrinken.

Er ging zum Tresor, gab mit der einen Hand den Code ein, mit der andern hielt er die Champagnerflasche aus der Minibar an die Lippen. Zweihundert Euro im Verkauf. Er trank wie ein Pferd Wasser. Schwankend öffnete er den Safe, griff hinein. Er schien überwältigt und überrascht zugleich, hielt inne und rief: «Lili, komm her. Schau, was die Alte mitgebracht hat. Ich wette, das sind über den Daumen gepeilt fünfzig Riesen, Schwarzgeld, wer weiss.» Er lachte gekünstelt. «Exklusiver Schmuck. Die Klunker werden uns über die nächsten Jahre bringen.»

«Bitte …» Das dürfen Sie nicht. Nehmen Sie das Geld, aber lassen Sie mir die Ketten und Ringe. Sie sind ein Andenken an meinen Gatten. Sie brachte keinen Laut heraus, versuchte, möglichst flach zu atmen. Ihr Körper stand rechtsseitig in Flammen. Links spürte sie wenig bis gar nichts. Ihr Hirnschlag vor drei Jahren hatte ihr das Gefühl genommen, es aufgefressen wie ein hungriger Löwe.

«Bitte? Bitte … Hast du das gehört?» Der Mann, den sie bezahlt hatte, grölte: «Jetzt wird sie sentimental.» Wieder trat er in ihre Seite, diesmal heftiger. Ein Tritt in die rechten Rippen.

Sie stöhnte auf. Der Schmerz stellte ihr den Atem ab. Sie schnappte nach Luft und schloss die Augen. Irgendwann würde sie aus diesem Alptraum aufwachen.

«Wenn du schreist, reisse ich dir die Zunge eigenhändig heraus.» Der Mann mit dem jungenhaften Gesicht, welches diabolische Züge angenommen hatte. Die sanften Augen waren bösen gewichen. Der Teufel persönlich gaffte sie an.

Seine Komplizin betrat den Wohnbereich. Auf ihren Armen trug sie Designerkleider. Das türkisfarbene Versace-Kleid aus Rom, der bestickte Seidensari aus Bangladesch. Obwohl sie die elegante Garderobe nur noch selten trug, hatte sie sie mitgenommen. Ihre Erinnerungen. Das schwarze Kleine hatte sie in Monte Carlo getragen, zum Diner im Hôtel de Paris. Am Abend vor dem Grand Prix. Es war das einzige Mal gewesen, als sie sich deplatziert vorkam. Dabei zusehen, wie die Formel-1-Piloten ihr Leben riskierten – das war nicht ihre Welt.

Was wollen Sie mit meinen «… Kleidern?» Das Reden fiel ihr schwer. Die Sätze waren da, doch strengte es sie an, sie laut auszusprechen. «Die … passen … Ihnen nicht.»

«Halt die Fresse!» Der Mann räumte mit beiden Händen den Safe aus, nachdem er die fast leere Champagnerflasche auf den Boden geknallt hatte. Der Schaumwein ergoss sich in den Teppich. Er schaufelte sämtliche Schmuckstücke in einen Waschbeutel und zählte das Geld gierig durch. «Lili, das sind mehr als sechzigtausend. Der Kuckuck weiss, warum die Alte so viele Scheine dabeihat. Unser Glück.» Seine glasigen Augen blitzten eine Sekunde lang auf, bevor er sich an sie wandte. «Wolltest du damit eine Insel kaufen?» Er hob den Finger. «Keine Polizei, du Schlampe. Wir werden dich finden, wo immer du bist. Dann werden wir Kleinholz aus dir machen.» Er wollte den Fuss einmal mehr in ihre Seite kicken, hielt jedoch auf halbem Weg inne. «Sie hat in die Hose gepisst. Hast du das gesehen? Eingenässt wie ein kleines Kind. Hast du Angst, hä? Solche wie dich sollte man eliminieren. Hast du nie gelernt, wie man sich beherrscht? Nein? Mit Geld um sich werfen, das kannst du … Jetzt ist es vorbei. Fertig lustig. Weisst du eigentlich, wie es uns genervt hat? Mich und Lili? Dir deinen Arsch abzuwischen? Deine alte Haut zu berühren und dein Geschwafel-Stakkato zu ertragen?» Er wühlte in den Banknoten. «Das ist nicht genug für unsere Arbeit. Wir werden wiederkommen. Deinen Hausschlüssel haben wir. Dich werden wir quälen, bis du den hintersten und letzten Rappen herausgerückt hast.»

Nein, sie wollte nicht weinen. Nicht vor diesem Gesinde. Sie unterdrückte die Tränen, die in ihren Augen brannten. «Lieber Gott, lass mich diese Demütigung überstehen.» Zum ersten Mal in ihrem Leben nahm sie den Namen des Schöpfers in den Mund.

Vier Jahre, neun Monate und siebenundzwanzig Tage bis zum Mord

«Der Himmel sieht düster aus.» Gregory Vonlanthen erhob sich von der Sonnenliege am Rand seiner Villa in Herrliberg. Er legte den Kopf in den Nacken und streckte seine Arme und Hände aus, als würde er eine unsichtbare Kugel tragen. Sein tägliches Ritual, das er in seinem Garten vollzog. Einatmen. Ausatmen. Das hatte allerdings weniger mit einer Geste der Dankbarkeit zu tun als mit der Überzeugung, einmal am Tag die Lungen mit Luft zu füllen, verlängere das Leben.

Vielleicht trägt er die Erde, dachte Merlinde. Ihm gehörte sie. Eine Weile blieb sie hinter ihrem Mann stehen und amüsierte sich über ihn. «Die Wetter-App kündigt kein Unwetter in unmittelbarer Nähe an», sagte sie. «Das Gewitter zieht über die Innerschweiz. Wir werden Glück haben, wie so oft in unserem Leben.»

Das entfernte Donnergrollen hörte sich dennoch unheimlich an. Über den Alpen zuckten vereinzelt Blitze, rissen entfernte Wolkenfetzen auf. Am Horizont drohte die Welt unterzugehen, während an der Goldküste die Sonne den Boden küsste.

Gregory drehte sich zu Merlinde um. «Und wenn schon. Wir haben unser Zelt. Das ist wasserdicht. Zweihundert Liter Wasser pro Stunde auf einen Quadratmeter Stoff hält es aus. Dazu die Erdanker und Spezialheringe aus der Fabrik …» Er nagte an seiner Unterlippe. «Heute werde ich mich entscheiden, wie es mit meiner Firma weitergehen soll.»

Seine Firma! Als hätte Merlinde dafür nie nur einen Finger gekrümmt. Zur Hälfte gehörte sie auch ihr. Aber das schien Gregory vergessen zu haben. Ebenso ihren Job, den sie gewissenhaft bis zu ihrer Pensionierung ausgeführt hatte. Kunden- und Mitarbeiterbetreuung.

«Ausgerechnet heute? Wir haben Gäste. Vielleicht solltest du dir für sie Zeit nehmen.»

Gregory erwiderte nichts darauf, und beiläufig fragte er, ob die Küche Bescheid wisse.

«Selbstverständlich. Unser Störkoch ist angekommen und bereitet alles vor.»

«Und das Servicepersonal?»

Merlinde wunderte sich. Alles, was mit ihrer Villa, dem Haushalt und geladenen Gästen zu tun hatte, überliess Gregory in der Regel ihr. Sie hatte ihm nie einen Grund gegeben, ihre Fähigkeiten anzuzweifeln, wenn es darum ging, sich und ihren Besitz ins beste Licht zu rücken. «Du kennst mich. Es ist bis aufs Letzte organisiert. Ich habe alles im Griff.»

«Du weisst, dass heute Nationalrat Meierhans mit seiner Frau kommt.»

«Ich habe ihn ja selbst eingeladen.» Merlinde sah hinunter auf den Zürichsee, der ihnen seit Jahr und Tag vor den Füssen lag. Glitzernd im nachmittäglichen Sonnenlicht. Als sie vor zweiundvierzig Jahren mit dem Bau der Villa begonnen hatten, hatten sie das angrenzende Grundstück gleich mitgekauft. Eine Fläche von einem halben Hektar gehörte ihnen, mit einem kleinen Stück Wald, entstanden aus den Jungbäumen, die sie damals gepflanzt hatten. Es war ein Anwesen, das keine Wünsche offenliess. Die Grenze zum Nachbarn markierte eine alte Trauerweide. Darunter stand ein runder Marmortisch mit acht Stühlen aus dunklem Eisen, mit üppigen Kissen bestückt. Ein lauschiges Plätzchen, das in jeder Jahreszeit seinen Reiz hatte. Was hatten sie dort schon Feste gefeiert oder bis spät in die Nacht hinein philosophiert. Im Sommer fanden dort Apéros im kleinen Freundeskreis statt, im Winter lud Merlinde zum Raclette oder Käsefondue ein. Sie mochte es, ihren Status quo zu inszenieren und allen zu zeigen, welches Faible sie für schöne Dekorationen hatte. Und sie verabscheute den Käsegeruch in ihrem Haus.

«Er sollte nicht neben Matys sitzen. Die können sich nicht ausstehen.»

«Ich weiss. Fernand und seine Begleitung werden ihm Gesellschaft leisten.»

«Wenn das bloss gut geht.»

