Buster, König der Sunshine Coast - Thorsten Nesch - E-Book

Buster, König der Sunshine Coast E-Book

Thorsten Nesch

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Beschreibung

Das dumme Gesicht meines Freundes halb verdeckt im Dunkeln eines Busches am Boden unter Blättern. Was macht der denn da? «Jojo, steh auf!», rufe ich ihm zu, eigentlich Jörn, für mich nur Jojo. Er guckt mich erstaunt bis belustigt an. «Ich? Alter, du bist der, der im Dreck liegt!» Echt? Verdammt, das ist ja der Nachthimmel hinter ihm. Der Busch ist über mir! Schwindel. Bastian hat mit Ach und Krach das Abi bestanden, und weil er zu viel feiert, machen ihm seine Eltern bei dem geplanten Thailandurlaub einen dicken Strich durch die Rechnung. Jetzt heißt es: Sprachschule in Kanada. Ausgerechnet da, wo es nur Weite, Leere, Kälte, Bären und Hinterwäldler gibt! Doch kaum angekommen, stellt Bastian fest, dass die Sprachschule gar nicht existiert, und so beschließt er, das Land auf eigene Faust zu erkunden – mit Zelt und per Anhalter. Auf seiner Reise entlang der Sunshine Coast lernt er nicht nur ziemlich skurrile Menschen kennen, sondern erfährt auch so einiges über sich selbst. Und wie wäre es, einfach für immer hierzubleiben?

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Seitenzahl: 260

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Thorsten Nesch

Buster, König der Sunshine Coast

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoI. Thailand?1. Filmrisse2. Taxigott3. Filmenden4. Hyperventilieren vorm Rektor5. Zwischenwelt6. Ein Sack Geld7. Die brennende Uhr8. TurboEnglish Ltd.9. Der Hallodri & The Devil’s Motherfuckers10. Schweiß auf AsphaltII. Sunshine Coast11. Vision Quest12. Frühstück mit Brummen13. The-Best-in-the-West14. Engel ohne FlügelIII. Apphillybillies15. Wenn der Fährmann wortkarg ist16. Zwei Nächte17. Cheyenne18. Gedanken ans Sesshaftwerden19. Todesangst20. Ruth zeigt mir den Wald21. Cowboy-Kaffee22. Was tun bei einem Bärenangriff?23. Zeit zu jodeln24. Die Bärenspur25. Schwarzer PassagierIV. Powell Harbour26. Lass die Oma laufen27. Brasilianisch küssen28. Wachtraumsplitter29. -B.C. Ministerium für Gesundheit30. Morgensternschleudernde Männerblicke31. Vorarbeiters Gang und die versaute Happy HourV. Vancouver Island32. Mein erster Song33. Organfledderer34. Endwetter35. Wieder dem Teufel auf die Schippe gespuckt36. Michael Endes und J.R.R. Tolkiens Brainstorming37. Berliner38. Seelöwen beim Bodysurfen39. Zwischen kreativ gekreuzten Baumstämmen40. Deutscher Komponist mit fünf Buchstaben41. Feuerwerk, Jazz und Tango in Victoria42. What goes around comes around43. Landeanflug
[zur Inhaltsübersicht]

Das eigentlich Wichtige sind die Erfahrungen,

die man macht, die Erinnerungen

und die triumphale, überschäumende Freude,

die einen durchströmt, wenn man

das Leben in vollen Zügen genießt.

Tagebuch, Chris McCandless

Aus «In die Wildnis» von Jon Krakauer

 

He was simply a youth,

tremendously excited with life.

On the Road, Jack Kerouac

[zur Inhaltsübersicht]

I. Thailand?

1. Filmrisse

Das dumme Gesicht meines Freundes halb verdeckt im Dunkeln eines Busches am Boden unter Blättern.

Was macht der denn da?

«Jojo, steh auf!», rufe ich ihm zu, eigentlich Jörn, für mich nur Jojo.

Er guckt mich erstaunt bis belustigt an. «Ich? Alter, du bist der, der im Dreck liegt!»

Echt? Verdammt, das ist ja der Nachthimmel hinter ihm. Der Busch ist über mir! Schwindel.

Sein Gesicht verschwindet. Mit den Armen biege ich Äste zur Seite, hebe den Kopf, und einige Äste schlagen zurück, peitschen mir in die Fresse. Alles dreht sich. Mann, bin ich besoffen.

Wieder erscheint mein guter Kumpel, um mir zu helfen. Was wir beide schon alles erlebt haben. Beste Freunde eben.

«Hey», sage ich, weiter komme ich aber nicht, weil mir ein Blatt in den halb offenen Mund segelt. Bevor ich es ausspucken kann, blitzt es über mir. Für einen Moment glaube ich, sein Kopf ist explodiert, so hell ist sein Gesicht erleuchtet. Dann erkenne ich das Handy in seiner Hand. Wieder blitzt es. Der Lutscher fotografiert mich!

«Was soll das?!»

Er kichert. «Geil, Basti völlig im Arsch. Schade, dass es zu dunkel für ein Video ist, na, Facebook reicht auch.»

Ich zeige der Welt beide Mittelfinger und lasse mich zurückfallen. Sollen mich alle so in Erinnerung behalten.

Irgendwann hört es auf zu blitzen, und er zieht an meinen Armen. «Komm hoch jetzt!»

