Burggeschichten - Sabine Grimm - E-Book

Burggeschichten E-Book

Sabine Grimm

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Beschreibung

Reale Burggeschichten, eine Zeitreise in die längst vergangene Ritterzeit, Märchen- und Sagenhaftes, verzaubern die Leser, ob groß, ob klein, und entführen sie in traumhafte Welten. Viel Spaß beim Lesen und Träumen! Sabine Grimm

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EPUB
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Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kinder, hört Euch Märchen an,

es ist mehr als ein Funke

Wahrheit dran.

Widmung:

Dieses Buch widme ich

allen Leserinnen und Lesern, verbunden mit dem Wunsch für eine

märchenhafte Zeit.

Sabine Grimm

Was, wenn Du schliefest?

Und was, wenn Du in Deinem Schlaf träumtest?

Was, wenn im Traum Du in den Himmel stiegest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest?

Und was, wenn erwachend Du die Blume in deiner Hand hieltest?

Ach, sag, was dann?

Samuel Taylor Coleridge

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Drache bei der Rauschenburg

Der dritte Ritter

Eichhörnchen Perry im Glück

Die Rosenprinzessin

Die Prinzessin und die Krone aus Morgentau

Die Jungfrau im Burgteich

Der Liebeskelch

Die Ringe

Die Liebesbotschaft

Der Jungbrunnen im goldenen Schrein

Himmelsgold

Die Märchenprinzessin und die kleine Ente Schnatter

Das Zauberpferd

Die Perlenkette

Aufblühendes Glück

Der goldene Prinz

Fressbrettchen

Die Hummelburg

Die goldene Kutsche

Seelenjagd

Der Fluch des Drachen

Die drei Ringe

Anglerglück

Tolo, Fido, Prinzessin Seejungfrau Celestine…

Der letzte Tanz

Bruder Joswig und die Damen

Der Kaiser und die Erdbeere

Das Wunder von der Rauschenburg

Das Maislabyrinth

Streit der Wunder

Gemeinsamkeit macht stark

Julius und Rosi vom Schreckenberg

Der Spargel und der Regenwurm

Ungewissheit verbindet

Der Rauschenburger Mäusefänger

Flammen der Liebe

Der vergrabene Schatz

Auf Schatzsuche in der Rauschenburg

Tischsitten im Mittelalter

Tugend des Minnedienstes

Burgromantik und Lebenskampf

Die Rauschenburger Ritter

Ritter ohne Fehl und Tadel

Ritterschlag – vom Knappen zum Ritter

Es war einmal

Ritterspiel um den versteckten Schatz

Der Giftmord auf der Rauschenburg

Der Ritter mit dem eisernen Halsband

Die Gräfin und der General – die Rache

Das Ende des Grafen von Rauschenburg

Die treue Frau zu Kriebstein

Die Sommerburg

Der Hühnergott

Der legendäre „tolle Bomberg“

Die weißen Frauen und der Hund von Burg Wilbring

Die wertvollste Perle

Prinzessin Feline und der Engel der Sonne

Die Weisheit des Einhorns

Tanz der Liebe

Ausgelöscht durch die gelöschte Vergangenheit

Die Felsenburg – wenn die Schwäne Trauer tragen

Die Geister von Schloss Schwanenstein

Das Rätsel um das Monsterschloss

Himmelsschlüssel

Märchen

Sage und Legende

Danksagung

Nachwort

Inhaltsverzeichnis

Bilderverzeichnis

Quellenverzeichnis - Literatur

Das Märchenfenster

Vorwort

Liebe Märchenfreunde!

Die Märchenfiguren, die Euch in diesem Buch begegnen, sind unter anderem bei der alten Rauschenburg im Münsterland und auf Schloss Buddenburg in Lippholthausen zuhause. Beide Burgen schmiegten sich nah an den Lippefluss.

Zu ihrer starken Zeit war die Rauschenburg an der Lippe ein mächtiger Burgfried, um den sich heute noch viele Geschichten und Märchen drehen und wenden. Wir treffen dort zauberhafte Prinzessinnen, unerschrockene Prinzen und mutige Ritter. Ein Zauberpferd und sogar ein Drache werden um die schon viele Jahrhunderte wildromantisch, wie verwunschen daliegende Schlossruine lebendig. Das lange Zeit leerstehende und sich im Dornröschenschlaf befindliche Schloss mit seiner bewegten Geschichte als prächtige Residenz für manchen Adeligen, bot durch Lage, Architektur und Historie genau die Kulisse für den Schauplatz, an dem sich das wundersame Märchen vom geheimnisvollen Zauberpferd Mystery-Butterfly zugetragen haben musste. Dämonische Drachen treten in Erscheinung, und auf der Reise ins Mittelalter begegnen uns außerdem zahlreiche Fabelwesen.

Wenn die Mauern der Rauschenburg erzählen könnten, würden wir von ihnen eine Epoche voll wunderbarer Geschichten hören. Noch heute, wenn man auf dem geschichtsträchtigen Boden der alten Burgruine steht, säuselt der Wind uns manchmal leise die Stimmen vergangener Zeiten ins Ohr. Wenn es stürmt oder schneit, erinnert dies an vergangene wildromantische bis düstere Ereignisse, die in den vergangenen Jahrhunderten die Menschen bewegten.

Aus der Buddenburg gingen Ritter hervor, die für die Grafen von der Mark kämpften. In vielen Jahrhunderten beherbergte die Buddenburg das Schicksal seiner Bewohner. Die Mauern der Buddenburg stehen heute längst nicht mehr. Nur die Schlossallee, die alten Bäume des Waldes, die Buddenburger Schlossmühle, der verwilderte Schlosspark und eine weißblühende Ligusterhecke erinnern noch an den alten Burgfried aus vergangenen Zeiten. Doch auch über diese Hecken flieht der Wind und lässt uns manches der alten Geheimnisse erfühlen.

Viele große Schlachten und Ränke wurden um die Rauschenburg geschlagen und geschmiedet. Die alten Römer waren in der Zeit vom 11. bis 7. Jh. vor Christus im Münsterland präsent und kontrollierten den Flussübergang über den Lippefluss, eine wichtige logistische Landmarke der römischen Eroberer, deren Schutz die Rauschenburg seit ihrem Bestehen mit übernahm.

Seit dem Hochmittelalter bis in die Neuzeit gehörte die im 11. Jh. erstmals erwähnte Rauschenburg zum Hochstift Münster und befand sich im sog. Hexenkessel des westfälischen Vierländerecks. In diesem Hexenkessel lag auch die nahe, jedoch zur Grafschaft Mark gehörende, Buddenburg.

Die Interessen von vier Landesherren prallten dort aufeinander, der Bischöfe von Münster, der Grafen von der Mark, der Grafen von Dortmund und der Bischöfe von Köln, die über das Vest Recklinghausen herrschten. Die großen Ländereien der Rauschenburg befanden sich mitten in diesem Schlachtgebiet. (Abbildung Seite →)

Otto IV. von Hoya, seinerzeit Bischof von Münster, streckte im 14. Jh. nach Christi mit den in seinem Dienst stehenden Reisigen seine Fühler nach der Grafschaft Mark aus. Er plünderte, brandschatzte und schändete und fügte der märkischen Umgebung großen Schaden zu. Ihm widersetzte sich kraftvoll Graf Konrad V. von der Mark mit seinen Mannen. Die mutigen Ritter der Grafschaft Mark, zu denen auch die Buddenburger Ritter gehörten, und das Heer des Bischofs von Münster trafen gegnerisch aufeinander. Ein großes blutiges Gefecht fand auf dem Schlachtfeld an der Rauschenburg statt. Die Angreifer wurden von den märkischen Rittern bei der Rauschenburg an der Lippe besiegt. Graf Konrad von der Mark schlug den angreifenden bischöflichen Tross in die Flucht.

Er drängte die Feinde so weit zurück, dass sie sich geschlagen geben mussten.

Ritter führten damals ein sehr stressiges Leben. Trotz dieses Sieges kam es immer wieder zu heftigen Unruhen, die Graf Konrad erfolgreich niederschlug.

Eine weitere große Schlacht geschah im 16. Jahrhundert. Damals ließ eine Fehde die Gegend um die Rauschenburg abermals erzittern und zum furchtbaren Schauplatz gefährlicher, feindlicher und zahlreicher Opfer fordernden Zusammenstöße werden. Der Boden um die Burg Rauschenburg war vom Blut der gefallenen Kämpfer getränkt.

Auf diesem historischen Fleckchen Erde, wo einst die Ritter von der Rauschenburg herrschten, hat man heute die Möglichkeit, sich eine gemütliche Kaffeepause mit einem frischen Stück Kuchen zu gönnen, im Hofladen der Familie Tenkhoff, die schon seit vielen Generationen an der Rauschenburg beheimatet ist.

