Café Größenwahn - Dirk Liesemer - E-Book

Café Größenwahn E-Book

Dirk Liesemer

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Beschreibung

An der Wende zum 20. Jahrhundert rebellieren junge Menschen gegen altes, prüdes Denken. Allen Widerständen zum Trotz wollen sie nichts weniger, als ausbrechen, das Leben genießen und sich selbst verwirklichen. Unter ihnen: Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und Arthur Schnitzler. Im Wiener "Café Griensteidl", im Münchner "Café Stefanie" und im Berliner "Café des Westens" lieben und streiten sie sich, schmieden Allianzen und diskutieren dabei aberwitzige Visionen einer anderen, neuen Welt. Dirk Liesemer zeichnet ein ebenso faszinierendes wie höchst unterhaltsames Porträt der "Belle Époque"  – eine Zeit, in der jahrhundertealte Gefüge zerbrechen und die den eigenen Größenwahn stets um ein Vielfaches zu übertreffen vermochte.

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Dirk Liesemer

Café Größenwahn

1890–1915Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde

Hoffmann und Campe

Für Andrea

»Heimlich halten wir alle das Café für den Teufel,

aber ohne den Teufel ist doch nun mal nichts.«

Else Lasker-Schüler

 

»Das rauchige Café ist unser Reich

Vor Gott und Kellner sind wir alle gleich.«

John Höxter

 

»Du findest Keine, die Dir passt – KAFFEEHAUS!

Du stehst innerlich vor dem Selbstmord – KAFFEEHAUS!«

Peter Altenberg

Vorwort

Wer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus. Hier gab es nicht nur Dutzende von Zeitungen aus unzähligen Ländern, hier kamen auch die Neugierigen, die Rebellischen und die Mitteilsamen zusammen, riefen unerschrocken Trends und Moden aus, plauderten über Tumulte und Skandale auf den Bühnen, die damals Geschichte schrieben: in den Theatern und Galerien, den Parlamenten und Königshäusern. Es waren nicht zuletzt junge Menschen, die in den Cafés über die aktuellsten Ideen aus Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft stritten.

In einer Zeit, in der monströse Fabriken in die Höhe schossen, riesige Bahnhöfe, gigantische Luxusschiffe und wuchtige Konsumtempel entstanden, die Städte zu Metropolen anschwollen und Nachrichten aus aller Welt so schnell wie nie zuvor die Runde machten, in einer Zeit auch, in der erstmals Forscher tief in die menschliche Seele zu blicken begannen: In solch einer aufregenden Epoche wollten die jungen Menschen ganz vorne dabei sein, keine Erschütterung verpassen und die Zukunft, die ihre eigene sein würde, mitgestalten.

So waren die Kaffeehäuser einst, was heute die virtuellen Foren in ihren besten Momenten sind: Räume des intelligenten Austausches und des klugen Meinungskampfes. Zahlreiche Talente zog es magisch in die Cafés der Metropolen, und dort erlebten sie bei einer Melange oder einem Glas Mokka, wie die eigenen Auffassungen in hitzigen Wortgefechten vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf gestellt wurden.

Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert fanden in den Kaffeehäusern Europas permanente Revolutionen im Denken, Fühlen und Empfinden statt, die selten leise und besonnen vor sich gingen. Einer, der damals dabei war, der Wiener Schriftsteller Otto Friedländer, schrieb im begeisterten Überschwang, dass Sokrates sich gewiss in der Runde wohlgefühlt hätte. An den Tischen der Dichter, Fabulierer und Tagträumer, der Wortjonglierer und Luftgucker wäre der antike Philosoph, der so leidenschaftlich die Diskussion suchte, kaum aufgefallen und sicher nicht ausgestoßen worden. Das Kaffeehaus, so mutmaßte der Augenzeuge, sei »vielleicht der einzige Ort auf Erden, an dem das gelöste, witzige, phantasievolle, grüblerische, scharfsinnige, zynische Gespräch sich am längsten lebendig gehalten hat«.