Rumms, liegt er neben mir. Der hat ja nicht weniger als ich intus. Rotzbesoffen.

Ich wünschte, ich könnte die Erdrotation stoppen. Besoffen merkt man erst, wie schnell sich alles in echt dreht.

Jenseits unserer Fußspitzen hält ein Auto, die Seitenscheibe summt runter. Eine Männerstimme fragt: «Kann ich euch helfen?»

Er könnte aufhören, Loopings zu fahren. Das würde ich ihm vorschlagen, wenn nur endlich meine Zunge aufhören würde, sinnlos in meinem Mund herumzuwursten.

«Ja», meint Jojo, «fahren Sie weiter!»

«Nicht noch frech werden, Jörn!»

Ah, es ist Herr Dormagen, unser alter Geschichtslehrer.

«Vorbei, egal, Sie können uns gar nichts mehr sagen. Achtzehnhundertvierundzwanzig, 1659, 1280, 1966, wen interessiert’s, was da passiert ist?»

Er gibt Gas.

Ich hebe die Hand, als würde ich mich melden.

«Was?», fragt Jojo.

Ich spreche sehr langsam: «Was ist da passiert?»

«Wann?»

«In den Jahren, die du eben …»

«Was weiß ich.»

Wir rappeln uns hoch.

«Geschafft!», schnaufe ich.

«Na ja, geschafft? Wenn ich dich so sehe …»

Meine Lowrider verhindern den perfekten Spagat, eine Hand klammert sich an die Bordsteinkante, die andere umarmt den unteren Teil eines Laternenpfahls. Das muss ich, sonst wirft mich der Planet ab, er will mich losschütteln, runter von seinem Rücken, wie einen Parasiten, ab ins All, wo ich hilflos und bis an mein Ende als biologisches Zerfallsprodukt durch die Weiten des Weltraums drifte.

Neben mir blitzt es wieder, dazu das Gegacker von Jojo.

«Boah, Mann, siehst du nicht, dass ich hier tierisch beschäftigt bin?»

«Ja, tierisch, Spinnengang!»

Spinnengang, so nannte das Herr Hamada in Sport immer. Von Gang kann bei mir aber keine Rede sein.

Blitz.

Ich muss was unternehmen, sonst begleitet mich der Abend als Diashow mein Leben lang.

Blitz.

Blut schießt mir in den Kopf, Promillesuppe.

Blitz.

Ich lasse den Bordstein in Ruhe und umfasse mit beiden Händen den Laternenpfahl. Mein Hintern höher als mein Kopf. Es muss aussehen, als wolle ich den Lichtmast aus der Erde reißen.

Blitz.

Jojo gackert wie ein Huhn, das der Fuchs von hinten nimmt.

«Arsch», sage ich.

Es reicht. Ich warte ab, bis er nah genug bei mir ist, dann schnellt mein Arm lasergenau hervor in Richtung Handy, verfehlt es, und ich kippe um wie ein Einjähriger beim Pupsen.

Blitz, blitz, blitz.

Scheiße, bin ich am Ende. Wenn ich jetzt noch mal am Ginkillah nippe, ist alles vorbei.

Jojo löffelt sich vor mir hin, hält aber nach wie vor sein Samsung fest.

Blitz.

«Kacke», sagt er.

«Ja», bestätige ich seine Einschätzung unserer Lage.

«Scheiße.»

«Ja.»

«Weißt du was?», fragt er mich und schaut mir über sein Handy in die Augen.

«Ich weiß gar nichts mehr.»

«Ich glaube, ich habe das Handy die ganze Zeit falsch rumgehalten.»

Es gibt noch Gerechtigkeit im Universum.

Blitz.

«Eh, ich rufe dir jetzt ein Taxi, Basti, okay?»

«Okay.»

«Ein bestimmtes?»

«Eins ohne Blaulicht.»

2. Taxigott

Ich sehe meine Knie vor einem schwarzen Brett, von hinten versucht mich Jojo zu erwürgen.

«Hör auf, lass meinen Hals los …»

«Mit wem redest du?», fragt ein Mann neben mir am Steuer seines Wagens. Herr Dormagen ist es nicht, das steht fest, dieser Mann hier hat einen Vollbart, leicht grau, und spricht mit einem südländischen Akzent. Eine Digitalanzeige springt auf 5,40 €, ich bin in einem Taxi. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, wie die Lichter der Stadt an mir vorbeihuschen.

«Ich spreche mit dem Arsch hinter mir.»

«Also mit deinem kleinen Arsch?»

«Mit dem, der hinter mir sitzt», und lauter: «Jetzt hör endlich auf!»

«Hast du Drogen genommen? Da sitzt keiner.»

«Sehr witzig.» Ich drehe mich um.

Die Rückbank ist leer. Was mich würgt, ist der Gurt an meinem Hals. Meine Knie verlieren ihren Halt, und ich rutsche auf dem glatten Ledersitz fast bis auf die Bodenmatte. Zum Glück kann ich mich festhalten.

Erst kreischt das Getriebe unter mir, dann kreischt der Mann: «Lass die Gangschaltung los!»

«’tschuldigung.»

«Bist du …? Mann, Mann, Mann, gut, dass meine Kinder nicht so bekloppt sind. Ihr habt alle Chancen und sauft euch kaputt, nur Party im Kopf, nur Party …»

Ich setze mich so gerade wie möglich auf. Meine Hose ist wirklich extrem rutschig auf dem Lederbezug. Ich stemme meine Füße auf der Bodenmatte ab und klammere mich mit den Händen am Gurt fest, als wäre er ein Seil und unter mir die Hölle. Ich habe so weit wieder alles unter Kontrolle.