Heute steht die Rauschenburg nicht mehr für Ritterkriege, sondern für Spargel und Erdbeeren. Ihr Name ist jetzt mit dem beliebten, dort angebauten Rauschenburger Spargel und den fruchtigen Rauschenburger Erdbeeren verbunden.

Was geschieht, wenn die Phantasie von Zeit zu Zeit in geheimnisvollen Bildern durch längst vergangene Welten erhabener Orte streift?

Alte Schlösser und Burgen offenbaren uns, in diesem Buch vereint, ihre Geheimnisse und erzählen ihre Geschichten:

Phantastische Burggeschichten,

Dramatische Burggeschichten,

Romantische Burggeschichten,

Gefährliche Burggeschichten,

Poetische Burggeschichten,

Rittergeschichten.

Rauschenburg an der Lippe

Es war einmal eine trutzige Burg. Sie lag an einem Fluss, der sich wie ein seidenes Band durch die Landschaft schlängelte. Die Burg erhielt den Namen Rauschenburg.

Die stattliche Festung wuchs aus ihrem Burggraben empor und die Wasser der Lippe strömten funkelnd und glitzernd an ihr vorbei.

Buddenburg an der Lippe

Ganz in der Nähe von der Rauschenburg schmiegte sich die erhabene Buddenburg an den Lippefluss.

Die Bewohner beider Burgen erlebten vorübergehend ihr Schicksal gemeinsam.

Hier folgen einige

Geschichten:

Der Drache bei der Rauschenburg

Bei der Rauschenburg, nahe dem Lippefluss, gab es vor vielen Jahren einen purpurfarbenen Drachen. Er besaß einen langen Schwanz, vier

Füße mit riesigen Klauen, hatte fast undurchdringliche Schuppen wie ein Fisch und einen massigen, gehörnten Kopf. Wenn er sein riesiges Maul aufriss, zeigte er mehrere Reihen seiner furchtbar scharfen und spitzen Zähne. Dieser furchterregende Gigant, so groß wie zwei Elefanten, mit der Ähnlichkeit eines hoch aufgerichteten Krokodils, schaffte es, mit seinen vier kräftigen Beinen erstaunlich schnell zu rennen. Die größten Entfernungen überwand er aber im Flug, denn er konnte fliegen wie ein Vogel. Sah man ihn sich durch die Lüfte schwingen, erinnerte er an einen uralten Flugsaurier. Der Drache ernährte sich von Lavagestein aus der Vulkaneifel. Ein Vulkan bricht aus, wenn flüssiges Gestein in einer Höhle tief im Inneren der Erde unter dem Vulkan heiß wird und, nachdem die Höhle gefüllt ist, durch einen Spalt nach außen tritt, oder wenn Trolle, die in unterirdischen Steinhöhlen leben, ihren Hausputz machen. Immer dann, wenn die Erde Feuer spuckte, trat die Vulkanlava aus, und der Drache flog windesschnell vom Lippefluss bis zur Eifel. Dort schnappte er sich die steinernen Happen oder fischte sie sich aus den Lavaseen. In kürzester Zeit legte er die weitesten Entfernungen zurück. Doch er konnte auch monatelang ohne Nahrung auskommen und in seinem Bau verweilen. So riesig er auch war, so schaffte er es, sich klein zu machen, wie eine Schlange zu kriechen und zu schwimmen wie ein Fisch. Wenn er mit seinen riesigen Pranken in den Fluss sprang, spritzte so viel Wasser heraus, dass die angrenzenden Wiesen nass waren und es tagelang regnen musste, damit das Flussbett sich wieder füllte. Der Drache machte sich durch laute, rasselnde Schnarchgeräusche, hin und wieder durchdringendes Geschrei und Feuerspeien bemerkbar.

Diese und noch viel mehr furchterregende Geschichten erzählten sich die Menschen und beschuldigten ihn, einen kalten Stein anstatt eines schlagenden Herzens in der Brust zu haben und ein menschenfeindliches Ungeheuer zu sein. Darüber hinaus wussten sie zu berichten, dass der Drache die fruchtbringenden Wasser zurückhielt und Sonne und Mond zu verschlingen drohte. Außerdem hole er sich rücksichtslos alles, was ihm gefiel oder Nutzen brachte.

In früheren Zeiten war die Bewaldung sehr viel umfangreicher und dichter als heute, weil es damals viel weniger Menschen und kaum Bebauung in der Landschaft gab. Tief im Wald hauste der Drache in einer Höhle und bewachte seinen Drachenhort, wo er wertvolle Schätze hütete. Aus diesem Grund nannte man den Busch bei der Rauschenburg in allerfrühsten Zeiten auch Drachenwald.

Wenn jemand sich seinem Hort näherte, spie der Drache mächtig Feuer, und der Drachenwald war an vielen Stellen durch abgeknickte Bäume und zahlreiche Brandschneisen gezeichnet. Die Bewohner des Landes hofften, dass der Drache eines Tages von einem mutigen Ritter im Kampf besiegt und getötet würde, um die Welt vor ihm zu retten. Während der Ritterzeit lebten auch auf der Rauschenburg über viele Jahre Ritter. Doch keiner von ihnen fand den Mut, sich dem Drachen beherzt entgegenzustellen.

In der Rauschenburg wohnte ein bildschönes, junges Mädchen. Es war die holde Prinzessin Katharina, die zu einem uralten Adelsgeschlecht gehörte.

An einem strahlenden, sonnigen Tag spazierte sie am Flussufer entlang. Sie trug ein langes, silbriges Kleid und um ihren Hals eine perlmuttfarbene Perlenkette. Die hellen Sonnenstrahlen streichelten sie sanft und funkelten mit ihrem glitzernden Kleid und den schimmernden Perlen um die Wette. Vergnügt pflückte sie Blumen von der Wiese und summte dabei ein Lied. Eine wunderschöne Blüte unten am Wasser erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Um sie zu pflücken, musste sie ganz nah an den Fluss herantreten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Plötzlich verdunkelte ein riesengroßer Schatten die Sonne, breitete sich über Katharina aus, und es wurde finster und kühl. Die Prinzessin blickte nach oben und erschrak. Am Himmel erschien eine riesige, dunkle Gestalt. Der mächtige Drache flog mit weiten Schwingen über das Land. In ihrer Aufregung rutschte Katharina von der Uferböschung ab und fiel in den Fluss. Sie konnte zwar schwimmen, doch ihr langes Kleid verhedderte sich unter Wasser zwischen Steinen und Schlingwasserpflanzen. Verzweifelt riss sie an ihrem Kleid und versuchte, es zu befreien und hervorzuziehen. Dabei tauchte sie immer wieder unter, weil es ihr mit nur einer Hand nicht gelang, sich über Wasser zu halten. Längst hatte sie zu viel Wasser geschluckt. Ihre Kräfte schwanden, so dass sie es nicht einmal mehr schaffte, laut um Hilfe zu rufen. Nur noch ein schwaches Aufstöhnen kam über ihre Lippen: „Hilfe…“ – Schon wieder verschluckte sie Wasser, das sie unfreiwillig einatmete und begann zu husten.

Katharinas älterer Bruder, Prinz Maximilian von der Rauschenburg, kam gerade zu Pferd nach Hause. Er richtete seinen Blick über den Wassergraben zur Rauschenburg und darüber hinaus auf die Flusslandschaft. Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend schön. Langsam ritt er in die Burg ein.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Der Prinz blickte nach oben und erkannte den Drachen, der sich der Burg bedrohlich näherte. Instinktiv zog er sein Schwert, um gegen den Drachen zu kämpfen. Doch plötzlich verlangsamte das Ungeheuer seinen Flug und schwebte über dem Fluss. Es schien darin etwas erspäht zu haben. Da erst bemerkte der Prinz, dass jemand im Wasser zappelte und wild um sein Leben kämpfte. Voller Mut und um zu helfen, ritt er in rasender Eile zum nahen Flussufer. Doch bevor er es erreichte, legte der riesige Drache über ihm die Flügel an, stieß nach unten, ergriff mit seinen Klauen die Prinzessin und flog mit ihr, hoch durch die Lüfte, davon.

Vor Entsetzen über die unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Drachen, von dem sie schon so viele schreckliche Geschichten gehört hatte, war die Prinzessin ohnmächtig geworden. Sie merkte nicht, dass das Ungeheuer mit ihr durch die schwindelnden Höhen flog, sie in den Wald brachte und sie vorsichtig in seinem Hort absetzte.

Als Prinzessin Katharina die Augen aufschlug, sah sie in ein großes braunes Augenpaar, das sie voller Interesse anblickte. Sie erkannte den Drachen und ihr wurde klar, in welcher hoffnungslosen Situation sie sich befand.

