Bürgerkriege - Barbara F. Walter - E-Book
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Bürgerkriege E-Book

Barbara F. Walter

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Beschreibung

 Wie wird ein Staat zu seinem eigenen Kriegsschauplatz?   Immer häufiger kommt es rund um den Globus zu Bürgerkriegen. Barbara Walter ist eine der renommiertesten Expertinnen auf diesem Gebiet. Ihr Buch ist ein Weckruf – ganz besonders für die westliche Welt.  Ein Bürgerkrieg kommt immer scheinbar überraschend – und er kostet Tausende das Leben, zerstört Gesellschaften und die Zukunft von Millionen Menschen. Barbara Walter forscht seit Jahrzehnten zu der Frage, welches die wiederkehrenden Muster sind, die auf eine baldige Eskalation in einer Gesellschaft hindeuten. In den USA ist Barbara Walter bekannt als Mahnerin, die gesellschaftlichen Risse zu kitten, bevor es zu spät ist. Nicht erst seit dem Sturm auf das Kapitol gehört sie zu den gefragtesten Expertinnen im Land. Ausgehend von verschiedenen Bürgerkriegen auf der ganzen Welt erklärt sie in "Bürgerkriege" fundiert und anschaulich, unter welchen Umständen Staaten in Aufruhr und Chaos abgleiten. Ihre Erkenntnisse sind ebenso erhellend wie alarmierend.

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Seitenzahl: 429

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Barbara F. Walter

Bürgerkriege

Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann

Hoffmann und Campe

Für Zoli und Lina

Einleitung

Adam Fox schlug den Teppich beiseite und öffnete die Falltür, die in den Keller des Staubsaugerladens namens Vac Shack in Grand Rapids, Michigan, führte.[1] Der Siebenunddreißigjährige lebte mit seinen zwei Hunden im Keller unter dem Laden, nachdem ihn seine Freundin rausgeworfen hatte. Der Besitzer, ein Freund von ihm, hatte ihm dies als Zwischenlösung angeboten, bis er wieder auf eigenen Füßen stehen konnte.

Der Raum war mit Aktenschränken, Transportboxen für Hunde und Ersatzteilen von Staubsaugern zugerümpelt. Fox war ein vom Leben enttäuschter Mann – und das nicht nur, weil er kein richtiges Zuhause mehr hatte. Er war nicht zum ersten Mal ganz unten angekommen. Schon nach dem Abschluss der Highschool hatte er nur mit Mühe seinen Weg gefunden und sich mit Gelegenheitsaufträgen von Vac Shack knapp über Wasser gehalten. Er hegte einen tiefen Groll gegen die Führung der Demokratischen Partei, der er die Schuld an seiner Misere gab, und ließ in Tweets über Barack Obama und Nancy Pelosi des Öfteren Dampf ab. Erst vor kurzem hatte er in einer örtlichen Miliz ein paar Gleichgesinnte gefunden, doch schon bald wurde er dort wegen seiner Tiraden gegen die Regierung und Streitereien mit anderen Mitgliedern wieder rausgeworfen.

Und nun wütete da draußen auch noch Corona. Detroit und Grand Rapids hatte es so hart getroffen, dass Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer eine Ausgangssperre über den Bundesstaat verhängt hatte.[2] Sie erstreckte sich auch auf ländliche Gebiete, in denen es nur wenige Coronafälle gab. Ende April, nach einer weiteren Runde von Beschränkungen, warf sich Fox in eine Kampfweste, setzte sich eine Baseballkappe auf und machte sich mit Hunderten anderen Protestlern, viele von ihnen bewaffnet, auf den Weg zum Kapitol in Lansing, der Hauptstadt des Bundesstaats Michigan.[3] Zuvor hatte Fox draußen einer Rede von Mike Detmer zugehört, der sich zu dieser Zeit in den Vorwahlen der Republikaner um eine Kandidatur für das US-Repräsentantenhaus bemühte und darüber schimpfte, die Beschränkungen seien unamerikanisch. »Wir stehen in einem Krieg um die Herzen, die Seele, die Traditionen und die Freiheit unseres Staates und unseres Landes«, hatte Detmer erklärt. »Es ist unsere verdammte Pflicht, den Shutdown zu beenden.«[4] Als sich dann Teile der Demonstranten ihren Weg ins Kapitol von Lansing bahnten und versuchten, in den Sitzungssaal des Repräsentantenhauses vorzudringen, war auch Fox dabei.

Doch all das führte zu keinerlei Veränderungen, und je mehr Wochen ins Land gingen, desto rastloser wurde Fox. Im Juni dieses Jahres streamte er live ein Video auf Facebook, in dem er sich über die jüngst erfolgte Schließung der Fitnessstudios beschwerte und Whitmer als »tyrannisches Miststück« titulierte, das von Macht besessen sei.[5] »Ich weiß nicht, Jungs. Wir müssen was unternehmen«, sprach er in die Kamera. Kurz darauf kontaktierte er über Facebook Joseph Morrison, den Anführer einer lokalen Miliz, der Wolverine Watchmen.[6] Morrison soll zugesagt haben, Fox dabei zu helfen, eine neue paramilitärische Gruppe aufzubauen, zu trainieren und zu bewaffnen. Bald scharte Fox weitere Männer für sein Anliegen um sich. Zu jenen, die sich ihm anschlossen, gehörte ein ehemaliger Marineinfanterist, der Orden für Friedenseinsätze und den globalen Krieg gegen Terror erhalten hatte und auch für gute Führung im Marine Corps ausgezeichnet worden war. Ein anderer hatte zuvor eine Grundausbildung bei der Nationalgarde von Michigan begonnen, allerdings nicht abgeschlossen. Einer besaß Verbindungen zur Miliz der Three Percenters, einer war ein Jünger von QAnon, ein weiterer folgte in den sozialen Medien den Proud Boys.

Insgesamt waren sie vierzehn. Etliche hatten sich wie Fox an den Anti-Lockdown-Protesten beteiligt. Bei ihren Zusammenkünften im Keller des Vac Shack sammelte Fox die Mobiltelefone ein, damit niemand die Gespräche aufzeichnen konnte. Sie kamen auch auf einem Grundstück zusammen, das Morrison außerhalb der Stadt besaß, um taktisches Training durchzuführen und Schießübungen abzuhalten. Jeden Samstagnachmittag trafen sie sich dort, verfeuerten Hunderte Patronen und übten sich im Bau von Sprengsätzen.

Sie beratschlagten darüber, ob sie das Kapitol des Bundesstaats stürmen, dabei vielleicht Abgeordnete als Geiseln nehmen und nach ein paar Tagen hinrichten sollten. Sie erwogen auch, die Türen des Kapitols zu verrammeln und das Gebäude mit allen Personen darin in Brand zu setzen. Letztlich war das Kapitol aber doch zu gut gesichert, sodass sie sich auf einen anderen Plan verständigten: Gretchen Whitmer sollte vor der Wahl im November 2020 aus ihrem Ferienhaus im Norden Michigans entführt werden. Anschließend wollten sie sie an einen geheimen Ort in Wisconsin bringen, ihr als Verräterin den Prozess machen und sie töten.[7]

Den August und September verbrachten die Männer damit, Whitmers Haus auszuspähen.[8] Sie planten, bei der Ausführung ihrer Tat die Sicherheitskräfte durch die Sprengung einer in der Nähe gelegenen Brücke abzulenken. Doch das FBI war ihnen bereits auf die Spur gekommen. Schon Anfang des Jahres 2020 war der Sicherheitsbehörde die Gruppierung in den sozialen Medien aufgefallen. Längst war die Gruppe online infiltriert, und man hatte auch schon Informanten gefunden, die bereit waren, eine Wanze zu tragen und so weitere Informationen zu sammeln. Im September hatte das FBI trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die Fox ergriffen hatte, bereits mehr als 13000 Seiten verschlüsselter Textnachrichten, dazu Fotos, Videos und mehr als hundert Stunden Audioaufnahmen zum Beweis des Entführungskomplotts zusammengetragen. Am Abend des 7. Oktober 2020 schlugen die Bundesagenten zu und verhafteten eine Handvoll Verschwörer bei einem fingierten Waffenkauf. Das FBI stürmte den Keller des Vac Shack und durchsuchte ein Dutzend weiterer Schlupfwinkel. Die vierzehn Männer, darunter Fox, wurden wegen Terrorismus, Verschwörung und Verstößen gegen die Waffengesetze verhaftet.[9] Der Besitzer des Vac Shack war völlig perplex. »Ich wusste, dass er in einer Miliz war«, erklärte er Journalisten, »aber es gibt einen Haufen Milizleute, die nicht planen, die Gouverneurin zu entführen. Eine völlig irre Sache.«[10]

