Etzelpass - Silvia Götschi - E-Book

Etzelpass E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Die Apokalypse beginnt in Schwyz Als am Eidgenössischen Bettag in der Nähe der Brücke Rapperswil–Hurden eine Kapelle niederbrennt und dabei ein Mann ums Leben kommt, hält man es zunächst für einen Unfall. Doch ein aus der Kapelle entwendetes Kreuz Jesu wird schon bald zum Höllenboten des nächsten Opfers. Valérie Lehmann und ihr Team von der Kantonspolizei Schwyz bekommen es mit bedrohlichen Mächten zu tun – und folgen einer Spur aus Tod und Zerstörung.

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Silvia Götschi zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Schweiz. Ihre Krimis »Einsiedeln« und »Bürgenstock« landeten auf dem ersten Platz der Schweizer Taschenbuch-Bestsellerliste. Für beide Krimis wurde sie mit dem GfK No 1 Buch Award ausgezeichnet. Seit ihrer Jugend zählen Schreiben, Fotografieren und Psychologie zu ihren Leidenschaften. Geboren wurde sie 1958 in Stans, lebte und arbeitete erst in Davos und dann im Kanton Schwyz. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und wohnt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/enricocacciafotografie, Christian Birkholz/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-772-9

Originalausgabe

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Wir sind nicht allein.Sie sind hier, aber wir können sie nicht sehen.Wir sind ihre Diener, wir sind ihre Sklaven.Wir sind ihr Eigentum … wir gehören ihnen.

Robert Morning Sky

Die grösste Täuschung liegt darin, das unfassbar Böse nicht für möglich zu halten.

Unbekannt

«Exitus.» Ein Wort, das messerscharf den frühen Morgen zerriss. Der Amtsarzt sah auf seine Armbanduhr. «Fünf Uhr und dreizehn Minuten.»

Abschied, Erlösung.

Das Lebensende.

Auf einmal ist es da, unwiderruflich. Der Schalter auf «Aus» gekippt. Der Nullpunkt.

Anthony spürte, wie sich sein Herzmuskel zusammenzog und er nicht das Geringste dagegen tun konnte. Aus seinen Augen löste sich eine Flut von Tränen. Alles, was sich in den letzten Tagen und Wochen angestaut hatte, brach in diesem Moment Bahn. Er wandte sein Gesicht ab und verharrte still, vergass sogar zu atmen, um nicht überzuschnappen. Nur die Stimme seines Sohnes vermochte ihn aus dieser Starre zu erwecken.

«Mammina, hast du bemerkt, Tinka ist vom Teufel besessen.»

«Scht … sei leise. Deine Mutter ist eingeschlafen. Der liebe Gott hat sie zu sich geholt.»

Der Arzt warf Anthony, die Brauen hebend, einen Blick zu, der alles sagte, und wies auf seinen Sohn, der neben dem Totenbett stand. «Sie sollten ihn jetzt aus dem Zimmer bringen.»

Anthony wischte sich über die Augen, gebot sich zur Beherrschung. Er nahm den Kleinen sanft am Arm. «Komm, ich mache dir eine heisse Schokolade.» Noch einen letzten Blick auf das Antlitz seiner Frau, die aussah, als schliefe sie. Trotz der vergangenen dramatischen Stunden hatte sie ihr Engelsgesicht behalten. Es sah blass aus, und um den Mund hatte sich ein heller Schatten wie ein Dreieck gelegt. Anthony bekreuzigte sich und dachte an die Heilige Dreifaltigkeit. Es musste ein Zeichen des Himmels sein. Eine letzte Hoffnung, dass alles gut würde.

«Ja, mit ganz viel Zimt, wie Mammina es immer macht.» Der Kleine ging vor ihm aus dem Schlafzimmer Richtung Küche. Dann drehte er sich nach seinem Vater um. «Hast du Tinkas Augen gesehen?»

«Was ist mit ihren Augen?» Anthony ging zum Kochherd und setzte Milch in einer Pfanne auf. Vor zwei Monaten war ihnen ein Kätzchen zugelaufen. Anthony hatte gezögert, das Tier bei sich aufzunehmen. Als er jedoch die glänzenden Augen seines Sohnes gesehen hatte, konnte er dem Betteln nicht widerstehen.

«Sie hat Augen wie der Teufel.»

Anthony war es nicht recht, wenn der Kleine diesen Vergleich zog. «Viele Katzen haben eine schmale, senkrechte Pupillenform, aber deswegen sind sie lange nicht vom Bösen besessen.»

«Seit Tinka bei uns ist, geht es Mammina schlecht.»

«Jetzt geht es ihr gut. Sie ist im Himmel und musiziert mit den Engeln.»

«Darf ich mein Büsi trotzdem behalten?»

Anthonys Gedanken kreisten um seine Frau, die nicht einmal den dreissigsten Geburtstag erlebt hatte. Was hatten sie Pläne geschmiedet, damals, als sie sich das Jawort gegeben hatten. «Natürlich darfst du es behalten.»

«Auch wenn es vom Teufel besessen ist?»

«Es ist nicht vom Teufel besessen.» Um dem Satz die negative Kraft zu nehmen, bekreuzigte Anthony sich ein weiteres Mal. Das, was seine Gedanken beherrschte, lag ihm schwer auf der Zunge. «Jetzt ist es vorbei.» Er musste sich zusammenreissen, um nicht laut zu weinen. Nicht vor seinem Sohn. «Mammina muss nicht mehr leiden.»

EINS

Klara von Weissenburg schrak aus dem Tiefschlaf auf. Etwas hatte sie geweckt. Sie schlug die Augen auf, starrte zur Decke und an die Reliefs, deren Konturen sie nicht sah, die Rosette über dem Lüster. Es blieb nebulös, wie immer, wenn sie nachts abrupt aus ihren Träumen fuhr. Neben ihr schnarchte Adrian. An das sägende Geräusch hatte sie sich gewöhnt, seit Jahren schon. Es gehörte zur Nacht wie der Wellenschlag des Obersees, den sie, je nach Richtung des Windes, mal lauter, mal leiser vernahm. Manchmal hätte sie am liebsten ein Kissen genommen und es ihrem Mann auf das Gesicht gedrückt. Dann überlegte sie sich, dass ihr etwas fehlte, würde sie ihre morbiden Gedanken in die Tat umsetzen.

Adrian drehte sich unüberhörbar auf die Seite, als hätte er Klaras Unruhe gespürt. Doch dieses Feingefühl billigte sie ihm nicht zu.

«Was ist?», fragte er schlaftrunken.

«Riechst du das auch?» Klara wusste jetzt, woran sie erwacht war.

«Ich rieche nichts. Das bildest du dir bloss wieder ein. Schlaf weiter. Oder nimm eine deiner Beruhigungspillen, Herrgott Sakrament!»

«Es brenzelt.»

Noch waren die Nächte nicht kalt genug, dass man hätte heizen müssen. In den Wintermonaten lag ständig der Geruch von Feuer in der Luft, von den umliegenden Kaminen und den zum Teil alten Öfen. Die Häuser waren renovationsbedürftig; das Odeur verbrannten Holzes gehörte in der kalten Jahreszeit dazu. Heute war der neunzehnte September, und es passte nicht.

Klara verliess trotz Adrians Bemerkung das Ehebett. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie war hellwach. Seit ihrer Hochzeit vor rund vierzig Jahren wohnten sie in diesem Haus, seit fünf Jahren zusammen mit einer sechsköpfigen Familie aus Kroatien und einem lesbischen Liebespaar.

Im Dunkeln tastete sie sich zum Fenster vor, das seeseitig lag und bei Tag eine wunderschöne Aussicht bot: auf den Obersee und das Dorf Busskirch, das zum Gemeindegebiet Rapperswil-Jona gehörte, auf der anderen Seeseite. Bei klarem Wetter war vom nördlich gelegenen Fenster aus sogar ein Stück der historischen Wegführung von Pfäffikon nach Rapperswil zu erkennen, der Steg, der im Jahr 2001 neu errichtet worden war.

Der Morgen konnte noch nicht angebrochen sein. Halb vier zeigte der Wecker, dessen Zifferblatt schwach leuchtete. Klara schob die Vorhänge zur Seite, öffnete den zweiten Fensterflügel. Der Brandgeruch hatte an Intensität zugenommen. Sie sah auf den See, der schwarz vor ihr lag, die Strasse unbeleuchtet. Die Lichter wurden während der Nacht gelöscht, eine Idee des Gemeindepräsidenten, der sich das Sparen zur Aufgabe gemacht hatte. Neulich hatte er Flugblätter verteilt und auf seine ökologische Ader hingewiesen.

Ein rötlicher Schimmer hatte sich ausgebreitet, ein kaum wahrnehmbares Flackern, als tanzten Schattengestalten die Gestade entlang. Klara lehnte über den Fenstersims. Die Luft war kühl, und die Vorboten des Herbstes machten sich nachts schon bemerkbar, auch wenn der Sommer noch präsent war. Ein sonniger Tag reihte sich an den andern.

«Klara!»

Sie drehte sich zu Adrian um. «Hier stimmt etwas nicht.»

«Komm ins Bett. Es ist Sonntag. Was sollte denn nicht stimmen? Du machst mich nervös mit deiner Herumhopserei.»

«Es riecht nach Verbranntem.»

«Miran wird den Ofen eingeheizt haben. Du kennst ihn ja. Samira friert bereits beim ersten kühleren Windhauch.» Adrian zog demonstrativ das Duvet über sich, begleitet von einem Schnauben und Grunzen.

«Überzeuge dich selbst.» Klara warf einen Blick auf die rechte Seite, wo das Hotel Rössli lag. Dort hatten sie gestern gebratenes Felchenfilet an Safranschaumsauce gegessen. Einmal die Woche gingen Klara und Adrian ins Restaurant, weil sie die Wirtsleute gut kannten, frischen Fisch mochten und sich freuten, den Schickimickis von den «Inseln» drüben den Platz streitig zu machen.