„Bitte tu mir nichts.“, flehte sie ihn an. Bittere Tränen rannen über ihr Gesicht.

Der Drache legte sein Haupt auf seine krummen Klauen, schaute sie aufmerksam an, und aus seinen Nüstern sprühten rote Feuerfunken. Dabei grunzte er unheimlich. Die Prinzessin erschrak fürchterlich. Doch da schloss der Drache seine Augen und schien einzuschlafen. Katharina beruhigte sich und trocknete ihre Tränen. Sie sah sich um und entdeckte neben sich einen Höhleneingang aus dem ein golden leuchtender Schein drang. Es war der Eingang zur Schatzkammer, die der Drache bewachte. Doch keine Schätze der Welt interessierten Prinzessin Katharina. Sie wollte nur schnell wieder nach Hause. Vorsichtig und leise erhob sie sich, um zu fliehen. Auf Zehenspitzen versuchte sie sich leise davonzuschleichen. Das nasse Kleid klebte an ihrem Körper und erschwerte die Flucht. Der Waldboden unter ihren Füßen war weich und sacht, aber Äste knickten geräuschvoll um und zerbarsten. Sie hoffte, dass der Drache tatsächlich schliefe und nicht aufwachen würde, damit er sie nicht verfolge. Ängstlich sah sie sich noch mal um. Das Ungeheuer lag da und schlief. Doch plötzlich öffnete der Drache seine Augen. Er richtete seinen Blick starr auf sie, und ihr war, als ob ein heftiger Schluchzer aus seinem unheimlichen Maul entwich. Mit einem Satz war das Ungeheuer neben ihr und brachte sie zurück in seinen Hort. Da saß sie nun und war gefangen. Der Drache hockte ihr gegenüber und bewachte sie und den Schatz. Verstohlen betrachtete Katharina das monströse Wesen aus ihren Augenwinkeln. Erstaunt bemerkte sie, dass der Drache gar nicht so hässlich war, wie ihn die Leute immer beschrieben hatten und dass man sich an seinen Anblick wohl gewöhnen könnte. Durch seine Größe war er unheimlich und furchterregend, doch sein Blick erschien ihr außergewöhnlich treu und liebevoll. Während sie noch so nachsann und dachte, dass so ein sanfter Blick nicht zu einer grausamen Bestie passte, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Die Prinzessin schloss erschöpft die Augen und schlief ein. Sie schlummerte so tief und fest, dass sie erst am nächsten Tag wieder erwachte. Als sie die Augen öffnete, erblickte sie erstaunt mehrere fein gesäuberte Maiskolben und eine schöne Blume neben sich. Katharina war sehr hungrig und verzehrte die Maiskolben mit großem Appetit. Der Drache beobachtete sie dabei mit Genugtuung.

„Woher kommt denn die schöne Blume?“ fragte Katharina den Drachen, der daraufhin kurz nickte und Feuerfunken aus seinen Nüstern spie. Katharina ging in Deckung. Sie überlegte, was nun werden sollte. Gern hätte sie gewusst, was der Drache mit ihr vorhatte. Sie konnte sich nicht mit ihm unterhalten. Das war zu gefährlich, weil er als Antwort Feuer spie. So verbrachte sie Tage und Nächte in der Drachenhöhle und wurde liebevoll mit Maiskolben versorgt, die der Drache beschaffte, während sie schlief. Zu jeder Mahlzeit schenkte er ihr eine frische Blume.

Maximilian von der Rauschenburg hatte seine Brüder Alexander und Sebastian alarmiert. Die drei Brüder mobilisierten alle mutigen Ritter, die sie finden konnten, ihnen zu folgen, um den Drachen zu töten und die Prinzessin zu befreien. Am vierten Tag nach dem Verschwinden von Prinzessin Katharina machten sie sich bei Sonnenaufgang mit ihren Schwertern zu Pferd auf den Weg durch den Drachenwald, die Drachenhöhle zu stürmen. Als sie vor der Höhle ankamen, hörten sie die Prinzessin darin singen und erkannten erleichtert, dass sie lebte und sich in der Drachenhöhle befand. Die Ritter sprangen geräuschvoll von ihren Pferden. Das hörte der Drache. Laut grunzend kam er aus der Höhle heraus und spie Feuer. Da stürzten sich die Männer mit vereinten Kräften auf ihn und verletzten ihn mit ihren Schwertern stark. Der Drache wehrte sich nicht und griff sie nicht an. Er versuchte, die Schwertangriffe mit seinen Klauen abzuwehren. Doch es gelang ihm nicht, die Schwerter trafen ihn ins Mark. Bald schwanden seine Kräfte, und er brach mit einem lauten, markerschütternden Wehmutsschrei zusammen. Er stürzte auf den Boden, der unter ihm erzitterte. Die Prinzessin bemerkte dieses Erdbeben und vernahm den durchdringenden, bitteren Aufschrei des Drachens. Überaus erschrocken kam sie aus der schützenden Höhle herausgelaufen, um nachzusehen. Sie erblickte das wüste Kampffeld, ihre Brüder, die Ritter mit ihren blutigen Schwertern.

„Katharina! Komm schnell, wir bringen dich nach Hause!“ rief Sebastian ihr zu.

Die Prinzessin blickte auf den verletzten Drachen, der regungslos auf dem Boden lag. Ihre Stimme überschlug sich, als sie schrie: „Was habt ihr ihm angetan?“

Voller Sorge beugte sie sich zu dem regungslosen Drachen herab. Der öffnete seine treuen Augen und sie erkannte, dass er lebte. Sie rief ihn an: „Geh nicht fort, bleib hier! Du musst leben!“ Dabei streichelte sie sanft seinen massigen Kopf. Der Drache stöhnte vor Schmerzen. Da beugte die Prinzessin sich noch tiefer über ihn.

„Katharina, was tust du da?“ – „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Katharina?“ – „Katharina!“

„Nein, Katharina! Tu es nicht!“ riefen ihre Brüder entsetzt. Doch Katharina ließ sich nicht beirren. Sie gab dem Drachen einen Kuss. Der Schreck aller Umstehenden war unfassbar groß. Entgeistert blickten sie nach dem Kuss auf den verletzten Drachen, der plötzlich begann, sich nach und nach zu entblättern. Er entstieg seinem panzerartigen Körper, in dem zahlreiche Schwerter steckten. Wie aus einem monströsen Mantel heraus trat ein gutaussehender junger Mann, der ganz und gar unversehrt war. Katharinas Brüdern und den umstehenden Rittern fielen vor Schreck die Waffen aus der Hand.

Wortlos und gerührt beobachtete Prinzessin Katharina diese unbegreifliche Verwandlung. Da trat der schöne Jüngling auf sie zu, nahm ihre Hand, sah ihr tief in die Augen und sprach: „Ich war ein verwunschener Prinz und heiße Edmund von der Drachenburg. Es gab eine Fehde zwischen meinem Vater, dem Fürsten von der Drachenburg, und dem bösen Zauberer, der mich in den Zustand eines Drachens versetzte. Mein Vater hatte eine Fee beauftragt, den Zauber zu lösen. Sie aber sagte, dass ich nur dann Rettung finden könnte, wenn eine holde Jungfrau den Mut aufbringen würde, einen hässlichen Drachen zu küssen. Ihr habt mich erlöst, Prinzessin Katharina. Zum Dank dafür schenke ich Euch und Eurer Familie den Goldschatz, den ich die ganze Zeit bewachen musste.“

Er führte Katharina und ihre Brüder in seine Höhle. Alle waren zutiefst geblendet von dem vielen Silber und Gold, das aus jedem Winkel hell erstrahlte und ihnen entgegenblinkte. Danach nahmen die Prinzenbrüder ihre Schwester Katharina und Prinz Edmund mit auf die Rauschenburg. Prinz Edmund schickte einige Ritter zur Drachenburg, damit sie seine Eltern über die Erlösung ihres Sohnes in Kenntnis setzten. Prinzessin Katharina dachte mit Trauer daran, ihren neu gewonnenen Prinzen wieder zu verlieren, sollte er die Rauschenburg verlassen, um nach Hause zur Drachenburg zu reisen. Sie wollte ihn in ihrer Nähe wissen und hoffte im Geheimen, dass er bei ihr bliebe. Während sie noch versonnen ihren Gedanken nachhing, sank Prinz Edmund vor ihr auf die Knie, ergriff ihre Hand und sagte: „Liebste Katharina, ich möchte, dass du meine Frau wirst. Komm mit mir auf die Drachenburg. Meine Eltern werden sich sehr freuen, dich kennenzulernen.“

Katharina fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Noch am selben Tag hielt Prinz Edmund beim Fürsten von der Rauschenburg um die Hand Katharinas an. Dem Fürsten war dieser wohlhabende Prinz für seine Tochter äußerst recht. Darüber hinaus war er hocherfreut über den mächtigen Goldschatz, den der zukünftige Gemahl seiner Tochter mit in die Ehe und ritterwürdige Familie brachte. Der Fürst und die Fürstin von der Drachenburg reisten zur Rauschenburg ins Münsterland, voller Erwartung, ihren schmerzlich vermissten Sohn endlich wiederzusehen. Dort platzten sie direkt in die Hochzeitsvorbereitungen hinein.