Nach den Verhaftungen wurde in den Medien viel über die Ziele der verhinderten Entführer spekuliert. Während die politische Elite Michigans, Demokraten und Republikaner gleichermaßen, die Verschwörung verurteilte, kritisierte Präsident Donald Trump Gouverneurin Whitmer. Sie habe einen »miserablen Job« abgeliefert, twitterte er.[11] Fox selbst hingegen ließ keinen Zweifel an den Motiven der Gruppe. Der Prozess und die Hinrichtung von Whitmer, so erklärte er laut FBI-Akten, sollten andere zu ähnlichen Taten ermutigen. Die Zeit sei reif für eine Revolution, und er und seine Männer würden den Anstoß zum Umsturz der Gesellschaft geben. »Ich sag dir, Alter, die Welt muss brennen«, erklärte er gegenüber einem Informanten. »Anders können wir sie uns nicht zurückholen.«[12]

 

Als ich im Herbst 2020 zum ersten Mal von dem Entführungsplan las, erschrak ich zwar, aber allzu überrascht war ich nicht. Es passte ins Bild dessen, worüber ich nun schon etliche Jahre schrieb und nachdachte. Im Verlauf der vergangenen fünfundsiebzig Jahre hat es Hunderte von Bürgerkriegen gegeben, und es ist geradezu unheimlich, wie ähnlich sie sich oft entwickelten. Im Rahmen meiner Forschungen und als Expertin für diese Art von Konflikten habe ich Mitglieder der Hamas im Gazastreifen, ehemalige Mitglieder von Sinn Féin in Nordirland und der FARC in Kolumbien befragt. Ich stand auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs auf den Golanhöhen und blickte nach Syrien hinüber, bin durch Simbabwe gereist, als das Militär einen Staatsstreich gegen Robert Mugabe plante, wurde von Mitgliedern der Junta von Myanmar verfolgt und verhört. Und ich habe erlebt, dass ein israelischer Soldat sein Maschinengewehr auf mich richtete.

Mit dem Studium von Bürgerkriegen beschäftige ich mich seit 1990, als es noch sehr wenig Datenmaterial zu diesem Thema gab. Man konnte eine Menge Bücher über die Bürgerkriege in Spanien, Griechenland, Nigeria und den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert lesen, aber es gab praktisch keine historischen Studien darüber, welche Elemente über Länder und Zeiten hinweg gleich blieben. Jeder Autor beschreibt seinen Bürgerkrieg als einmaliges Ereignis, und so erkannte niemand die Risikofaktoren, die immer wieder auftauchten, egal wo der Krieg gerade ausbrach.

Doch innerhalb weniger Jahre hatte sich unser Wissensstand erweitert. Der Kalte Krieg war zu Ende, und auf dem gesamten Globus brachen Bürgerkriege aus. Wissenschaftler rund um die Welt begannen, Daten – und zwar erhebliche Mengen von Daten – zu verschiedenen Aspekten dieser Konflikte zu sammeln. Über die größte Datensammlung verfügt heute die Universität von Uppsala in Schweden. Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Friedensforschung (PRIO) in Oslo aufgebaut und wird seit Jahren vom schwedischen Wissenschaftsrat, der Bank of Sweden Tercentenary Foundation, der schwedischen Behörde für internationale Entwicklungszusammenarbeit (Sida), der norwegischen Regierung und der Weltbank finanziert. Speziell ausgebildete Wissenschaftler tragen mit Hilfe eines Netzwerks von Experten verschiedener Länder die Daten zusammen. Heute kann jedermann auf Dutzende Datensätze von hoher Qualität (allesamt dreifach überprüft) zugreifen, die Aufschluss darüber geben, wie Bürgerkriege entstehen, wie lange sie dauern, mit wie vielen Toten zu rechnen ist und aus welchen Gründen sie überhaupt geführt werden. So lassen sich Muster und Risikofaktoren erkennen, mit deren Hilfe wir Prognosen aufstellen können, wo und wann wahrscheinlich künftig Bürgerkriege ausbrechen werden. Was können wir angesichts der Muster, die wir in der Vergangenheit erkannt haben, für die Zukunft erwarten? Damit hat sich eine völlig neue Erkenntnisquelle eröffnet.

Im Jahr 2010 erregte ein Artikel im American Journal of Political Science meine Aufmerksamkeit.[13] Verfasst war er von einem Forscherteam der Political Instability Task Force (PITF), das die US-Regierung 1994 initiiert hatte.[14] Die Experten der PITF hatten Daten über Bürgerkriege aus aller Welt ausgewertet und ein Modell entwickelt, das Voraussagen darüber erlaubte, wo sich mit der größten Wahrscheinlichkeit Instabilitäten entwickeln würden.

Die Idee, Bürgerkriegskonflikte mit wissenschaftlichen Methoden zu antizipieren, war revolutionär. So zögerte ich keinen Augenblick, als ich im Jahr 2017 das Angebot zur Mitarbeit bei der PITF erhielt. Seit fünf Jahren nehme ich nun an deren Besprechungen und Konferenzen teil, in denen es um politisch instabile Regionen rund um die Welt geht – mal um den möglichen Zusammenbruch Syriens, mal um die Zukunft afrikanischer Diktatoren. Aber immer geht es auch darum, wie sich unsere Prognosen auf der Grundlage der vorhandenen Daten verbessern lassen. Stets war es unser Ziel, Gewalt und Instabilität in anderen Ländern vorherzusagen, um den USA eine optimale Reaktion zu ermöglichen.

Allerdings stieß ich bei dieser Arbeit auf etwas Beunruhigendes: Die Warnzeichen der Instabilität, die wir an anderen Orten identifiziert haben, sind dieselben, die ich in den letzten zehn Jahren auch bei uns zu Hause zu bemerken begann. Aus diesem Grund schreckten mich die Ereignisse in Lansing und die Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 so sehr auf. Ich weiß inzwischen, wie Bürgerkriege beginnen, und kenne die Anzeichen, die viele übersehen. Und nun beobachte ich die rasante Zunahme solcher Anzeichen hier bei uns.

Die Pläne einer weißen, nationalistischen Miliz in Michigan zum Sturz der Regierung gehören zu diesen Vorboten. Die Bürgerkriege des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich erheblich von jenen der Vergangenheit. Große Schlachtfelder, Armeen und konventionelle Taktiken sind passé. Heute werden Bürgerkriege hauptsächlich unter ethnischen und religiösen Gruppierungen ausgetragen, von Guerillasoldaten und Milizen, die häufig Zivilisten als Ziel wählen. Bei näherer Betrachtung passen die Unruhen in Michigan genau in dieses Schema. Der Bundesstaat weist eine ausgeprägte Spaltung seiner Bevölkerung auf: Zwei seiner großen Städte, Detroit und Flint, sind mehrheitlich von Afroamerikanern bewohnt, während die ländlichen Gebiete zu 95 Prozent weiß sind. Der wirtschaftliche Niedergang macht den Menschen insbesondere auf dem Land zu schaffen, was Wut, Ressentiments und Radikalisierung zur Folge hat. Schon zuvor herrschte in Michigan eine stark regierungskritische Stimmung, und es gehörte zu den Bundesstaaten mit den meisten Milizen.[15] Es standen also schon gewaltbereite Gruppierungen in den Startlöchern. Insofern ist es kaum überraschend, dass einer der ersten Versuche, einen Bürgerkrieg anzuzetteln, gerade hier stattfand.

Man mag es etwas weit hergeholt finden, den Entführungsplan einer einzelnen rechtsextremen Gruppierung als Vorzeichen eines Bürgerkriegs zu werten. Doch die heutigen Bürgerkriege beginnen mit Milizen genau wie diesen, die Gewalt mitten in die Bevölkerung hineintragen. Solche Gruppen sind heute ein charakteristisches Merkmal von Konflikten rund um die Welt. In Syrien waren die Rebellen, die sich gegen die Regierung erhoben, anfangs auch eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Aufständischen und befreiten Häftlingen, die Seite an Seite mit den Extremisten des IS kämpften. Selbst die größte unter den frühen Rebellengruppen in Syrien, die Freie Syrische Armee, war keine zentral geführte Organisation, sondern ein Bündnis Hunderter kleiner, lose miteinander verbundener Zusammenschlüsse.[16] Ähnliche Verhältnisse herrschen in Afghanistan und im Jemen. Die Zeiten, in denen eine einzige, klar gegliederte und hierarchisch organisierte Kampftruppe in offizieller militärischer Uniform mit konventionellen Waffen kämpft, sind vorbei.