«Du zweifelst plötzlich?» Merlinde hängte sich bei ihm ein, als sie am Zelt vorbei zum Haus zurückschritten. Sie schmiegte sich an ihn. Auch nach vielen Ehejahren fühlte sie sich in seiner Nähe wohl. Gregory, ihr Knuddelbär, gross und mächtig. Ihr Beschützer, in dessen Armen sie sich geborgen fühlte. Seine einst dunklen Haare waren schlohweissen gewichen. In sein Gesicht hatten sich Spuren gelebten Lebens eingemeisselt, tiefe Falten zwischen den hellgrauen Augen, die wach und intelligent blickten. Gregory, Geschäftsmann und Patron, von seinen Freunden verehrt, von den Feinden respektiert.

«Ich habe da so ein Grollen im Bauch.» Gregory drückte sie an sich. «Machen wir uns einen schönen Abend.» Er küsste sie auf die Schläfe.

Am Vormittag waren die Leute von der Eventfirma hier gewesen, um Tische und Stühle für zweihundert Gäste aufzustellen und mit einer Überdachung zu versehen. Nun war der Gärtner daran, Blumenschalen und auf dem Pool schwimmende Kerzen zu platzieren, die bei anbrechender Dunkelheit angezündet würden. Die Haushälterin tischte im Zeltinnern schön auf, inklusive der Platzkärtchen. Allein für die Planung der Sitzordnung hatte Merlinde mehr als zwei Stunden investiert. Zwei Nationalräte mit Begleitung waren eingeladen, leider nicht aus derselben Partei. Merlinde konnte sie unmöglich zusammensetzen. Ihr Finanzberater, der Bankier Josef Nitzsche, hatte sich im letzten Augenblick angemeldet. Seine Frau war Chefärztin einer Privatklinik. Der Schönheitschirurg Dr. Vincenzo Bernasconi würde sich ebenfalls ein Stelldichein geben, zusammen mit seiner Frau Cinzia, die der wandelnde Beweis für seine chirurgischen Fähigkeiten war. Bernasconi hatte aus dem einst hässlichen Entlein einen prachtvollen Schwan kreiert. Nichts an ihr war natürlich, und als unterstützende Massnahmen schluckte sie täglich Nahrungsergänzungsmittel auf biologischer Basis. Sie war überzeugt, den Alterungsprozess damit überlisten zu können. Dr. Claus mit Gemahlin stand ebenfalls auf der Liste, Gregorys Hausarzt. Auch Leute, ohne die die Schickeria nur halbwegs interessant gewesen wäre. Die Partygänger von der Goldküste, die an jedem Fest dabei waren. Anwälte, Führungskräfte namhafter Modehäuser sowie die üblichen Verdächtigen aus Kunst, Kultur und Sport. Natürlich passend dazu zwei Frauen von dem Escortservice. Rein prophylaktisch. Es war Gregorys Idee gewesen. Merlinde befürchtete dahinter einen Eigennutz, sagte jedoch nichts. Er umgab sich gern mit schönen Frauen. Platonisch eben.

Merlinde und Gregory. Ein ungleiches Paar. Sie hätten nicht widersprüchlicher sein können. Dass sich Gegensätze anziehen, stimmte bei ihnen. Er, der distinguierte Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Patron in einem Generationenbetrieb. Leider ohne Nachkommen, weshalb er in seinem Alter von fünfundsiebzig Jahren noch immer das Zepter schwang. Sie, zehn Jahre jünger und eine unternehmungslustige Frau, der nichts zu viel war. Sie war sein Anker, sein Kompass. Er ihr unterhaltsamer und humorvoller Partner. Für die Zukunft war gesorgt.

«Ich habe dieses Getue langsam satt.» Gregory wurde von einem Husten heimgesucht, dass es Merlinde angst und bang wurde. «Ich bin zu alt, um mir Diskussionen über die Börsenkurse anzuhören, die immer gleichen Geschichten unserer Politiker, die sich in ihrem Narzissmus überbieten. Trotzdem kann ich mir gerade jetzt keine Blösse geben. Fernand Carron bringt einen potenziellen Interessenten für meine Firma mit. Wenn ich sie ihm verkaufen kann, sind wir für den Rest unseres Lebens abgesichert. Dann werden wir wieder reisen, nicht mehr für das Geschäft, sondern als Geniesser.» Er hielt abrupt inne, griff nach seinem Taschentuch und schnäuzte sich.

Merlinde sah ihn besorgt an. «Vielleicht solltest du dich hinlegen, bis die Gäste kommen.»

Als ihr Mann vor vier Wochen den Wunsch geäussert hatte, zum Mittsommer eine Party steigen zu lassen und ihre Freunde und Bekannten einzuladen, war ihr nicht geheuer gewesen. Gregory war ein grosszügiger Mensch und liebte die Gesellschaft. Doch je älter er wurde, umso seltsamere Ansichten in Bezug auf ihre Bekannten vertrat er. Und augenscheinlich wurde ihm alles zu viel.

«Das ist lieb von dir. Ich werde durchhalten. Aber es wird wohl das letzte Fest in diesem Ausmass sein. Lass uns in die Küche gehen. Ich möchte mich vergewissern, dass unser Koch nichts vergessen hat. Auch wenn wir seine Dienste seit Jahren sehr schätzen, mich dünkt, er ist in letzter Zeit etwas nachlässig geworden.»

«Er wird älter, wie wir.» Es sollte aufmunternd klingen. In ihrem Innern sah es anders aus. Seit sie die fünfzig überschritten hatte, kämpfte sie gegen ihren eigenen Zerfall an. Bis sechzig hatte sie ihrem persönlichen äusseren Niedergang jedoch erfolgreich gegengesteuert. Mal ein Operatiönchen hier, mal eines dort. Merlinde profitierte von den Errungenschaften in der plastischen Chirurgie der letzten Jahre. Sie hatte sich ihre Hängelider straffen lassen. Ihre Wangen waren sanft unterspritzt und ihre Brüste vergrössert. Natürlich so, dass es niemandem auffiel. Nicht einmal Gregory hatte etwas gemerkt.

«Das ist es nicht», sagte Gregory. «Ich habe kein gutes Gefühl, was seine Zutaten betrifft.»

«Jetzt siehst du Gespenster.»

«Sein Blick gefällt mir auch nicht.»

«Gregory, geht es dir gut?» Was war bloss mit ihrem Mann los? «Ich kann unsere Gäste allein empfangen. Sie werden es verstehen. Ruhe dich einen Moment aus.»

«Das kommt nicht in Frage.» Wieder wurde Gregory von einem heftigen Husten durchgeschüttelt.

«Ich glaube, es wäre besser, du würdest dir von unserem Hausarzt mal das Herz und die Lunge untersuchen lassen», sagte Merlinde. «Deine Anfälle gefallen mir nicht.» Es war nicht zum ersten Mal, dass Gregory so hustete. Ein Warnzeichen, fand sie. Er aber sah darüber hinweg, während sein Spruch «Unkraut vergeht nicht» einen morbiden Anstrich bekommen hatte. Es war Gregorys ewige Ausrede, seinen gesundheitlichen Zustand nicht checken lassen zu müssen.

Über dem Zürichsee hing die Sonne mittlerweile wie ein milchiger Lampion. Linienschiffe und Motorboote durchpflügten das Wasser, das innert Stundenfrist eine bleierne Farbe angenommen hatte. Wind kam auf. Nach dem freundlichen Tag hatte die Wetterküche zur wilden Nachspeise geladen. Merlinde glaubte nicht mehr an einen trockenen Sommerabend, und als sie ihre ersten Gäste in Empfang nahm, tröpfelte es bereits.

Nicht gerade passend zur Stimmung lief «Long As I Can See The Light» vonCCRüber vier Boxen. Gregorys Wunsch. Creedence Clearwater Revival war einst seine Lieblingsband gewesen. Merlinde erinnerte sich an die erotischen Nächte, in denen Gregory vonCCRnie genug bekommen hatte.

Es war schwierig gewesen, einen passenden DJzu finden, der nicht bloss aktuelle Songs, sondern aus den verstaubten Kisten der sechziger Jahre auflegte.

Wie üblich waren Vera und Justus Matys vor allen anderen da. Sie brachten ein überdimensioniertes Blumenarrangement mit, voller Sonnenblumen, gelber Gladiolen und Astern, das farblich zu Veras Robe passte. Inès de la Fressange – Haute Couture. Merlinde hatte ein Auge für die Designerin. Beides musste ein Vermögen gekostet haben. Merlinde mochte Schnittblumen nicht. Ihr Garten war ein Blumenparadies. Heuer blühten vor allem die Hortensien sehr schön. Zudem hatte sie nie die passende Vase. Sie übergab die Blumen ihrer Haushälterin und hatte sie im nächsten Moment vergessen. Auch die Matys, die ungeniert das Gelände auskundschafteten.

Nacheinander trafen die Gäste ein. Auch alt Bundesrätin Frau Dr. Winter mit ihrem jungen Gemahl. Sie bestand darauf, mit Doktor angesprochen zu werden. Es wurden Champagner und Fruchtsäfte serviert, Kaviar-Canapés herumgereicht und Small Talks geführt. Merlinde bewegte sich zwischen den Gästen und beteiligte sich höflich an den Floskeln, die ausgetauscht wurden. Ihre Villa diente als Bühne, ihre Besucher waren Hauptdarsteller oder Statisten im Theater der Zürcher Upperclass. Die Damen überboten sich mit teuren Roben, die Herren mit saloppen Anzügen. Hosenträger waren en vogue, Sneakers ohne Socken.

«Merlinde? Kann ich dich einen Moment sprechen?» Fernand Carron.