Es wurde ein großes Fest gefeiert. Jeder war froh, dass der Drache niemanden mehr beunruhigen konnte. Den Schatz aber versteckten die Rauschenburger Ritter gut. Sie bedeckten ihn mit einer großen, dicken Steinplatte, die mit einem purpurnen, goldenen Drachenwappen geschmückt war. Schon oft hat man nach dem Schatz gesucht, doch bisher wurde er noch nicht gefunden.

Prinz Edmund und Prinzessin Katharina liebten sich sehr und führten eine glückliche Ehe. Sie bekamen zwei Prinzessinnen und drei Prinzen, die dieses Glück besiegelten. Ihre Kinder waren fortan ihr größter Schatz.

Der dritte Ritter

Es war einmal eine große Burg, die trug den Namen Buddenburg und lag direkt neben dem Lippefluss. In dieser Burg wohnte ein reicher, hoch angesehener Baron mit seiner Familie. Er war Ritter im Zeichen der drei silbernen Ringe und ein Edelmann, der für die Sorgen und Nöte der Bauern, die seine Ländereien bewirtschafteten, jederzeit ein offenes Ohr hatte. Seine drei Söhne waren jeweils zwei Jahre auseinander und so grundverschieden, wie man unterschiedlicher kaum sein konnte. Viktor der älteste war der mutigste, er war temperamentvoll und sehr impulsiv, hatte überall etwas mitzureden und präsentierte sich als der geborene Anführer. Beim zweiten Sohn, Vincenz, zeigte sich dieser Eifer schon etwas verhaltener, und der dritte und jüngste Sohn, Valentin, war von äußerst sanftem Gemüt. Die Brüder mochten sich, doch ihren Eigenarten entsprechend, kam es dennoch häufig zu Uneinigkeiten und Rivalitätskämpfen. Von Haus aus ging es gerecht zu. Die Eltern bevorzugten keinen ihrer Söhne. Doch Valentin fühlte sich seinen Brüdern, die ihm gegenüber regelmäßig als Anführer auftraten, meistens unterlegen. Oft machten sie sich lustig über ihn, wenn er sich lieber der Literatur und Musik zuwandte, oder in der Natur den Vögeln und deren Gesang lauschte, während sie sich auf dem Burghof in der Schwertführung übten, um einmal angesehene Ritter, wie ihr Vater, zu werden. Dazu verwendeten sie vorerst aus dünnem Holz gefertigte Schwerter, die ungefährlich waren und deren Nutzung ihr Vater ihnen genehmigte.

Als er sieben Jahre war, schickten die Eltern den Ältesten als Page zu einer nahen Ritterburg, die auch am Lippefluss stand. Graf Theodor von der Rauschenburg lebte dort mit seiner Tochter Charlotte, der Dogge Gilda und zahlreichem Personal. Seine Frau war bei der Geburt des einzigen Kindes verstorben. Charlotte wuchs ohne ihre Mutter auf. Eine warmherzige Kinderfrau, die der Vater einstellte, kümmerte sich um das Wohlergehen des Mädchens. Graf Theodor, der wie der Baron von der Buddenburg dem Ritterorden der drei silbernen Ringe angehörte, trug eine große Verantwortung. Er herrschte über seine Burg und bildete die heranwachsenden Edelknaben zu echten Rittern aus. Ihm gehörten ausgedehnte Wälder und zahlreiche gutgehende Ländereien. Er sorgte dafür, dass seine Bauern die Felder bestellten und abernteten, die Wiesen mähten, die Wälder rodeten und die Gegend um die Rauschenburg pflegten und hegten.

Auf der Rauschenburg sollte Viktor nun Kraft und Geschicklichkeit erwerben. Er lernte dort das Reiten, das Schießen mit der Armbrust und übte den Gebrauch von Schwert, Lanze und Schild. Auch die höfischen Sitten brachte man ihm bei und das Singen und Spielen der Lyra. Seine Geschicklichkeit im Wettkampf war weitaus besser, als im Zupfen der Leier. Anstatt zu singen, übte er sich lieber im Kräftemessen auf dem Burghof mit den anderen Edelknaben.

Zwei Jahre später folgte ihm sein jüngerer Bruder auf die Rauschenburg, um sich ebenso ausbilden zu lassen. Wie sein Bruder Viktor bevorzugte auch Vincenz es, draußen auf dem Burghof mit den anderen Knappen Ritter werden zu üben. Er und sein Bruder trainierten viel. Als ihr jüngster Bruder auf die Rauschenburg kam, um seine Ausbildung anzutreten, waren beide bereits hervorragend in der Schwertführung und anerkannte Wettkampfgegner.

Als er vierzehn Jahre war, wurde der Älteste zum Knappen befördert. Es war ein Etappenschritt zum ersehnten Ziel, einmal ein großer Ritter zu werden. Auf der Rauschenburg richtete man ein großes Fest aus, zu dem auch der Baron, Ritter der drei Ringe von der Buddenburg, mit seiner Gemahlin erschien, um den ältesten Sohn an seinem großen Ehrentag zu feiern. Es war ein besonders bewegter Moment, als Ritter Theodor von der Rauschenburg Viktor sein eigenes Kurzschwert übergab. Sein Bruder Vincenz sah dabei zu und träumte davon, schon bald an der Stelle seines älteren Bruders zu stehen. Nur der Jüngste wäre lieber im Park geblieben, um dort an seiner Laute zu zupfen und der schönen Comtesse Charlotte beim Spaziergang mit ihrem Hund zuzusehen. Manchmal sang sie mit ihrer glockenhellen Stimme, die er besonders gern hörte, ein Lied. Sie inspirierte ihn dazu, sich romantische Melodien einfallen zu lassen, die er dann auf seiner Laute spielte. Schon manches Mal war Charlotte zu ihm gekommen, hatte sein Lautenspiel bewundert und die Klänge mit ihrer Stimme begleitet, was ihn dann sehr stolz machte.

„Du wirst auch eines Tages dort oben stehen, mein lieber Sohn.“, sagte sein Vater zu ihm und zeigte auf das Podest, auf dem sein ältester Bruder nun mit seinem eigenen Schwert stand. Valentin nickte nervös. Dabei dachte er, dass er niemals ein guter Ritter sein würde. Von seinen Brüdern hatte er gelernt, dass es andere im Miteinandermessen gab, die besser waren, als er es je sein könnte. Wahrscheinlich würde er deswegen auch niemals Erfolg bei der zauberhaften Comtesse haben, dachte er traurig. Der älteste Bruder war nun ein Knappe und wurde weiter ausgebildet. Er musste seinem Ritter Dienst tun. Sein führender Ritter war Ritter Kunibert, der auch unter dem Namen Ritter Unverzagt bekannt war. Denn nichts und niemand konnte ihn bezwingen und hätte ihn jemals in die Flucht schlagen können. Viktor hatte nun die stolze Aufgabe, Ritter Kuniberts Schwert zu tragen und ihm dabei zu helfen, die schwere Ritterrüstung anzulegen oder sie ihm wieder abzunehmen. Es war seine Aufgabe, die Waffen zu pflegen und sich um die Pferde zu kümmern.

Rauschenburg 1908

Als er vierzehn war, wurde auch Vincenz Knappe, was ebenfalls bei einer unvergesslichen Festlichkeit besiegelt wurde. Die stolzen Eltern waren von der Buddenburg angereist und gratulierten ihrem zweitältesten Sohn zu seinem eigenen Schwert. Sein führender Ritter, dem er zu folgen hatte, hieß Ritter Edelbert. Dieser galt als ein edler Mann, der den Eindruck machte, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Er war jedoch ein exzellenter Führer des Schwertes, mit dem er schon so manchen Feind besiegt oder in die Flucht geschlagen hatte.

Neben den üblichen Aufgaben, die die Knappen für ihre führenden Ritter zu erledigen hatten, trafen sie sich regelmäßig zu spielerischen Wettkämpfen auf dem Burghof. Hierbei hatten Vincenz und Viktor die Gelegenheit, wie in Kindheitstagen, ihre Kräfte gegeneinander zu messen. So wie Viktor wurde auch Vincenz immer gewandter und besser in der Führung seines Schwertes.