Die heutigen Rebellengruppen setzen auf Guerillataktik und organisierten Terror: Scharfschützen feuern von Dächern herab, selbst gebaute Sprengsätze werden als Paket- und Autobomben oder Minen eingesetzt. Solche Gruppierungen ermorden eher Oppositionsführer, Journalisten oder Polizisten, als dass sie sich an Regierungssoldaten wagen. Abu Mussab al-Sarkawi, der Anführer von al-Qaida im Irak, organisierte Selbstmordattentate gegen alle, die während des irakischen Bürgerkriegs mit der schiitischen Regierung des Irak zusammenarbeiteten. Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer des Islamischen Staates, perfektionierte den Einsatz gewaltiger Autobomben gegen eben diese Regierung. Die Haupttaktik der Hamas gegen Israel ist es, Attentate auf einfache israelische Bürger zu verüben, die ihrem Alltag nachgehen.

Die meisten Amerikaner können sich nicht vorstellen, dass in ihrem Land noch einmal ein Bürgerkrieg ausbricht. Sie sind davon überzeugt, dass unsere Demokratie zu widerstandsfähig und robust ist, um in einen solchen Konflikt zu verfallen. Oder sie sind zumindest der Ansicht, dass unser Land zu reich und zu fortschrittlich ist, um sich selbst zu zerfleischen. Teilweise gehen sie auch davon aus, dass unsere Regierung jederzeit über die Mittel verfügt, eine Rebellion im Keim zu ersticken. Sie betrachten den Plan, Whitmer zu entführen, und den Sturm auf das Kapitol in Washington als isolierte Vorfälle, als die gescheiterten Taten einer kleinen Gruppe gewaltbereiter Extremisten. Aber das liegt nur daran, dass sie nicht wissen, wie Bürgerkriege beginnen.

 

Wenn wir verstehen wollen, wie nahe Amerika vor dem Ausbruch eines Konflikts steht, müssen wir uns mit den Bedingungen vertraut machen, aus denen moderne Bürgerkriege hervorgehen, und sie beschreiben. Das ist die Aufgabe dieses Buches. Bürgerkriege entstehen und eskalieren in vorhersehbarer Weise, praktisch nach einem Drehbuch. Es sind immer dieselben Muster, ob man nach Bosnien, in den Irak, nach Syrien, Nordirland oder Israel blickt. Die folgenden Seiten werden diese Muster erforschen: Wir werden untersuchen, wo üblicherweise Bürgerkriege ausbrechen, wer sie beginnt und was sie auslöst.

Wir werden auch der Frage nachgehen, wie man sie beenden kann. Der Ausbruch eines Konflikts erfordert eine Reihe von Voraussetzungen, die aufeinander aufbauen, so wie sich die Winde zu einem Sturm zusammenbrauen. Während mich die Möglichkeit eines zweiten Bürgerkriegs in Amerika zunehmend alarmierte, habe ich mich zugleich auch immer stärker dafür interessiert, was wir, als Bürger, von Experten lernen können, um den politischen Sturmböen die Spitze zu nehmen. Die Untersuchung der Bürgerkriegsfälle hat uns eines gelehrt: Schon viel zu lange vertrauen wir darauf, dass der Frieden ewig hält, unsere Institutionen jedem Sturm standhalten und unsere Nation einmalig ist. Uns ist klar geworden, dass wir unsere Demokratie nicht als selbstverständlich gegeben nehmen dürfen und dass wir verstehen müssen, was wir für ihren Erhalt tun können.

Einige der Gefahren sind schon deutlich zutage getreten, so beim Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 durch Rechtsextreme, die die Präsidentschaft von Joe Biden zu verhindern hofften, oder in der Politisierung von medizinischen Masken inmitten einer globalen Pandemie. Doch es sind noch tiefer liegende Kräfte am Werk, die zur Kenntnis zu nehmen wir ebenfalls bereit sein müssen. Im vergangenen Jahrzehnt hat unser Land erhebliche Verschiebungen des ökonomischen und kulturellen Machtgefüges erlebt. Die Zusammensetzung unserer Bevölkerung ändert sich, die Ungleichheit wächst. Unsere Institutionen wurden geschwächt und manipuliert, sie dienen den Interessen von Einigen mehr als denen von Anderen. Amerikas Bürger fallen zunehmend Demagogen zum Opfer, die ihre Bildschirme beherrschen und teilweise auch schon in der Regierung sitzen. Ähnliche Entwicklungen kann man in Demokratien rund um die Welt beobachten.

Während wir uns in politische Streitereien um »Karawanen von Immigranten«, die sich aus Südamerika auf die Grenze der USA zubewegen, und die sogenannte Cancel Culture verstrickt haben, sind gewalttätige extremistische Gruppen, insbesondere die der radikalen Rechten, stärker geworden. Seit 2008 gehen über 70 Prozent der von Extremisten getöteten Menschen in den Vereinigten Staaten auf das Konto rechtsextremer Gruppierungen oder weißer Suprematisten.[17] Ihr Anwachsen geschieht oft unmerklich; Extremisten organisieren sich üblicherweise langsam und in aller Heimlichkeit.[18] Es dauerte drei Jahre, ehe die Zapatisten in Mexiko auch nur auf zwölf Mitglieder kamen, und über sechs Jahre, ehe eine Gruppe von dreißig tamilischen Teenagern die Tamil Tigers von Sri Lanka auf die Beine gestellt hatten.[19] Al-Qaida-Führer verbargen sich jahrelang bei den Stämmen in der Wüste von Mali, bevor sie sich der dortigen Rebellion anschlossen. Doch nun tritt auf einmal alles ans Tageslicht. Die Amerikaner überrascht es gar nicht mehr, bei Demonstrationen einzelne bewaffnete Männer zu sehen oder paramilitärische Gruppierungen. Überall in Pennsylvania verkaufen kleine Läden inzwischen die Konföderiertenflagge oder die amerikanische Flagge in Schwarz-Weiß mit einem blauen Streifen – der symbolisiert die Unterstützung der Polizei – und noch viele andere derartige Abzeichen und Symbole. Allmählich spricht es sich herum, dass Autoaufkleber mit einem Kreis von Sternen um die römische Zahl III, der Wotansknoten und das Keltenkreuz keine harmlose Zierde sind, sondern die Symbole rechtsextremer militanter amerikanischer Gruppierungen, die immer sichtbarer, lauter und gefährlicher werden.

Amerika ist ein besonderes Land, aber wenn man die Hunderte von Bürgerkriegen studiert, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgebrochen sind, dann fängt man an zu verstehen, dass auch wir nicht gegen Konflikte gefeit sind. Wut, Missgunst und den Wunsch, über seine Gegner zu triumphieren, gibt es auch hierzulande. Auch die Amerikaner kämpfen um die politische Macht, wenn es gilt, ihren Way of Life zu verteidigen. Auch sie kaufen Waffen, wenn sie sich bedroht fühlen. In Momenten, in denen ich am liebsten vor alldem die Augen verschließen möchte und Zuflucht bei der inneren Stimme suche, die mir sagt: Nein, so etwas kann hier nie passieren, denke ich an all das, was die Politikwissenschaft mich gelehrt hat. Ich denke an die Fakten, die offen vor uns liegen.

Und ich denke an die Zeit zurück, als ich Berina Kovac kennenlernte und wir Geschichten über politische Gewalt austauschten und darüber, wie sie das Leben der Menschen langsam vergiftet. Berina ist in Sarajevo aufgewachsen. Als sich die Milizen in den Bergen und Vororten zu organisieren begannen, als ehemalige Kollegen sie immer öfter rassistisch beleidigten, setzte sie einfach ihre Arbeit fort, ging zu Hochzeiten, unternahm Wochenendausflüge und versuchte sich einzureden, dass am Ende alles gut werde. Doch eines späten Abends im März 1992, als sie mit ihrem gerade erst wenige Wochen alten Sohn allein zu Hause war, fiel der Strom aus. »Und plötzlich«, erzählte mir Kovac, »hörte man Maschinengewehre.«[20]

1Die Gefahr der Anokratie

Noor ging noch in Bagdad zur Schule, als die Streitkräfte der USA am 19. März 2003 ihren Angriff auf den Irak starteten. Die Dreizehnjährige hatte erlebt, wie der Präsident ihres Landes, Saddam Hussein, im Fernsehen gegen den Präsidenten der USA, George W. Bush, und dessen Kriegsdrohungen wetterte; am Familientisch sprach man über die Möglichkeit einer Invasion der Amerikaner. Noor war eine typische Teenagerin. Sie schwärmte für Britney Spears, die Backstreet Boys und Christina Aguilera. Sie schaute die Shows von Oprah Winfrey und Dr. Phil, und Matrix war einer ihrer Lieblingsfilme. Amerikanische Soldaten in Bagdad – das konnte sie sich nicht vorstellen. Bisher hatte ihr Leben, auch wenn es manchmal nicht ganz einfach war, hauptsächlich daraus bestanden, mit ihren Freundinnen abzuhängen, im Park spazieren zu gehen und ihre Lieblingstiere im Zoo zu besuchen. Eine Invasion lag einfach jenseits ihrer Realität.