Die Kapelle gegenüber schien heller als üblich. Ob der Sigrist aufgrund des Eidgenössischen Bettages eine Beleuchtung installiert hatte? An Weihnachten, Ostern und am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, hatte er seine Gemeinde mit seltsamen Lichtinstallationen überrascht. Die einen fanden es fortschrittlich, die andern blasphemisch.

Das Dach der Kapelle war von einem roten Nebelkranz überzogen, als trüge es einen Heiligenschein. Klara trat vom Fenster weg, nicht sicher, ob sie sich den nächtlichen Spuk bloss einbildete. «Um Gottes willen, ich glaube, die Kapelle brennt.»

Adrian sprang auf, ging Richtung Fenster und stiess Klara weg. Er wollte sich offenbar selbst davon überzeugen.

Wie immer, dachte Klara bitter, ihr glaubte er nie. «Wir sollten die Feuerwehr rufen.» Sie versuchte, trotz ihrer Aufregung Ruhe zu bewahren.

Die Flammen mussten bereits an den Dachbalken nagen. Ein inneres Glühen hatte die Kapelle erfasst. Durch jede Ritze funkelte es orangerot. Noch schien das Kapellendach dem Feuerteufel standzuhalten. Klara hielt den Atem an. Vom Feuer war sie bereits als Kind fasziniert gewesen. In jedem morschen Holzgebäude sah sie einen bevorstehenden Raub der Flammen. Sie sei pyromanisch veranlagt, sagte dann Adrian – das Netteste, was er dazu zu bemerken hatte.

Unter lautem Getöse brachen Balken ein. Es regnete Ziegel auf die Strasse, und fast explosionsartig stach eine Feuersäule gegen den Himmel.

Adrian stolperte aus dem Schlafzimmer. «Ich rufe die 118 an.»

Weiterhin überwältigt schaute Klara den Flammen zu, die aus dem Dachstock züngelten. Der See entlang des Ufers lag blutrot wie glühende Lava. Der Morgen war gerettet. Sie würde heute gratis und franko eine Sondervorstellung haben.

***

Das Handy klingelte mit dem Ton eines alten Telefons. Valérie Lehmann fuhr über den Touchscreen, meldete sich. Es war sieben Uhr. Sie hatte gerade eine Tasse Kaffee vor sich, heiss und stark, und kostete den ersten Schluck.

«Maman.»

«Colin?» Es war Wochen her, seit sie ihren Sohn gehört, geschweige denn, gesehen hatte. «Schon wach?» Colin gehörte zu denen, die an einem Sonntag gern bis am Mittag schliefen. Unter der Woche musste er früh aufstehen, was an und für sich eine Heldentat war. «Schön, dass du mich anrufst. Wie geht es dir?» Valérie sah aus dem Fenster.

«Mam, bist du zu Hause?» Colin klang nicht so, wie sie es von ihm kannte. Welche Laus war ihm bloss über die Leber gelaufen?

«Wir frühstücken, wenn Emilio zurück ist. Er ist kurz zum Bäcker gefahren.» Über den schattigen Dächern lag der Pilatus im warmen Septemberlicht.

«Kann ich zu euch kommen?»

Die Gedanken jagten durch Valéries Kopf. Der Sonntagmorgen war ihr heilig. Auf diesen Tag freute sie sich immer. Während des Tages war Sport angesagt. Eine Radtour, Joggen oder bei schlechtem Wetter Auspowern im Fitness-Center. Heute stand eine Wanderung auf den Jochpass auf dem Programm. Anfahrt über die Melchsee-Frutt und Rückkehr via Engelberg.

«Natürlich.» Sie dehnte das Wort. «Zum Nachtessen, ist das ein Vorschlag? Emilio hat ein Filet im Teig versprochen. Für vier Personen sollte es reichen.»

Colin lebte seit Sommer vergangenen Jahres mit seiner Freundin in Wollerau. Sie hatten dort eine Wohnung gemietet, schienen glücklich zu sein. Für Valérie bedeutete keine Nachricht immer eine gute Nachricht. Sie hatte sich daran gewöhnen müssen, dass die jungen Leute andere Prioritäten setzten, als Eltern zu besuchen. Valérie war froh, hatte Colin jemanden an seiner Seite, nachdem seine Kindheit und die Jugend nicht das Gelbe vom Ei gewesen waren.

«Maman, ich bin bereits in Küssnacht. Ich muss noch etwas erledigen. In zehn Minuten bin ich bei dir.» Valérie vernahm sein Atmen. «Ich …» Sie glaubte, eine erste Unsicherheit daraus zu hören. «Ich komme allein. Angela und ich … wir haben uns probehalber getrennt.»

Probehalber? Bevor Valérie etwas erwidern konnte, hatte Colin aufgelegt. Sie starrte auf das Display, fühlte gerade einen stechenden Schmerz auf Brusthöhe. Obwohl Colin nichts dazu gesagt hatte, spürte sie, wie schlecht es ihm ging. Er war neunzehn und im letzten Jahr seiner Ausbildung in der IT-Branche, die er in Freienbach absolvierte. Natürlich hatte sie es kommen sehen. Angela war über zehn Jahre älter als Colin. Mit dreissig hatte man andere Ambitionen, als einen jungen Freund zu bespassen. Vielleicht dachte sie an Kinder und an eine Familie. Da passte Colin definitiv nicht hinein.

Als im Entrée die Tür ging, hatte Valérie ihren ersten Kaffee bereits getrunken. Sie wusste nicht, ob sie Zanetti einweihen wollte. Colin war ihr Sohn. Nach den jahrelangen Kämpfen um das Sorgerecht glaubte sie, alleinigen Anspruch auf ihn zu haben. Aber dies hatte sie sich bereits vor einem Jahr abschminken müssen. Colin lebte sein eigenes Leben, und Zanetti bekundete volles Verständnis dafür. «Hättest du etwas dagegen, wenn uns Colin heute besucht?» Valérie wusste, wie wichtig der freie Sonntag auch für Zanetti war. Er tat bereits genug für Colin, war ihm ein guter Freund, beriet ihn auch in Lebensfragen, von Mann zu Mann.

Zanetti legte Zopf und Buttergipfel auf den Frühstückstisch. «Ich glaube, damit wird nichts. Ich muss gleich weg nach Hurden.»

Valérie setzte sich. Es war, als kehrten die Geister aus einer Vergangenheit zurück, die sie erfolgreich in die Schublade der Vergessenheit geschoben hatte.

Hurden lag am Obersee. In Richtung Altendorf befanden sich die Villen der Reichen auf künstlich angelegten Inseln. Valérie erinnerte sich gut an diese Gegend. Willy Lehmann, ihr Ex, hatte dort ein Grundstück kaufen wollen, kurz vor ihrer Hochzeit. Es gab dort gleich drei Bootshäfen und mehrere Anlegestellen. Ein prädestinierter Ort, um seine Luxusjacht vor Anker zu legen. «Was ist passiert?»

«Die Kapelle hat gebrannt. Es gibt einen Toten.»

«Ausgerechnet am Bettag.» Valérie entnahm den Papiersäcken Zopf und Buttergipfel.

«Was ist so speziell an diesem Tag?», wunderte sich Zanetti.

«In vielen Kantonen der Schweiz wird er mit Karfreitag, Ostersonntag, Pfingstsonntag und dem Weihnachtstag gleichgestellt. In meiner Heimatgemeinde Fully ist er ein hochheiliger Sonntag.» Valérie legte die Gipfeli in den Brotkorb. Den Zopf schnitt sie auf einem Holzbrett auf. «Ein Kurzschluss?», sinnierte sie. Das wäre die logischste Ursache gewesen.

«So weit ist die Feuerwehr noch nicht. Ich habe mit dem Kommandanten gesprochen. Das Dach sei vollständig zerstört.»

Valérie blieb am gedeckten Tisch sitzen. «Zeit für einen Kaffee wirst du wohl noch haben. Auf fünf Minuten früher oder später kommt es nicht an. Bis Hurden ist es schätzungsweise eine Stunde Fahrt.»

«Rund fünfzig Kilometer. Ich habe die Strecke auf dem Navigationsgerät bereits eingegeben. Ich melde mich, sobald ich mehr weiss.» Den Kaffee, den Valérie für ihn aus der Maschine gelassen hatte, liess Zanetti stehen. Natürlich: Der Staatsanwalt war konsequent.

Valérie betete im Stillen, dass man sie nicht aufbieten würde. Falls es ein Fall für «Leib und Leben» war, wollte sie Louis Camenzind den Vorrang lassen und hoffte, ihr Chef Gian Luca Caminada sah das auch so. Dann war da noch Fabia Ulrich, die erst kürzlich zum Leutnant vereidigt worden war. Es war an der Zeit, dass sie mal die Zügel in die Hand nahm.

Kaum hatte sich der Gedanke verflüchtigt, schellte das Mobiltelefon. Valérie meldete sich.

«Gian Luca.» Caminadas Stimme drang heiser an ihr Ohr. «Sorry, die Störung.»

«Der Kapellenbrand in Hurden, vermute ich.» Valérie überlegte, wie sie ihrem Chef den Vorschlag unterbreiten sollte, Louis hinzuschicken. Hurden lag am Ende ihrer Welt. Auf jedwede Erinnerung an Willy hatte sie keine Lust. Und diese würde unweigerlich kommen, sobald sie die Seedammstrasse befuhr. Hätte sie damals Willys Charakter durchschaut, wäre ihr vieles erspart geblieben. Erschrocken über ihre Gedanken, willigte sie ein, nach Hurden zu fahren, nachdem Caminada ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass er sie auf diesen Fall ansetzen wolle.