Als ihr jüngster Bruder mit vierzehn Jahren zum Knappen befördert wurde, waren seine Brüder bereits hervorragende Schwertführer und Wettkämpfer. Auch die Lanze konnten sie geschickt führen. Ritter Theodor von der Rauschenburg übergab Valentin sein erstes eigenes Schwert. Der traute sich kaum, es festzuhalten. Niemals würde er ein guter Ritter werden, davon war er immer noch überzeugt. Seine Eltern waren zu seinem großen Tag von der Buddenburg angereist, gratulierten ihm zu seinem ersten eigenen Schwert und ermutigten ihn, tapfer weiterzumachen. Auch seine beiden Brüder wünschten ihm Erfolg auf seinem Weg zum Ritter und boten sich ihm als Sparringspartner an, dass er sich mit ihnen in der Kampftechnik übte. Valentin jedoch hätte lieber sein Examen im Lautespiel und Singen gemacht, als sich auf dem Burghof von Gegnern besiegen zu lassen, sei es im Spiel oder wenn es einmal ernst würde, im Kampf. Sein Ritter, dem er folgte, war Ritter Gyneomar, der auch als tollkühner Ritter Gynni bekannt war. Ritter Gyneomar war besonders furchtlos, draufgängerisch und wagemutig. Manch einer sagte ihm auch List nach. Valentin, der glaubte, dass kämpferische ritterliche Charakterzüge nicht in seinem Blut lägen, tat sich schwer damit, seiner Bestimmung zu folgen. Das Verhältnis zu seinem Ritter Gyneomar war deshalb gespalten. Dieser glaubte, dass Valentin nicht seine ganze Energie gab, um zu tun, was er sollte und konnte. Darum bestrafte Gyneomar in schon mal, indem er ihn im Schlamm Gleichgewichtsübungen mit dem Schwert machen ließ. Meistens fiel Valentin dabei in den Matsch. Die anderen Knappen fanden das sehr belustigend und lachten über ihn. Seine Brüder machten dabei keine Ausnahme. Valentin war traurig und wütend zugleich, doch er konnte sich nicht dagegen wehren. So vergingen die Jahre. Die drei Brüder wurden älter und reifer. An der Waffe waren die beiden älteren von Jahr zu Jahr perfekter geworden. Auch Valentin hatte Fortschritte gemacht, konnte sich aber keineswegs mit seinen Brüdern messen.

Als Viktor 21 Jahre alt wurde, dauerte es nicht mehr lange, dass er nach seiner erfolgreichen Dienstzeit als Knappe mit vier anderen Knappen, von Ritter Theodor von der Rauschenburg mit der Schwertklinge zum Ritter geschlagen wurde. An diesem besonderen Sommertag war viel los auf der Rauschenburg. Die Banner wehten und Fanfaren schmetterten durch das weite Land, um von dem freudigen Ereignis zu künden. Das zusammengelaufene Volk staute sich vor dem Burgtor, um seine Aufwartung zu machen und am Festakt teil zu haben. Die Knappen empfingen in der Kirche das Gelübde und erlangten durch die Zeremonie des Ritterschlags die Ritterwürde.

Ritter Theodor von der Rauschenburg legte Viktor noch einmal ans Herz, die Tugenden wie Ergebenheit und Treue, den Großmut, die Freigiebigkeit und das Sprechen der Wahrheit zu befolgen. Auch maßvolles und besonnenes Handeln und das stetige und beharrliche Verfolgen seiner Ziele forderte er von Viktor, der vor ihm auf dem Boden kniete, um die Achtung zu empfangen.

„Trete immer wohlerzogen auf und betrage dich gegenüber den Frauen ehrerbietig und maßvoll. Schütze und verteidige die Armen, Schwachen, Witwen und Waisen, und achte ältere Personen. Übe dich in Demut und führe ein selbstbeherrschtes Leben. Denn nur, wer in allen Lebenslagen Milde und Zucht bewahrt, erstreitet sich die innere Tugend.“

Als echter Ritter, der Viktor nun war, brachten die Knappen ihm seine eigene Rüstung. Alle neuen Ritter wurden bei einem rauschenden Fest auf der Rauschenburg in Würde gefeiert. Danach ging Ritter Viktor auf seine elterliche Buddenburg, die er einmal übernehmen sollte, zurück. Von nun an war er ein hoch angesehener Edelmann und der Stolz der Familie.

Zwei Jahre später folgte ihm Vincenz auf diesem Weg. Bei der feierlichen Zeremonie schlug Ritter Theodor von der Rauschenburg ihn mit der Schwertleite zum Ritter der drei silbernen Ringe. Auch Vincenz verließ als edler Ritter die Rauschenburg und zog heim auf die Buddenburg.

Zu dieser Zeit hatte Valentin das neunzehnte Lebensjahr erreicht. Seine Neigung zu kämpferischen Handlungen war weiterhin ablehnend. Sein Verhältnis zu seinem auszubildenden Ritter Gyneomar hatte sich dagegen inzwischen gebessert. Denn er hatte erkannt, dass der tollkühne Ritter es tief in seinem Herzen gut mit ihm meinte. Er führte ihn gerne mal durch Durststrecken und Engpässe zum letztendlich hart verdienten Erfolg, der sich immer öfter auch beim Kampftraining einstellte. So hatte man sich auf diese Weise arrangiert. Valentins große Leidenschaft aber galt immer noch der Musik, in die er sein ganzes Herzblut steckte. Er komponierte zahlreiche Melodien, wenn er die Zeit dazu fand. Die anderen Knappen fanden, dass er sich lieber im Kampf üben sollte und nahmen seine Kunst nicht sehr ernst. Auch die Ritter empfahlen ihm, seine Achtsamkeit eher auf die Kampftechniken zu richten, als auf musische Dinge, die zwar auch wünschenswert, jedoch nicht das Wichtigste für einen guten Ritter seien. Die Damen bei Hofe hörten ihm dagegen begeistert zu. Sein ihm liebster weiblicher Fan war die Tochter des Hauses, die bezaubernde Charlotte, die mittlerweile achtzehn Jahre geworden war. Seit er ihr das erste Mal begegnet war, bewegte sie sein Herz.

Charlotte war sehr schön und anmutig, was bei den Edelmännern sehr beliebt war. Auch seinen Brüdern war die Schönheit der Comtesse nicht entgangen. In letzter Zeit ließen sie sich immer häufiger auf der Rauschenburg blicken, um dort an Ritterspielen oder Banketts teilzunehmen. Es war Valentin nicht entgangen, dass sie regelmäßig die liebliche Charlotte im Blick hatten und versuchten, sie zu beeindrucken. Er spürte tief in sich, dass ihm das nicht gefiel. Da war so ein fremdartiger, leichter und hoffnungsvoller Schmerz in seiner Brust, der ihn fühlen ließ, dass da etwas in ihm vorging, was er sich nicht erklären konnte. Seit einiger Zeit hatte er, wenn er Charlotte begegnete und sie freundlich lächeln sah, ein eigenartiges Gefühl in der Brust, hinter der sein Herz vor Aufregung wild hämmerte. Am allerschlimmsten war es für ihn, wenn er sah, dass Charlotte seine Brüder auch anlächelte. Merkte sie denn nicht, dass die um sie warben? Sie jedoch ließ sich nichts anmerken und verhielt sich vollkommen unbefangen. Valentin war sehr eifersüchtig. Er erkannte, dass er sich in Charlotte verliebt hatte. Doch Charlotte liebte nur seine Musik.

Eines Tages ging Charlotte mit ihrer Hündin durch die Lippewiesen spazieren. Gilda erschnüffelte viele Stellen in der Landschaft und entdeckte dabei viel. Oft sprang sie in den Fluss und apportierte Stöckchen, die Charlotte ihr ins Wasser warf. Auf einmal brachte Gilda nicht das Stöckchen zurück. Es war ein glitschiger, klebriger Gegenstand, den sie vor Charlottes Füßen ins Gras fallen ließ. Verwundert betrachtete die den seltsam geformten Gegenstand. Ihre Neugier trieb sie dazu, ihn mit spitzen Fingern vorsichtig aufzuheben. Das nasse Teil war ein verschmutzter alter Lederbeutel, dessen harter Inhalt von einer Schnur gehalten wurde. Mit Mühe und etwas umständlich versuchte Charlotte das Band zu öffnen. Es ließ sich kaum lockern. Ihre Finger schmerzten nach einiger Zeit. Sie stieg zum Fluss hinab und rieb das Band an einem Stein. Endlich öffnete sich der Beutel, gab ein zerschlissenes Tuch frei, und Goldstücke quollen daraus hervor. Verwundert ließ Charlotte ein paar der goldenen Münzen durch ihre Finger gleiten. Gab es etwa noch mehr davon? War in der Nähe ein Schatz vergraben? Könnte es tatsächlich sein, dass ihre schlaue Gilda einen Schatz entdeckt hatte?