«Kotz mir bloß nicht den Wagen voll. Dann werde ich sauer.»

«Nein.»

«Sag Bescheid.»

«Ja.»

«Geht’s noch?»

«Nur vielleicht nicht so schnell in den Kurven.»

Er guckt mich an. «Gut, wenn die erste kommt, nehme ich die extra langsam.»

 

Das dumpfe Geräusch von Metall auf Schädelknochen wummert noch in meinem Kopf. Eine aalglatte beigefarbene Landschaft breitet sich vor mir aus, endlos wie ein leerer spiegelglatter Sandstrand. Wunderschön.

«Komm von der Motorhaube runter!», ruft der Mann mit dem Akzent.

Eine Autotür wird zugeschlagen.

«Ich fasse es nicht. Der kommt noch nicht mal an meinem Daimler vorbei. Legt sich auf die Motorhaube! So was habe ich überhaupt noch nie erlebt. Junge, wenn das einer sieht, der glaubt, ich habe dich angefahren. Da verliere ich meine Lizenz, willst du das? Willst du das?»

«Nein. So genau habe ich das nicht geplant.»

Meine Wange quietscht über den Lack, ich rutsche wieder, meine Hände finden keinen Halt, meine Beine strampeln in der Luft, und ich bereite mich auf eine harte Landung auf dem Asphalt vor.

Der nette Mann fängt mich auf. Er dreht mich um neunzig Grad gegen den Uhrzeigersinn und deutet mit dem Kopf zur Seite. «Hier wohnst du?»

Ich schaue zu unserem Reihenhaus. «Treffer.»

 

Hinter mir fährt das Taxi mit radierenden Reifen los.

Habe ich bezahlt?

Meine Schulter schleift an der Wand entlang bis zur Tür, leise, meine Eltern schauen sich um diese Uhrzeit immer einen Film an. Endlich, das Türschloss, auf Augenhöhe.

Der Schlüssel fällt mir ein Dutzend Mal aus der Hand, aber die Tür ist ein sicherer Pfeiler, und ich lege mich nicht wieder auf die Fresse.

Gibt es eigentlich einen vernünftigen Grund, warum Schlüssel immer anschwellen, wenn man betrunken ist? Sonst scheinen sie eine Nummer zu klein für das Schlüsselloch, über 2,5 Promille kehrt sich das Verhältnis um. Jemand sollte einen Trichter für Schlüssellöcher erfinden. Was machen die die Dinger auch so klein? Damit keine Besoffenen einbrechen?

Als wir mit der Klasse auf Abschlussfahrt waren, haben wir auch eine Burg besucht. Die Schlüssellöcher dort sahen aus, als hätten die Ritter ihre Streitäxte als Schlüssel benutzt, so groß waren die. Oder waren die dauernd besoffen?

Wieder fällt der Schlüssel runter.

So, jetzt reicht’s, ich knie mich hin, ach, nein, ich knie ja schon vor der Tür, na bitte, super, jetzt noch die Stirn gegen die Türklinke lehnen, so geht das schon viel besser, und mit beiden Zeigefingern forme ich gekonnt einen Trichter, an dessen Innenseiten ich den Schlüssel Richtung Schlüsselloch führe. Der erste Landeanflug scheitert, auch die nächsten geschätzten siebzehn. Dann ist er drin. Magisch öffnet sich die Tür, urplötzlich und gänzlich unerwartet, und ich falle wie ein Baum nach vorne, lande auf dem Gesicht und spüre ein Stechen in der Brust.

3. Filmenden

Ich wache in meinem Bett auf, Schlaf in den Augen, verschwitzt, alles klebt. Ich muss geschwitzt haben wie ein Schwein. Der Schweiß klebt wie Quark an meiner Wange. Es schmatzt und schnirxt in meinem Ohr. Ich habe einen Geschmack im Mund wie ein Wildschwein. Und es riecht streng säuerlich.

Moment, der Schweiß ist gar kein Quark. Es ist Erbrochenes, ich liege in meiner eigenen Kotze, ich habe mich im Schlaf übergeben. Ich richte mich auf, schaue mir den Schlamassel an.

Etwas fällt aus meinen Haaren auf das Laken. Ein Stück Zwiebel … Richtig, Gyros Pita war es gestern. Ekelhaft, mein Magen rebelliert, ich muss schwer schlucken. Ich stehe auf, bin nackt, splitternackt.

Am Hals klebt es, in den Haaren, mein rechtes Ohr ist dicht, und es ist auch kein Schlaf, der mir in den Augen klebt. Ich habe nur einen Gedanken: Duschen.

Ich horche an der Tür: alles ruhig. Ich öffne sie einen Spalt, niemand im Flur, ich wiesel zum Bad und schließe ab.

Gerettet.

Vor dem Badezimmerspiegel bremse ich ab und schaue an mir herunter. Was auf den ersten Blick wie eine dritte Titte aussieht, entpuppt sich als Bluterguss, der Abdruck des Schlüssels, ziemlich direkt über meinem Herz.