Doch zwei Wochen später tauchten auf einmal amerikanische Soldaten auch in ihrem Stadtviertel auf. Zuerst war nur das Dröhnen von Flugzeugen zu hören, am späten Nachmittag dann Explosionen. Sie eilte aufs Dach ihres Hauses, ihrer Mutter und ihren Geschwistern hinterher, völlig ahnungslos, was vor sich ging. Sie sahen, wie Militärfahrzeuge an Fallschirmen vom Himmel schwebten. »Es war wie in einem Film«, sagte sie.[21] Wenige Tage später marschierten GI an ihrem Haus vorbei, und Noor rannte zur Tür, um sie zu sehen. Auch die Nachbarn standen mit einem Lächeln im Gesicht vor ihren Häusern. Die Soldaten lächelten zurück, begierig, sich mit jedem zu unterhalten, der dazu bereit war. »Alle waren so glücklich«, erinnerte sich Noor. »Plötzlich war die Freiheit da.« Weniger als eine Woche später, am 9. April, versammelten sich ihre irakischen Mitbürger auf dem Firdos-Platz im Zentrum von Bagdad, warfen ein Seil über die riesige Statue von Saddam Hussein und rissen sie mit Hilfe der amerikanischen Soldaten vom Sockel. Jetzt beginnt ein neues Leben. Ein besseres Leben, dachte Noor.

Es war nicht einfach gewesen unter Saddams Herrschaft. Noors Vater hatte eine Stelle im Staatsdienst gehabt, doch wie viele Iraker musste die Familie mit wenig Geld über die Runden kommen. Nach Saddams erfolglosem Krieg gegen den Iran in den achtziger Jahren war der Irak verarmt und von Schulden geplagt. Noch schlimmer wurde es, als Saddam in den neunziger Jahren in Kuwait einfiel und Wirtschaftssanktionen gegen das Land verhängt wurden. Noors Familie hatte wie die meisten Menschen im Irak unter der rasanten Inflation, dem kollabierenden Gesundheitssystem, Medikamentenmangel und Lebensmittelknappheit zu leiden. Zudem lebten sie in ständiger Angst. Gespräche über Politik und Kritik an der Regierung waren im Irak verboten. Alle fühlten sich ständig belauscht und von Saddams Geheimdiensten überwacht. Der Präsident hatte im Laufe seiner bereits vierundzwanzig Jahre währenden Herrschaft oft genug unter Beweis gestellt, wie brutal er mit seinen Gegnern und Rivalen umzuspringen bereit war. Wer ihn, seine Gefolgsleute oder die Baath-Partei kritisierte, büßte dies nicht selten mit dem Tod. Journalisten wurden hingerichtet oder ins Exil getrieben. Manche Dissidenten kamen ins Gefängnis, andere verschwanden einfach. Schlimme Geschichten von gefolterten Gefangenen machten die Runde – man stach ihnen die Augen aus, misshandelte sie mit Elektroschocks an den Genitalien und tötete sie am Ende durch Erhängen, Enthaupten oder Erschießen.

Doch nun waren die Amerikaner gekommen, und acht Monate nachdem irakische Bürger Saddams Statue gestürzt hatten, spürten amerikanische Soldaten den verängstigten Diktator in einem 2,5 Meter tiefen Erdloch unweit seiner Heimatstadt Tikrit auf. Er wirkte ungepflegt und verwirrt. Die meisten Iraker glaubten, dass nun, da die Amerikaner das Ruder übernommen hatten, ein Neuanfang für ihr Land gekommen sei und ihnen bald die Freiheiten und Chancen offenstehen würden, wie sie die Menschen in westlichen Ländern genossen. Familien träumten davon, die wahre Demokratie zu erleben. Das Militär, und vielleicht auch die Justiz, würden reformiert, mit der Korruption würde man aufräumen. Der Reichtum des Landes, der vor allem aus den Öleinnahmen stammte, würde gleichmäßiger verteilt werden. Noor und ihre Familie warteten mit Spannung auf unabhängige Zeitungen und Satellitenfernsehen. »Wir dachten, wir würden die Luft der Freiheit atmen, wir würden wie Europa werden«, sagte Najm al-Jabouri, ehemals General in Saddams Armee.[22] Sie sollten sich irren.

Niemand, der sich mit Demokratisierungsforschung beschäftigte, jubelte, als Saddam Hussein gefangen genommen wurde. Wir wussten, dass sich Demokratisierung, insbesondere schnelle Demokratisierung in einem stark gespaltenen Land, äußerst destabilisierend auswirken kann. Und je radikaler und schneller die Veränderung kommt, desto destabilisierender wirkt sie sich aus. Die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich glaubten, sie würden einer dankbaren Bevölkerung die Freiheit bringen. Stattdessen schufen sie die perfekten Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg.

Der Irak war von politischen Rivalitäten ethnischer und religiöser Natur geprägt. Die Kurden, eine zahlenmäßig starke Minderheit im Norden, kämpften schon lange gegen Saddam um ihre Unabhängigkeit. Die Schiiten, die mehr als 60 Prozent der irakischen Bevölkerung ausmachten, beugten sich nur widerwillig dem Regime von Saddam Hussein, einem Sunniten, und seiner vorwiegend sunnitischen Baath-Partei. Über Jahrzehnte hatte es Saddam verstanden, seiner Minderheit die Macht zu sichern, indem er Regierungsposten mit Sunniten besetzte, jeden, der irgendeinen Job haben wollte, zum Eintritt in die Baath-Partei zwang, egal welcher Religion oder Sekte er angehörte, und auf alle anderen seine mörderischen Sicherheitskräfte losließ.

Nur zweieinhalb Monate nach der Invasion zerfielen die Iraker in einander feindlich gesinnte, sektiererische Faktionen, woran auch zwei fatale Entscheidungen der US-Regierung Schuld hatten. In dem Bestreben, das Land rasch zu demokratisieren, verbot Paul Bremer, der Chef der Koalitions-Übergangsverwaltung im Irak, die Baath-Partei und ordnete an, dass alle Mitglieder der Regierung Saddam Hussein, fast sämtlich Sunniten, auf Dauer ihre Positionen verlieren sollten.[23] Dann löste er das irakische Militär auf und schickte Hunderttausende sunnitischer Soldaten nach Hause.

Bevor überhaupt eine neue Regierung gebildet werden konnte, wurden damit auf einen Schlag Zehntausende von Baath-Bürokraten aus dem Amt gejagt.[24] Mehr als 350000 Offiziere und Soldaten des irakischen Militärs hatten kein Einkommen mehr. Über 85000 einfache Iraker, darunter auch Lehrer, die der Baath-Partei nur beigetreten waren, weil sie sonst nie eine Stelle bekommen hätten, verloren ihre Arbeit. Noor, die Sunnitin, erinnert sich noch gut an den Schock, den das im ganzen Land auslöste.

Im Gegenzug witterten auf einmal alle, die unter Saddam von der Macht ausgeschlossen worden waren, ihre Chance. Innerhalb kürzester Zeit kam es zu einem politischen Wettstreit zwischen Persönlichkeiten wie Nouri al-Maliki, einem aus dem Exil zurückgekehrten schiitischen Dissidenten, und Muqtada as-Sadr, einem radikalen schiitischen Geistlichen, der den Irak in einen islamischen Staat verwandeln wollte. Anfangs hatten die Amerikaner noch gehofft, ein Abkommen über die Teilung der Macht zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden aushandeln zu können, doch bald gaben sie den Forderungen Malikis nach, der eine der Bevölkerungszusammensetzung entsprechende mehrheitlich schiitische Regierung favorisierte. Für Noor war das Ergebnis keine Demokratie. Es war Chaos, gefolgt von Machtgerangel.