Der Anwalt hatte sich an ihrer Seite aufgebaut. In der Hand hielt er ein Cüpli. Die Krawatte hatte er gelockert, den Hemdkragen geöffnet. Eine grobgliedrige Kette schimmerte auf seinem Brusthaar. Er war ein Mann der alten Schule, glich seinem verstorbenen Vater, je älter er wurde, desto mehr. Obwohl er erst vierzig war, lebte er die Werte von Fernand Carron senior, der einst als Sonnyboy die Damenwelt zum Kochen gebracht hatte, aber auch ein Gentleman gewesen war. Anwalt wie sein Sohn. Leider zu früh von dieser Welt gegangen.

Merlinde blieb stehen. Sie verabscheute diesen Mann, diese Mischung aus Cleverness und Selbstüberschätzung. «Amüsierst du dich?», fragte sie.

«Du weisst, wie ich die Partys bei euch mag. Sie sind legendär. Musik und Tanz, Schwimmen um Mitternacht und der Absacker in eurem Weinkeller. Bei euch lernt man, was Leben heisst.» Carron setzte ein Lächeln auf, liess dabei ein Zahnpiercing aufblitzen. Das Einzige, was ihn von seinem Erzeuger unterschied. Dieser hatte einen Goldeckzahn zur Schau getragen. «Eigentlich wollte ich Gregory sprechen. Ich habe ihn aus den Augen verloren.»

«Er wird müde sein …», sagte Merlinde und schaute Carron eindringlich an. Sie kannte den Grund für dessen Anwesenheit. Vergeblich hielt sie Ausschau nach seiner Begleitung, dem Interessenten, den Gregory angekündigt hatte. «… und hat sich zurückgezogen. Du kennst ihn. Er will immer grosse Feste, aber wenn es so weit ist, verkriecht er sich. Er ist der stille Beobachter.» Sie sah an die Fassade zum Schlafzimmerfenster, in der Meinung, ihren Mann dort zu sehen. «Vielleicht hat er sich hingelegt. Kann ich dir helfen?» Sie wusste ganz genau, dass einer wie Carron sich mit ihr niemals über Geschäftliches unterhalten würde. Für ihn war sie die Unternehmergattin, die ihrem Mann zwar den Rücken freihielt, indem sie sich um Lappalien wie den Haushalt kümmerte, aber nicht imstande war, unternehmerisch zu denken, geschweige denn, eine Ahnung davon zu haben. In den letzten Jahren hatte er sich ihr gegenüber oft herablassend gezeigt, was Merlinde nicht davon abhielt, mit ihm ausnahmslos nett zu sein. Als er jetzt so vor ihr stand, hätte sie ihm jedoch gern ein paar unschöne Dinge an den Kopf geworfen, zum Beispiel die Art und Weise, wie er seine zweite Frau behandelt hatte. Die schöne Begleiterin bei ihm heute war eine andere. «Du hast eine Nachfolgeregelung für unsere Firma?» Sie betonte das Wort absichtlich.

Carron sah sie mit diesem Blick an, bei dem sie nie wusste, ob er sie wahrnahm. «Es geht um weit mehr als die Firma», fuhr er nach einem Moment des Zögerns fort. «Am besten wäre es, Gregory würde sie gewinnbringend abstossen. Noch ist es nicht zu spät, mit meinem Interessenten in ein faires Geschäft zu kommen. Er stellt aber Forderungen. Und über diese hätte ich mich mit deinem Göttergatten gern unterhalten.»

Eine penetrante Frauenstimme brach ihre Unterhaltung abrupt ab. Sie schrillte wie der Klang einer Sirene quer durch das Zelt, in dem sich einige Gäste bereits niedergelassen hatten. Carrons Gerede verlor an Bedeutung. Geschockt und überrascht liess Merlinde ihn stehen und hetzte Richtung Gartenterrasse. Sie erreichte die Treppe, die ins Haus führte. Unter normalen Umständen hätte sie niemals so heftig reagiert. Für solche Fälle stand ihr das Personal zur Verfügung. Sogar ein Türsteher, der checkte, wer über die Schwelle der Vonlanthen’schen Villa trat. Bereits vor dem schmiedeeisernen Tor zum Grundstück wurden die Gäste einer Identitätsprüfung unterzogen. Gregory überliess nichts dem Zufall.

Eine Menschentraube versperrte Merlinde die Sicht auf die obersten beiden Stufen.

Etwas musste passiert sein, was Frau Dr. Winter zum Hyperventilieren gebracht hatte. «Gregory … er ist hingefallen, einfach auf den Boden geplumpst», sagte sie stockend. «Ich habe nichts getan, ihn nicht einmal berührt.»

«Lasst mich durch.» Merlinde stiess die Winter aus dem Weg. Ihr Vorzeigeangetrauter mit dem Jungengesicht stand daneben wie ein begossener Pudel.

Die Gäste bildeten endlich eine Gasse. Gregory auf der Treppe liegen zu sehen, kam einem Alptraum gleich. Der stattliche Mann, der stets mit erhobenem Haupt durch die Welt schritt, lag da, zusammengerollt wie ein Embryo. Sein heller Anzug war zerknittert und mit dunklen Flecken übersät. Gregory musste beim Sturz die Sangria ausgeschüttet haben. Etliche Fruchtstücke lagen um seinen Körper herum verteilt, die rosafarbene Flüssigkeit ergoss sich über die Stufen und vermischte sich mit den Glasscherben.

Gregorys Gesicht glich einem weissen Laken. Die Augen waren halb geschlossen, der Mund stand offen. Wie im Delirium. Merlinde kannte diesen Ausdruck. Sie hatte ihn vor gefühlt hundert Jahren zum letzten Mal an ihm gesehen. Aber da war der Ort ein anderer gewesen, von Kerzenschein umrahmt. Und auf der Ablage neben dem Bett hatten zwei Champagner-Flûtes gestanden.

Dr. Claus kauerte vor dem Gestürzten, hielt dessen Hände und redete auf ihn ein. «Gregory, hörst du mich?» Gregory verzog seinen Mund, verdrehte die Augen. Es war das Letzte, bevor er das Bewusstsein verlor.

Merlinde fiel auf die Knie, egal, was das mit ihrem nachtblauen Cocktailkleid machte. «Was ist mit ihm?»

«Er muss gestolpert sein», sagte jemand.

«Die Ambulanz ist unterwegs», ein anderer.

«Dr. Claus?» Merlinde wandte sich dem Arzt zu. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie per Sie mit ihm. «Was ist passiert? Sagen Sie es mir.»

Alles spielte sich vor ihrem geistigen Auge ab. Ein Blitzgewitter fürchterlicher Bilder. Ihr Mann war tot. Womöglich vergiftet, was er geahnt haben musste. Der Koch. Merlinde verdächtigte ihn. Er musste es gewesen sein.

Was wurde aus ihr? Aus der Villa? Der Firma?

Merlinde schnappte nach Luft.

«Er muss sofort in die Klinik. Danach kann ich Ihnen mehr sagen.» Dr. Claus erhob sich, als wenig später der Notfallarzt mit seiner Equipe eintraf. «Sie müssen jetzt stark sein.»

«Muss nicht die Polizei her?» Merlinde krächzte. «Das war ein Mordanschlag.»

EINS

Die Stadt verschwand am Horizont hinter der weissen Gischt. Durch den Schiffsrumpf ging ein eigenartiges Vibrieren. Der Motorenlärm hing in der Luft. Es roch nach Schweröl und warmer Küche.

Sie sass auf dem obersten Deck. Vor ihr eine fast unbegrenzte Weite. Die Sonne war im Westen gesunken. Die letzten Strahlen schimmerten über dem Band zwischen Himmel und Meer in rötlichem Glast. Es war ein grosser Moment. Ein Augenblick innerer Stille. Er gehörte ihr allein.

Merlinde Vonlanthen sah den Möwen zu, die das Kreuzfahrtschiff begleiteten, seit sie Genua verlassen hatten. Ihr lautes Gekreische vermischte sich mit einem entfernten Kinderlachen.

«Madame, es ist halb zehn. Das Diner wird bald serviert.»

Sie drehte sich um. Nach Essen war ihr nicht zumute, noch weniger nach der Unterhaltung ihres Begleiters Matteo, der neben sie trat und sie von oben herab ansah, aus einer Perspektive, an die sie sich in den letzten dreieinhalb Jahren gewöhnt hatte. Mit ihrer Grösse von eins fünfundsiebzig hatte sie manchen Mann überragt. In der Vergangenheit. «Ich werde darauf verzichten. Zudem ist es zu spät zum Essen.»

«Aber», kam es postwendend zurück, «das ist nur heute so, weil wir Genua zwei Stunden später als angekündigt verlassen haben. Zudem ist es Ihr erster Abend auf dem Schiff. Es wird kühler. Sie sollten auf sich achtgeben, damit Sie sich nicht erkälten.» Seine Stimme klang sanft.

Merlinde hob den Kopf, nicht gewillt, mit Matteo eine Diskussion anzuzetteln darüber, was ihr guttat und was nicht. Sie war zwar beeinträchtigt, aber nicht dumm. Und er? Sie hatte ihn für viel Geld gebucht. Er sollte ihr zur Verfügung stehen, wenn sie sich ausserhalb ihrer Kabine aufhielt. Er würde sie zum Frühstück und zum Mittagessen begleiten, am Abend zum Theater, Film, zu Modeschauen oder sonstigen Unterhaltungen an Bord. Er würde mit ihr an der Bar sitzen und mit ihr einen Small Talk führen, falls sie es wünschte. Matteo war ihr Gesellschafter.