In keinem der Cafés, die in jener Zeit in den europäischen Metropolen zu Hunderten entstanden, ging es tollkühner, inspirierender, bissiger und gnadenloser zu als im »Café Größenwahn« – wobei es davon nicht nur ein einziges, sondern deren gleich drei gab, auch wenn sie offiziell anders hießen: Als Erstes war da das Café Griensteidl in Wien, gefolgt vom Café des Westens in Berlin und dem Café Stefanie in München. Obwohl die Kaffeehäuser weit auseinanderlagen, dauerte es nicht lange, bis die Autoren und Künstler zueinander Kontakt aufnahmen.

Als »Café Größenwahn« wurden sie alle drei bald ironisch bezeichnet, was sich als problematischer Titel erweisen sollte. Denn eines Tages begannen Gegner und Neider, ihn abschätzig im Munde zu führen. In diesen Kaffeehäusern hockten gleichwohl die klügsten und aufmüpfigsten Köpfe zusammen, die Kunst, Literatur und Kultur wichtige Impulse und neue Richtungen gaben: Dichter, Kritiker, Träumer, Anarchisten, Spinner, Marxisten und Künstler aller Art, selbstredend Männer wie Frauen.

Hinter jedem Journal, an jedem Marmortischchen verbarg sich ein aufgeweckter Spötter, ein tief blickender Psychoanalytiker oder wenigstens doch ein sorgenvoller Untergangsprophet. Sie liebten es, ihre Gedanken und Formulierungen tanzen zu lassen, um dann zu beobachten, was wohl passiert – und wie die anderen am Tischchen darauf reagieren. Manchmal taten sie auch einfach: nichts. Oder sie warteten geduldig ab, was der Tag bringen würde. »Hier entwickelt Ohnmacht die ihr eigentümlichsten Kräfte, Früchte der Unfruchtbarkeit reifen, und jeder Nichtbesitz verzinst sich«, bemerkte einmal Alfred Polgar, einer der Stars der Wiener Moderne.

Sie alle waren im Kaffeehaus willkommen, selbst wenn sich manch einer dort gerade mal ein Tässchen Mokka leisten konnte. Zur Not, manchmal auch aus Jux oder Spieltrieb boten sie für einen Taler spontan Gedichte an. Die Kellner und Geschäftsführer der Etablissements in Wien, München und Berlin wussten, wie sehr die Talente nicht zuletzt vermögende Gäste anlockten, die sich verzaubern lassen wollten. Von Menschen wie dem gefühligen Jungstar Hugo von Hofmannsthal, dem sinnlichen Zweifler Arthur Schnitzler, dem passionierten Flaneur Peter Altenberg, der verträumten Else Lasker-Schüler und ihrem verstiegenen Dichterfreund, dem Habenichts Peter Hille. Später gesellten sich zu dem illustren Kreis, der oft nur durch Briefe lose miteinander verbunden war, die Schwabinger »Skandalgräfin« Franziska zu Reventlow, der Anarchist Erich Mühsam, der zornige Frank Wedekind und viele andere, von denen nicht wenige jüdischen Familien entstammten.

Manche spielten sehr früh ihre Rolle, ehe sie wieder aus den Kaffeehäusern verschwanden und ihrer eigenen Wege gingen. Doch immerzu tauchten neue Köpfe auf, darunter der charmante Plauderer Eduard Graf von Keyserling, der idealistische Bohemien Leonhard Frank, die tragischen Genies Jakob van Hoddis und Georg Heym, der elegante Schnorrer John Höxter, die fabulierende Diseuse Emmy Hennings, aber auch ein urkomischer Abenteurer, der später einmal als Joachim Ringelnatz bekannt werden sollte.