Die einfachen Iraker, insbesondere die Sunniten, begannen sich Sorgen zu machen. Wenn die zahlenmäßig überlegenen Schiiten die Regierung kontrollierten, was würde sie daran hindern, sich gegen die Minderheit der Sunniten zu wenden? Welchen Anreiz hatten sie, ihnen Arbeit zu geben oder die für das Land so wichtigen Öleinnahmen mit ihnen zu teilen? Was würde sie davon abhalten, Rache für Saddams frühere Verbrechen zu üben? Ehemalige Parteiführer der Baath-Partei, Geheimdienstler und Offiziere der irakischen Armee sowie sunnitische Stammesführer erkannten bald, dass sie schnell handeln mussten, wenn sie in der neuen Demokratie überhaupt nur ein Wörtchen mitreden wollten. Bereits im Sommer 2003 begannen sich Widerstandsorganisationen zu bilden.[25] In den sunnitischen Städten und den sunnitisch dominierten ländlichen Gebieten des Irak, wo sich die Bürger zunehmend politisch und wirtschaftlich unter Druck fühlten, fanden sie leicht Gefolgsleute. »Wir standen an der Spitze des Systems. Wir hatten Träume. Jetzt sind wir die Verlierer. Wir haben unsere Positionen, unseren Status, die Sicherheit unserer Familien und die Stabilität verloren«, fasste ein sunnitischer Bürger die Stimmung zusammen.[26]

Die sunnitischen Aufständischen sahen zunächst davon ab, die amerikanischen Truppen zu attackieren – die waren zu gut bewaffnet. Sie suchten sich einfachere Ziele: Einzelpersonen und Gruppen, die den Amerikanern halfen. Dazu gehörten auch die Schiiten, die sich den neuen irakischen Sicherheitskräften anschlossen, schiitische Politiker und Vertreter internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen. Auf diese Weise versuchten die Aufständischen, die Unterstützung der US-Besatzung zu untergraben oder vollends zu unterbinden und das amerikanische Militär zu isolieren. Erst danach begannen sie, auch amerikanische Soldaten ins Visier zu nehmen, indem sie einfach herzustellende, aber hochwirksame Sprengbomben entlang wichtiger Versorgungsrouten legten. Als Saddam Hussein im Dezember 2003 gefangen genommen wurde, war der Guerillakrieg bereits voll entbrannt.

Die Situation eskalierte im April 2004, als zusätzlich Machtkämpfe unter schiitischen Gruppierungen ausbrachen.[27] Die berüchtigtste war eine schiitische Miliz unter Führung von Muqtada as-Sadr, der den Unmut der schiitischen Nationalisten über die US-Besatzung nutzte, um Anhänger um sich zu scharen. Auch er nahm amerikanische Verbündete und Soldaten ins Visier, um die Amerikaner zum Abzug zu bewegen. Als im Januar 2005 im Irak die ersten Parlamentswahlen abgehalten wurden, war klar, dass die Sunniten in der Regierung bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen würden. Einige hofften, die Amerikaner würden eingreifen, um die Verfassung zu stärken oder Maliki in die Schranken zu weisen. Doch die Amerikaner wollten nicht langfristig in innerirakische Probleme verwickelt werden und hielten sich zurück. Während die Gewalt gegen die Koalitionstruppen eskalierte, nahmen auch die Kämpfe um die Kontrolle des Landes unter den Irakern, die sich in Dutzende von regionalen und religiösen Milizen aufgespalten hatten, weiter zu. Viele hatten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung und erhielten Geld und Waffen aus dem Ausland. »Saudi-Arabien unterstützte die sunnitischen Milizen, der Iran die schiitischen, und dann gab es noch Muqtada as-Sadr, der für sich allein stand«, erinnert sich Noor. »Alle begannen, Partei zu ergreifen.«[28]

Bald wurde es für Noor zu gefährlich, das Haus zu verlassen, und sei es nur, um Lebensmittel einzukaufen. Überall kämpften rivalisierende Milizen um mehr Territorium, an allen Ecken lauerten Scharfschützen, die wahllos Passanten erschossen; Minen, Autobomben und militärische Kontrollpunkte wurden Alltag. Die Tiere im Zoo, wo Noor so viele Wochenenden mit ihren Freundinnen verbracht hatte, waren entweder verhungert oder von verzweifelten Menschen aufgegessen worden.[29] Noor und ihre Familie wussten nicht, was sie tun sollten. Zunächst zogen sie zu Verwandten, die in einem etwas ruhigeren Viertel wohnten, kehrten dann aber 2007 Bagdad ganz den Rücken, weil sie sich nirgends in der Stadt mehr sicher fühlten. Sie fuhren mit dem Bus nach Damaskus, wo sie zumindest eine Zeit lang ruhig lebten. Wie hätten sie ahnen können, dass das Blut und das Chaos des Bürgerkriegs schließlich auch die Straßen Syriens erreichen würden?

Die amerikanischen Streitkräfte hatten nur wenige Monate gebraucht, um Saddam Hussein zu entmachten und den Irak auf den Weg der Demokratie zu bringen. Doch fast ebenso schnell versank das Land in einem brutalen, mehr als ein Jahrzehnt währenden Bürgerkrieg. Noors Hoffnungen auf ihre eigene Stimme, mehr Rechte und neue Träume lagen genauso in Trümmern wie die Statue des gestürzten Diktators.

 

In den vergangenen hundert Jahren erlebte die Welt den größten Zugewinn an Freiheit und politischen Rechten in der Geschichte der Menschheit. Im Jahr 1900 gab es noch kaum demokratisch verfasste Länder. Doch 1948 hatten die Staats- und Regierungschefs der Welt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, die von fast allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde.[30] Sie spricht jedem Menschen das Recht zu, an seiner Regierung mitzuwirken, garantiert Redefreiheit, Religionsfreiheit und das Recht, sich friedlich zu versammeln, all dies unabhängig von Geschlecht, Sprache, Ethnie, Hautfarbe, Religion, Geburt oder politischer Anschauung. Heute sind fast 60 Prozent der Länder der Welt Demokratien.[31]

Liberale Demokratien bieten den Menschen mehr politische Beteiligung und Bürgerrechte als Nichtdemokratien. Die Bürger haben dort mehr Möglichkeiten der Teilhabe am politischen Leben, sie sind besser gegen Diskriminierung und Unterdrückung geschützt und erhalten einen größeren Anteil der Ressourcen des Staates. Sie sind zudem glücklicher, wohlhabender, besser ausgebildet und haben im Allgemeinen eine höhere Lebenserwartung als Menschen in Diktaturen. Das ist der Grund, warum Migranten ihr Leben riskieren, um aus repressiven Ländern im Nahen Osten, in Zentralasien und Afrika nach Europa zu gelangen. Und deshalb gab sich Präsident Bush nach dem Einmarsch in den Irak zuversichtlich, dass die Vereinigten Staaten »einen freien Irak im Herzen des Nahen Ostens« errichten und eine »weltweite demokratische Revolution« auslösen würden.[32]

Es gibt noch einen weiteren großen Vorteil der demokratischen Regierungsform. Ausgeprägte Demokratien führen seltener Krieg gegen ihre eigenen Bürger und die anderer Demokratien. Die Menschen mögen unterschiedlicher Meinung darüber sein, wie die Demokratie ausgestaltet werden soll. Es mag sie frustrieren, dass Demokratie Konsens und Kompromiss erfordert. Trotzdem entscheiden sich bei der Wahl zwischen Demokratie und Diktatur die meisten doch eindeutig für Erstere.[33]

Der Weg hin zur Demokratie birgt allerdings viele Gefahren. Als Anfang der neunziger Jahre erstmals weltweit Daten über Bürgerkriege gesammelt wurden, schälte sich bald eine interessante Korrelation heraus: Seit 1946, also unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Zahl der Demokratien in der Welt sprunghaft angestiegen – aber mit ihr auch die Zahl der Bürgerkriege.[34] Beide Entwicklungen schienen parallel zu verlaufen. Die erste Welle der Demokratisierung setzte 1870 ein, als die Bürger in den Vereinigten Staaten und in vielen mittel- und südamerikanischen Ländern politische Reformen forderten. (Afroamerikaner waren bis in die 1960er Jahre nicht gleichberechtigt an der amerikanischen Demokratie beteiligt, obwohl sie nach dem amerikanischen Bürgerkrieg in der Ära der Reconstruction zeitweise mehr Rechte innegehabt hatten.) Die zweite Welle bildete sich direkt im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, als die besiegten Länder und die in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien demokratische Staats- und Regierungsformen adaptierten. Die dritte Welle erfasste Ostasien, Lateinamerika sowie Süd- und Osteuropa in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, in denen über dreißig Ländern der Übergang zur Demokratie gelang. Die jüngste Welle begann mit der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 und schien an Stärke zu gewinnen, als sich die Proteste des Arabischen Frühlings über den Nahen Osten und Nordafrika ausbreiteten.