Obwohl er ihr von einer Agentur empfohlen worden war, passte ihr der junge Mann nicht recht. Das ambivalente Gefühl war stets präsent, ob sie zu mutig oder naiv gewesen war, nach allem, was ihr widerfahren war. Matteo sah gut aus, war gerade fünfunddreissig geworden. Er hätte sich seine Zeit anders vertreiben können, als einer behinderten Frau den Hof zu machen. Neben ihm fühlte sich Merlinde wie eine Greisin. Er sagte wenig, hielt sich auf Distanz. Aber er beobachtete sie. Unheimlich war das.

Ein Gedanke an ihren Mann. Es war das zweite Mal, dass sie ohne ihn verreiste. Sie vermisste ihn. Den Menschen, an dessen Seite sie siebenundvierzig glückliche Jahre verbracht hatte. Fragmente von Bildern schoben sich in ihr Gedächtnis, und sie wünschte sich, er stünde neben ihr, berührte ihre Schultern und legte eine Nerzstola darüber. Kurz meinte sie, seinen Atem auf ihrem Nacken zu spüren.

«Lassen Sie mich ein paar Minuten hier sitzen.» Sie sah auf ihre Armbanduhr, eine Ebel Beluga, mit Brillanten eingefasst – das Hochzeitsgeschenk.

Halb zehn. Die Dämmerung legte sich über das Meer. Der rote Streifen am Horizont verblasste, bis er ganz verschwand. Die violette Nacht brach vom Osten her über den Himmel und das Wasser wie eine Welle, die verschluckte, was eben noch gewesen war. Auf dem Deck gingen die Lichter an. Langsam flackerten die Solarlampen auf.

Genua, Civitavecchia, Palermo, Cagliari, Palma, Valencia, Marseille, Genua. Acht Tage und Nächte auf dem westlichen Mittelmeer. Mehr als eine Woche Vergessen. Merlinde hatte die schönste und teuerste Suite gebucht. Ihre Tränen würden auf einen flauschigen Teppich tropfen. Sie würde in ein Seidenkissen weinen, Blinis mit Kaviar essen und in der Vergangenheit schwelgen; als sie jung und schön gewesen war und die Welt ihr zu Füssen gelegen hatte. Sie seufzte. «Lassen Sie mir eine Flasche Dom Pérignon Vintage in die Kabine bringen. Mit zwei Gläsern», setzte sie stockend nach. In der Minibar stand eine Schale salziger Naschereien bereit, daran erinnerte sie sich. Beides würde über den gröbsten Hunger hinweghelfen. Hunger. Ein Gefühl, das ihr geblieben war.

Matteo räusperte sich. «Ja, Madame, ich werde Ihren Wunsch ans Bordpersonal weiterleiten. Soll ich Sie vor Ihre Suite bringen?»

Er hatte es wohl eilig. Wollte seinerseits das Diner nicht verpassen. Sie verübelte es ihm nicht. Hier ass man vorzüglich, auch ausserhalb des Salons.

«Meinetwegen.» Sie liess sich über das Deck stossen. Ein letzter Blick auf das Meer. Die Nacht war abrupt hereingebrochen. Ausserhalb der Lichterketten war es tiefschwarz, die Weite des Universums bloss zu erahnen. «Warten Sie.» Merlinde legte den Kopf in den Nacken. Sie mochte die Unendlichkeit über ihr. Sie gab ihr das Gefühl, dass nicht alles vorbei war. Dass dort oben jemand existierte, der ein Auge auf sie hielt und sie beschützte. Trotz etlicher Niederlagen, zuweilen auch schrecklichen, hatte sie den Glauben an das Gute nicht verloren.

Die undurchdringliche Schwärze war mit feinen Lichtpunkten durchwoben. Ein vierdimensionales Gemälde, von einem nihilistischen Künstler gemalt. Es waren die unsichtbaren Dinge, die der Realität den Stempel aufsetzten. Der Blick dahinter, der im Nirgendwo endete und sie weiter denken liess. Über eine Grenze hinaus, die womöglich erst im Tod Gestalt annahm.

Der Blitz hinter ihren Augen liess sie ins Hier und Jetzt zurückkehren. Nein, sie empfand keine Angst. Das Schicksal hatte sie stark gemacht. Sie war gefeit gegen die brutale Kälte, mit der Menschen einander begegneten. Abgehärtet gegen den schrecklichen Mob, der ihr in jüngster Zeit über den Weg lief. Sie war reich. Besass mehr, als erlaubt war. Fühlte sich sicher im Überfluss. Konnte sich einen Bodyguard leisten. Matteo. Er würde auf sie aufpassen.

«Sie dürfen mich in die Suite bringen», stammelte sie. Ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen. Sie drehte den Kopf zu ihm.

Matteo lächelte ihr zu. Vielleicht hatte sie trotz allem eine gute Wahl getroffen.

Über sechzig Quadratmeter Wohnraum. Die nächsten Tage würde sie leben wie Gott in Frankreich. Fast halb so gross war der Balkon, mit einem privaten Whirlpool sowie zwei bequemen Sonnenliegen. Sanft wie ein Glockenklöppel bewegte sich eine Schaukel aus geflochtener Schnur unter der Decke. Ein maritimes Ambiente. Merlinde liebte es.

Drinnen wurde sie von Luisa erwartet. Sie war die zweite Begleitung, sorgte sich um ihr körperliches Wohl und all die Dinge, die einen Mann nun mal nichts angingen. Luisa war dreissig, verheiratet und kinderlos. Sie hatte die Ausbildung einer Krankenpflegerin. Sie war von der gleichen Agentur empfohlen worden wie Matteo. Bei Luisa hatte Merlinde ein besseres Gefühl. Die Frau konnte gut anpacken und zierte sich nicht. Merlinde kannte anderes, hatte lange überlegt, auf welche Eigenschaften sie achten musste, welche Informationen zwischen den Zeilen im Zeugnis zu lesen waren.

Eine Woche vor ihrer Abreise war Luisa bei ihr in Herrliberg gewesen. Merlinde hatte sie anhand eines digitalen Angebots ausgesucht. Jung, stark und gesund, was ihre Physis betraf. Das war die Voraussetzung gewesen. Luisa war eine bodenständige Frau. Und sie war hübsch. Ihre langen dunklen Haare hatte sie stets zusammengebunden, wobei ihr schönes Gesicht zur Geltung kam. Honigbraune Augen, schmal und lieblich, eine gerade Nase und geschwungene, volle Lippen. Hoch angesetzte Wangenknochen. Etwas an ihr erinnerte Merlinde an eine Latina. Wenn sie sie ansah, kam die Sehnsucht. Nach Peru, nach Machu Picchu, dem Amazonas. Nach einer der letzten gemeinsamen Reisen mit ihrem Mann.

«Möchten Sie sich für die Nacht bereit machen?» Luisa hatte die Koffer ausgepackt und die Kleider in den Schrank geräumt. Das Seidennachthemd lag auf dem Bett.

«Nein, ich habe es mir überlegt. Ich werde doch zum Diner gehen.»

***

Die Tür im Flur schlug zu.

«Fede, bist du das?» Max von Wirth erhob sich aus seinem Sessel, in den er vor einer halben Stunde gesunken war, müde vom Tag, von der zermürbenden Auseinandersetzung mit dem aktuellen Auftraggeber. Ein Arzt, der ihn mit einer heiklen Mission betraut hatte. Die Aufträge wurden je länger, desto kurioser.

Unter dem Türrahmen zum Wohnzimmer stand Fede. Die Arme hatte sie in die Seiten gestemmt. Es war lange her, seit sie ihn in Hergiswil besucht hatte. In der Regel trafen sie sich im Drachenried auf ihrem Bauernhof, wo Max oft drei-, viermal nacheinander übernachtete. Er hatte sich kontinuierlich an das Landleben gewöhnt, an die Gerüche nach Kuhdung und warmer Milch. Nach Heu und nassen Katzenhaaren. Und an seine Geliebte mit den drei Gesichtern. Fede, die Femme fatale, Fede, die Bäuerin mit dem Faible für Tattoos, Fede, die Hackerin, die vor nichts zurückschreckte ausser vor Spinnen. Aber das war eine andere Geschichte. Bislang hatte sie ihm das Jawort verweigert, obwohl er im sprichwörtlichen Sinn bereits dreimal vor ihr auf die Knie gegangen war. Heiraten sei ein alter Zopf, war ihre Meinung, die es zu akzeptieren galt.

«Hi.» Fede küsste ihn auf den Mund. «Du siehst abgekämpft aus. Ist es wegen des Falls?»

Fall nannte sie es. «Nicht zu glauben, was da gerade passiert.»

Fede schwang sich auf das Sofa, zog ihre Beine an. «Komm, erzähl.»

«Ich habe nicht damit gerechnet, je einmal in eine so brandgefährliche Situation zu geraten.»

«Im Übertreiben warst du schon immer Weltmeister.» Sie schmunzelte. «Oder sprichst du von deinem Undercoverauftrag für Dr. Mahler?»

«Sein Kollege ist, wie Mahler vermutet hat, dem Pharmakonzern Luxapharm zuträglich. Gefälschte Patientenakten und falsche Informationen, was das neue Medikament im Kampf gegen Rheuma betrifft. Ich befürchte, was dort im Kleinen abgeht, wird auch im grossen Stil durchgeführt. Es geht nicht um den Patienten, denn vielmehr um ein profitables Geschäft. Mahler hat nicht genügend Beweise gegen seinen Berufskollegen. Aber er vermutet, dass da sehr viel Geld im Spiel ist.»