Sie alle und viele weitere begaben sich ins Kaffeehaus, weil sie sich nach dem täglichen und nächtlichen Tête-à-Tête mit Gleichgesinnten sehnten. Um sich gegenseitig ihrer Leidenschaften zu versichern und ihre Vorstellungen auszutauschen. Oder weil sie rauswollten aus ihren ärmlichen, muffigen, dunklen Quartieren, um sich gegen den Zeitgeist mit seinem zunehmenden Hang zum Militarismus und seiner Feindseligkeit gegenüber Juden und Intellektuellen zu verbünden. Sie misstrauten dieser immer lauteren, immer aggressiveren, immer mehr nach Krieg lüsternden Welt, ja sie ekelten sich vor ihr. »Wir wollen von einer Welt Abschied nehmen, bevor sie zusammenbricht«, sinnierte einmal der Wiener Hugo von Hofmannsthal prophetisch. Nicht nur er befürchtete, dass alles im Untergang begriffen war. Bis es jedoch so weit sein würde, wollten sie ihren heiligen Marmortisch im Kaffeehaus verteidigen, der wenigstens so groß, so offen und so freundlich war, dass immer mehr ihrer wortverliebten Zeitgenossen daran Platz nehmen konnten. Freilich wurde es dabei zuweilen so eng, dass diese alles Notierenden, alles Beobachtenden und alles Diskutierenden gar nicht anders konnten, als sich hin und wieder gegenseitig mit ihren spitzen Federn zu piksen.

Drei Cafés Größenwahn, drei Metropolen – Wien, Berlin, München –, Hunderte Kilometer weit voneinander entfernt, aber verbunden durch Briefe, Aufrufe, Zeitschriften, Telegramme und schließlich auch Telefonate, durch das Geflüster über Skandale, Neuigkeiten und Seitensprünge. Und gar nicht so selten durch gegenseitige Besuche bei den jeweils anderen. Mal tauchten Erich Mühsam und Else Lasker-Schüler in Wien auf, dann verschlug es Peter Altenberg nach München, und schließlich hatten die Wiener Karl Kraus und Oskar Kokoschka für ein paar Tage in Berlin zu tun.

Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Alles um die Künstler herum, ja die ganze Welt war in Bewegung, ohne dass sie vom Tisch aufstehen mussten. Manche schauten Hunderte Male im Kaffeehaus vorbei, andere waren selten gesehene, schillernde oder berüchtigte Paradiesvögel, darunter die allen den Kopf verdrehende Lou Andreas-Salomé, der so steife wie elegante Stefan George oder der freundliche Stefan Zweig. Unablässig wurde debattiert, wurden Ideen feilgeboten, Persönliches vorgetragen, Ansprüche postuliert und den heimlichsten Phantasien freier Lauf gelassen.

Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte zog sich die Geschichte der drei Cafés Größenwahn hin, die voll hoffnungsfroher Anfänge war, ehe die Welt der Bohemiens mit einem für fast alle überraschenden Krieg endete, der menschenverschlingender war als alle bisherigen – und der schließlich als der Erste Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Damit ging zwar ihre Welt unter – und letztlich verschwanden auch die drei Cafés –, nicht jedoch die Vorstellung vom Kaffeehaus als einem Ort unkomplizierter Begegnungen, als einem Debattierclub für kühne Ideen und als einer Art von öffentlichem Salon. Noch heute kann man in dem einen oder anderen Café in Wien, München und Berlin ein wenig von jenem einstigen Glanz und Esprit erahnen.

1. Die Wiener Literaturstars der Jahrhundertwende: stehend Hugo von Hofmannsthal (li.) und Arthur Schnitzler (re.), sitzend Richard Beer-Hofmann (li.) und Felix Salten (re.) mit unbekannten Damen am Prater (1894)

Am dritten Tisch links

Juli 1890 bis August 1891

Nach Jahren im Ausland kehrt der Schriftsteller Hermann Bahr nach Wien zurück und will am liebsten gleich weiterreisen. Doch die Donaumetropole bietet mehr als jeder andere Ort in Europa: eine einzigartige Hochkultur des Koffeingenusses und ein Kaffeehaus, das bald als Wiener Café Größenwahn berüchtigt wird. Dort treffen sich die aussichtsreichsten Talente der Jahrhundertwende, vorneweg der geniale Gymnasiast Hugo von Hofmannsthal und der sinnliche Arthur Schnitzler, der viel lieber Schriftsteller als Arzt wäre, wenn ihn der Vater denn nur ließe.