Inmitten all dieser sich entwickelnden Demokratien keimten auch Bürgerkriege auf.[35] Im Jahr 1870 gab es nahezu keine Bürgerkriege auf der Welt, 1992 hingegen über fünfzig.[36] Serben, Kroaten und Bosniaken (die bosnischen Muslime) bekämpften sich im zerfallenden Jugoslawien. Islamistische Rebellengruppen erhoben sich in Algerien gegen die Regierung. Die Staatsführungen in Somalia und im Kongo sahen sich plötzlich mit mehreren bewaffneten Gruppen konfrontiert, ähnlich erging es den Regierungen von Georgien und Tadschikistan. Bald sollten sich Hutu und Tutsi in Ruanda und Burundi gegenseitig abschlachten. Anfang der neunziger Jahre erreichte die Zahl der Bürgerkriege in der Welt den höchsten Stand der jüngeren Geschichte.

Das gilt zumindest bis jetzt. In den letzten Jahren ist die Zahl der Bürgerkriegskonflikte wieder stark angestiegen.[37]

Wie sich herausgestellt hat, ist die Gefahr eines Bürgerkriegs in einem Land immer dann am größten, wenn es sich auf die Demokratie zu- oder von ihr wegbewegt – und nicht sein Grad an Demokratie.[38] Der Übergang von einer vollständigen Autokratie zu einer konsolidierten Demokratie vollzieht sich nur selten ohne Verwerfungen. Demokratisierungsversuche von führenden Politikern sind häufig von Rückschlägen begleitet oder bleiben in einer halb autokratischen Zwischenzone stecken. Und selbst wenn sich die Bürger erfolgreich die vollständige Demokratie erstreiten, halten sich die nachfolgenden Regierungen nicht zwangsläufig an ihre Prinzipien. Politiker mit despotischen Ambitionen können Rechte und Freiheiten beschneiden oder Macht anhäufen und so den neuerlichen Niedergang der Demokratien einleiten. Ungarn wurde 1990 zu einer vollständigen Demokratie, doch dann kam Ministerpräsident Viktor Orbán und brachte das Land langsam und systematisch wieder auf den Weg zu einer Diktatur. Es ist dieser mittlere Bereich, in dem die meisten Bürgerkriege entstehen.[39]

Fachleute bezeichnen Länder in dieser Zwischenzone als »Anokratien« – sie sind weder voll ausgebildete Autokratien noch Demokratien, sondern sozusagen politische Zwitterwesen.[40] Ted Robert Gurr, Professor an der Northwestern University, prägte den Begriff Anokratie im Jahr 1974, nachdem er Daten über die demokratischen und autokratischen Merkmale von Regierungen in aller Welt zusammengetragen hatte. In Diskussionen mit seinem Team, wie man solche Hybridformen bezeichnen könne, war zunächst der Begriff »Übergangsregime« verwendet worden, doch dann einigte man sich auf »Anokratie«. Die Bürger erhalten einige Elemente demokratischer Herrschaft zugesprochen – etwa das Wahlrecht –, aber die Staatsführung pocht auf weitreichende autoritäre Befugnisse, und die Gewaltenteilung ist schwach ausgeprägt.

Bürgerkriegsforscher wissen seit langem um den Zusammenhang zwischen Anokratie und Bürgerkrieg. Deshalb haben wir die Entscheidung von Präsident Bush, den Irak im Jahr 2003 von einer Autokratie in die Demokratie zu katapultieren, auch so kritisch gesehen. Wir waren uns darüber im Klaren, dass ein massiver politischer Wandel im Irak mit großer Wahrscheinlichkeit zum Bürgerkrieg führen würde, hatte sich dieses Muster im 20. Jahrhundert doch überall auf der Welt wiederholt. Fast unmittelbar nach dem Beginn der Demokratisierung Jugoslawiens im Jahr 1991 zogen die Serben gegen die Kroaten in den Krieg. Das Gleiche galt für Spanien in den dreißiger Jahren: Im Juni 1931 konnten die spanischen Bürger nach den ersten demokratischen Wahlen in ihrem Land spüren, was Demokratie bedeutet; fünf Jahre später versuchte das Militär, die Macht an sich zu reißen, und es kam zu einem Bürgerkrieg.[41] Und die Demokratiebestrebungen in Ruanda waren der Auslöser für den Völkermord der Hutu an den Tutsi. Es ist kein Zufall, dass die größten heute tobenden Bürgerkriege – im Irak, in Libyen, Syrien und im Jemen – aus Demokratisierungsversuchen entstanden sind.

Die Einstufung von Ländern als Demokratien, Autokratien oder Anokratien erfordert akribische Arbeit. Forscher haben über Jahrzehnte auf der ganzen Welt Daten über die verschiedenen Regierungsformen und deren Entwicklung im Lauf der Zeit gesammelt. Es gibt mehrere große Datensätze, die jeweils verschiedene Variablen messen, aber die meisten Konfliktforscher stützen sich auf den Datensatz, der vom »Polity Project« des Center for Systemic Peace zusammengestellt wurde – einer unabhängigen Organisation, die Forschung und quantitative Analysen zu Demokratie und politischer Gewalt durchführt. Der Initiator dieses Projekts war Ted Gurr, seit seinem Tod 2017 wird es von seinem Mitarbeiter Monty Marshall weitergeführt. Der Datensatz ist aufgrund der Länge des Beobachtungszeitraums und der großen Anzahl von Ländern, die er erfasst, von hohem Nutzen.[42] Er stellt einen der ersten Versuche dar, die Regierungssysteme von Ländern für statistische Analysen zu quantifizieren. Eine der wichtigsten Messgrößen des Datensatzes ist der sogenannte Polity-Score, mit dem erfasst wird, wie demokratisch oder autokratisch ein Land in einem bestimmten Jahr ist. Es handelt sich um eine 21-Punkte-Skala, die von -10 (maximal autokratisch) bis +10 (maximal demokratisch) reicht. Länder, die eine Punktzahl zwischen +6 und +10 erreichen, gelten als vollwertige Demokratien. Eine Punktzahl von +10 bedeutet, dass beispielsweise die landesweiten Wahlen als »frei und fair« zertifiziert wurden, keine wichtigen gesellschaftlichen Gruppen systematisch vom politischen Prozess ausgeschlossen werden sowie dass die großen politischen Parteien stabil sind und sich auf eine breite Wählerschaft im ganzen Land stützen können. Norwegen, Neuseeland, Dänemark, Kanada – und bis vor kurzem auch die Vereinigten Staaten – haben alle eine Bewertung von +10.

Am anderen Ende des Polity-Index stehen die Autokratien. Als solche gelten Länder mit einer Punktzahl zwischen -6 und -10. In Ländern wie Nordkorea, Saudi-Arabien oder Bahrain, die einen Wert von -10 aufweisen, ist es den Bürgern verwehrt, ihre Regierung frei zu wählen; es herrscht mehr oder weniger staatliche Willkür.

Anokratien liegen in der Mitte bei einem Wert zwischen -5 und +5. Sie weisen zwar gewisse Kennzeichen einer demokratischen Staatsform auf – etwa Wahlen –, aber ihre politische Führung verschafft sich dennoch weitreichende autoritäre Befugnisse. Fareed Zakaria definiert sie als »illiberale Demokratien«.[43] Man kann sie auch als partielle Demokratien, Scheindemokratien oder hybride Regime bezeichnen. Die Türkei wurde 2014 zu einer Anokratie, als Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Kontrolle der Regierung über Gerichte, Medien und den Ausgang von Wahlen verstärkte. Simbabwe schien nach dem Rücktritt von Präsident Robert Mugabe im Jahr 2017 auf dem Weg zu mehr Demokratie zu sein, ist aber seither zu altbekannten Mustern der politischen Unterdrückung zurückgekehrt. Insbesondere bei Wahlen kommt es dort immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Der Irak hat es nie zu einer vollständigen Demokratie geschafft. Auch er ist eine Anokratie.

Die CIA erkannte den Zusammenhang zwischen Anokratie und Gewalt erstmals 1994.[44] Die US-Regierung hatte den Geheimdienst damit beauftragt, ein Modell zu entwickeln, das zwei Jahre im Voraus Brennpunkte politischer Instabilität und bewaffneter Konflikte identifizieren könnte. Was waren die Warnzeichen dafür, dass ein Land auf Gewalt zusteuert? Ziel der amerikanischen Regierung war es, Länder, die deutliche Anzeichen dafür zeigten, unter besondere Beobachtung zu stellen.