«Ich möchte, dass du die Ermittlungen leitest. Der Gerichtsmediziner ist mit seiner Equipe bereits vor Ort. Der Kriminaltechnische Dienst sollte demnächst eintreffen.»

«Du gehst definitiv von einem Fall aus? Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein?»

«Du kennst das Prozedere», antwortete Caminada. «Auch bei Unfällen mit Todesfolge sind wir gefragt.»

Valérie erhob sich, ging zum Küchenfenster und sah auf den Parkplatz, wo sie gerade noch die Rücklichter von Zanettis Audi sah. Er schien sehr in Eile und preschte davon. Hätte er bloss fünf Minuten gewartet, hätte Valérie mit ihm fahren können. Leicht verärgert schrieb sie Colin eine Nachricht auf WhatsApp mit dem Vermerk, sie wisse nicht, wann sie zurück sei, und dass er es sich gemütlich machen solle. Sie sah auf die Uhr. Eigentlich hätte er längst hier sein sollen. Ob ihm etwas dazwischengekommen war? Von welchem Termin in Küssnacht hatte er gesprochen? So früh und an einem Sonntag? Valérie ging grübelnd in den ersten Stock, wo die Schlafzimmer lagen. Sie hatte bereits geduscht und zog sich nun an. Vielleicht hätte sie sich mehr um Colin kümmern und ihn mal anrufen müssen. Die Arbeit auf dem Polizeikommando war eine Ausrede nicht wert. Valérie hatte sich nicht aufdrängen wollen, nachdem Angela ihren Sohn dermassen in Beschlag genommen hatte. Plötzlich war Valérie nicht mehr in Colins Mittelpunkt gestanden. Die gemeinsamen Mittagessen waren stets weniger geworden, bis sie ganz ausblieben. Wenn Colin jemanden um Rat fragte, war es Zanetti. Selbst Anrufe erreichten immer nur ihn. Mit Gruss an Maman. Angela, die Solaringenieurin, die Lady mit der 1000er-Kawasaki, eine Mischung aus Rockerbraut und sanftem Mädchen – ein Dorn in Valéries Auge. Sie hatte sich auch nach gut einem Jahr längst nicht an Colins Freundin gewöhnt. Dass die beiden sie nicht mehr besuchten, war wohl Valéries Einstellung gegenüber dem jungen Paar geschuldet. Colin musste ihre Abneigung gespürt haben und hatte sich entsprechend rar gemacht.

Sie wurde älter. Die herangewachsene Generation machte es ihr nicht leichter.

Sie setzte sich in ihren Audi TT, sass einfach ruhig da. Sie wartete in der Hoffnung, Colin könnte im nächsten Moment in ihre Strasse einbiegen. Seit einem halben Jahr gehörte ihm ein zehnjähriger Subaru Impreza, den er auf dem Occasionsmarkt günstig hatte erwerben können. Sein ganzer Stolz. Die Fahrstunden im letzten Sommer hatte Angela finanziert, was Valérie in den falschen Hals geraten war. Sie verstand nicht, weshalb Colin sich so abhängig machte. Sie startete den Motor, fuhr zügig an und zweigte auf die Grepperstrasse ab.

***

Da war dieser Brandgeruch. Er setzte sich an ihren Nasenschleimhäuten fest. Das Feuer war gelöscht, seit knapp zwei Stunden, erfuhr Valérie von Caminada, der bis zum Hals in einem hellblauen Vliesanzug steckte. Der stolze Bündner, den man an seinem Dialekt erkannte. Er habe sich gut in Schwyz eingelebt, hatte er letzthin verraten. Nur seine Frau Menga habe nach wie vor damit zu kämpfen. Den Anschluss an die hiesige Gemeinschaft habe sie noch nicht geschafft. Vermutlich wollte sie nicht.

«Ich dachte, du kommst mit Emilio.» Er reichte ihr die Hand zum Gruss.

«Er war schon weg, als ich deinen Anruf bekam», wich Valérie aus. «Was haben wir?»

«Um zehn vor vier ging eine Meldung bei der Notrufzentrale der Feuerwehr ein. Fünfzehn Minuten später war das erste Löschfahrzeug vor Ort. Ihm folgten weitere zwei Wagen. Es habe gedauert, bis der Brand gelöscht war.»

«Und der Tote? Wann wurde er entdeckt?»

Caminada wiegte seinen Kopf. «Um zwanzig vor fünf. Er lag unter den heruntergefallenen Trümmern.»

«Das ist mehr als eine halbe Stunde nach Eintreffen der Feuerwehr. Man ging also nicht davon aus, dass sich in der Kapelle jemand aufhalten könnte?» Ein Stromstoss schoss durch ihren Körper. War etwas schiefgelaufen?

«Die Feuerwehrmänner mussten sich zuerst einen Weg durch die Flammen bahnen», sagte Caminada und schwächte Valéries Verdacht ab, man könnte etwas versäumt haben. «Einer von ihnen wurde mittelschwer verletzt.»

«Schlimm?»

«Ich kenne keine Details.»

Valérie schob die Gedanken beiseite und nahm einen Augenschein von der Umgebung. Drei Feuerwehrautos, der Kleinbus der Einsatzleitung der Feuerwehr und zwei Streifenwagen sowie der Camion der Kriminaltechniker versperrten den Zugang auf den Platz vor der Kapelle. An diese, welche sich direkt am Ufer des Obersees befand, mochte sich Valérie kaum erinnern. Umgeben von Kastanienbäumen, die wie durch ein Wunder nichts abbekommen hatten. Ihre Blätter, bereits verfärbt, flatterten im Wind wie Hunderte von Kolibris im Schwirrflug. Auch das Fischerhäuschen nebenan war unversehrt geblieben. Die filigranen Netze hingen zum Trocknen an den Leinen. Das Kapellendach dagegen war komplett eingebrochen. Der Turm, schief jetzt ob der Hitze und der fehlenden Stützen, stach wie ein Mahnmal in den Himmel. Die einst hellen Mauern waren verschmutzt von Russ und Wasser. Die Tür stand offen. Valérie überging die Plastikabsperrung, sah das ganze Ausmass der Katastrophe.

«Wenn Sie dort reinwollen, müssen Sie sich einen Schutzanzug überziehen», sagte jemand an ihrer Seite. «Und ganz sicher einen Helm. Der Rest des Daches ist einsturzgefährdet. Der KTD ist drin und sichert mit grösster Vorsicht Spuren.»

Valérie wandte sich nach der Stimme um.

«Richard Bussmann, Feuerwehrinspektor.» Der Mann im dunklen Anzug mit gelben Leuchtstreifen schenkte ihr ein kurzes Lächeln. «Und Sie sind sicher Valérie Lehmann. Wir hatten noch nicht das Vergnügen, uns kennenzulernen. Ich arbeite erst seit Mai im kantonalen Führungsstab. Man hat mich aber darüber informiert, dass Sie kommen.» Er reichte ihr einen blauen Overall und einen Helm. «Endlich bekommt die engagierte Kriminalistin ein Gesicht.» Er sah sie aufmunternd an.

Nach Lachen war Valérie nicht zumute. Man hatte einen Menschen, der sich während des Brands im Innern der Kapelle aufgehalten hatte, ignoriert. Man hätte auf jeden Fall schneller reagieren sollen. Ihr lag es auf der Zunge, Bussmann darauf anzusprechen. Sie unterliess es. Es würde sich später die Gelegenheit bieten, ihre Frage zu stellen. «Darf ich mir den Ort trotzdem ansehen?» Valérie zog den Overall an und die Füsslinge über ihre Schuhe. Sie band ihre Haare zusammen und steckte sie unter die Kapuze. Darüber stülpte sie den Helm. «Mir wäre lieber, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt.»

Sie wartete Bussmanns Erwiderung nicht ab und betrat die Kapelle. Ein Bild der Verwüstung erwartete sie. Zerschlagene Balken, einige von ihnen angesengt. Verkohlte Dachstreben und Ziegelstücke hatten einen Teil der Gebetsbänke unter sich begraben, die ihrerseits Feuer gefangen hatten. Sie waren zum Teil oder ganz verbrannt. Über dem Altar lag etwas, das einmal ein Tuch gewesen sein musste, zerfetzt und dunkel verfärbt. Die Butzenscheiben der spitzbogigen gotischen Fenster waren zersprengt von der Hitze des Feuers. Ein Scherbenregen hatte sich ausgebreitet. Der Fussboden stand unter Wasser. Von den seitlichen Mauern tropfte es. Und in all dem Gewirr bewegten sich lautlos Franz Schulers Leute wie Soldaten auf einem Schlachtfeld. Die Atmosphäre erinnerte an die apokalyptischen Bilder eines Bombeneinschlags.

Valérie sah nach oben. Der blaue Himmel, wie eingekerbt von den schwarz verfärbten Skeletten zerstörter Streben, wie ein Hohn im Angesicht von Tod und Verderben. Der Turm mit den zwei Glocken neigte sich verdächtig zur Seite. Instinktiv wich Valérie nach links aus, in die Nähe der Wand. Über ihr ragte eine Madonnenfigur, die kaum etwas von dem Feuer abbekommen hatte. Valérie dachte an die Schwarze Madonna in der Klosterkirche Einsiedeln, die ebenso einem Brand getrotzt hatte, und es schauderte sie.

Caminada war Valérie gefolgt. Er wies auf die Erhöhung im Boden vor dem Chor. «Dort lag das Opfer. Der erste Feuerwehrmann, der es gefunden hatte, stellte seinen Tod fest, was der Gerichtsmediziner nach seiner Ankunft bestätigte. Nun ja, es war ziemlich klar.»

«Was?»

«Dass er tot war.»