«Der Arzt wurde gekauft?»

«Mahler befürchtet es.»

«Sind das nicht blosse Spekulationen?»

«Ich habe zwei Patientinnen gesprochen, die ins Programm einer klinischen Studie eingestiegen sind, welche unter anderen von Mahlers Kontrahent beaufsichtigt werden.»

Fede starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. «Das verstehe ich jetzt nicht. Warum werden die Probanden nicht direkt von der Pharma betreut?»

«Diese Frage habe ich mir auch gestellt.»

«Du sagst Patientinnen? Ich dachte, für solche Tests werden ausschliesslich männliche Probanden gesucht.»

«Bei den Gesunden ist das die Regel. Die zwei Frauen sind bereits krank. Sie gelten nicht als Probandinnen, sondern als Studienteilnehmerinnen.»

«Und wie bist du an sie gekommen?»

Max schob auf dem Tisch eine Mappe mit Dokumenten von einer zur anderen Hand. «Durch eine Anzeige über das Internet. Sie waren für ein schriftliches Statement bereit, unabhängig voneinander. Sie fühlen sich als Versuchskaninchen. Kann ich verstehen. Anscheinend haben die Medikamente erhebliche Nebenwirkungen. Keine schöne Sache. Ich werde den Auftrag abgeben.»

«Ach so …» Fede warf den Kopf nach hinten, schüttelte die rote Mähne durch. «Ich dachte schon, ich könnte dir behilflich sein.» Und nach einer Weile: «Du musst ja echt in der Kohle schwimmen, wenn du einen solchen Auftrag abweist.»

«Würdest du dich für meine Arbeit interessieren und dich engagieren, fiele mir alles leichter.» Es war ein heikles Thema. Seit bald zwei Jahren versuchte Max, seine Detektei allein in Schuss zu halten. Fede galt zwar als Miteigentümerin, selbst war sie aber kaum mehr aktiv. Mittlerweile hatte Max sich einen Wiedereinstieg in eine Anwaltskanzlei abgeschminkt. Er war der Meinung, seine Firma doch noch in eine erfolgreiche Zukunft führen zu können. Er nahm nebst spannenden Aufträgen auch weniger erbauliche an. Personenobservierungen gehörten zum Alltag, obwohl er diese längst hatte streichen wollen. Sie sorgten jedoch für ein gutes Grundeinkommen. Mit seiner Seriosität hatte Max sich einen Namen gemacht. Man schätzte seine ruhige dezidierte Art. «Was in der Pharmabranche läuft, ist eine Nummer zu gross für mich.»

«Das glaube ich dir nicht. Du mit deinem juristischen Wissen …»

Max winkte ab. «Es steht mir oft im Weg. Es gibt Dinge, die kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.»

Fede hob ihre Augenbrauen. «Ach ja? Warum plötzlich so ethisch?» Fede musterte ihn mit grossen Augen. «Das heisst, dass Anwalt der falsche Job für dich war.»

«Das Leben ist ein einziger Lernprozess.»

«Heute folgst du deinem Herzen mehr als einstudierten Paragrafen.» Fedes Blick wurde zärtlich. «Soll ich uns etwas zum Nachtessen kochen?» Sie schwang ihre Beine vom Sofa, erhob sich und kam auf ihn zu. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn. «Vielleicht sind wir beide nicht geschaffen für diese Welt. Je älter wir werden, umso mehr bin ich überzeugt davon.»

«Dies aus deinem Mund zu hören, überrascht mich.» Max erwiderte den Kuss. Er schlang seine Arme um Fedes Körper. Sie roch wunderbar, nach Sommer und einem blumigen Parfum. Beides erregte ihn.

«Kannst du es dir leisten, diesen Auftrag abzulehnen? Bist du nicht bereits zu weit gegangen?»

«Ich habe eine Anzahlung erhalten. Diese deckt meine bisherigen Unkosten ab. Wenn ich aussteige, sind wir quitt.»

Fede zog Max auf das Sofa und liess ihre Hand über seinen Hosenbund tiefer wandern. «Hast du Aussicht auf neue Aufträge?» Sie öffnete den Gurt.

Max konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. «Das Übliche … heute Morgen hat es mir die Observation für eine Vierzigjährige, die in Trennung lebt, reingeschneit. Ihr Mann vermutet, dass seine Noch-Ehefrau, die ihn finanziell schröpft, seit Langem einen reichen Geliebten hat. Er soll bereits bei ihr wohnen … im Haus, das er abbezahlt. Zudem sei ihm verboten, seine Kinder zu sehen.» Max richtete sich auf und schob seine Hose über das Gesäss. «Ich kenne genug arme Schweine, die sich von ihren Ex-Frauen ausnehmen lassen. Manchmal bis an den Rand ihrer Existenz.»

«Frauen sind böse.» Fede half ihm mit ernstem Gesicht bei den Boxershorts.

«So habe ich das nicht gesagt.»

«Es gibt welche –»

«Was sich … gewisse Frauen erlauben, ist kaum je ein Gesprächsthema.» Max’ Verstand rutschte weg.

«Es wäre an der Zeit, dass sich die Männer emanzipieren.» Fede fuhr mit ihrer Hand in den Hosenbund. «Möchtest du es vor oder nach dem Diner?»

«Was?»

Fede glitt mit ihrem Mund abwärts. «Das.»

***

Merlinde sass im Rampenlicht. Die Gäste im Restaurant drehten dezent ihre Köpfe, als Luisa den Rollstuhl zum Tisch schob. Merlinde kam sich ausgestellt vor. Natürlich hatte sie den besten Platz bekommen. Den hatte sie bei der Reservation für die Kreuzfahrt mit ein paar zusätzlichen Geldscheinen ergattert. Derselbe Platz, der ihr im Februar schon gehört hatte. Mittendrin, unter dem Lüster, in dem die Glastränen das warme Licht reflektierten. Die hochwertige Atmosphäre erinnerte sie an «Titanic», an den Film notabene, den sie sich zum Zeitvertreib x-mal angesehen hatte. Schliesslich war es zu einem Hobby geworden, die Zeit totzuschlagen und zu hoffen, dass ihre körperlichen Fähigkeiten in absehbarer Zeit auf dem gleichen Stand sein würden wie vor der Apoplexie. Sie ergötzte sich an dem schön eingedeckten Tisch mit dem Damasttuch, dem edlen Porzellan aus der Bone-China-Kollektion und den Kristallgläsern, von denen behauptet wurde, Napoleon Bonaparte habe schon aus ihnen getrunken. Allein die Vorstellung, der einstige französische Kaiser und General könnte mit seinem Mund den Glasrand berührt haben, liess Merlinde erzittern. Er hatte wie kaum ein anderer die Weltgeschichte beeinflusst. Das Servicepersonal bewegte sich im Slow-Modus. Man bemerkte es kaum. Merlinde beobachtete die schwarz befrackten Kellner, die behandschuht Teller unter glänzenden Messingglocken an die Tische brachten. Über allem lag etwas Königliches. In dieses Luxusrestaurant durften nur diejenigen Gäste rein, die sich der vorgeschriebenen Kleideretikette beugten. Der Dresscode für Damen: Abendrobe, für den Mann: Frack und Fliege.

Es hatte Merlinde grosse Überwindung gekostet, fünf Monate nach dem Überfall auf sie erneut eine Kreuzfahrt zu buchen. Aber es war ihres Erachtens die einzige Möglichkeit, die Schreckensnacht zu verarbeiten und letztlich zu vergessen. Der Arzt ihres Vertrauens hatte zwar davon abgeraten. Es sei zu riskant. Aufgrund ihrer Beeinträchtigung seien solche Reisen zu vermeiden. Merlinde hatte ihre Psychiaterin nach deren Meinung gefragt. Sie dagegen hatte sie ermuntert.

Merlinde war aufgeregt.

In Gesellschaft mit Freunden hätte es ihr kaum etwas ausgemacht, ruhig hier zu sitzen. Das Alleinsein machte sie nervös. Sie fühlte sich einsam, trotz ihrer zwei Lakaien. Sie traute ihnen keine tiefgründigen Gespräche zu. Sie waren einfach gestrickt.

Durchatmen. Die Scham ging vorüber. Nach dem ersten Glas Wein würde sie lockerer werden.

Echte Freunde, dachte sie, diese konnte sie an einer Hand abzählen. Seit ihrem Hirnschlag hatten sie sich zurückgezogen. Dachten sicher, sie sei geistig nicht mehr zurechnungsfähig und so beeinträchtigt, wie ihr Körper es war. Halbseitig gelähmt. Im linken Bein hatte sie keine Kraft mehr, spürte wenig bis gar nichts. Doch ihr Vorstellungsvermögen hatte nicht gelitten, wohl aber das Artikulieren. Wenn sie sprach, musste sie es langsam angehen, die Sätze überlegen. Die Gedanken waren schneller, als sie sie verlautbaren konnte. Dies brachte sie oft in Erklärungsnot. Es war, als müsste sie wieder von vorn beginnen, wie ein Kind, welches seine ersten Schritte tat und Sprechen lernte.

Um die Sprache zurückzugewinnen, hatte sie hart gearbeitet. Sie hatte alles verstanden, aber nicht schnell reagieren und antworten können. Und die Nerven spielten ihr noch immer einen Streich.