Meine Hände zittern, als ich am Wasserhahn drehe, Gesicht nach oben, Augen zu, Augen zu und durch, und eine halbe Flasche Shampoo ins Haar, ins Gesicht, überall, dreimal hintereinander, bis mindestens zwei Hautschichten dran geglaubt haben. So sauber war ich noch nie, aber vorher bin ich auch noch nie so schmutzig gewesen.

Das Handtuch um mich geschlungen, ziehe ich mich wieder in mein Zimmer zurück. Es stinkt wie bei einem Gorilla zwischen den Beinen. Ich reiße das Fenster auf und versprühe mein Deo im Zimmer. Partikelwolken wabern im lauen Luftzug. Am Fenster schnappe ich nach Luft, ziehe mich an, schnappe wieder nach Luft, wickele das gesamte Bettzeug im Laken ein, schnappe nach Luft und verlasse mein Zimmer, während ich den riesigen Bettklumpen am Knoten von mir halte, als hätte da ein Nilpferd reingeschissen.

Selbst das würde besser riechen.

 

«Mum», sage ich so hoch, wie es meine zerschossenen Stimmbänder zulassen. Ich sage Mum und Pa, seit ich Simpsons gucke. Sie mögen es nicht, sie mögen auch die Simpsons nicht mehr, seit ich sie so nenne.

Mum sitzt auf der Wohnzimmercouch und wischt über ihren iPad. Pa liest in seinem neuen E-Reader. Zumindest tut er so. Frührentner, seit einem Jahr, Burn-out, Depression. Die Jahre bis zur Entscheidung waren die Hölle. Kuren, Ärzte, Einweisungen und Tabletten. Jetzt haben die Ärzte seine Stimmungsschwankungen im Griff.

Mum arbeitet seit einem Jahr halbtags in der Nachmittagsbetreuung der Grundschule. Das würde mir im Traum nicht einfallen, mir das Geplärre der Hosenscheißer anzuhören. Jojo hat eine kleine Schwester, die ist lauter als die Feuerwehr, wenn die Tankstelle brennt.

Keiner sagt was, keiner traut sich.

Ich lehne am Türrahmen. «Ich habe mein Bettzeug in den Keller gelegt, war ein bisschen dreckig.»

Pa raunzt: «Hast du da reingeschissen?»

Mit den Stimmungsschwankungen im Griff meinte ich: im Griff auf einem konstant gereizten Niveau. Dafür schwanken sie nicht mehr.

«Gero!», ermahnt ihn Mum.

«Seine anderen Muskeln hatte er gestern Abend ja auch nicht mehr unter Kontrolle. Da würde mich das nicht wundern.»

Mist, sie haben mich gestern gesehen.

Mum ergreift für mich Partei: «Basti hat einen über den Durst getrunken.»

«Die Frage ist, einen was? Einen Drogencocktail?»

«Gero.»

«Ist doch wahr. – Und? Hast du reingeschissen?»

«Nein.»

«Reingekotzt?»

Er schaut mich an.

Ich voll das Pokerface.

«Siehste, Annette, alles vollgekotzt hat er.»

Sein E-Reader fliegt auf die Couch.

«Ich habe ein bisschen gespuckt …»

«Vollgekoddert!»

Mum legt das iPad auf die Tischplatte und richtet es parallel zur Tischkante aus.

«Du warst gestern Abend sehr betrunken», sagt sie.

«Das war doch nicht nur Alkohol», sagt Pa und schlägt ein Bein übers andere.

Da hat er sogar recht. Jojo und ich haben zwischendurch noch einen Stick gerollt, oder zwei, aber jetzt sofort alles zuzugeben wäre fatal. Die Fukushima-Taktik ist da besser, die haben auch nicht gleich gesagt, wie schlimm es wirklich ist, sonst wäre Panik ausgebrochen. Panik brauche ich jetzt nicht.

«Besonders spät warst du nicht zu Hause. Wie war denn die Abschlussfeier?»

«Okay», sage ich zu Mum, obwohl Jojo und ich es gar nicht bis dahin geschafft haben.

Pa räuspert sich und sagt ernst: «Das mit Thailand kannste vergessen.»

«Was?»

Er meint damit die Flugreise, die sie mir versprochen haben, wenn ich die Schule schaffen würde. Das sah vor zwei Jahren nämlich gar nicht danach aus.

«Nach deinem Auftritt gestern Abend!»

«Wieso?»

«So geht’s nicht weiter.»

«Tut es ja auch nicht», bemerke ich schlau.

«Schon, wenn wir dich nach Thailand fliegen lassen.»

«Der Flieger geht nächste Woche.»

«Stimmt, aber ohne dich. Wir haben das Ticket schon storniert.»

«Was?»

«Du hast richtig gehört.»

Mum schaltet sich ein: «Wir sind deine Eltern, wir haben Verantwortung. Verantwortung, die du noch nicht übernehmen kannst, wie du gestern gezeigt hast. Was soll denn das geben mit dir in Thailand? Discos und Partys, da kommst du unter die Räder.»

«Das können wir nicht zulassen», ergänzt Pa.

«Pa!»

«Wir haben dich lieb.»

Dann sag das doch mal direkt und nicht immer nur als Totschlagargument.

«Da werden wir dich nicht alleine in den Partyurlaub schicken. Wir wissen auch, was da los ist, in Thailand. Das kommt nicht in Frage. So kann man sich eben nicht gehenlassen, schon gar nicht in einem fremden Land, und erst recht nicht in Thailand», erläutert Pa.