«Weiss man, wer es ist?» Die Vorstellung, das Opfer könnte im Feuersturm umgekommen sein, liess Valérie erneut frösteln. In ihrer beruflichen Laufbahn hatte sie nie mit Brandopfern zu tun gehabt. Der Gedanke, Res Stieffel würde sie wie üblich in die Rechtsmedizin ordern, jagte ihr das nackte Grauen über den Rücken. Andererseits würde sie auch diesmal nicht darum herumkommen, in die Universität zu fahren.

«Er wurde bereits identifiziert», sagte Caminada. «Von Vikar Huwiler. Er war hier, nachdem der Rössli-Wirt ihn angerufen hatte.»

«Wo befindet er sich jetzt?» Valérie verliess die Kapelle. Solange der KTD arbeitete, kam sie sich deplatziert vor. Schulers Team hatte längst mit der forensischen Untersuchung begonnen. Seite an Seite arbeitete es sich mit den Brandermittlern durch die Verwüstungen.

«Die Ambulanz hat Herrn Huwiler mitgenommen. Das Desaster war zu viel für den Vikar. Er hatte einen Schwächeanfall und wurde zur Beobachtung ins Spital Lachen gebracht.»

«Hoffentlich erholt er sich schnell.» Valérie entledigte sich des Overalls und der Füsslinge, drückte beides zusammen und entsorgte es in der Abfalltonne der Feuerwehr. Sie sah sich um, suchte nach Zanetti, sah ihn jedoch nirgends. Er musste einen Grund haben, dass er ihr auswich. «Gibt es Zeugen?»

«Louis und Fabia befragen gerade die Anwohner.»

«Und Emilio?»

«Er ist unterwegs nach Biberbrugg, war bloss kurz hier, um einen Augenschein zu nehmen. Er hat das Ermittlungsverfahren eingeleitet und wird heute Nachmittag um halb zwei auf dem Stützpunkt sein.»

Valérie kam sich übergangen vor. In der Kapelle hatte sie nichts mehr zu suchen, der Leichnam war weg. Louis und Fabia hatten einen Teil ihres Jobs bereits übernommen, und Vikar Huwiler befand sich im Spital. «Du hast mir noch nicht gesagt, wer der Tote ist.»

Caminada fuhr sich mit der Hand über Wange und Kinn, auf dem Bartstoppeln sprossen. Vermutlich hatte er nicht einmal Zeit gefunden, sich zu rasieren. «Zahir Kälin. Er ist Sigrist der Gemeinde Freienbach und zuständig für die fünf Dörfer Bäch, Freienbach, Hurden, Pfäffikon und Wilen.»

Valérie machte einen Schritt auf ihren Wagen zu, im Begriff, wegzufahren. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich ihrer. Sie vermochte nicht, es einzuordnen. Unschlüssig blieb sie stehen. Sie musste unbedingt Louis und Fabia sprechen und in Erfahrung bringen, was es mit den Zeugen auf sich hatte. Sie hatte Mühe damit, richtig in die Gänge zu kommen. Sie liess sich durch die Gedanken an Colin ablenken. Auf dem Weg nach Hurden hatte sie vergebens versucht, ihn zu erreichen. Ihre Nachrichten auf seiner Combox blieben unbeantwortet. Hoffentlich machte er keinen Blödsinn, weil Angela ihm womöglich das Herz gebrochen hatte. Als er seine Freundin kennengelernt hatte, war er sehr verliebt gewesen und mit ihr unverhältnismässig schnell zusammengezogen. Natürlich hatte Valérie es vorausgesehen, wenn sie es genau nahm, dass das nicht gut gehen konnte.

Jemand rief ihren Namen. Valérie drehte sich um. Louis und Fabia kamen auf sie zu.

«Schon fertig?», fragte sie.

«Erst begonnen», sagte Fabia. «Eine furchtbare Sache ist das.» Sie wies entsetzt Richtung Brandruine. «Wer tut so etwas und zündet ein Gotteshaus an? Die Kapelle ist über fünfhundert Jahre alt. 1497 wurde sie errichtet zu Ehren der Heiligen Dreifaltigkeit, Unserer Lieben Frau und der Apostel Petrus und Paulus.»

«Du kennst dich so gut aus?» Valérie amüsierte sich. Fabia machte nie einen Hehl daraus, wie religiös sie war und was ihr der katholische Glaube bedeutete. Wahrscheinlich kannte sie die Bibel auswendig.

«Steht auf der Tafel ausserhalb der Kapelle», frotzelte Louis und entkräftete Valéries Vermutungen. Er zündete sich eine Zigarette an.

«Hast du noch nicht genug vom Rauch?» Fabia wedelte mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht umher. «Weder Schäden durch Kriegswirren noch die Plünderung während des Franzoseneinfalls hatten sie dermassen beschädigt.» Sie war untröstlich. «Da waren sicher Vandalen am Werk.»

«Stand sie nicht einmal kurz vor dem Abriss? Nach dem Einfall der Franzosen 1798 wurde sie notdürftig wiederhergestellt. 1860 holte man beim Bischof in Chur eine Erlaubnis für den Abbruch der Kapelle ein.» Louis verschränkte besserwisserisch die Arme und stiess Rauch aus.

«Steht auch auf der Tafel», entgegnete Fabia düpiert. «Es gab einen Spendenaufruf für die Renovation. Die Hurdener setzten sich für ihre Kapelle ein.» Plötzlich riss sie ihre Augen weit auf. «Die Hurden-Kapelle steht an bester Lage. Sie wird wenig besucht, also ist sie für viele Zeitgenossen überflüssig. Vielleicht wurde das Feuer absichtlich gelegt. Schau dir die Nobelvillen auf der anderen Seite an. Die Grundstücke hier sind begehrt.»

«Habt ihr brauchbare Zeugenaussagen?» Valérie liess von diesem für sie heiklen Thema ab. Sie verabscheute Spekulationen und wollte lieber auf die Resultate der Brandermittler und der Rechtsmedizin warten.

«Wir sind auf dem Weg zu Herrn und Frau von Weissenburg», sagte Louis. «Sie haben die Feuerwehr über den Brand informiert.»

«Das war um zehn Minuten vor vier.»

«Exakt. Als die Feuerwehr eintraf, habe das Dach in Vollbrand gestanden.»

Valérie fragte sich erneut. «Was hatte der Kirchendiener zu so früher Morgenstunde in der Kapelle zu suchen? Habt ihr darüber schon etwas vernommen?»

«Nein, vorab haben wir mit dem Rössli-Wirt gesprochen, weil er uns über den Weg lief.»

«Okay, dann werde ich jetzt zu den von Weissenburgs gehen.» Valérie warf Fabia einen Blick zu. «Begleitest du mich?» Und an Louis gerichtet, sagte sie: «Wir sehen uns heute um halb zwei zu einer ersten Besprechung im Sitzungszimmer auf dem Stützpunkt in Biberbrugg. Bis dahin überprüfe sämtliche Zeugen, hol dir Hilfe bei den Polizisten, die herumstehen.» Sie machte eine Handbewegung in Richtung Fischerhäuschen, vor dem sich eine Gruppe Uniformierter aufhielt. «Je früher wir die Anwohner befragen können, umso genauere Aussagen bekommen wir.»

«Das heisst, dass ich vorher das Befragungsprotokoll eintippen sollte, von wegen Sitzung.» Louis äugte zu Fabia hinüber, die ihr Gesicht demonstrativ abwandte, und warf den Zigarettenstummel auf den Boden.

Valérie überlegte. «Das hat Zeit. Ich wäre froh, könntest du die Benachrichtigung über den Tod von Zahir Kälin seinen Hinterbliebenen überbringen. Caminada kann dir die Adresse aushändigen.»

Die Wohnung der von Weissenburgs lag unter dem Dach eines älteren Hauses, das schätzungsweise aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammte. Einen Lift gab es nicht. Valérie und Fabia stiegen wortlos über eine knarzende Treppe nach oben im Mief eines schwach beleuchteten Treppenhauses und gelangten auf jedem der Stockwerke auf ein Podest, das mit verdorrten Pflanzen, Kehrichtsäcken und schmutzigen Schuhen zugemüllt war. Nur ganz oben fehlten diese Dinge gänzlich, und ein Schild unterhalb des Türspions hiess Gäste willkommen. Das Haus wollte nicht zum Mondänen dieses Ortes passen.

Kaum an der Sonnerie geläutet, ging die Tür mit Schwung auf, und auf der Schwelle baute sich ein Mann auf, der das Pensionsalter längst überschritten haben musste. Valérie schätzte ihn auf über siebzig. Er war etwas übergewichtig und hatte schlohweisses Haar und Augen, die wie schwarze Lackkugeln in den Höhlen lagen.

Valérie wies sich aus. «Valérie Lehmann von der Kantonspolizei Schwyz, das ist meine Kollegin Fabia Ulrich. Es geht um den Kapellenbrand. Dürfen wir reinkommen?»

Jemand schloss ein Fenster. Ganz klar war das Einrasten des Riegels zu vernehmen.

«Es wird auch langsam Zeit, dass sich jemand herbemüht.» Von Weissenburg streckte die Hand zum Gruss aus. Er hatte einen festen Druck und liess Valérie kaum mehr los. «Man hat uns wieder nach oben geschickt und uns gebeten, hier auf Sie zu warten.» Er stiess die Tür bis zum Anschlag auf. «Das war vor gut drei Stunden. Bitte, treten Sie ein.»

«Adrian, wer hat geläutet?» Aus der Richtung, in der Valérie das Wohnzimmer vermutete, hörte sie ein Rascheln.

«Die Polizei ist endlich da, Klara. Wir kommen in die Stube.» Es klang wie eine Warnung. Als von Weissenburg in der Folge zögerte und das Rascheln im Wohnzimmer noch verstärkt wurde, vermutete Valérie, Frau von Weissenburg könnte etwas zum Verschwinden bringen, das die Polizei nicht zu sehen bekommen durfte.