Die Political Instability Task Force (der ich später beitreten sollte) definierte Dutzende von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Variablen – achtunddreißig, um genau zu sein, darunter Armut, ethnische Vielfalt, Bevölkerungsgröße, Ungleichheit und Korruption – und speiste sie in ein Prognosemodell ein. Zur Überraschung aller ergab sich, dass der zuverlässigste Vorhersagewert für Instabilität nicht wie vermutet das Einkommensgefälle oder Armut war. Vielmehr war es der Indexwert für das politische System eines Landes, wobei der Bereich der Anokratie die größte Gefährdung aufwies. Anokratien, insbesondere solche, die mehr in Richtung Demokratie als in Richtung Autokratie neigen – was die Arbeitsgruppe als »partielle Demokratien« bezeichnete –, waren doppelt so häufig von politischer Instabilität oder Bürgerkrieg betroffen wie Autokratien und dreimal so häufig wie Demokratien.[45]

Alles, was Experten bislang als Auslösefaktor für einen Bürgerkrieg betrachtet hatten, spielte praktisch keine Rolle. Nicht die ärmsten Länder waren am konfliktträchtigsten, nicht die mit der größten sozialen Ungleichheit, nicht die mit der ausgeprägtesten ethnischen oder religiösen Heterogenität, nicht einmal die repressivsten. Es waren die Verhältnisse der partiellen Demokratie, die die Bürger am ehesten dazu brachten, zu den Waffen zu greifen. Saddam Hussein war während seiner vierundzwanzigjährigen Herrschaft nie mit einem Bürgerkrieg konfrontiert worden. Erst als seine Regierung gestürzt war und die Machtfrage zur Disposition stand – als es von -9 in den mittleren Bereich ging –, brach im Irak ein Krieg aus.

 

Warum birgt die Anokratie eine solch große Bürgerkriegsgefahr? Ein genauerer Blick auf die Regierungen und Bürger, die sich in dieser mittleren Zone bewegen, gibt hierüber Aufschluss. Anokratien weisen in der Regel bestimmte Merkmale auf, die im Zusammenspiel das Konfliktpotenzial verschärfen.

Eine Regierung, die sich auf den Weg in die Demokratie macht, ist im Vergleich zu ihrem Vorgängerregime schwach – politisch, institutionell und militärisch. Im Gegensatz zu Autokraten sind die Staatsführer in einer Anokratie oft nicht mächtig oder rücksichtslos genug, Widerspruch zu unterdrücken und Loyalität sicherzustellen. Außerdem ist ihre Regierung häufig schlecht organisiert und von inneren Spaltungen geplagt. Sie kämpft nicht nur damit, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen, sondern auch damit, die Sicherheit zu gewährleisten. Oppositionsführer und sogar die Anhänger der neuen Führung stellen womöglich das Tempo der Reformen infrage oder widersetzen sich ihnen, und das gerade zu einer Zeit, in der die neue Führung rasch das Vertrauen der Bürger, involvierter Politiker oder der Generäle gewinnen muss. Nicht selten scheitern neue Staatsführer am Chaos, das der demokratische Übergang mit sich bringt.

Als ich Noor fragte, wie der Übergang im Irak verlaufen sei, erinnerte sie sich vor allem an das Unbehagen, das viele Iraker gegenüber ihrer neuen Regierung empfanden. »Maliki kam also an die Macht, aber was hat er dann getan?«, fragte sie. »Nichts. Alle fingen an, sich über ihn zu beklagen. Die Leute hatten keine Arbeit, kein Geld und keine Lebensmittel, um ihre Familien zu ernähren. Was sollten sie denn tun?«[46]

Solche Schwächen schaffen die Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg, da ungeduldige Bürger, frustrierte Militärs oder einfach jeder, der politische Ambitionen hegt, Grund und Gelegenheit genug finden, gegen die neue Regierung zu rebellieren. Ehemalige Rebellenführer in Uganda gaben beispielsweise offen zu, dass sie weitaus entschlossener Gewaltakte organisierten, nachdem sie herausgefunden hatten, wie ineffektiv die staatlichen Geheimdienste agierten; zu wissen, dass ihre Pläne wahrscheinlich nicht vorzeitig entdeckt würden, stärkte ihren revolutionären Furor.[47] So war es auch in Georgien, das 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion zum ersten Mal als unabhängiges Land demokratische Wahlen abhielt. Zwar gewann der Reformer Swiad Gamsachurdia den Kampf um das Präsidentenamt, doch stand er von Anfang an in der Kritik. Während seine Gegner ihm vorwarfen, sich zu autoritär zu gebärden, klagten die ethnischen Minderheiten der Osseten und Abchasen darüber, nicht genügend an der Regierung beteiligt zu sein.[48] Im folgenden Jahr putschten bewaffnete Anhänger der Opposition und stürzten Gamsachurdia; es dauerte bloß sechs Monate bis zum Ausbruch eines blutigen Konflikts zwischen ethnischen Georgiern und Abchasen. Schon 1993 versank das junge Land im Bürgerkrieg.

Ein Hauptgrund für Revolten ist, dass demokratische Übergänge neue Gewinner und Verlierer schaffen: Durch die Abkehr von der Autokratie erlangen ehemals an den Rand gedrängte Bürger neue Macht, während jene, die einst Privilegien besaßen, an Einfluss verlieren. Da die neue Regierung in einer Anokratie oft noch nicht gefestigt ist und die Rechtsstaatlichkeit sich erst noch entwickeln muss, können die Verlierer – ehemalige Eliten, Führer der gegnerischen Lager, Bürger, die früher Vorteile genossen – sich nicht sicher sein, dass die neue Staatsmacht ihnen gegenüber fair agieren wird und sie geschützt sein werden. Das kann starke Zukunftsängste hervorrufen. Die Verlierer sind vielleicht nicht von dem Einsatz der neuen Führung für die Demokratie überzeugt, sie haben das Gefühl, dass ihre eigenen Bedürfnisse und Rechte auf dem Spiel stehen. In dieser Situation befanden sich die Sunniten, als die Vereinigten Staaten die Macht an Maliki übergaben. Sie schlossen ganz richtig, dass sie praktisch keinerlei Chance mehr hatten, sich gegenüber der schiitischen Mehrheit in irgendeiner Weise durchzusetzen. Aus ihrer Sicht war es folglich besser, den Kampf aufzunehmen, solange sie noch relativ stark waren, als abzuwarten, bis ihre Rivalen ihre Macht konsolidiert hatten.

Solange eine Regierung noch nicht gefestigt ist, können die Ereignisse leicht außer Kontrolle geraten. So geschehen in Indonesien, nachdem der autoritäre Präsident Suharto im Gefolge der asiatischen Finanzkrise 1997 zum Rücktritt gezwungen worden war.[49] Sein Nachfolger, Vizepräsident B.J. Habibie, leitete innerhalb weniger Wochen nach Amtsantritt Reformen ein: Er erlaubte die Gründung politischer Parteien, hob die Pressezensur auf, ließ politische Gefangene frei und kündigte freie und faire Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an.[50] Am 27. Januar 1999 erklärte er sich schließlich bereit, die kleine Insel Osttimor in die Unabhängigkeit zu entlassen – eine drastische Kehrtwende der bisherigen Politik seines Landes in dieser Frage.

Diese Öffnung führte jedoch zu einer Kettenreaktion, da nun auch andere unzufriedene Gruppen in Indonesien Ansprüche anmeldeten. Kurz darauf riefen die christlichen Ambonesen, eine ethnische Gruppierung in der Provinz Maluku, denen die zunehmende Islamisierung Indonesiens missfiel, eine unabhängige Republik aus.[51] Die Bewohner Westpapuas, schon lange der indonesischen Herrschaft überdrüssig, äußerten ebenfalls den Wunsch nach Selbstständigkeit. In der Provinz Aceh fanden derweil Aktivisten, dass »es keinen Grund gibt, warum Aceh nicht als Nächstes dran sein sollte«, nachdem nun Osttimor die Freiheit erhalten hatte.[52] Die Regierung Habibie war alldem nicht gewachsen. Bemüht, die Lage unter Kontrolle zu halten, führte sie mit einigen Provinzen Unabhängigkeitsverhandlungen und ließ in anderen hart durchgreifen. Schon bald hatten sich in Indonesien mehrere Bürgerkriegsfronten gebildet: zwischen Muslimen und Christen in der Provinz Maluku, zwischen timoresischen und indonesischen paramilitärischen Gruppen und zwischen Aceh-Separatisten und der indonesischen Regierung.