Ich schaue Mum an, die wieder ihr iPad anstarrt. Sie nickt.

«Das kommt nicht wieder vor», versuche ich einzulenken.

«Das hast du das letzte Mal auch gesagt», meint Pa.

«Das war ein Polterabend!»

«Von fremden Leuten!»

«Aus der Nachbarschaft.»

«Sechs Straßen weiter? Red keinen Mist. So geht das nicht.»

«Ihr habt es versprochen.»

«Du hast uns auch schon viel versprochen.»

«Ich bin jung …»

«Genau, zu jung.»

«Ich bin 18!»

«Seit dreißig Tagen!»

«Zu jung im Kopf, deswegen geht es eben nicht», schaltet sich Mum ein.

Und ich hatte schon allen meinen Kumpels Bescheid gesagt, ich würde ihnen aus Thailand simsen.

«Du brauchst Struktur.»

«Ich brauche Thailand!»

«Nein, und Schluss.»

«Ihr habt euch das schon alles fertig ausgedacht, stimmt’s?»

«Wir hatten gestern Abend, nachdem wir dich reingelassen haben, genug Zeit. Schlafen konnten wir ja nicht.»

«Wir machen uns Sorgen», setzt Mum hinzu.

«Entschuldigung», sage ich, das passt gerade irgendwie, «versprochen habt ihr das.»

Sie nickt, die Lippen zusammengepresst, Achselzucken von Pa.

Ich flüstere: «Das war ein Jahr, nachdem …»

«Du hängengeblieben bist», vollendet er meinen Satz.

Danach hatten sie mir aus Angst um meine Zukunft die Reise in Aussicht gestellt, eine Reise, wohin ich wollte, wenn ich die Schule schaffen würde, und ich wollte nach Thailand.

Jojos großer Bruder war da gewesen und hatte uns die geilsten Geschichten erzählt. Partys …

«Ja, Basti, ja», sagt meine Mutti, «Aber du musst uns auch verstehen, wenigstens ein bisschen. Wie stellst du dir das vor? Da unten gibt es noch ganz andere Drogen, Marihuana! Und die schmeißen dir Tabletten in die Cola. Du musst viel vorsichtiger sein, als du bist.»

Instinktiv will ich sagen, dass das hier nicht anders ist, das weiß jeder aus meiner Klasse, jeder in meinem Alter, der nicht ganz abgestumpft ist, nur meine Eltern haben keine Ahnung. Kam wohl noch nicht in einer Talkshow.

«Ich verspreche euch …, und deswegen darf ich nicht reisen?»

«Doch, doch, doch, ach so, du dachtest, du müsstest zu Hause bleiben. Nein, nein! Reisen darfst du.»

«Aha? Und?»

«Du brauchst ein bisschen mehr Struktur, Sinn.»

«Sinn? Strukturen? Wo soll ich hin?», frage ich und denke, die glotzen zu viel Fernsehen. «Schickt ihr mich zu den strengsten Eltern der Welt?»

Pa klatscht in die Hände. «Gute Idee! Damit machen wir sogar Geld. Sollen wir?»

Mum wischt über ihr iPad und zeigt mir das Display. Eine Fahne ist zu sehen mit zwei roten Balken links und rechts und etwas Rotes in der Mitte. Vielleicht hat sich das Bild nicht mit dem Display gewendet, dann könnte es Österreich sein.

Ich spreche es aus, als hätte mir jemand eine Bowlingkugel in den Bauch geworfen.

«Richtig!», jubelt Pa los, «Österreich, ja, Österreich, die Steiermark, sechs Wochen Almhütte, alleine, nur du und ein Spiegel, Dummheit muss bestraft werden, so kommen wir auch bedeutend billiger weg, mit Österreich.»

Mum schüttelt den Kopf, ich soll nicht auf ihn hören. Ich schaue genauer hin. Zwischen den roten Balken ist ein rotes Hanfblatt. Äh, nein, ein Eichenblatt.

«Ka-na-da?»

«Ja-ha-ha!», echot Pa.

Eishockey, Schnee, Bären und ein paar bärtige Baumfäller.

Und Mum lächelt.

«Was soll ich denn in Kanada?»

Pa zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf mich und schaut Mum an. «Da! Präg dir das Bild gut ein. So sieht echte Dankbarkeit aus! Wir beide sollten Urlaub machen, irgendwo, zwei Wochen, das haben wir uns verdient. Nicht er!»

«Wir haben uns etwas Besonderes für dich ausgedacht», sagt Mum.

«Gestern Nacht?»

«Ja.»

«Wollt ihr nicht noch mal drüber schlafen?»

Ein gemeinsames «Nein!».

«Kann ich noch die Reiermark wählen?»

«Nein», sagt Mum.

«Doch», korrigiert Pa.

«Echt?»

«Nein.»

«Kanada.»

Jetzt nicken beide. Sie sind sich sicher, Kanada oder nichts, kein Verhandlungsspielraum. Nur Weite und Leere und Hinterwäldler. Oder?

Und ich frage: «Oder bin ich doch in einer Fernsehshow?»

«Negativ», sagt Pa.

«Warum dann Kanada? Das ist doch kein Sommerurlaub!»

Mum übernimmt das Wort: «Einen Sommerurlaub haben wir dir auch nicht versprochen, obwohl … es ist ja Sommer in Kanada. Aber vor allem war noch ein Platz frei in einem Sprachprogramm.»