Die Erscheinung unter dem Türrahmen bestätigte diese Vermutung nur bedingt. Frau von Weissenburg hielt einen Karton in den Händen, nicht von schwerem Gewicht; sie jonglierte ihn mit Leichtigkeit. «Guten Morgen.» Sie huschte an Valérie vorbei und peilte die Küche an, welche durch eine Milchglastür vom Wohnzimmer abgetrennt war. Sie stellte den Karton ab, schob ihn mit dem Fuss hinein. «So, da bin ich. Ich musste endlich die Bastelarbeit wegräumen. Gestern waren unsere Enkelkinder da. Nach ihrem Weggehen sieht es meist chaotisch aus bei uns.» Frau von Weissenburg warf ihrem Mann einen verschwörerischen Blick zu. «Wollen wir uns in die Stube setzen?»

Valérie betrat den Raum und staunte über die moderne Einrichtung. Zwei weisse Ledersofas standen sich gegenüber, getrennt durch einen rechteckigen Glastisch, auf dem, wenn sie genau hinsah, der Abdruck von Kinderhänden zu sehen war. Ein mannsgrosser Elefantenfuss im Tontopf stand neben einem Fenster. Die linealischen Laubblätter, die in der Menge einmal mehr gewesen sein mussten, hingen schlaff daran. Gegenüber befand sich ein weisses Fernsehmöbel mit einem Flachbildschirm, der fast die ganze Wand einnahm.

Valérie blieb stehen, derweil Fabia sich vor das zweite Fenster stellte. Sie vergewisserte sich, ob man die Kapelle von hier aus zu sehen vermochte. Herr und Frau von Weissenburg setzten sich auf das eine Sofa. Sie legten synchron die Hände auf ihre Knie und musterten die Besucherinnen. Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte die Frau pechschwarze Haare, vermutlich gefärbt. Ein verzweifelter Versuch, ihrem Älterwerden ein Schnippchen zu schlagen.

«Sie haben heute Morgen um zehn vor vier die Feuerwehr über den Brand informiert», begann Valérie, nachdem sie einen Schreibblock aus ihrer Jackentasche hervorgeholt hatte. Sie schlug den Block auf und setzte die Mine ihres Kugelschreibers auf das leere Blatt an. «Wann genau haben Sie das Feuer entdeckt?»

Die Köpfe der Befragten drehten sich zueinander um. «Um halb vier», sagte Herr von Weissenburg.

«Es war wesentlich später», widersprach ihm seine Frau im Ton der Überzeugung.

«Nein, du hast mich um halb vier geweckt wegen des Brandgeruchs, erinnerst du dich?»

Sie hatten sich vorher also nicht abgesprochen, ging Valérie durch den Kopf. Frau von Weissenburg machte einen zerstreuten Eindruck.

«Haben Sie das Feuer von diesem Fenster aus gesehen?» Fabia wandte sich an die von Weissenburgs.

«Nein, das war oben. Unser Schlafzimmer liegt bei den Mansarden.»

«Ist Ihnen jemand aufgefallen, der zu der Zeit die Kapelle verlassen hat?»

«Ich habe nicht darauf geachtet.» Frau von Weissenburg blieb ruhig sitzen.

Ihr Mann dagegen schlug das linke über das rechte Bein. Es sah aus, als empörte er sich. «Klara kann Feuer nicht widerstehen.»

Valérie wechselte den Blick zwischen den beiden Leuten. Für sie war dieses Faible nichts Neues. Feuer faszinierte so manchen Erdenbürger. Warum nicht auch Frau von Weissenburg? Nach dem ersten Schreck musste wohl die Faszination obsiegt haben. «Gab es deshalb eine Verzögerung zwischen Ihrer Feststellung und dem Anruf an die Feuerwehr?»

«Adrian hat angerufen … Ich glaube, er hat gezögert.»

«Das stimmt nicht», widersprach Herr von Weissenburg.

Valérie befürchtete, dass sie so nicht weiterkam. Sie fing Fabias Achselzucken ein und war sich nicht schlüssig, ob hier gerade etwas vertuscht oder verschwiegen oder bloss eine Zwistigkeit unter den Eheleuten ausgetragen wurde.

«Wir befürchteten, dass sich das Feuer beim Kapellendach auf unser Haus ausbreiten könnte.» Herr von Weissenburg übernahm die Gesprächsführung. Er hatte seine rechte Hand auf den Arm seiner Frau gelegt und kniff ihn, wenn sie bloss den Mund aufmachte. Valérie entging diese Geste nicht. «Kann sein, dass wir ein wenig gewartet haben … Verstehen Sie uns nicht falsch. Wir standen unter Schock. Da kann sich eine Sekunde zu Minuten ausdehnen. Ich habe die Feuerwehr angerufen. Danach den Rössli-Wirt.»

«Das deckt sich mit seiner Aussage.» Fabia stiess sich von der Wand ab.

Valérie hatte das bange Gefühl, auf Granit zu beissen.

«Es gab einen Toten, oder?» Herr von Weissenburg hielt den Arm seiner Frau weiterhin im eisernen Griff.

«Darüber können wir nicht reden», sagte Valérie. «Es ist Bestandteil laufender Ermittlungen.»

«Der Rössli-Wirt hat ihn gesehen.» Herr von Weissenburg streckte seinen Rücken durch, wie zum Zeichen, Mitwisser von etwas Geheimnisvollem zu sein. «Es sei Zahir Kälin, der Sigrist.»

Valérie liess sich ihre Überraschung nicht anmerken. «Kannten Sie ihn näher?» Jedes noch so kleine Detail an seiner Reaktion konnte wichtig sein.

«Jein!», kam es aus beiden Mündern gleichzeitig.

«Was heisst das konkret?»

«Wir kannten ihn vom Sehen», sagte von Weissenburg. Er hielt das Zepter wieder in der Hand. «An den Feiertagen verblüffte er uns jeweils mit seinen Lichtanimationen. Er hatte halt etwas absonderliche Ideen, die Gemeinde in die Kapelle zu locken. Die Oberbonzen von den Inseln dort drüben», er fuhr seinen Arm aus und hätte seine Frau fast geschlagen, «sieht man sonst nie in einer Messe. Aber wenn es funkelt und glimmert, kommen die jungen Mütter noch so gern mit ihren Kindern und ergötzen sich daran. Das ist für die pure Unterhaltung.»

«Ist nicht der Vikar zuständig?», fragte Fabia.

«Wofür?»

«Für die Feierlichkeiten.»

«Der Vikar ist ein konservativer Mann. Das Umsetzen von modernen Ideen hat er Kälin überlassen.» Von Weissenburg zog seine Hand zurück. «Oder wie beurteilst du es, Klara?»

«Na ja, immerhin hat er es geschafft, mit seiner Phantasie auch junge Leute in die Kirche zu holen.»

«War für den heutigen Bettag etwas vorgesehen?», fragte Valérie. «Haben Sie Kenntnis davon?»

«Also, aufgefallen ist uns nichts. Wir hatten uns noch gewundert. Vor einem Jahr, also am Bettag, hat Kälin die strassenseitige Fassade der Kapelle mit einer Leinwand überziehen lassen und einen Film darauf gezeigt. Halb Hurden war da … Vor allem die Insulaner.»

«Was für einen Film?», fragte Valérie und machte emsig Notizen.

«‹Jesus Christ Superstar›», sagte von Weissenburg. «Aber was dieser Streifen mit dem Bettag zu tun hatte, das wissen die Götter.»

***

«Die ersten Resultate aus der Rechtsmedizin sind eingetroffen», verkündete Valérie am frühen Nachmittag im Sitzungszimmer, in welchem sich ein Dutzend Leute eingefunden hatte. Caminada und Zanetti waren zugegen sowie Henry Vischer, der Polizeipsychologe. Die geplanten Sonntagsaktivitäten hatte Valérie ins Kamin streichen müssen, auch Louis und Fabia hatten ihre Pläne geändert. Valérie hatte sich gewünscht, sie im Ermittlungsteam dabeizuhaben. Louis hatte sich zuerst quergestellt, weil er mit seiner Freundin Carla Benizio eine Reise ins Bündnerland geplant hatte. Eine Art Friedenserklärung aufgrund ihrer täglichen Streitereien, hatte er durchblicken lassen. Auf Valéries Bitte hatte auch er kurzfristig umdisponiert.

Valérie fächerte die von Stieffel übermittelten Dokumente auseinander, die sie vor der Besprechung bereits gelesen hatte. «Das Opfer heisst Zahir Kälin. Er war wahrscheinlich nicht an den Folgen einer Rauchvergiftung gestorben, wie wir zuerst annehmen mussten. Gemäss Legal-Inspektion ist eine Verletzung am Hinterkopf die mögliche Todesursache. Vermutlich durch einen harten Gegenstand. Ob ein Balken Verursacher war, wird zurzeit abgeklärt.»

«Mit dem Feuer wollte man offensichtlich einen Mord vertuschen», sagte Fabia. «Ein Mord an einem Gottesmann», worauf Louis ihr belustigt entgegensetzte, dass ein Sigrist eher ein Lakai sei.

«Ich gehe davon aus, du hast seinen Lebenslauf bereits gecheckt sowie allfällige Hinterbliebene ausfindig gemacht.» Valérie spürte die Spannung, die sich seit dem Morgen zwischen Fabia und Louis aufbaute. Das, was vor zwei Jahren passiert war, hatte sich bislang keinen Weg aus ihren Köpfen gebahnt. Sie hatten vergessen, es zu thematisieren, und es würde wohl latent vorhanden bleiben – die Affäre zwischen ihnen.

«Jep. Kälin hinterlässt eine Frau und zwei Kinder.»

«Hast du sie aufgesucht?»

«Sie waren nicht zu Hause», sagte Louis. «Von einer Nachbarin erfuhr ich, dass sie am Freitag verreist seien.»