„Gilda, zeig mir, wo du das gefunden hast“, rief sie und hielt der Dogge den Beutel vor die Nase. Gilda sprang ins Wasser und schwamm bis zu der Stelle, wo sie den Beutel aufgespürt hatte. In den Lippeauen wechselten sich Inseln und Sandbänke, flache und steile Ufer und Uferausbuchtungen ab. Gilda schwamm zu einer seichten Erhebung, die aus dem Fluss ragte. Sie kletterte aus dem Wasser auf den Sandhügel, scharrte wild und wartete auf ihr Frauchen. Doch Charlotte kam nicht. Gilda bellte und suchte nach ihr, doch Frauchen war nicht mehr zu sehen.

Wo war Charlotte? Alle machten sich große Sorgen, denn Gilda war allein nach Hause zurückgekommen. Lange hatte sie vergebens nach der Fährte ihres Frauchens gesucht. Doch sie hatte ihre Spur am Fluss verloren.

Graf Theodor von der Rauschenburg nahm an, dass seine Tochter entführt wurde, entweder zu Pferd oder mit einem Boot über den Fluss. So war es kein Wunder, dass Gilda keine Witterung aufnehmen konnte. Er schickte alle Ritter aus, die ihm zur Verfügung standen, um seine Tochter zu finden. Mutig rückten sie mit Lanze, Schwert und Schild an, um der Herausforderung zu begegnen und Comtesse Charlotte zu finden.

Dem mutigen Ehrenmann, der sie retten würde, versprach der Graf seine Tochter zur Frau und große Ländereien dazu. Die Ritter landesweit kamen in Scharen, um die schöne Charlotte zu suchen. Sie ritten über die Wiesen, durch Felder und Wälder, doch es gelang ihnen nicht, eine Spur von ihr aufzunehmen.

Der Tag der Sonnenwende war gekommen, als der mittlerweile 21-jährige Valentin zum Ritter geschlagen wurde. Die Burg war fast menschenleer. Die Ritter waren ausgeschwärmt, um Charlotte zu finden. Wie gern wäre er selbst Retter seiner Angebeteten geworden, doch er stand schon eine geschlagene halbe Stunde fast reglos an demselben Fleck, während zwei Knappen ihm seine Ritterrüstung anlegten. Er fühlte sich aufgehalten und auf verlorenem Posten. Es dauerte noch eine geschlagene halbe Stunde, bis er endlich die Rüstung am Körper trug. Sie war aus blank poliertem Metall mit kleinen Verzierungen und nur schwer zu tragen. Schon ohne Bewegung trat ihm der Schweiß aus den Poren hervor. In seiner schweren Rüstung bestieg er dann sein Pferd und ritt mit fünf anderen Knappen, die ebenfalls ihre neuen Rüstungen trugen, zur Kirche. Dort waren wegen der Suche nach der Comtesse nur wenige Leute anwesend. Der Priester, Graf Theodor von der Rauschenburg und die Familien der sechs Knappen, waren die einzigen Beteiligten der Zeremonie. Seine Brüder waren jedoch nicht vor Ort, um ihn zu würdigen. Das übliche Ritterfest war wegen der tragischen Umstände abgesagt worden.

Valentin und die anderen Knappen knieten vor dem Altar, um den Segen zu empfangen. Der Priester segnete sie und auch ihre Waffen. Danach trat Graf Theodor von der Rauschenburg zu Valentin, schlug ihn mit dem Schwert auf die rechte Schulter und sprach: „Valentin, dein Schwert ist nun gesegnet und du bist ein Ritter geworden. Denke immer an die ritterliche Ehre und vergiss niemals, was du ab jetzt darstellst!“

Nach dem Gelübde und der Zeremonie, verließen alle unter Glockengeläut und Fanfarenklängen die Kirche und kehrten unter Anteilnahme und Jubel der Bevölkerung zur Rauschenburg zurück. Dort war alles still, weil das Hoffest ausfiel. Valentin verabschiedete sich von seinen Eltern. Obwohl er sich am liebsten sofort auf die Suche nach Charlotte gemacht hätte, um keine Zeit zu verlieren, ließ er sich von seinem Knappen zuerst die Ritterrüstung ausziehen. Denn ihm war klar, dass er, wenn er damit in den Fluss fiele, wie ein Stein untergehen würde. Aus seiner Rüstung endlich befreit, fühlte er sich erleichtert und schwang sich auf sein Pferd. Ohne Begleitung seines Knappen, dem er das Säubern der Ritterrüstung überließ, machte er sich auf zur Buddenburg, in der Hoffnung dort seine Brüder zu treffen, um durch sie ersehnte positive Neuigkeiten über Charlotte zu erfahren.

Vincenz kam zu Pferd von der Suche nach Comtesse Charlotte nach Hause. Er ritt auf die elterliche Buddenburg zu, als er von weitem seinen älteren Bruder Viktor erblickte. Viktor stieg in der Lippeaue hinter der Burg von seinem Pferd, ließ es dort stehen und ging allein weiter. Vincenz beobachtete ihn aufmerksam, war neugierig und wollte wissen, warum sein Bruder das Pferd stehenließ, um sich allein davonzumachen. Er band sein Pferd an einem Busch fest und ließ es ebenfalls zurück, um Viktor unauffällig zu folgen. Er sah, wie der Bruder am steilen Lippeufer einige von oben herabwachsende Pflanzen beiseiteschob und einen Zugang freilegte. Vincenz rieb sich die Augen und glaubte nicht richtig zu sehen. Viktor war plötzlich verschwunden. Vincenz konnte sich nicht erklären, wo er geblieben war. Er ging in die Richtung, wo er ihn zuletzt gesehen hatte und kam zu einem Eingang, der in einen Gang führte, den er niemals zuvor gesehen hatte. Darin war Viktor offenbar verschwunden. Vorsichtig tastete Vincenz sich in dem schmalen Gang vorwärts. Er konnte aufrecht darin gehen. Plötzlich vernahm er die Stimme seines Bruders. Sie hallte dumpf durch den Gang: „Endlich habe ich dich gefunden, holde Schöne! Hab keine Angst, ich hole dich jetzt hier heraus.“

Vincenz staunte nicht schlecht, als Viktor mit Charlotte auf seinen Armen im dämmerigen Gang auf ihn zukam. Überrascht fragte er ihn: „Wo war sie? Wie hast du sie gefunden?“

„Frag nicht so neugierig. Ich habe genauso gesucht, wie du auch und war nun eben der Erste, der sie gefunden hat.“

Charlotte schien sehr geschwächt zu sein. Viktor brachte sie nach draußen, und sie verschloss die Augen vor dem Tageslicht.

Vincenz kehrte um und ging den Höhlengang weiter entlang, bis er einen Raum erreichte, in dem sich offenbar die Comtesse aufgehalten hatte, denn dort stand ein Krug mit Wasser neben Speiseresten. Mehrere Decken und Kissen lagen auf dem Boden. Die Kissen waren aus Seide, waren mit Silberfaden bestickt und zeigten das Familienwappen der Buddenburger mit drei silbernen Ringen. Die Sachen sahen sauber aus und konnten noch nicht sehr lange dort gelegen haben. Vincenz nahm einen Kissenbezug mit sich und verließ die Höhle.

Schon oft hatte er von dem geheimen Gang unter Schloss Buddenburg gehört. Schon als Kinder hatten er und seine Brüder fieberhaft nach dem Geheimgang gesucht, doch er war ihnen verborgen geblieben. Nur Viktor nicht, musste Vincenz er nun feststellen, nachdem er genau beobachten konnte, wie sein Bruder gezielt auf den Eingang des geheimen Ganges hinzugelaufen war. Hatte er etwa schon gewusst, was und vor allem wen er in der Höhle vorfinden würde?

Die Rettung der Comtesse aus den Händen ihres Entführers sollte gebührend gefeiert werden. Charlotte berichtete, dass sie am Tag ihrer Entführung hinterrücks überfallen und auf ein Pferd gehoben wurde. Bevor man ihr Mund und Augen verband, erkannte sie in ihrem Entführer einen Mann mit unheimlicher schwarzer Maske. Sie erzählte von dem gefundenen Beutel mit den Goldmünzen, der ihr bei der Entführung zu Boden gefallen war.