An die Stelle ihrer ehemaligen Freunde waren die Bettler getreten. Frauen und Männer aus einem entfernten Bekanntenkreis, die sie ungeniert um Almosen anfragten. Merlinde hatte schon Kredite vergeben, bei denen sie wusste, dass sie niemals zurückbezahlt würden, ihrem Nachbarn Hermann vor einem halben Jahr ein neues Auto finanziert, weil dieser gerade nicht liquid war. Aber zur selben Zeit hatte er sich einen neuen Pool angeschafft. Es hatte keinen Zweck, sich deswegen zu hinterfragen. Merlinde musste den Blick nach vorn richten, in eine Zukunft, die ihr die Normalität zurückbrachte.

Die Leute hatten ihr nur kurz Aufmerksamkeit geschenkt und ihre teure Garderobe begutachtet. Begutachtet, nicht bewundert. Die zusammengesteckten Köpfe, vor allem die der Frauen, das Flüstern hinter vorgehaltener Hand – das Übliche, wenn Merlinde ihren grossen Auftritt zelebrierte. Sie trug trotz des Hochsommers ihr schwarzes Chanel-Kostüm und eine hochgeschlossene Bluse, wegen der Aircondition, die fühlbar auf achtzehn Grad heruntergekühlt war. Über der Seidenbluse klimperten drei Perlenstränge – echte Südseeperlen. Sie waren von unschätzbarem Wert und ein Geschenk von ihrem Mann gewesen, während ihrer Reise nach Bora Bora.

Merlinde mochte es, zu zeigen, was sie hatte. Es war momentan die einzige Art, zu leben. Sie gab ihr das Gefühl, doch noch jemand zu sein, und wenn sie bloss auffiel. Ob negativ oder positiv.

Ein Sommelier brachte die Weinkarte und beriet sie über die verschiedenen Flaschen und den Offenausschank. Merlinde entschied sich für einen Gaja Barbaresco DOP aus dem Jahr 2017. Sie wechselte langsam ein paar Worte mit dem Mann, obwohl sie zum Reden keine Lust verspürte. Je nach Verfassung bereitete ihr das Artikulieren von Sätzen manchmal grosse Mühe. Sie tauschte ihre Kenntnisse über Rotweine aus und fühlte sich nicht besser. Der Kellner, er war derselbe wie im Februar, kannte ihr Gebrechen und nahm sich Zeit.

Die Vorspeise wurde aufgetragen. Eine «Foie gras» mit frischen Mangostücken und Honigbrot. Eine Sünde, dass es dies überhaupt noch gab, nachdem die Qual, die die Enten und Gänse vor ihrer Schlachtung erlitten, seit Langem bekannt war. Italienische Anhänger des Tierschutzes hatten im Hafen von Genua deswegen Transparente geschwenkt. Merlinde hatte jedoch keinen Augenblick gezögert. Für Entenleber oder Froschschenkel, im Bierteig gebacken, wäre sie gestorben, wie damals die echte Lady Curzon für ihre Schildkrötensuppe.

«Nobel geht die Welt zugrunde.»

Merlinde nahm in ihrem rechten Augenwinkel einen Schatten wahr. Sie drehte den Kopf dahin. Ihr kleines Hütchen drohte sich zu verschieben. Sie griff danach, positionierte es neu. Sie hatte sich lange überlegt, ob sie es zum Nachtessen aufsetzen wollte. Neben ihrem Tisch hatte sich eine Dame aufgebaut, wenig jünger als sie, wahrscheinlich die sechzig überschritten.

«Mit Bedauern stelle ich fest, dass Sie allein dinieren. Und ich wurde in eine Ecke gedrängt, weil ich vergessen hatte, den Sitzplatz zu reservieren. Vielleicht darf ich Ihnen Gesellschaft leisten.» Sie zeigte auf die Gänseleber. «Wenn Sie gestatten, könnten wir gemeinsam dem Sündigen frönen.»

Merlinde brachte vor Verblüffung keinen Ton heraus. Sie wies auf den Stuhl vis-à-vis.

«Soll das ein Ja sein?»

«Bitte.» Merlinde tat so, als hätte sie einen Bissen im Mund. Sie hatte weiss Gott mit ihren bald siebzig Jahren manche Überraschung erlebt, zu ihrem Leidwesen nicht nur die erfreulichsten. Aber so etwas war ihr bislang noch nie passiert. Vielleicht war dies der Unterschied zwischen ihr und der jüngeren Generation. Frauen in ihrem Alter wurden höchstens von ihresgleichen wahrgenommen. Plötzlich war der Stich unter ihrer Brust da. Ihre alternde Hülle vermochte nicht, die Sehnsucht nach Zuwendung zu kaschieren. Sie hatte nur einmal geliebt. Ihren Mann. Er war ihr Leben gewesen, ihre Inspiration, ihr Alles. An seinem Todestag hatte Dunkelheit sie umhüllt, welche all die Monate danach nie ganz verschwunden war. Die Tristesse war zwar weniger geworden, doch manchmal ummantelte sie sie wie ein zu enger Anzug, in dem sie kaum zu atmen imstande war.

Ein Kellner half der Dame, sich zu setzen. Merlinde nutzte die Zeit, sie zu betrachten. Sie trug ein Taftkleid mit halblangen Ärmeln und hatte ein gleichfarbiges Jäckchen über die Schultern gelegt, bordeaux mit zarten schwarzen Rosen. Ihrer Physiognomie nach zu urteilen musste sie eine Italienerin sein, oder sie stammte aus den südlichen Gefilden Europas. Dunkles Haar mit grauen Strähnen, schwarze Augen und ein bronzener Teint – eine explosive Mischung, auch in ihrem Alter. Sie war eine gepflegte Erscheinung, und als sie sich gesetzt hatte, wogte der diskrete Duft eines pudrigen Parfums zu ihr herüber. Keines dieser billigen Sprays, welche den Geruchssinn misshandelten. Merlinde wartete, bis man ihrem Gegenüber die Vorspeise gebracht hatte und auf die Erwähnung des Namens. Sich vorzustellen hatte die Fremde bis anhin nicht für nötig befunden. Ob sie etwas zu verbergen hatte? Nein, so schätzte sie sie nicht ein. Es hatte sich noch nicht ergeben.

Der Sommelier kam mit dem Rotwein. Merlinde degustierte ihn. Sie war zufrieden mit dem edlen Tropfen, der die Sonne der Toskana offenbarte und die Lebensfreude der Südländer. Merlinde hatte plötzlich keine Zweifel mehr, dass dieser Abend auf dem Mittelmeer nicht ein gelungener werden könnte.

«Darf ich Sie einladen?» Merlinde spürte, wie ihre innere Eiseskälte zu tauen begann. Sie hoffte auf eine geistreiche Unterhaltung und war froh, die Einsamkeit in der Suite gegen das Gesellige eingetauscht zu haben. Unterhaltung. Nichts mehr als das fehlte ihr im Moment.

«Gerne.» Die Dame hatte etwas Aristokratisches an sich.

«Ich bin Merlinde Vonlanthen.» Sie hob das Glas.

«Angenehm.» Die Frau lächelte ihr aufrichtig zu. Kein Wort über ihr langsames Sprechen. Keine peinlichen Fragen. Sie musste begriffen haben, was los war mit ihr. «Milagros von Wirth.»

***

Mit einiger Verspätung und nach dem Duschen hatten sich Max und Fede eine Pizza beim Kurier bestellt und sie genüsslich verspeist. Dazu hatten sie eine Flasche Rotwein getrunken, zur Feier des Tages, wie Fede fand. Für sie gab es oft genug Gründe, um miteinander anzustossen.

«Ich bin voll. Ich bringe keinen Bissen mehr hinunter.» Fede erhob sich und tupfte ihre Mundwinkel mit einer Papierserviette ab. Es hielt sie nicht davon ab, aus dem Kühlschrank eine Schachtel Pralinen zu holen und sie aufzutischen. Zwei Stücke verschwanden subito zwischen ihren Zähnen.

«Du hast ja auch ein paar Kalorien verbraucht.» Max hatte sich seit Langem nicht mehr so wohl gefühlt. Seine Gedanken segelten weg. Er war entspannt und zufrieden. Die Zärtlichkeiten wirkten noch lange in ihm nach.

«Wie geht es eigentlich Milagros?»

Der Hammer fuhr in diesem Moment über ihn. «Du möchtest jetzt über meine Mutter reden? Ist das dein Ernst?» Max ging zur Kaffeemaschine, stellte eine Tasse unter den Kolben und liess kolumbianischen Kaffee hineintröpfeln. Die wohligen Erinnerungen waren mit einem Schlag weg. «Okay. Sie hat mich vor zwei Tagen angerufen, um mir zu sagen, dass sie eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer gebucht habe.»

«Mit einer Dreckschleuder auf hoher See?» Fede rümpfte die Nase. «Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Hast du gewusst, dass die Schifffahrt weltweit für den Ausstoss von etwa einer Milliarde Tonnen Kohlendioxid verantwortlich ist? Dies entspricht drei Prozent der gesamten von Menschen verursachten CO2-Emissionen.»

«Kann ich etwas dafür?»

«Du hättest es ihr ausreden können.»

«Der CO2-Ausstoss aller Serverfarmen ist höher als der aller weltweiten Fluggesellschaften. Also …»

«Also was?»

«Jedem das Seine.»

«Eine Kreuzfahrt ist nicht lebensnotwendig.»