«Wohin?

«Das konnte sie nicht sagen.»

«Würdest du dich bitte darum kümmern?» Valérie atmete tief durch. «Danke», setzte sie nach, und ihr Blick traf sich mit dem von Louis. Er lächelte ihr zu und nickte. «Es könnte ein Unfall gewesen sein. Wie wir von Zeugen wissen, war Kälin bekannt dafür, an den Kirchenfesten mit Lichtanimationen aufzutrumpfen. Vielleicht hatte er diesmal etwas in der Kapelle vorbereitet, das mit Feuer zu tun hat.»

«Das ist anzunehmen», sagte Schuler. «Eine Feuerschale wurde sichergestellt.»

«Ein Feuer in der Kirche?», fragte Louis. «Würde wohl eher zur Osternacht passen. Aber anscheinend hatte Kälin grosse Freude an Licht. Ein Feuerchen während der Bettags-Messe wäre mal ganz was Neues gewesen.»

«Wir müssen uns sämtliche Elemente in der Umgebung der Hurden-Kapelle näher ansehen», sagte Valérie, «den Zustand des Toten, die Leute, die ihn näher kannten oder mit ihm zu tun hatten. Wir müssen den Tatort finden, falls er nicht in der Kapelle umgekommen ist, und die Befragungen ausdehnen bis hinüber zu den Inseln.» Valérie richtete sich an Franz Schuler, den Leiter des KTD, und erwartete ein Wunder von ihm. Dass er vorwärtsgemacht hatte und brauchbare Ergebnisse liefern konnte. Natürlich war es zu früh für solch weitreichende Schlüsse. Dennoch hoffte Valérie auf einen Erfolg. «Gibt es nebst der Feuerschale erste Informationen?» Sie deutete auf eine Kassette, die er vor sich auf den Tisch gestellt hatte. Die rot angesengte Farbe schimmerte durch einen Asservatenbeutel.

Schuler räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. Es fiel Valérie auf, dass der dominante Ehering fehlte. «Diese lag unter den Trümmern des Altars. Sie war unverschlossen, der Deckel war zu. Ein Glück. Somit blieb deren Inhalt unversehrt.» Er zog sie aus dem Plastiksack. «Sie wurde bereits auf Fingerabdrücke überprüft. Die Auswertung steht noch aus.» Er hob den Deckel an, griff nach einer Papierrolle und legte diese vor sich hin.

«Kein Geld?», fragte Louis offensichtlich enttäuscht.

Schuler rollte das Papier auf und beschwerte es an den Längsseiten mit je einem Wasserglas.

«Was. Ist. Das?» Valérie konnte sich nach diesem Anblick keinen Reim auf irgendetwas machen. Sie erhob sich, ging um den Gemeinschaftstisch herum und stellte sich hinter Schuler. Sie sah ihm über die Schultern. Das Bild war nicht scharf, eine Zeichnung, wahrscheinlich fotografiert und auf ein gewöhnliches A4-Papier kopiert. Es zeigte die heilige Maria. Auf dem rechten Arm hielt sie das Jesuskind, in ihrer anderen Hand lag ein Stab, genauso vergoldet wie die Krone auf ihrem Haupt. Mit Ausnahme der Krone, des Stabs, eines Bogens unterhalb des wallenden Gewands und blauer Wolken, auf denen sie stand, verschwand die Zeichnung fast in einem verblassten Grau. Dennoch ging von ihr etwas Kraftvolles aus, auch die angedeuteten Flammen rings um die Figur wirkten prägnant. Sie konnten ein Feuer darstellen oder die Aura der heiligen Maria, wobei Valérie Letzteres vermutete und Ersteres nicht ausschloss. «Hat man diese Zeichnung in der Hurden-Kapelle gesehen? Könnte eine Wandzeichnung sein.»

«Oder ein Heiligenbild, wie man es früher in den Gebetsbüchern mitgetragen hat», insistierte Fabia. «Einfach stark vergrössert.»

«Nein, in der Hurden-Kapelle hing sie mit Bestimmtheit nicht.» Der Polizeifotograf verwies auf die Pinnwand, an die er ein paar Fotos bereits angeheftet hatte. «Vom Eingang gesehen rechts befand sich die Kreuzigung Christi mit den beiden Frauen Maria und Maria Magdalena. Das Wandbild wurde durch das Wasser verwüstet. Auf der gegenüberliegenden Wand thronte die Gottesmutter mit dem Jesuskind, eine Statue. Sie blieb praktisch unversehrt. Wir haben einen Abgleich mit vorhandenen Fotos aus der Zeit vor dem Brand gemacht. Uns ist aufgefallen, dass das Kreuz, das an der Decke vor dem Altar hing, fehlt. Dabei handelt es sich um ein hölzernes Kruzifix. Um es von seinem Platz herunterzuholen, bedurfte es mit Sicherheit einer Leiter. Von einer Leiter war jedoch weit und breit keine Spur. Und das Kreuz ist definitiv weg.»

«Könnte es nicht während des Brands runtergestürzt sein?», fragte Valérie, der die Verwüstung der Kapelle präsent war.

«Wir haben nirgends ein Kreuz gefunden, auch kein verbranntes», informierte Schuler.

«Vikar Huwiler, der uns darauf eine Antwort liefern könnte», sagte Louis, «befindet sich nach wie vor in Spitalpflege. Vor morgen Abend sei er nicht zu sprechen. Er wüsste sicher mehr darüber. Vielleicht hatte er es selbst entfernt, und die Kassette war Bestandteil seiner Messe für den Bettag.»

«Aber es muss doch jemanden geben, der über die Kapelle Bescheid weiss.» Fabia war entsetzt und abgelenkt. «Wer dort zur heiligen Messe geht, weiss doch, was an den Wänden hängt oder hingemalt ist.»

«Gewiss», sagte Louis, «aber kaum jemand wird sich Gedanken darüber machen, wie man ein Kreuz vom unteren Dachbalken holt. Ob es seit Längerem fehlt, darüber kann uns nur Vikar Huwiler etwas sagen.»

«Oder jemand, der es für eine Restauration abgeholt hat.» Valérie wollte sich nicht länger mit der Frage um das verschollene Kreuz beschäftigen und beauftragte Fabia, dies abzuklären. «Im Moment hat der Tod des Sigristen höchste Priorität.» Sie kehrte an ihren Platz zurück und liess den Blick über die Köpfe schweifen. «Haben die Zeugenbefragungen zu brauchbaren Resultaten geführt?»

«Wir müssen die Aussagen zuerst vergleichen und auswerten.» Louis schnappte sich ein Sandwich, das auf dem Tisch in einem Korb lag. «Viel Brauchbares war nicht darunter.»

Während einer Viertelstunde hörte sich Valérie die protokollierten Informationen einiger Hurdener an. Mit Ausnahme der von Weissenburgs und des Rössli-Wirts hatten alle geschlafen, bis sie vom Horn der Feuerwehreinsatzwagen aufgeweckt wurden. Niemand wollte explizit etwas Verdächtiges am Vorabend gesehen oder gehört haben. Damit hatte Valérie rechnen müssen. Hurden galt als verschlafenes Dorf. Knapp dreihundert Einwohner waren gemeldet. Es existierten ein Hotel und zwei Restaurants, die hauptsächlich während des Tages Touristen anlockten. Die Reichen zogen sich in der Regel zurück oder richteten ihr Leben auf die Stadt Zürich aus. Wieder wandte sie sich an Louis. «Hast du etwas über den Sigrist herausgefunden, was für unsere Ermittlungen wichtig sein könnte?»

«Im Moment dürfte es schwierig sein.» Louis strich sich nervös über seine Haare, die er in letzter Zeit wieder hatte wachsen lassen. «Da Sonntag ist, sind die Ämter geschlossen, wo ich eine Auskunft über Zahir Kälin hätte einholen können. Wir müssen bis morgen warten.»

Auch Valérie befürchtete, dass ihr die Hände für den Moment gebunden waren. Sie musste die Resultate der Brandermittler abwarten. Von Res Stieffel hatte sie erst einen kurzen Bericht erhalten, der nicht viel aussagte. Alles schien noch offen. Er wollte sich nicht festlegen.

«Okay, konzentrieren wir uns wieder.» Valérie straffte den Rücken. «Finden wir heraus, ob es in letzter Zeit ähnliche Vorfälle in Kirchen, Kapellen und an heiligen Stätten gegeben hat. In der Schweiz wohl kaum, denn eine solche Nachricht hätte uns erreicht. Dehnen wir die Suche über die Grenze aus.»

«Augenblick mal …» Caminada erhob seine Stimme. «Du gehst von einer Serie aus?»

«Mein Bauchgefühl …» Valérie schluckte es hinunter. Die Art, wie die Tat ausgeführt worden war, liess sie Schlimmes ahnen. Vorläufig wollte sie es für sich behalten. «Ich möchte sicher sein, dass wir nichts übersehen. Es geht mir darum, herauszufinden, ob wir es eventuell mit einem Nachahmer zu tun haben. Wir haben noch zu wenig, um richtig loszulegen. Aber irgendwo müssen wir beginnen.»

ZWEI

Valérie war früh auf dem Sicherheitsstützpunkt in Biberbrugg eingetroffen. Der Morgen begann zu dämmern, und der Parkplatz vor der Kantonspolizei war kaum besetzt. Sie stieg aus und liess ihren Blick über den Kreisel und die Brücke schweifen, über die die Schwyzerstrasse führte. Ein Zug aus Richtung Einsiedeln fuhr in den gegenüberliegenden Bahnhof ein. Das Quietschen der Bremsen war bis hierher zu hören. In der Ferne zeichnete sich der üppige Wald ab, der die «Hohe Rone» wie ein dunkelgrüner Mantel umschloss.