Es gehört zu den unbequemen Wahrheiten der Demokratisierung, dass die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs wächst, je schneller und mutiger die Reformbemühungen ausfallen. Einem raschen Regimewechsel – einer Veränderung von sechs oder mehr Punkten im Polity-Index eines Landes – folgt fast immer Instabilität.[53] Die größte Wahrscheinlichkeit, dass ein Bürgerkrieg ausbricht, besteht in den ersten beiden Jahren demokratischer Reformbestrebungen. So sind die jüngsten politischen Gewaltausbrüche und der eskalierende Bürgerkrieg in Äthiopien beispielsweise eine Folge der Versuche des Landes, sich rasch zu demokratisieren.[54] Im Jahr 2018 übergab Ministerpräsident Hailemariam Desalegn nach zwei Jahren der Proteste die Macht an den Oromo Abiy Ahmed Ali, womit sich ein lang gehegter Wunsch dieser größten ethnischen Gruppe Äthiopiens erfüllte. Abiy schien der Modelldemokrat schlechthin zu sein. Er versprach freie und gleiche Wahlen, sorgte für ein stärker an Recht und Gesetz orientiertes, integrativeres politisches System und forderte die seit langem im Exil lebenden Oromo auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Seine Reformen »übertrafen unsere kühnsten Träume«, meinte ein Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes der Vereinigten Staaten in Addis Abeba.[55]

Doch die heimgekehrten Oromo-Führer bildeten eine neue Elite, die auf Rache sann. Die Schwächung des Militärs erleichterte es ehemaligen Soldaten, gegen die Regierung zu agitieren. Durch die Neuverteilung der Macht auf die Verwaltungsregionen Äthiopiens hatte Abiy starke Anreize für rivalisierende ethnische Gruppen geschaffen, miteinander um regionalen Einfluss zu konkurrieren. Nur fünf Monate später brach offene Gewalt aus. Marodierende Gruppen von Oromo-Jugendlichen, die die Rückkehr der Exilanten bejubelten, lösten eine Welle ethnisch motivierter Gewalt aus. Dutzende starben, Tausende flohen nach Kenia. Für viele Beobachter kam gerade dieser Konflikt überraschend, gab es doch, wie ein äthiopischer Beobachter es ausdrückte, »ein so bemerkenswertes Maß an demokratischer Öffnung im Land«.[56] Doch die Öffnung war einfach zu schnell erfolgt. Heute ist in der äthiopischen Region Tigray ein regelrechter Bürgerkrieg ausgebrochen, geführt von ehemaligen Regierungsmitgliedern, die von Abiy kaltgestellt wurden. Sie setzen alles daran, ihre verlorene Macht und ihren Einfluss zurückzuerlangen.[57]

Aber Demokratisierung ist möglich. Der Weg zur Demokratie ist zwar steinig, aber das Risiko eines Bürgerkriegs sinkt, wenn sich ein Land Zeit lässt und sein politisches System schrittweise entwickelt. Mexiko etwa hat die Demokratisierung relativ friedlich bewältigt.[58] Der Übergang dauerte fast zwanzig Jahre, von 1982 bis 2000, dem Jahr, in dem die Partido Acción Nacional (PAN) als erste Oppositionspartei seit 1929 eine Präsidentschaftswahl gewann. Der Staat blieb stark und erfüllte seine Funktionen, während die demokratischen Institutionen heranreiften. Langsame Reformen sorgen dafür, dass die Bürger weniger von Unsicherheit geplagt werden, und sind für die alten Eliten weniger bedrohlich, da sie einen versöhnlichen Ton anschlagen und ihnen die Möglichkeit eröffnen, ihre Macht in Würde abzugeben. Oft führt das zu weniger Gewalt.

 

Bis vor kurzem geriet ein Land in die gefährliche Anokratiezone, wenn wie beispielsweise im Irak eine Diktatur gestürzt wurde oder Autokraten infolge von Massenprotesten demokratische Reformen einleiten mussten. Doch nun, nach fast einem halben Jahrhundert zunehmender Demokratisierung, steuern auch Demokratien, und insbesondere junge Demokratien, in die gegenteilige Richtung. Selbst ehemals gefestigte liberale Demokratien wie Belgien und das Vereinigte Königreich erlebten eine Verschlechterung ihres Polity-Werts.[59] Seit 2000 begannen auch manche demokratischen Staatsführer, die durch Wahlen an die Macht gelangten, ihre Herrschaft mit autoritären Mitteln abzusichern. Bürgerkriegsexperten sehen wieder einmal Grund zur Sorge. Wir wissen aus Erfahrung, dass ein solcher Rückschritt mit ziemlicher Sicherheit die Anzahl der Anokratien erhöhen wird.

Das sehen wir in Polen, wo die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 die Wahlen gewann; seitdem schränken der Präsident, der Ministerpräsident und der stellvertretende Ministerpräsident systematisch die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit ein, behindern politische Gegner und beschneiden die Wahlaufsicht.[60] In Ungarn verwandelte Ministerpräsident Orbán das Land Schritt für Schritt in das erste nichtdemokratische Mitglied der Europäischen Union. Die dortige Regierung kontrolliert die Medien, schikaniert demokratische Parteien mit absurden Auflagen und versucht, kritische Stimmen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen.[61] Orbán und seine Partei haben zwar 2018 die Wahlen gewonnen, allerdings musste die Opposition, wie internationale Beobachter konstatierten, ihren Wahlkampf unter unfairen Bedingungen führen.[62] Laut dem V-Dem Institute, das sich ebenfalls der Beobachtung der globalen Demokratie widmet, sind derzeit fünfundzwanzig Länder von einer Welle der Autokratisierung betroffen, darunter Brasilien, Indien und die Vereinigten Staaten.[63]

Demokratische Länder gleiten nicht wegen der Schwäche und Unerfahrenheit der Regierenden in die Anokratie ab, wie es in Ländern geschieht, die sich nach einer Diktatur neu zu organisieren versuchen, sondern weil gewählte Volksvertreter, populäre noch dazu, die Schutzmechanismen der Demokratie zu ignorieren beginnen.[64] Dazu gehören die Beschränkung der Machtbefugnisse des Regierungschefs, die Gewaltenteilung zwischen den Regierungsorganen, eine freie Presse, die Rechenschaft fordert, sowie ein fairer und offener politischer Wettbewerb. Staatsführer mit autokratischem Einschlag wie Orbán, Erdoğan, Wladimir Putin oder der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro stellen ihre politischen Ziele über die Belange einer gesunden Demokratie und instrumentalisieren die Ängste und Sorgen der Bürger im Hinblick auf Arbeitsplätze, Einwanderung und Sicherheit, um persönliche Zustimmung zu gewinnen.

Sie reden den Bürgern ein, Demokratie in ihrer bestehenden Form würde nur zu mehr Korruption, mehr Lügen und mehr Inkompetenz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik führen; politische Kompromisse seien ineffektiv und die bisherige Regierung habe samt und sonders versagt. Sie wissen, wenn sie die Bürger davon überzeugen können, dass eine »starke Führung« und »Recht und Ordnung« vonnöten seien, werden sie ihnen ihre Stimme geben. Viele Menschen sind bereit, ihre Freiheit zu opfern, wenn sie dadurch ihre Sicherheit zu erhöhen glauben. Sobald aber diese Politiker dann selbst an der Macht sind, stürzen sie ihre Länder in die Anokratie, indem sie Schwächen in der Verfassung, des Wahlsystems und der Justiz ausnutzen. Da sie sich dabei in der Regel legaler Methoden bedienen – Besetzung von Schlüsselposten mit Getreuen, Dekrete, Parlamentsabstimmungen –, gelingt es ihnen, ihre Macht auf eine Weise zu konsolidieren, die andere Politiker nicht verhindern können oder wollen. Diese zunehmende Autokratisierung erhöht das Risiko eines Bürgerkriegs in den betreffenden Ländern.

Das höchste Bürgerkriegsrisiko liegt genau in der Mitte des Spektrums, im Bereich zwischen -1 und +1. Hier sind einerseits die Institutionen der Regierung schwach, andererseits verfügt diese auch nur über eine geringe Legitimation. In der Anfangsphase der Demokratisierung ist das Risiko eines Bürgerkriegs noch relativ gering; es steigt erst an, wenn der Index sich dem Wert -1 nähert. Ein Land kann mit einem Polity-Wert von -6 beginnen, sich mit der Umsetzung von Reformen in den positiven Bereich der Skala bewegen und dann, wenn der halbe Weg zur Demokratie schon geschafft ist, in einen Bürgerkrieg abrutschen. Übersteht das Land diese tückische Phase und meistert noch einige größere demokratische Reformen, kehrt sich das Konfliktrisiko drastisch um.

Für eine zerfallende Demokratie steigt das Risiko eines Bürgerkriegs nahezu in dem Augenblick, in dem dieser Zerfall einsetzt.[65] Je mehr Punkte auf dem Polity-Index eine Demokratie verliert – ob nun als Folge geringerer Beschränkungen der Exekutive, einer Schwächung der Rechtsstaatlichkeit oder Einschränkungen des Wahlrechts –, desto höher steigt die Gefahr eines bewaffneten Konflikts. Am größten ist sie bei einem Wert zwischen +1 und -1, also an dem Punkt, an dem den Bürgern das Abrutschen in eine echte Autokratie droht. Das Risiko eines Bürgerkriegs sinkt drastisch, wenn das