2. Straßenszene am Stephansdom in Wien um 1900

Wien

Kalter Wind fegt über die Boulevards, als Hermann Bahr im April 1891 wieder durch die Stadt seiner Jugend flaniert, die er einst verlassen musste. Es kommt ihm winterlich vor, geradezu eisig wie in Russland, wohin er kürzlich ein Theater begleitet hat. Am liebsten würde er gleich weiterreisen, nur fort von hier, und einem Freund ins warme Palästina folgen, wäre ihm nicht das Geld ausgegangen, was man ihm jedoch nicht ansieht. Zu gern kleidet er sich elegant, meist trägt er ein dunkles Sakko und einen steifen Hut. Dabei ist Bahr jung, gerade siebenundzwanzig Jahre alt, hat aber bereits in halb Europa gelebt und sich überall nicht nur Freunde geschaffen. Er ist ein kräftiger Mann mit breitem Kreuz und einem dunklen Vollbart, der ihn in dieser Welt des neunzehnten Jahrhunderts erfahren und glaubwürdig wirken lassen soll.

Bahr stammt aus der Provinz, aus Linz, aber hier in Wien hat er das Akademische Gymnasium besucht und Rechtswissenschaften studiert, bis man ihn von der Universität warf, weil er vor einer Burschenschaft eine skandalöse Rede zum Gedenken an den just verstorbenen Richard Wagner gehalten hatte. Damals, vor acht Jahren, war er radikal deutschnational gewesen: Er hatte das Habsburgerreich wegen der vielen Völker abgelehnt, das Deutschtum hochgehalten, er hatte auf die Juden geschimpft, etwas von »Erlösung« gefaselt und damit einen Tumult hervorgerufen. Nach seinem Rauswurf aus der Hochschule hatte Hermann Bahr in der Ferne, in Czernowitz, Berlin, Paris und Sankt Petersburg, neue Leidenschaften entdeckt: das Theater und die Literatur. Mittlerweile hat er das Politisieren hinter sich gelassen, nicht aber das Provozieren. Er liebt es, braucht es regelrecht für sein Wohlbefinden und wird sein Leben lang nie davon lassen. Gerade eben hat er ein schlüpfriges Theaterstück über eine lüsterne, lesbische Mutter geschrieben, das sicher nicht jedem gefallen wird. Er freut sich jetzt schon auf die empörten Reaktionen.

Nun, auf seinem Spaziergang durchs kaiserliche Wien, dürfte ihm auffallen, wie nicht nur er sich gewandelt hat, sondern auch die Metropole des riesigen österreichisch-ungarischen Reiches. Jahr für Jahr strömen Zehntausende Menschen nach Wien, sie kommen aus allen Regionen des Habsburgerreichs, aus Galizien, der Bukowina, aus Friaul-Julisch Venetien, aus Böhmen und Mähren, Siebenbürgen und Südtirol, dem Banat, der Karpatenukraine, aus der Vojvodina und aus dem besetzten, aufsässigen Bosnien und der Herzegowina. In Wien leben mehr Tschechen als in Prag, und es sind tschechische Dienstmädchen, die in diesen Jahren mit Knödeln und Palatschinken die Wiener Küche hervorzaubern, die einmal als typisch österreichisch gelten wird. Nicht nur Hilfsarbeiter suchen ihr Glück in Wien, auch Schneider, Schlosser, Tischler, Advokaten, Professoren und Fabrikanten. Die Reicheren reisen mit ihren Familien an, mieten herrschaftliche Wohnungen, schicken ihre Söhne und Töchter auf die besten Schulen, eröffnen Büros und Praxen, gründen Firmen und Manufakturen.

Schon jetzt wohnen in der Metropole knapp anderthalb Millionen Menschen. Und der Zuzug hält ungebremst an. Wenn die Stadt weiter so rasant wächst, wird sie in zwei Jahrzehnten, also um das Jahr 1910, die viertgrößte Metropole der Welt sein, nach New York, London und Paris, aber vor Berlin und weit vor München. Sollte nichts dazwischenkommen, keine Seuche und kein Krieg, dürfte sie Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sagenhafte vier Millionen Einwohner zählen. Niemand kann sich das recht vorstellen, und kaum jemand möchte es.