«Ein Sp… du machst Witze! Das ist ein Scherz, oder?»

«Crashkurs Englisch, in vier Wochen hast du den Abschluss. Das ist gut für deine Zukunft.»

«Ich will was Gutes für meine Gegenwart!»

«Das ist Englisch auch», sagt Mum.

«Lernen?»

«Ja.»

«Im Urlaub?»

«Du bist ja in Kanada.»

«Aber in einer Schule», maule ich.

«Nur sechs Stunden.»

«Sechs Stunden lang?»

«Und dann ist Pause, danach nur noch zwei Stündchen am Nachmittag.»

«Aaaah, was soll ich denn …»

«Strukturen», mischt sich Pa ein.

Bye-bye, Thailand. Kein Strand, kein … mir fällt was ein: «Kanada muss doch teurer sein als Thailand. Wir hatten doch ein Budget ausgemacht für den Urlaub, mit Taschengeld.»

Pa streicht sich die Hose glatt. «Dann lebst du eben bescheidener.»

Sie hatten heute für alles eine Antwort. Die Gehirnzellen, die ich gestern getötet habe, scheinen bei denen nachgewachsen zu sein.

«Ich soll nur atmen und lernen?»

«Für das Essen reicht es auch noch.»

«Und wenn ich abends mal …»

«Was?»

«Spaß?»

«Dann geh spazieren. Soll schön da sein. Ich selber war ja noch nie da. Oma und Opa waren nicht so blöde wie ich und deine Mutter.»

Der Esel immer zuerst.

Apropos Esel. Ich bin volljährig. Die zwei können mich nicht einfach irgendwohin schicken. Gegen meinen Willen.

Ich schnippe mit den Fingern. «Moment mal!»

«Jetzt kommt’s», sagt Pa.

«Ich bin 18.»

«Hurra.»

«Was ist, wenn ich nicht mitmache, ich will da nicht hin.»

«Dann eben nicht.»

«Wie? Das war’s? So einfach?»

«Ja, dann bleib eben zu Hause.»

«Wie, zu Hause?»

«Zu Hause wie Rasenmähen, Autowaschen, gemeinsame Mittagessen, Verwandtenbesuche, Museumsbes…»

«Aber meine Reise?»

«Das ist sie. Nur die, oder keine.»

«Kanada oder keine?»

«Genau.»

«Und wenn ich selber irgendwo anders hinwill?»

«Du bist 18.»

«Ja.»

«Volljährig!», sagt er mit wachsender, gespielter Begeisterung.

«Ja.»

«Und pleite!»

Das hatte er also im Sinn.

«Stimmt», gebe ich zu.

Mum schaltet sich wieder ein: «Wenn du ein bisschen gespart hättest, dann …»

«Auf den Satz hast du 18 Jahre gewartet», werfe ich dazwischen.

«Den Satz habe ich monatlich angebracht, sobald du dein Taschengeld verplempert hast.»

«Ich hätte ihm ja nix gegeben», grunzt Pa.

Ich sage: «Ich stehe hier, tu nicht so, als …»

Er redet weiter: «Hättest eben jobben sollen! Als ich so alt war wie du, hatte ich zwei Aushilfsjobs, zwei!»

«Damit, wenn ich so alt bin wie du jetzt, ich auch so…», aber ich beende ich meinen Satz nicht, und wir gucken alle in verschiedene Himmelsrichtungen. Beinahe hätte ich das Falsche gesagt.

Kanada. Kanada ist doch groß.

«Wo denn überhaupt?»

Shit, die Frage kommt einer Kapitulation gleich.

«Vancouver.»

Mein Flug nach Phuket sollte eigentlich um 10 Uhr 30 am Freitag gehen. «Wann?»

«Am Montag.»

«Diesen?»

«Du hast drei Tage zum Packen, das reicht. Pack was Warmes ein, die Nächte sollen kalt sein.»

Schwindel. Nicht vom Alkohol.

«Und wo wohne ich, in Vancouver?»

«Jugendherberge, gleich gegenüber von der Schule, die sind daran angeschlossen, alles gut organisiert.»

«Einzelzimmer?»

«Klar.»

«Okay.»

«Mit Blick aufs Meer», sagt er.

«Wenigstens etwas.»

«Zimmerservice, Minikino und Yakuzzi auf der Terrassehehehehe …», Pa kann sich gar nicht mehr halten vor Lachen. So habe ich ihn schon lange nicht mehr lachen gehört.

Verarscht, ich werde verarscht vom eigenen Fleisch und Blut.

«Jetzt guck nicht so», sagt er: «Was glaubst du denn? Mehrbettzimmer natürlich. Kanada ist teuer. Vierbettzimmer, alles Schüler.»

«Wird bestimmt ganz toll», meint Mum.

«Ganz bestimmt. Die Schule kostet doch auch!»

«War ein Sondergebot, Last Minute, jemand war abgesprungen.»

«Ich frage mich bloß: warum?»

Pa steht auf. «Ich kann mir das nicht mehr länger anhören, ich wünschte, ich hätte so was zum Schulabschluss bekommen.»

Er marschiert an mir vorbei in die Küche.

Und Mum sagt: «Es ist zu deinem Besten.»

«Das Schlimmste passiert, wenn Menschen für einen das Beste wollen.»

«Ach, Basti.»

«Ach, Mum. Sorry, wegen dem Bett.»