Max schwieg. Fede hatte mit wenigen Ausnahmen immer das letzte Wort. Dann fragte er sich, ob es nebst dem guten Sex noch etwas anderes gab, was ihn an sie band. War es die Erwartungshaltung seiner Mutter? Sie sah in Fede bereits die Schwiegertochter. Fede war fester Bestandteil der Familie von Wirth geworden, und sie zeigte Stil in Milagros’ Anwesenheit. Fede kannte sich damit aus, wie sie Empathie-Punkte sammeln konnte. Sollte Max sich von Fede trennen, wäre dies für Milagros der Weltuntergang.

«Sorry.» Fede nahm den Kaffee entgegen. «Es sind keine Themen, über die wir uns streiten sollten. Du hast recht … Ich werde sowieso kürzertreten und mich mehr um Haus und Hof kümmern. Seit Anfang Sommer beherbergen wir zwei Gastfamilien. Chrigi ist eindeutig überfordert. Er kann gut mit Tieren umgehen, aber wenn es um Menschen geht, macht er dicht. Er spricht kaum mit den Leuten.»

«Das heisst, dass du von der IT-Firma weggehst?» An dieser Schwelle hatte Max schon einmal gestanden. Bloss war die Ausgangslage eine andere gewesen.

«Ich habe auf Ende Juli gekündigt und ziehe gerade meine Ferien ein. Ich werde wieder so arbeiten wie vor meiner Anstellung. Sporadisch als Freelancer für die Firma von zu Hause aus.» Sie nippte an ihrer Tasse. «Zudem möchte ich wieder vermehrt für unsere Detektei unterwegs sein.»

Max vergass zu atmen.

«Du kannst den Mund wieder schliessen.» Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen fest. «Das heisst, dass wir Aufträge wie den von Dr. Mahler nicht einfach zur Seite legen, sondern uns dafür einsetzen sollten, solche Ungeheuerlichkeiten aufzudecken. Es ist unsere ethische Verpflichtung.»

Fede hatte sich also bereits Gedanken darüber gemacht.

«Wie gesagt, es ist schwierig.» Max hatte nicht vor, in Teufels Küche zu kommen. Allein mit der Zusage für dieses Mandat hatte er sich die Finger verbrannt.

Fede trank den Kaffee aus. Sie brachte die leere Tasse zur Kochnische. «Ich gebe dir zuliebe meinen Job auf, aber ich tendiere auf eine echte neue Herausforderung.»

«Christian braucht dich, hast du soeben gesagt.»

«Du hast es noch immer nicht begriffen.»

«Dann klär mich auf.» Max nervte es zunehmend.

«Du holst die Aufträge. Aber halte dich in Zukunft von Observationen vor den Schlafzimmerfenstern fern.»

***

Unter anderen Umständen hätte das monotone Motorengeräusch sie in den Schlaf geschaukelt. Obwohl Merlinde ganz oben eine Kabine besass, glaubte sie, das leise Vibrieren im Schiffsrumpf zu spüren, je ruhiger es um sie herum wurde, umso mehr. Sie war zu müde, um gleich einzuschlafen. Die Begegnung mit Milagros hatte sie zudem aufgekratzt.

Milagros war gebürtige Spanierin, verwitwet, Mutter eines einundvierzigjährigen Sohnes und allein auf der Mittelmeerreise. Die Frau hatte ein Temperament, von dem Merlinde nicht mal zu träumen wagte. Trotzdem hatten sie sich nach anfänglichen Schwierigkeiten gut verstanden. Milagros verfügte über einen Wortwitz, der Merlinde fehlte. Andererseits durfte Merlinde mit vielen Reisen auftrumpfen, die bei Milagros auf der Wunschliste standen. Und wahrscheinlich verfügte Merlinde über sehr viel mehr Eigenkapital. Denn als die Gesprächsthemen aus unerfindlichen Gründen auf das Vermögen geschwenkt hatten, war Milagros sprachlos geworden.

Später hatte Milagros sie im Rollstuhl durch die endlosen Gänge und Säle geführt. Sie waren in der Ladenmeile gelandet, wo sie wie selbstverständlich die teuren Geschäfte besuchten, die bis spät in die Nacht hinein geöffnet hatten. Vielleicht war der Alkohol schuld gewesen, dass sie beide eine Louis-Vuitton-Tasche gekauft hatten, oder seniler Leichtsinn. Merlinde vermochte nicht, es sich zu erklären. Aber sie war glücklich gewesen, hatte sogar herzhaft lachen können. Milagros nahm sie so, wie sie war.

Einer der Glasaufzüge hatte sie über mehrere Etagen bis zum Oberdeck gefahren, wo sie einen letzten Atemzug lang die Nacht über dem Meer genossen. Trotz des Fahrtwindes war es erstaunlich mild gewesen. Weit draussen hatten Lichtpunkte den Horizont berührt – Fischerboote auf dem nächtlichen Fang. Merlinde hatte sich mit Milagros fürs Frühstück um neun verabredet. Vor der Tür zur Kabine hatte Luisa gewartet. Danach war Milagros den Korridor entlang zu ihrer Suite geschritten. Auf der Höhe zur Tür hatte sie sich noch einmal umgedreht und ihr zugewinkt.

Merlinde war sich sicher, sie hatte heute Nacht eine neue Freundin gewonnen.

Luisa hatte sie ins Badezimmer gefahren, wo sie ihr half, sich für die Nacht bereit zu machen. Merlinde hatte sich in den letzten Monaten daran gewöhnen müssen, sich wie ein kleines unbeholfenes Kind pflegen zu lassen. Ihr fehlte es an Kraft. Ihre linke Körperseite fühlte sich taub an. Es kam ihr vor, als hingen der Arm und das Bein wie etwas Fremdes an ihr. Ein Blutgerinnsel hatte die Sauerstoffzufuhr im Gehirn verstopft, und Nervenzellen waren abgestorben. Es gelang ihr seither nicht mehr, die Reize vom Gehirn an diese Muskeln weiterzuleiten und diese zu steuern. Sie war viele Wochen in der Rehabilitationsklinik gewesen, wo sie Schritt für Schritt die Bewegungsabläufe und das Sprechen wiedererlernt hatte. Sie verdankte es ihrem eisernen Willen, dass man sie nach dem Aufenthalt in der Residenz nach Hause hatte gehen lassen.

Das Schnappschloss verursachte ein klickendes Geräusch. Die Vorstellung, von nun an in der Kabine eingeschlossen zu sein, löste ein mulmiges Gefühl in Merlinde aus. Es war mitunter ein Grund, dass sie eine Suite gebucht hatte. Sie nahm ihr den Eindruck, auf hoher See zu sein. Als Kind hatte sie sich vor dem Meer gefürchtet. Vor den wilden Wassern bei Sturm und den Wellen, die meterhoch über das Land hinweggespült wurden. Aber das war eine andere Geschichte, die sie seit Jahren verdrängte. Eine Vergangenheit, die kaum mehr Platz in ihrem Leben fand.

Etwas knackte. Ein Laut, der hier nicht hingehörte. Fast neben ihrem rechten Ohr. Merlinde fuhr zusammen, denn der Schlaf hatte sie beinahe endlich überwältigt. Doch jetzt war sie hellwach. Durch die Fenster schimmerte die Nacht, ein Sternenhimmel, der bloss in der Karoo-Wüste in Südafrika noch eindrücklicher war. Eine kaum wahrnehmbare Lichtspur ergoss sich von dem Balkon in die Kabine. Der Schatten an ihrem Rand gehörte weder zum Tisch noch zu den Sesseln. Diese standen in entgegengesetzter Richtung.

Merlinde hielt den Atem an.

Es war ein Déjà-vu. Ein spitzes Fragment, das in ihre Erinnerungen stiess wie die Spitze einer Lanze. Der Schreck kam so unvermittelt, dass sie wiederholt vergass zu atmen.

Ja, sie hatte viel Wein getrunken am vergangenen Abend. Eine Flasche hatte nicht gereicht. Milagros hatte sie zu ihrem Lieblingschampagner eingeladen, einem Louis Roederer. Zum Käse hatten sie zudem je ein Glas Muskateller bestellt. Süss und verlockend war er gewesen. Zuletzt einen Grappa. Viva Italia! Milagros hatte ein paar passende Zitate zum Besten gegeben und damit verraten, dass auch sie eine einsame, von Sehnsüchten geplagte Frau war. Sie hatte von ihrem verstorbenen Mann Kaspar erzählt und wie er bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen sei, von ihrem Jungbrunnen, dem Cellisten aus Luzern, mit dem sie eine platonische Liaison eingegangen sei.

Der Schatten blieb. Reglos. Starr.

Wahrscheinlich spielten ihr die Lichtreflexionen von draussen einen Streich.

Merlinde legte ihren Kopf wieder auf das Kissen, das nach einem einschläfernden Elixier duftete. Luisa hatte bestimmt die Bettwäsche mit Lavendel besprüht.

Wie damals, schoss es Merlinde durch den Kopf. Ihr olfaktorisches Gedächtnis liess sie auch heute nicht im Stich. Mit Gerüchen brachte Merlinde Bilder in Verbindung. Sequenzen mit zum Teil schrecklichen Erlebnissen, die ihr seit Anbeginn ihrer Beeinträchtigung widerfahren waren.

Die erste Reise auf dem Mittelmeer.