Die Residenzstadt fasst die Massen längst nicht mehr. Während Kaiser Franz Joseph I. und seine Gemahlin Elisabeth von Österreich-Ungarn im weitläufigen Schloss Schönbrunn residieren, hausen nicht weit davon entfernt Arbeiter, Tagelöhner und Hungerleider in muffigen, beengten Quartieren. Glücklich ist, wer ein eigenes Bett besitzt, das sich stundenweise vermieten lässt, froh ein jeder, der in einem Massenquartier einen Platz ergattert hat und nicht unter einer Brücke schlafen muss. Erst im vergangenen Jahr, am 1. Mai 1890, dem neuen Kampftag der Sozialdemokraten, hat es die größte Protestkundgebung in der Geschichte der Monarchie gegeben. Wie vielerorts in Europa versammelten sich auf dem Gelände des Praters hunderttausend Arbeiter und forderten Utopisches: nicht nur gerechten Lohn, sondern ein besseres Leben mit acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden freier Zeit.

Im Imperium von Franz Joseph I. dürfen auch jene träumen, denen sonst nichts bleibt. Trostlos ist der Alltag für viel zu viele Menschen. Allein die vierhundertfünfzig Wiener Straßenbahnkutscher sitzen täglich sechzehn bis achtzehn Stunden für kleinstes Geld in ihren Kabinen. Verspäten sie sich nur um eine einzige Minute an einer Station ihrer Strecke, drohen Sonderschichten am arbeitsfreien Tag. Nicht bloß sie werden so geknebelt. Doch die Nöte und Sehnsüchte der kleinen Leute lassen Kaiser, Adel und Großbürger kalt. Sie geben sich einer anderen Utopie hin und haben die Millionenstadt in eine gewaltige Baustelle verwandelt. Erst ließen sie gewaltige Dämme errichten, um die Donau einzuhegen, die regelmäßig die Stadt überflutete, dann begann der Bau der pompösen, rund vier Kilometer langen Ringstraße, des stolzesten und prächtigsten Boulevards auf dem Kontinent. Immer mehr verwandelt sich das alte Wien in ein neues Athen an der Donau. Knapp achthundertfünfzig neue Gebäude sollen am Ende am Ring stehen, viele davon aufwendig ausgestattet mit Skulpturen, Säulen und Ornamenten.

Als erstes Haus am Ring öffnete das wuchtige kaiserlich-königliche Hof-Operntheater, das später als Staatsoper weltberühmt wird, etwas weiter prunkt das Burgtheater, die größte Bühne Europas, gefolgt von der Börse im Stil der Neorenaissance. Monumental präsentiert sich der Heldenplatz, wenig bescheiden geben sich auch die beiden riesigen Museen, das Kunsthistorische und das Naturhistorische mit seiner habsburgischen Meteoritensammlung. Für die Ewigkeit gebaut sind die Neue Universität und das neogotische Rathaus mit seinen gut anderthalb Tausend Zimmern. Einschüchternd wirkt der an einen griechischen Tempel erinnernde Reichsrat, das Parlament. Hinzu kommen all die protzigen Ministerien, von denen das größenwahnsinnigste, das Kriegsministerium, noch nicht einmal geplant ist. Stets ließen sich die Architekten vom antiken Rom und Athen inspirieren, bis ihr Kolossalwerk auf die Menschen in Wien wie eine Beschwörung alter Macht zu wirken begann.

Während in den Vorstädten noch die Wege gepflastert werden, zieht ins Stadtzentrum die moderne Zeit ein: Arbeiter verlegen Kabel für neuartige Geräte, die man Fernsprechkioske nennt. Man spricht in ein Rohr und hält sich ein zweites ans Ohr. So kann man sich mit jemandem unterhalten, der sich ganz woanders aufhält. Allein im Zentrum stehen mittlerweile sechs öffentliche Sprechzellen, und ständig kommen weitere hinzu. Auch ein paar Benzinkutschen rumpeln durch die Straßen, jene Gefährte, die ein deutscher Ingenieur namens Carl Benz erfunden hat, aber es sind vor allem die Pferdestraßenbahnen, in die täglich Abertausende Wiener einsteigen, um so rasch wie möglich zur Arbeit zu gelangen.