Sie hätten sich wieder versöhnt, hatte Valérie von Colin erfahren. Sehr überzeugt hatte es jedoch nicht geklungen. Auf die Einladung zum Filet Wellington hatte er verzichtet, welches Zanetti wegen der fehlenden Zeit sowieso nicht zubereitet hatte, und Valérie auf die nächste Woche vertröstet, in der er sich wieder bei ihr melden wollte. Das Ganze schien ihr zu suspekt, um es auf Eis zu legen. Vielleicht müsste sie sich überwinden und mit Angela reden.

Valérie begab sich zum Gebäude, blieb vor dem Eingang kurz stehen und sah die Fassade hoch. In den Fenstern spiegelte sich der erwachende Tag, die Wolken am Himmel, die einen Wetterumschlag ankündeten. Für den Nachmittag war Regen angesagt.

Im Frühling vor fünf Jahren hatte Valérie den Stützpunkt zum ersten Mal betreten. In der Zwischenzeit war viel geschehen. Sie hatte sich von Willy Lehmann scheiden lassen, ihre ausgewanderte beste Freundin Katja an Südafrika verloren, eine verrückte Staatsanwältin kennengelernt und erlebt, wie diese den Job aufs Spiel gesetzt und ihn schlussendlich verloren hatte. Ihr Platz war für Emilio Zanetti, ihren Nachfolger, frei geworden und hatte Valéries Leben eine glückliche Wende gegeben. Und Colin hatte den Weg zu seiner Mutter zurückgefunden. Dass Valérie angekommen war, konnte sie von sich nicht behaupten. Seit sie mit Zanetti zusammenlebte, hatte sich Routine eingeschlichen, nicht beruflich, so doch privat. Ihre freie Zeit war vorgegeben: essen, schlafen, Sport – in der Reihenfolge. Manchmal lagen auch Ferien drin, doch meistens waren diese nicht sehr entspannt, weil ihr Job ihnen oft zu viel abverlangte und sie beide nicht einfach einen Schalter umkippen und darauf hoffen konnten, alles zu vergessen. Ein letztes verlängertes Skiwochenende hatten sie Ende Februar in der Lenzerheide verbracht und die Sommerferien getrennt beziehen müssen, weil Zanetti mit einem Fall gefordert war. Sie waren deshalb in ihrem Mietshaus in Küssnacht geblieben und hatten von da aus ein paar Ausflüge unternommen.

Valérie wünschte sich manchmal mehr Abwechslung. Das Spontane fehlte ihr. Einmal im Leben wieder etwas Verrücktes tun wie in ihrer jungen und unbeschwerten Zeit. Es gab Momente, in denen sie die Frau beneidete, die sie einmal gewesen war. Die junge Jurastudentin, die sich endlich von ihrer Vergangenheit in Fully losgerissen hatte. Das Studium in Zürich, ihre Freunde, durchtanzte Nächte und solche, in denen sie bis zum Morgengrauen am Pult gesessen und gelernt hatte.

Zanetti sah es anders. Er war ein Mensch, der Strukturen und Ordnung in seinem Leben brauchte. Nach der unregelmässigen Arbeit kam er gern nach Hause und liebte nichts so sehr, wie sich in die Horizontale zu legen und Musik zu hören. Zugegeben, er war noch immer ein phantastischer Liebhaber und ein ausgesprochen guter Koch. Und doch hatte Valérie das Gefühl, das Leben schramme an ihr vorbei.

Sie öffnete die Tür und betrat den dahinterliegenden Flur. Der Korridor gähnte ihr leer entgegen, und in der Luft lag der flüchtige Geruch nach Kaffee. Sie drückte den Lichtschalter. Kaltes Neon füllte den Raum aus, liess weder eine Ecke noch einen Winkel im Schatten zurück. Valérie ging zum Lift. Sie fuhr hoch. Auch auf ihrer Etage begegnete ihr niemand. Es war halb sieben, und einige Mitarbeiter hatten sich bereits in ihre Büros zurückgezogen.

Ihr Büro lag Richtung Osten mit Blick auf einen Teil des Waldes und den Fluss Alp. Die Sonne war im Begriff, durch die Wolken über die Baumspitzen zu klettern. Ein Goldton ergoss sich über das Grün, in das sich sanfte Spuren herbstlich getönten Laubs mischten. Die ersten Bodennebel waberten über das Wasser, das träge vor sich dahinplätscherte.

Sie hatte sich längst an ihren Arbeitsplatz gewöhnt. Er vermittelte ihr die Ruhe, die sie draussen nicht fand. Der Blick ins Grüne wirkte wie Meditation. Die seltsamen Erscheinungen wie zu Anfang ihrer Zeit im Kanton Schwyz waren nicht mehr aufgetaucht. Valérie hatte den Boden unter den Füssen wiedergefunden, nicht zuletzt auch wegen Zanetti.

Valérie setzte sich ans Pult, versuchte die Dinge des Vorabends in ihr Gedächtnis zu rufen. Louis hatte endlich Frau Kälin sprechen können und ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht. Er hatte Valérie spätabends darüber informiert, dass er zusammen mit Vischer bei ihr gewesen war. Man habe sie mit der Ambulanz abholen müssen, weil sie zusammengebrochen war. Für die zwei kleinen Kinder sei kurzfristig Frau Kälins Mutter eingesprungen. Es gab viele unbeantwortete Fragen, die Valérie klären musste. Was wusste zum Beispiel die Witwe über ihren verstorbenen Mann? Ob es Anzeichen gegeben hatte, dass ihm jemand schaden wollte? Sie griff nach dem Telefonhörer auf der Festnetzstation und wählte Louis’ Handynummer.

Louis meldete sich mit belegter Stimme. «Sag nicht, dass du bereits auf dem SSB bist. Ich dachte, ich sei früh dran.»

«Bist du unterwegs?»

«In zehn Minuten werde ich dort sein.»

«Das trifft sich gut. Hast du etwas von Frau Kälin gehört?»

«Ja, ich hatte gerade ein Telefon mit ihrer Mutter. Sie teilte mir mit, dass es ihrer Tochter den Umständen entsprechend besser gehe, was immer das heisst. Gestern hatte sie wie ein Tier geschrien. So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Sie sei wieder zu Hause.»

«Wir werden gleich zu ihr fahren. Wartest du unten auf dem Parkplatz auf mich?»

«Und wann findet das Briefing statt?»

«Am frühen Nachmittag reicht. Ich werde das Wichtigste in einer Rundmail mitteilen.»

Louis räusperte sich ein paarmal.

«Alles okay?» Valérie kannte Louis mittlerweile so gut, dass er ihr nichts vormachen konnte.

«Ja.»

«Aber?»

Er druckste herum. «Ich hatte wieder mal Zoff mit Carla.»

«Das scheint zur Gewohnheit zu werden.» Valerie erinnerte sich an vor vier Wochen, als Louis mit einem kleinen Koffer im Büro eingetroffen war, nachdem er von zu Hause Reissaus genommen hatte. Er hatte in seinem Büro übernachtet, auf einer Matte, die man beim Campieren benutzte. Mit Ausnahme von Valérie und der Zugehfrau hatte niemand davon erfahren.

«Zumindest einmal im Monat wird’s so richtig heftig», sagte Louis. «Carla ist dann so was von wankelmütig. Heute Morgen flippte sie dermassen aus, dass ich die Wohnung ohne Frühstück verliess.»

«Wir können unterwegs Kaffee trinken», schlug Valérie vor und empfand Mitleid für ihren Kollegen.

«Lass gut sein. Ich habe bereits ein Sandwich verdrückt.»

«Ich bin in ein paar Minuten unten. Wir können auf dem Weg nach Pfäffikon weiterreden.» Nachdenklich legte Valérie den Hörer zurück. Ohne Louis vermochte sie sich den Polizeialltag nicht mehr vorzustellen. Wenn es ihm schlecht ging, litt auch sie. Sie mochte seinen subtilen Humor und seine Gutmütigkeit. Er wollte es vor allem seiner Freundin Carla immer recht machen und nahm einiges von ihr in Kauf. Wie oft hatte er sein Herz bei Valérie ausgeschüttet. Carla war jung, eigenwillig und kompromisslos. Valérie hatte sie im Verdacht, dass sie Louis ausnutzte. Dies vor ihm zu äussern, fand sie jedoch unangebracht. Es war seine Sache.

Auf dem Korridor begegnete sie Caminada, der offenbar zu ihr wollte. Sein Büro lag einen Stock höher, direkt über Valéries.

Er schwenkte eine Zeitung vor seinem Gesicht, schien aufgebracht. «Diese Schlagzeilen haben mir den Tag verdorben.»

«So schlimm?» Valérie schloss ihr Büro ab. Hinter dem Ärger musste etwas anderes stecken.

«Ich habe keine Ahnung, weshalb der Boulevard immer so schnell zu solchen Schlüssen gelangt.» Caminada reichte ihr das Blatt, wischte mit der Hand über den Titel. «Gut vierundzwanzig Stunden sind vergangen, und die Journalisten liefern bereits eine Erklärung für den Brand in Hurden. Gestern ging ein Dreizeiler an alle Medien raus, von dem hier», Caminada tippte auf das Papier, «war nie die Rede.»

Valérie erhaschte einen Blick auf die roten Lettern, während sie nach der Zeitung griff. «‹Feuerwehr und Polizei zu spät eingetroffen›. Die spekulieren. Das darf man nicht allzu ernst nehmen.»

«Jemand will uns wieder mal ans Bein pinkeln.»