ZWEI

Möwengekreische vor dem Fenster. Land in Sicht, in Milagros’ Erinnerungen. Valencia vor fünfzig Jahren. Papaíto hatte ein kleines Fischerboot sein Eigen genannt. Als kleines Mädchen hatte Milagros ihn oft begleitet. Manchmal waren sie weit auf das Meer hinausgefahren, bis die Stadt in ihrer Grösse schmolz und der Horizont in der Weite zunahm. Eine Nussschale, angetrieben durch einen Aussenbordmotor, das knatternde Geräusch, altersschwach und kurz davor, den Geist aufzugeben. Sie hatten ein kleines Netz ausgeworfen oder mit der Rute geangelt. Sie hatten immer Glück gehabt. Jedes Mal hatten sie zwei oder mehrere Fische gefangen. Ihre Ausbeute hatte abends auf dem Teller gelegen, mit Tortilla oder in einer Paella verarbeitet.

Da hatte ihr der Vater von den Kämpfen zwischen den maurischen und den christlichen Truppen erzählt, von den Rückeroberungen zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert, derer man bei den Fiestas in Valencia gedachte. Auf dem Meeresgrund lägen die Skelette der Gefallenen und Wracks ihrer Schiffe. Milagros war im Nachhinein nie mehr in diesem Teil des Meeres geschwommen. Zu sehr hatte sie sich davor gefürchtet, dass die Geister der Verstorbenen aus den Wellen steigen würden, weil sie sich in ihrer Totenruhe gestört fühlten.

Sie liess ihren Blick zu den Stadtmauern wandern und fühlte sich ein wenig wie in ihrem alten Zuhause in Spanien.

Der Morgen brach mit überwältigender Schönheit über das Meer herein. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne kitzelten die Wasseroberfläche und küssten ihre Wellen. Es war wie Poesie an diesem beginnenden Tag.

Noch lag die Renaissance-Burg von Civitavecchia im Schatten. Der Hafen mit dem «Fortino di San Pietro», der Ruine des antiken Leuchtturms. Der Damm, an dessen gegenüberliegenden Seite die grossen Passagierschiffe ankerten. Ein Feriengefühl wie ein Heimkommen.

Als das Schiff anlegte, war Milagros bereit für den Auftritt bei ihrer neu gewonnenen Freundin. Sie freute sich auf das Frühstück auf dem Mitteldeck mit Blick auf die alte Stadt. Später würde sie in den Gassen flanieren und die Italianità auf sich wirken lassen. Sie entsann sich verflossener Sommertage, als ihr Mann Kaspar noch gelebt hatte. Civitavecchia aus einer anderen Sicht. Im morgendlichen Dunst. Fensterläden, die aufgestossen wurden, eine Signora, die zwischen den Häusern eine Wäscheleine spannte, verhaltener Gesang italienischer Lieder. Die alte Stadt am Tyrrhenischen Meer. Und im Hintergrund die flachen Berge wie hingezeichnet, als hätte ein Maler seine Leidenschaft daran ausgelebt. Worte in Milagros’ Ohren, von dem, was ihr Vater ihr mit auf den Weg gegeben hatte. «Heimat, mein Kind, ist wie ein Baum. Man kann die Blätter abschütteln, die Zweige brechen, den Stamm ansägen. Die Wurzeln bleiben und schlagen neu aus. Ausser man reisst auch diese aus, dann verkümmert der Baum. Auch wenn man ihn umpflanzte, würde er sich nie mehr zu der vollen Pracht entfalten.» Die Panetteria und die heisse Schokolade, in der der Löffel stecken blieb. Der Wind hatte die Gerüche häppchenweise herangetragen. Lange war es her.

Milagros verliess ihre Suite und zog die Tür hinter sich zu. Im Korridor hielten sich ein paar Passagiere auf, bereit für den Landgang. Eine ältere Frau im hellen Leinenanzug, mit Strohhut und ebensolcher Umhängetasche sah aus, als hätte sie sich für eine Altstadtsafari bereit gemacht. Ihre Begleiterinnen sahen ähnlich aufgetakelt aus. Milagros war nicht in Eile. Sie würden den ganzen Tag hier ankern und erst am späten Nachmittag Richtung Palermo aufbrechen. Nach Sizilien. Wieder Bilder voll schwermütiger Emotionen. Die italienischen Nächte. Für Milagros waren es nicht bloss Erinnerungen. Als sie vor zwei Jahren die Insel besucht hatte, war ihr alles wie ein Traum vorgekommen. Der Besuch im Amphitheater in Segesta und in den Tempelruinen von Agrigento. Das glasklare Wasser und die tiefblauen Buchten. Das Wiegen der Zypressen, wenn der Wind in sie fuhr, die würzigen Düfte nach Olivenbäumen. Wie es ihrem Ex-Freund wohl ging?

Milagros seufzte und schritt über den flauschigen Teppich, den es nur auf dieser Etage gab. In diesem Jahr würde sie vierundsechzig werden. Theoretisch ging sie in Rente. Der Beginn des dritten Lebensabschnitts. Eine Ohrfeige für ihre Lebenseinstellung. Sie fühlte sich jung und geistig fit. Es waren diese zwei Zahlen, sechs und vier, die wie ein Damoklesschwert über ihr schwebten. Bald würde sie die nächste Grenze überschreiten und endgültig zum alten Eisen gehören. Wenn sie doch bloss eine Aufgabe bekommen hätte – ein Enkelkind vielleicht, dem sie all ihre überbordende Liebe würde geben können. Max hatte sie in letzter Zeit links liegen lassen. Er, der sie früher jeden Tag angerufen hatte, machte sich in letzter Zeit rar. Wenn sie sich trafen, war es etwas Geschäftliches. Deshalb kämpfte sie jeweils so verbissen darum, dass er Mandate annahm, die sie ihm zukommen liess. Es war ein Weg, um ihm nahe zu sein. Ihm und Fede, denn diese Frau mochte sie sehr.

Milagros blieb vor Merlindes Kabinentür stehen, streckte sich und zog den Bauch ein. Sie hatte sich ein halblangärmliges grünes Sommerkleid angezogen, das ihre Knie bedeckte, und einen edlen Strohhut aufgesetzt. Dazu trug sie Sandaletten und ein passendes Täschchen von Armani. Ihre Garderobe hatte sie sich vor Reisebeginn akribisch zusammengestellt, was sich jetzt zu lohnen schien. Milagros würde vor Merlinde eine gute Figur machen.

Sie klopfte und bemerkte, dass sich die Tür aufstossen liess. «Merlinde, bist du da?» Sie hatten wie selbstverständlich zum Du gewechselt. Und nach dem Dessertwein waren sie sich in die Arme gefallen, als würden sie sich seit einer Ewigkeit kennen. Vielleicht verband sie so etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Milagros stiess die Tür ganz auf. «Merlinde, ich bin’s. Erinnerst du dich?» Waren sie wirklich so beschwipst gewesen?

Auf den ersten Blick schien alles normal. Die Luxussuite, wie sie im Prospekt präsentiert wurde. Sie war um einiges grösser als die von Milagros, war rollstuhlgängig. Die Möbel wirkten hell und freundlich. Durch die blank polierten Fenster zeichnete sich das Meer ab, Sonnenstrahlen liessen es wie einen Teppich aus Diamanten glitzern. Ein kitschiges Bild, das die Natur entstehen liess. Es veränderte sich mit jeder Sekunde.

Milagros sah auf den geöffneten Schrank und darin auf den Safe, der offen stand. «Merlinde?» Es schien, als hätte Merlinde nach ihrem Schmuck gesucht, denn eine Schatulle lag ausserhalb des Schranks. Sie war leer. Milagros ging weiter bis zum Bett, auf dem zerwühlten Laken lag ein Seidennachthemd achtlos hingeworfen, und bemerkte den Rollstuhl auf dem Weg zum Badezimmer. Die Tür war zu. Milagros drosch mit der Faust auf das Türblatt. Sie rief abermals nach Merlinde. Als sie keine Antwort bekam, drückte sie die Klinke hinunter.

Ihr Schrei blieb ihr im Hals stecken.

Merlinde lag auf den Fliesen, mit blutverschmiertem Gesicht und vollkommen nackt. Sie musste sich gestossen haben, in ihrem Zustand. Am rechten Bein klaffte eine Wunde. Daraus sickerte Blut. Blaue Flecke zeugten von älteren Verletzungen. Hatte sie versucht, allein ins Badezimmer zu gehen? Wo war ihre Zofe?

Milagros sah sekundenlang ungeniert hin. Einen Moment lang, um ihre konfusen Gedanken zu ordnen. Was war hier passiert?

Merlinde wirkte alterslos, was Milagros schon gestern aufgefallen war. Eine No-Age-Woman, die ihres jugendlichen Aussehens wegen schwer zu schätzen war. Neunundsechzig und zehn Monate, hatte sie verraten. Vielleicht war sie geliftet. Ihre Brüste hatte sie sich bestimmt machen lassen. Sie wirkten unnatürlich wie halbe Tennisbälle. Ihr Bauch war straff.

«Um Gottes willen!» Milagros unterdrückte einen weiteren Schrei. Sie kauerte nieder und tastete an Merlindes Hals, suchte nach dem Puls, nach einem Lebenszeichen. Sie nahm ihre rechte Hand und legte sie in ihre.

Merlinde atmete oberflächlich. Langsam schlug sie die Augen auf. Ihre Pupillen wanderten von einem zum andern Winkel, unstet flackerten sie, als hätte sie Mühe, etwas zu fokussieren und sich darauf zu konzentrieren, wo sie sich befand.