Nach der Befreiung seiner Tochter ließ Graf Theodor von der Rauschenburg nach dem Goldfund suchen, doch man fand nur noch den leeren Beutel. Offenbar hatten Spaziergänger, oder gar der Mann mit der Maske, der seine Tochter entführte, die Münzen mitgenommen. Auch nach einem möglichen Herkunftsort des Münzschatzes wurde geforscht. Dabei kamen noch mehrere weitere Beutel mit wertvollem Inhalt zum Vorschein. Sie wurden an einer Inselkante im Fluss, nahe der Rauschenburg, gefunden. Man vermutete, dass das Gold von reichen Kaufleuten stammte, und dass es in der Vergangenheit dort entweder angespült oder versteckt wurde. In den früheren Zeiten war es ein übliches Risiko, dass reiche Kaufleute ihre Schiffe durch den Fluss führten und dabei von Raubrittern überfallen wurden.

Der frisch zum Ritter geschlagene Valentin erreichte zu Pferd die elterliche Buddenburg. Weder seine Eltern, noch seine Brüder waren anwesend. Er überlegte, was zu tun sei und blickte über die Flussauen. In der Ferne bemerkte er ein weißes Tuch, das an einem Busch hing und im leichten Wind wehte. Neugierig geworden, ritt er zur Lippewiese, lenkte sein Pferd zu dem Busch und stieg ab. Er schritt auf den Strauch mit dem Tuch zu. Je näher er kam, desto klarer konnte er erkennen, dass sich hinter dem Busch eine dunkle Öffnung befand. Er stellte fest, dass an diesem Ort erst kürzlich jemand gegangen sein musste, da einige Zweige frisch abgeknickt und gebrochen waren. Valentin ergriff das Tuch, das sich in den Zweigen verheddert hatte, löste es vorsichtig heraus und nahm es mit sich. Es war ein weißes Spitzentaschentuch. Bei näherer Betrachtung erkannte er Charlottes Initialen. Vorsichtig steckte er das Tuch in seine Tasche. Dann kletterte er durch das Gebüsch in den dunklen Schacht hinein und befand sich mitten in einem schummrigen Gang, dessen Sicht sich nur von dem wenigen Licht nährte, das von außen hereindrang. Im weiteren Verlauf wurde der Stollen immer düsterer. In diesem Geheimgang suchte Valentin fieberhaft nach Charlotte und fand sie nicht. Ein finsterer Raum mit abgebrannten Kerzen, Decken, Kissen und Essensresten zeigte ihm an, dass sie hier gewesen sein könnte. Auf der Suche nach ihr ging er noch ein Stück des Ganges weiter und entdeckte einen weiteren Raum, in dem eine aus altem Holz gefertigte Kiste stand. An der Wand hingen Teppiche und Lederhäute. Auf dem Boden lagen zahlreiche Lederbeutel mit Goldmünzen und Silberschalen mit Schmuck und Diamanten. Überall standen schwere Teppichballen und Gefäße herum. Manche der Vasen waren mit Gold und Silber gefüllt. Valentin rüttelte an der Kiste und wollte sie an sich ziehen. Sie war unheimlich schwer. Er mühte sich ab und bewegte sie ein kleines Stück von der Wand weg. Dabei splitterte das morsche Holz. Jetzt fiel ihm auf, dass in der Wand hinter der Kiste Steine fehlten. Gespannt blickte er durch das kleine Loch, das sich ihm bot und sah direkt in den Weinkeller der Buddenburg hinein. Hier war er also, der geheime Gang, von dem er als Kind schon so viel gehört hatte. Er lag nun tatsächlich vor ihm. Wie oft hatte er ihn mit seinen Brüdern gesucht und nicht gefunden.

Valentin war einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen. Man erzählte sich, dass der Geheimgang der Buddenburg im Mittelalter, als die Ritterfehden noch an der Tagesordnung waren, ein Fluchtweg für die Burgbewohner war, um Gefahren zu entkommen. Er war aber auch eine Möglichkeit, heimlich in die Burg zu gelangen, was ungewünscht auch für ungebetene Gäste galt. Deshalb hatte man den Gang irgendwann zugemauert. Mit der Zeit war seine Lage in Vergessenheit geraten. Seine Existenz spukte noch in den Köpfen der Menschen herum und landete bei manchen in der Schublade der Legenden. Valentin begriff, dass er neben dem Geheimgang einen Umschlagplatz von Schmugglern entdeckt hatte, die dort ihre gestohlene Beute aufbewahrten. Er fragte sich, ob der Lagerplatz noch genutzt wurde, oder schon Jahrhunderte alt und vergessen war. Immerhin lag überall dicker Staub, und der Einstieg in den Geheimgang war ziemlich von Gestrüpp überwuchert. Es schien, als würde er selten genutzt.

Da Valentin Charlotte nirgendwo entdecken konnte, beschloss er, zur Rauschenburg zurückzureiten, um ihrem Vater ihr Taschentuch zu überbringen und sich dann erneut auf die Suche nach ihr zu machen, um sie zu retten. Er konnte ja nicht wissen, dass sie längst wieder zuhause bei ihrem Vater auf der Rauschenburg verweilte.

Die Erforschung der Holzkiste und alles Gold und Silber der Welt waren Valentin jedenfalls jetzt nicht so wichtig, wie die Suche nach Charlotte und dass er sie endlich wiedersehen würde. In Gedanken spielte er ihr auf seiner Laute ein Liebeslied vor und er träumte, dass sie nur auf ihn gewartet hätte.

Indessen war Charlotte froh, aus dem kühlen dunklen Loch befreit und wieder zuhause zu sein. Um ihre Heimkehr zu feiern, ließ ihr Vater ein großes Fest ausrufen. Ein dreitägiges Hoffest mit Armbrustschießen, Ritterspielen, Jagd und lustigen Prunkgelagen nahm seinen Lauf. Graf Theodor von der Rauschenburg war überglücklich, seine Tochter wohlbehalten wieder bei sich zu haben.

Viktor von der Buddenburg, Ritter der drei silbernen Ringe, war auf dem Weg zum Grafen, um die Comtesse, die er zurückgebracht hatte, zu seiner Ehefrau zu beanspruchen. Auf dem Burghof begegnete er Vincenz. Der stellte ihn zur Rede: „Was ist, wenn ich sage, dass ich der erste war, der die Comtesse gefunden hat?“ fragte er seinen älteren Bruder.

„Wieso solltest du das tun? Es wäre eine Lüge, denn du weißt, dass ich es war, der die Comtesse gerettet hat“, antwortete Viktor verständnislos.

Vincenz mutmaßte: „Du hattest sie wahrscheinlich auch entführt, denn das Versteck kanntest nur du allein.“

„Wage es nicht, mir das zu unterstellen“, verbat sich Viktor und zog sein Schwert gegen den Bruder.

„Willst du mir etwa drohen?“ lachte Vincenz.

„Nein, ich will dich nur warnen.“, drohte Viktor verärgert mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

Vincenz griff nach seinem Schwert und ein wildes Duell zwischen den beiden Brüdern nahm seinen Anfang.

Nun traf auch Valentin in der Rauschenburg ein. Er ritt in den Burghof ein und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Er sah seine beiden Brüder kämpfen. Irgendwie war es dieses Mal anders als sonst. Jetzt schien es kein Spaß mehr zu sein. Graf Theodor von der Rauschenburg trennte die beiden Streithähne und verbat ihnen, sich an einem Freudentag wie diesem, auf seinem Burghof Streitereien hinzugeben. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als der unmissverständlichen Aufforderung des Burgherrn, der sein Hausrecht einforderte, nachzukommen. Schließlich waren sie als Ritter ihrem Herrn Gehorsam schuldig. Die beiden ließen widerwillig voneinander ab und warteten missmutig, was weiter geschehen würde. Die Festgesellschaft hatte von dem Vorfall nichts mitbekommen und feierte fröhlich weiter.

Ritter Viktor trat auf den Grafen zu und hielt um die Hand seiner Tochter an, mit der Begründung, dass er sie sich verdient habe. Vincenz folgte ihm und stellte den gleichen Anspruch. Er zog das Stück Seidenstoff aus seiner Tasche und hielt es seinem Bruder vor die Nase. Der blickte auf das mit Silberfaden gestickte Wappen seiner Väter mit den drei silbernen Ringen. Wütend zischte er seinem Bruder zu: „Wenn du mir nicht den Vortritt lässt, verrate ich allen, dass du die Comtesse entführt hast. Denn nur du kanntest den Gang und das Versteck, und die Kissen sind aus unserem Schloss. Die kannst nur du in Charlottes Gefängnis gebracht haben.“

Graf Theodor rief Charlotte und Viktor zu sich in die Burg, um die beiden zusammenzuführen. Viktor wollte die Comtesse unbedingt zur Frau, doch er zögerte. Er raunte seinem Bruder Vincenz, der mit dem Seidenstoff wedelte, zu: „Wenn du mir Schwierigkeiten machst, kannst du deine Tage zählen.“

Dabei griff er warnend an sein Schwert. Dann folgte er dem Ruf seines Herrn und trat siegessicher an die Seite des Grafen und der Comtesse, die gar nicht wusste wie ihr geschah. Mit Charlotte als Ehefrau würde er eines Tages den größten Waldbestand und die einträglichsten Ländereien des Landes besitzen. Er würde sein eigenes Territorium aufbauen, plante er im Geiste. Unschlagbar und unbesiegbar würde er sein, glaubte er fest an sich.