«Kann man ja waschen.»

«Bei 1000 Grad.»

Sie lächelt.

Mir fällt mein Führerschein ein: «Was ist mit meinem Führerschein?»

«Alles wie gehabt.»

«Wenn ich wiederkomme, dann mache ich als Erstes den Lappen?»

«Ja.»

Wenigstens etwas. Ich wollte während der Schule anfangen, aber ich durfte nicht wegen der Konzentration.

Rational ist mir klar, dass alte Menschen auch mal jung waren, aber manchmal zweifele ich daran. Oder hatten sie schlichtweg vergessen, wie das ist? Gut, ich bin auch volljährig, aber noch nicht 21, bis dahin wächst mein Hirn noch. Werde ich das bis dahin vergessen haben? Wie sie?

Das Telefon klingelt, Pa geht ran und ruft mich: «Basti, für dich, dein zukünftiger Zellennachbar.»

 

Ich habe das Telefon mit in mein Zimmer genommen und stehe am Fenster.

«Warum rufst du mich nicht auf meinem Handy an?»

«Weil … Mann … gestern … das liegt doch in Einzelteilen da, wo du abgekackt bist.»

«Wieso? Was? Mein iPhone?»

«Was weiß ich, wieso. Weil du zu doof bist. Als ich vom Pissen zurückkam, lagst du in den Büschen und dein Handy in Trümmern.»

«Was? Oh Shit, Shit, Shit.»

Ich versuche, mich zu erinnern. Nichts. Jojo klingt aber nicht so, als hätte er die Geschichte gerade erfunden, und mein iPhone ist nirgends zu sehen, nur das Ladekabel. Mein Magen krampft sich zusammen. Meinen Eltern brauche ich davon gar nichts zu erzählen, bei der Stimmung würde ich sowieso kein neues bekommen.

«Shit, hast du an die Speicherkarte gedacht?»

«Wie denn? Du hast mich genug beschäftigt.»

«Shit», sage ich und denke an all die verschwundenen Fotos und Videos, auch von Ella, und mein Herz sticht.

«Wie bist du heute aus dem Bett gekommen?», fragt er.

«Blendend, und selber?»

«Geht so. Hast du performt?»

«Ich doch nicht. Mein Magen kann alles ab.»

«Der Taxifahrer wollte dich gar nicht mitnehmen.»

«Taxi?»

«Hah! Sag bloß, du weißt das nicht mehr!»

«Doch, doch, ich habe mir ein Taxi gerufen, weil …»

«ICH, Alter, ich habe das Taxi gerufen! Für dich, du warst ja völlig fertig. Der Schüttler hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.»

«Der Schüttler? Wie in: der Schüttler, unser Schuldirektor?»

«Ja!»

«Der kam bei uns in der Kurve vorbei?»

Jojo lacht schallend. «Hör auf.»

Er lacht weiter, hält sogar den Hörer weg, denn er klingt leiser.

Ich rufe: «Was? WAS?»

«Alter, auf der Abschlussfeier!»

«Du warst da?»

«Wir waren da.»

«Ich …?»

«Ich habe dich hingeschleppt. War keine gute Idee, gebe ich zu.»

Sosehr ich mich auch anstrenge, es taucht kein Bild von der Abschlussfeier in meinen Erinnerungen auf.

«War Ella da?», frage ich vorsichtig.

«Alle waren da. Und alle haben dich gesehen. Unvergesslich.»

«Erzähl.»

Mir wird flau im Magen.

«Gleich, wenn du da bist.»

«Wo?»

«Hier!»

«Wo ist hier?»

«Die Penne.»

«Wozu?»

«Dein Zeugnis!»

«Mein …»

«Müssen wir heute abholen, also, ich habe meins schon, du kannst noch, bis 12 Uhr.»

Ein Blick auf meinen Digitalwecker: 11:33 Uhr.

«Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du eher hier bist als ich, und da dachte ich, rufst du ihn mal zu Hause an.»

«Ich glaube, das lasse ich mir zuschicken.»

«Ich glaube, das kannst du vergessen. Der Schüttler hat es gestern extra noch einmal durch die Lautsprecheranlage geplärrt. Man muss es persönlich abholen, weil man es ansonsten nur über einen Gerichtsfirlefanz bekommt.»

11:34 Uhr.

«Wozu?»

«Es geht wohl darum, dass man sonst zu früh in den Urlaub fährt. Hey, nächste Woche Bangkok, Mann!»

«So ähnlich. Wo? Wo kann ich den Wisch abholen?»

«Raum 301.»

4. Hyperventilieren vorm Rektor

Das Gehen fällt mir schwer. Zu heftig hatte ich in die Pedale getreten, um noch rechtzeitig in der Schule anzukommen. Schwindel, Sterne und Ganzkörperschweißausbruch an einem 18 Grad kalten Sommertag. Das T-Shirt klebt an meinem Oberkörper. Und seit ich das Fahrrad abgestellt habe, grüßt mich jeder Schüler, an dem ich vorbeigehe. Bis heute, oder soll ich besser sagen: bis gestern, war ich noch nicht so bekannt an der Schule. Man grüßt mich mit Augenzwinkern, Daumen hoch, grinsend, klatschend und mit Kommentaren, von denen «Na? Auferstanden von den Toten?» noch der freundlichste ist. Mich müssen gestern wirklich alle gesehen haben.