Valérie las die Schlagzeile unterhalb des reisserischen Titels. «‹Erste Pläne für eine Überbauung in Hurden aufgetaucht›. ‹Wurde das Feuer deshalb gelegt?›» Sie suchte nach dem Kürzel unter dem gesamten Text und atmete erleichtert auf. Der Bericht ging nicht auf Carlas Konto. Jemand anderer musste seine morbide Phantasie ausgelebt haben. Solche Berichte griffen der Polizei meist vor, verunsicherten die Leute und sorgten für Falschannahmen. «Von dem Toten steht hier dagegen nichts.» Valérie drückte Caminada die Zeitung in die Hand. «Ich fahre jetzt gleich zur Witwe des Toten. Anschliessend werde ich Res Stieffel besuchen.» Sie hatte seine Notiz per WhatsApp bekommen, mit der Bitte, sie möge sich vor dem Mittag bei ihm melden. «Es wird meine erste Brandleiche sein.»

***

«Wie geht es Ihnen heute?»

«Ich habe ihn wieder gesehen.» Elisha sagte es, bevor er auf dem Sitz Platz genommen hatte. Das weisse Leder verströmte einen eigenartigen Geruch. Der Sessel war unbequem, wie ein Klotz mit Vertiefung und einer Rückenlehne, die sich von den Seitenlehnen in der Höhe kaum unterschied. Wer hier sass, durfte sich offensichtlich nicht wohlfühlen. Ein Designerstück, wie alles in diesem Raum. Spartanisch eingerichtet, schnörkellos auch das Fenster, an dem keine Vorhänge hingen.

Elisha verzichtete auf die Liege, die ihm Dr. Frigo angeboten hatte. Er war weder zum Vergnügen noch zur Entspannung hier. «Ich habe ihn in Rapperswil gesehen und bin ihm über den Holzsteg bis nach Hurden gefolgt.»

«Wollen Sie ihn mir noch einmal beschreiben?»

«Das habe ich bereits letzte Woche getan.» Elisha zweifelte an Dr. Frigos Kurzzeitgedächtnis.

«Es hängt von Ihren Wahrnehmungen ab.» Dr. Frigo setzte ein gefrorenes Lächeln auf. «Die sind nicht immer gleich.»

Elisha war sich nie sicher, ob er seinem Mentor zu hundert Prozent vertrauen konnte. Ein Restrisiko blieb, dass dieser der gleichen Spezies angehörte, die ihn verfolgte. «Es sind die Augen», sagte er.

«Beschreiben Sie mir die Augen», forderte Dr. Frigo ihn auf. «Was ist anders als bei gewöhnlichen Augen?»

Die Lehne drückte und schmerzte im Rücken. Vielleicht hätte Elisha sich ausnahmsweise auf die Liege legen und Dr. Frigos Einladung annehmen sollen. Auf die weiche Unterlage, die ihm etwas Linderung verschafft hätte. Noch waren die Narben frisch von seiner Selbstkasteiung. Wie tausend Nadeln quälten ihn die Wunden. Einmal in der Woche schlug er sich mit einer Peitsche den Rücken blutig. Ein Schmerz, der alles andere übertünchte. Nach der Folter ging es ihm jeweils besser, und er schaffte es, die Zeit danach entspannter zu bewältigen. Eine Gnadenfrist, die alles Schlechte ausblendete. Eine Nichtzeit zwischen den Zeiten. Gut, dass Dr. Frigo es nicht wusste. Er vermochte ihm zwar in die Seele zu blicken, der Körper jedoch war ihm fremd. «Er hat Augen wie eine Echse, deren Pupillen eine senkrechte, schlitzartige Form aufweisen.»

Dr. Frigo wartete mit einer Erwiderung. Elisha fühlte sich genötigt, seine Beobachtungen mit einer Ergänzung zu untermalen. Dass er es genau gesehen hatte. Die grün-braune Iris mit der lang gezogenen Pupille. Er schwieg, weil er nicht wollte, dass Dr. Frigo ihn als Idioten sah. Die Sitzungen bei ihm hinterliessen einen schalen Nachgeschmack. Jedes Mal, wenn Elisha den Therapieraum verliess, klebte das Gefühl an ihm, Dr. Frigo nähme ihn nicht ernst. Manchmal verschrieb er ihm neue Medikamente, deren Wirkung er in Frage stellte.

Der Raum war abgedunkelt. Draussen schien die Sonne. Ihre Strahlen erreichten die halb heruntergelassenen Markisen und malten Streifen an die Wand. Ein Bild von Chagall hing dort. Ein fliegender Engel auf düsterem Grund. Elisha konnte sich nicht erklären, weshalb er sich von diesem Bild dermassen angezogen fühlte. Schon während der letzten Therapie hatte er immerzu dieses Gemälde anstarren müssen. Es war, als spiegelte dieser Engel sein eigenes Leben. Abgehoben von allem, nicht wirklich da.

«Haben Sie ihn so genau angesehen?» Dr. Frigo riss ihn aus seinen Gedanken.

«Er stand direkt vor mir. Und ich weiss, es war kein Mensch.»

***

Mathilda Kälin sass vornübergebeugt und mit abgestützten Ellenbogen am Küchentisch. Ihr Kopf lag schwer auf ihren Händen. Alles, was um sie herum geschah an diesem Morgen, fühlte sich wie etwas Surreales an. Das mochte an den Medikamenten liegen, die sie auf Anraten ihres Arztes geschluckt hatte, damit ihre Gedanken nicht explodierten. Nein, nichts war erträglicher geworden; sie nahm es bloss gelassener wahr. Die Rückkehr aus Lugano, der Besuch der Polizei, die Hiobsbotschaft, der Zusammenbruch – alles schien in weiter Ferne zu sein. In einer anderen Welt, in einem fremden Leben. Sie starrte auf das Fotoalbum vor ihr, das sie auf der Seite ihres Hochzeitstages aufgeschlagen hatte. Sie wollte sich Zahirs Gesicht vor Augen führen. Seine ausgeprägten Züge, die hellen Iriden, die einen eigenartigen Kontrast zu seiner dunklen Haut bildeten. Mathilda hatte vergessen, wie Zahir aussah. Während der ganzen Nacht hatte sie vergebens und verzweifelt nach den Erinnerungen an sein Aussehen gesucht. Zahir war aus ihrem Gedächtnis verschwunden wie der Mond hinter den Wolken, dessen Bahn sie eine Zeit lang verfolgt hatte. In vergangener Nacht.

Mathilda vermochte nicht, sich zu rühren. Es war ihr, als hätte jemand sie in Ketten gelegt. Ihre Füsse standen wie angenagelt auf dem Boden. Ihr ganzer Körper war steif.

Camenzind hätte den Satz nicht beenden müssen. Bereits die ersten zwei Worte hatten verraten, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Als Zahirs Name im Zusammenhang mit einem Kapellenbrand fiel, hatte sich Mathilda an der einen Seitenlehne des Sofas festgekrallt, um nicht laut zu schreien. Sie hatte den Schrei zuerst innerlich ausgestossen, bevor er ungehalten ihrem Mund entfuhr. Ein stechender Schmerz hatte ihn begleitet, etwas, das sich wie ein Zerbersten anfühlte. Als bräche etwas in ihr entzwei. Dann die Ambulanz, ihre Mutter, die unverzüglich hergefahren war. Ein Film lief in ihr ab, und sie schaute zu.

«Mathilda?» Mutter stand plötzlich da, sah über ihre Schultern auf das Fotoalbum und die aufgeschlagene Seite. «Valérie Lehmann von der Kripo Schwyz ist da, zusammen mit Herrn Camenzind, den du ja schon kennst.»

Mathilda kehrte in die Gegenwart zurück. Sie wollte niemanden sehen, weder hören noch reden. Wollte sich bloss an den Erinnerungen festhalten, welche den Schmerz stetig vergrösserten, und erfahren, wie weit sie damit gehen konnte, bis sie vor Gram wiederholt zusammenbrach. Denn das, was gerade geschah, hielt kein normaler Mensch aus.

Sie war jetzt eine Witwe wie die alte Frau in der Wohnung nebenan, die ihren Mann vor einem halben Jahr verloren hatte. Sie trauerte noch immer. Ihr Lebensgefährte war dement und über achtzig gewesen, der Tod eine Erlösung.

Mathilda schluchzte auf. Sie selbst war keine vierzig. Ihre Kinder waren zwei und drei Jahre alt. Sie sah keine Zukunft, nicht heute. Jeder Gedanke an den nächsten Tag drohte sie in einen Abgrund zu reissen, aus dem es kein Entrinnen geben würde. Sie hatte ihren Mann verloren und damit ihr ganzes Leben.

Die Frau unter dem Türrahmen hatte eine Narbe im Gesicht. Es war das Erste, was Mathilda missfiel. Die Narbe passte nicht. Auf dem Gesicht eines Mannes hätte sie sie eher akzeptiert. Aber nicht bei ihr.

«Valérie Lehmann», sagte die Frau. «Das ist mein Kollege Louis Camenzind. Er war gestern kurz hier.»

Kurz, dachte Mathilda verbittert. Diese kurze Zeit hatte gereicht, um ihr Lebenskonstrukt zum Einsturz zu bringen.

«Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?»

«Habe ich eine Wahl?»

«Mathilda», sagte Mutter. «Es ist wichtig.»

«Wichtig?» Mathilda schluchzte erneut auf. Sie konnte es nicht kontrollieren. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. «Ich habe Zahir verloren. Was ist denn jetzt noch wichtig?»

«Ich werde mich um die Buben kümmern.» Mutter führte Kovu und Kito aus der Küche. Die Jungs waren zu klein, um zu begreifen, was geschehen war. Vielleicht spürten sie es.

Mathilda presste ihre Arme um ihren Körper. Würde sie die Kraft haben, ihren Kindern weiterhin eine gute Mama zu sein? Keine einzige Träne löste sich. Sie hatte nicht weinen können und wunderte sich. Der Schmerz war in ihr gefroren, einem Eisberg gleich, der weit hinabreichte in unergründliche Tiefen. Sie hätte doch weinen müssen.