Der Burgherr ließ die Fanfaren erklingen. Danach verkündete er allen Anwesenden ein freudiges Ereignis: „Liebe anwesenden Gäste! Meine geliebte Tochter, Comtesse Charlotte ist wieder heimgekehrt, und ihr Retter wird nun immer an ihrer Seite sein, damit ihr nichts geschehe.“

Er wandte sich Viktor zu und sprach: „Edler Ritter Viktor von der Buddenburg, Ritter der drei silbernen Ringe, niemals werde ich es Euch vergessen, dass Ihr mir das Allerliebste, was ich verloren hatte, zurückgebracht habt.

Zum Dank dafür gebe ich Euch meine Tochter zur Frau und fünf Ländereien als Mitgift dazu.“

„Vater, ich will ihn nicht heiraten!“ rief Comtesse Charlotte erschrocken.

„Aber Kind, warum denn nicht? Ritter Viktor hat dir dein Leben gerettet. Dafür solltest du ihm für immer dankbar sein.“

„Ja, Vater, das bin ich auch. Aber ich möchte nur den Mann heiraten, den ich liebe.“

„Du sollst aber einen Ritter heiraten, mein Kind. Wen kann man mehr lieben, als den Ritter, der einem das Leben rettete?“

„Seinen Bruder“, rief die Comtesse.

„Seinen Bruder? Den zweiten Ritterbruder von den Buddenburgern etwa?“ fragte ihr Vater sie überrascht und blickte zu Vincenz hinüber, der zu seinem Erstaunen mit einem seidenen Fähnchen wedelte. Welches Zeichen mochte er mit dieser Geste wohl senden?

Dies fragte sich Graf Theodor ernsthaft und einigermaßen verwirrt. Die Blicke aller Anwesenden ruhten nun auf dem überaus verblüfften Vincenz, der die Hand mit der weißen Fahne langsam sinken ließ.

Allein Charlottes Stimme riss alle aus ihrem unmäßigen Erstaunen. Sie rief: „Nein! Ich will den dritten Ritter!“

In diesem Moment ertönte ein wohlklingendes Lautenspiel. Die Melodie erfüllte den Raum und verzauberte die Herzen der Festgesellschaft.

„Hört nur, Vater! Mit diesen süßen Klängen hat er mein Herz gewonnen. Nie wieder möchte ich ohne diese Musik sein, und noch viel weniger ohne ihn, meinen Ritter Valentin!“

Charlotte strahlte glücklich, als Valentin mit seiner Laute auf sie zuschritt.

Er war froh. Denn endlich lächelte seine Angebetete nur für ihn, und sein größter Wunsch hatte sich endlich erfüllt und die Liebe hatte gesiegt.

Eichhörnchen Perry im Glück

Es war im Vorfrühling des Jahres 1908. Auf dem Bauernhof nahe der Rauschenburg hatten die Kinder ein Eichhornweibchen gefangen und mit nach Hause genommen. Sie nannten es Perry. Der Winter hatte Perry sehr angestrengt und ihre Lebensgeister eingeengt. So war es für die Kinder ein leichtes Spiel, als sie Perry ihrer Freiheit beraubten. In der Scheune setzten sie das Eichhörnchen in einen alten Hamsterkäfig mit Drehrad, das als Spielzimmer für Perry gedacht war. Darin sollte das Tierchen herumklettern und sich im Kreise herumschwingen. Die Kinder bereiteten ein weiches Lager mit Laub, stellten eine Schale Wasser hinein und legten einige Haselnüsse dazu. Alle Hofbewohner freuten sich sehr über das kleine, hübsche Tierchen mit dem buschigen Schwanz, den klugen, neugierigen Augen und den winzigen Füßchen, das so putzig an den Nüssen nagte, die es niedlich zwischen den kleinen Pfötchen festhielt. Neugierig beobachteten sie Perry und wunderten sich, dass das Tier die dargebotenen Möglichkeiten nicht annahm, sondern stattdessen immer mehr fast teilnahmslos in der Ecke hockte.

Das Wochenende war da. Auf der Rauschenburg in der Nachbarschaft fand ein großes Fest statt, zu dem alle Hofbewohner geladen waren. Man feierte ausgelassen bis zum späten Abend, als alle todmüde ins Bett fielen.

Nur die Großmutter, die als einzige nicht auf dem Fest war und die das Haus gehütet hatte, konnte nicht schlafen. Sie zog sich ihren Mantel über und wollte draußen ein wenig frische Luft schnappen. Der Mond stand voll am Himmel; als sie am Schuppen vorüberging, durch dessen geöffnete Tür das Mondlicht schien, vernahm sie ein Rascheln und dann ein lautes Knacken. Diese Geräusche wiederholten sich. Aufmerksam geworden, ging sie in den Schuppen hinein. Was sie sah, überraschte sie. Der Käfig auf dem Tisch wackelte. Das Eichhörnchen darin sprang hin und her. Immer wieder und unermüdlich. Vielleicht ist das helle Licht des Vollmonds störend für das Tier, dachte die Großmutter besorgt, nahm eine Decke, hängte sie vor das Fenster und lehnte die Tür nur an, weil sie nicht die Kraft hatte, sie richtig zu schließen. Dann verließ sie den Schuppen und wollte wieder zu Bett gehen. Plötzlich raschelte es am Tor. Sie blickte in die Dunkelheit und glaubte ihren Augen kaum zu trauen. Ein kleines Kerlchen betrat den Hof durch das Hoftor und ging geradewegs in die Scheune. Die Großmutter wusste gleich, dass es das Wichtelmännchen war. Schon ihr eigener Großvater hatte von ihm berichtet, dass es schon seit Urzeiten den Hof beschützte. Die wenigsten hatten das Männchen bisher gesehen. Ihr selbst war der Kleine schon mal als Kind erschienen. Damals stellte sie ihm lange Zeit abends ein Schälchen mit Milch hin, damit es Helfer und Schützer für den Hof bleiben und nicht verschwinden möge. Nun kam das Männchen daher, wie ein alter Freund, fühlte sie. Die Großmutter hatte keine Angst, denn sie wusste, dass es Glück bringt, wenn sich das Wichtelmännchen zeigt. Sie versteckte sich, um es nicht zu stören. Was trug es nur bei sich? Vorsichtig lugte die Großmutter durch den Türspalt. Das Wichtelmännchen kletterte auf den Tisch, hinauf zum Käfig, und reichte mit beiden Händen etwas durch die Gitterstäbe. Danach versuchte es mit Mühe, die Käfigklappe zu öffnen. Doch die Kinder hatten ein Vorhängeschloss angebracht, damit niemand das lustige Eichhörnchen stehlen könnte. Das Wichtelmännchen musste, ohne die Tür zum Käfig öffnen zu können, vom Tisch herabklettern und verschwand. Bald darauf kam es zurück in die Scheune. Es näherte sich wieder dem Käfig und trug in jeder Hand noch einmal etwas bei sich. Was es mit sich führte, war aus der Entfernung nicht zu erkennen. Das Männchen reichte das Mitgebrachte durch die Gitterstäbe. Es gab dem Eichhörnchen geheimnisvolle Zeichen, dann verschwand es wieder in die Nacht. Die Großmutter konnte die Neugier kaum noch ertragen. Auf Zehenspitzen huschte sie in den Schuppen hinein und zum Käfig hin. Dort bot sich ihr ein rührender Anblick. Das Eichhörnchen kümmerte sich mit Hingabe um vier winzige, halbnackte Eichhörnchenbabies.

Am Morgen darauf, als alle um den Frühstückstisch versammelt waren, erzählte die aufgeregte Großmutter – noch immer sehr bewegt – von ihrer nächtlichen Beobachtung des kleinen Wichtelmännchens und der jungen Eichhörnchenfamilie in der Scheune. Doch alle lachten sie aus und unterstellten ihr, sie habe alles nur geträumt.

Der Großvater scherzte: „Das lag wohl am Vollmond, der hat dir die Sinne verwirrt. Zu dieser Jahreszeit gibt es noch keine jungen Eichhörnchen.“