Ich wünschte, ich hätte mich auf der Herfahrt nicht so verausgabt. Ich muss aussehen wie ein Junkie auf Drogenentzug, und wahrscheinlich stinke ich nach Gin und Bier, durch Hautporen gepresst.

Vor Raum 301 warten Jojo, Mezut und David auf mich, alle mit Zetteln, ihren Zeugnissen in der Hand. Sie brüllen los, als sie mich sehen.

Schulterklopfen.

«Leise. Keine Zeit», sage ich. «Psst», zische ich noch mal und lege den Zeigefinger auf meine Lippen, damit sie leise sind, wenn ich die Tür aufziehe.

Aber da wird die Tür schon von innen geöffnet.

Der Schüttler steht mit der Aktentasche unter dem Arm im Rahmen. «Ich wollte gerade gehen.»

Meine Kumpels fallen auf den Boden vor Lachen. Ich nehme den Finger von meinen Lippen.

«Nicht so albern, Jungs», sagt er, aber sie hören nicht. Wozu auch, die haben ihre Zeugnisse schon. Dann geht er wieder ins Büro, und ich folge ihm.

«Tür zu», sagt er, ohne mich anzuschauen, als hätte ich die nicht auch so zugezogen.

Wir setzen uns.

«Ich will Sie gar nicht lange aufhalten, ich wollte eigentlich nur ganz kurz mein Zeugnis …»

«Sebastian.»

«Ja.»

Meine Beine und Hände zittern, Schweiß läuft an meinem Hals herab. Ich blinzele, Sterne explodieren zwischen uns, oh Mann, jetzt nicht noch bewusstlos werden. Erst brauche ich das Zeugnis, dann kann ich umkippen. Ich ziehe die Lippen ein, sie sind kalt, und es schmeckt salzig. Schweiß. Von draußen dringt das Gelächter meiner drei Kumpels herein, wie drei Trolle in einem Horrorfilm.

«Dein gestriges Verhalten ist eines jungen Mannes nicht würdig. Und der bist du jetzt.»

Na, da hätten Sie mich heute Morgen erst mal sehen sollen, als ich aufgewacht bin.

«Was hast du dazu zu sagen?»

Gib mir endlich mein Scheißzeugnis.

«Entschuldigung. Kommt nie wieder vor.»

«Den letzten Satz kannst du dir sparen. Du verlässt die Schule, der Satz hat dir all die letzten Jahre geholfen, jetzt nicht mehr.»

«Entschuldigung.»

«Das sagtest du schon. So betrunken, dass du auf dem Boden herumgerollt bist.»

Mehr Sterne explodieren. Das Zeugnis, das Zeugnis.

Und er redet weiter. «Wie ein neugeborenes Tier. Wissen deine Eltern davon?»

«Sie haben davon erfahren.»

«Oder soll ich sie anrufen?»

Mach, was du willst, gib mir nur mein Zeugnis. Ich wische mir mit den Händen den Schweiß aus dem Gesicht.

«Nicht nötig», sage ich.

Er fischt mein Zeugnis aus seiner Tasche und legt es vor sich auf den Tisch.

Schieb den Schein rüber!

«Was machst du an der Tischkante?», fragt er.

Ich gucke auf meine Hände. Ich halte mich an dem Tisch fest, die Knöchel weiß, ich lasse los, zwei Schweißabdrücke auf dem Holz. Sterne, Sterne, Sterne.

Er beginnt mit einer Ansprache, die ich nicht mitkriege. Nur Wortfetzen schaffen ihren Weg durch meinen Supernova-Sternenhimmel: Moral, Anstand, Zukunft, Verantwortung.

Plötzlich Stille.

Er guckt mich an.

«Ja, danke», sage ich.

«Und? Das ist alles?»

Ich könnte jetzt noch vom Stuhl fallen, kollabieren, die müssten einen Krankenwagen rufen.

«Mehr habe ich nicht zu bieten.»

«Menschenskind. Was kommt denn nach der Schule bei dir?»

«Weiterbildung.»

Er runzelt die Stirn.

«Sprachkurs, Englisch, Vancouver, Kanada. Ab Montag. Kann ich bitte mein Zeugnis haben, bitte.»

«Gut für dich. Ich meinte aber eher Ausbildung oder …»

«Ausbildung, ja, Ausbildung, bei Dießler, kaufmännische Ausbildung, ab 1. September, neun Uhr morgens, ich freue mich schon, ja, bitte, das Zeugnis, bitte?»

«Ja.»

Ich wage gar nicht erst zu warten, bis er es herüberschiebt, und patsche meine Hand drauf. Zu greifen brauche ich es nicht, es klebt auch so an meiner Hand fest. Mein Schweiß ist Sirup, purer Alkoholzucker.

«Danke, danke, für alles», sage ich und stehe rasch auf, weil er schon wieder den Mund öffnet, um etwas zu sagen.

Einhändig presse ich mein Zeugnis an die Brust, weil meine zittrigen Hände es sonst zerrissen hätten. Und dann dreht sich alles, und die Topfpflanze am Boden neben dem Kopierer rast auf mich zu.

Für einen Moment ist alles dunkel.

 

Gleißend helles Licht weckt mich auf. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Kopierer neben mir liegen, die Klappe offen, das Glas an meiner Wange, und die Lichtwalze rollt an meinem Gesicht vorbei, die Topfpflanze über mir.

«Sebastian!»