Hermann Bahr biegt jetzt um die Ecke zu seinem Kaffeehaus im frühbarocken Palais Dietrichstein am Michaelerplatz, einem sternförmigen Platz an der Hofburg. Dort, im Café Griensteidl, treffen sich Autoren, Schauspielerinnen und Dramaturgen, tauschen sich aus, lästern über Abwesende oder lesen Zeitschriften, die aus aller Welt eintreffen. Ob wohl jemand schon sein gerade veröffentlichtes lesbisches und inzestuöses Liebesdrama Die Mutter besprochen hat?

Um Kritik, Tratsch und Neuigkeiten zu erfahren, gibt es in Wien keinen besseren Ort als das Kaffeehaus. Ob Beamte, Kaufleute, Militärs, Schauspieler, Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Juden, Protestanten, Katholiken – jede Gruppe hat ihr eigenes. Allein im Stadtzentrum finden sich einhundertfünfzig Cafés, in der ganzen Metropole sind es fünfhundert kaffeeausschenkende Gewerbebetriebe. Alles ist vorhanden, von ärmlichen Schenken bis zu vornehmsten Etablissements mit hohen Gewölbedecken, Plüschmöbeln, Kristalllüstern, Perserteppichen, Thonetstühlen sowie Marmortischen für Getränke und Zeitungen.

So sitzt man in seinem Café, genießt eine Melange und erfährt in den Blättern alles über Aufstände am anderen Ende der Welt. Manch einer fühlt sich wie auf einem Ausguck, von dem aus sich der Planet überblicken lässt. Dabei verspricht der Kaffee einen Hauch von Ferne, Exotik und Abenteuer. Schließlich wachsen die Bohnen Tausende Kilometer weit entfernt, im Hochland Afrikas, eines Kontinents, auf dem es, von Wien aus gesehen, letzte weiße Flecken gibt, obwohl auch diese bereits unter den europäischen Großmächten aufgeteilt sind.

Mit den Kaffeehäusern hat sich eine einzigartige Hochkultur im Reich der Habsburger etabliert. Sicher, nicht nur in Wien stehen prächtige Cafés, auch in Prag und Budapest, in Venedig, Marseille, Paris, London, München und im dröhnenden Berlin. Aber nirgendwo sonst in Europa wird der Kaffee so lustvoll zelebriert wie in der Hauptstadt des riesigen Schmelztiegels im Zentrum Europas. Vielleicht sind die Spezialitäten in anderen Kaffeehäusern exquisiter als im Griensteidl. Im Café Herrenhof etwa treten die Marqueure, wie die Wiener Kellner heißen, mit einer Lackierer-Farbskala an die Marmortischchen der Gäste. Aus nicht weniger als zwanzig nummerierten Schattierungen von Tiefschwarz bis zu einem bräunlichen Weiß soll der Gast seine perfekte Melange aussuchen: Wie dunkel darf der Kaffee sein, wie viel Tropfen Milch sollte er haben?

Es ist nicht leicht, in Wien einen Kaffee richtig zu bestellen, ohne sich vor dem Marqueur zu blamieren. Niemand sollte schlicht nach einem kleinen oder großen Kaffee mit mehr oder weniger viel Milch fragen. Es gibt Schwarze, Braune, Mokka, Doppelmokka, Kurze, Verlängerte und, natürlich, türkischen Kaffee.

Sie alle werden in phantasievollen Kreationen serviert: Wem nach einem Mokka mit üppig Schlagsahne und Puderzucker ist, der sollte einen »Einspänner« oder gleich einen »doppelten Einspänner« ordern. Ein verlängerter Mokka mit Milch, Schlagsahne und Schokostreuseln heißt »Franziskaner«. Als »Kapuziner« wird ein kleiner Mokka mit einigen Tropfen Schlagsahne bezeichnet; will man eine große Portion, sagt man »Konsul«. Üblicherweise sollte ein Kapuziner und damit auch ein Konsul so dunkelbraun sein wie die Robe eines Kapuzinermönchs, wobei eine Prise Kakao den Farbton verdunkelt. Und während ein »Obers« wenig Mokka und viel Schlagsahne enthält, ist ein »Verkehrter« nichts anderes als ein kleiner Mokka mit viel Milchschaum.

Wem all dies zu kompliziert klingt, der bestellt eine »Wiener Melange« und erhält Kaffee mit Milchschaum, selbstverständlich im Teeglas. Oder er bestellt eine »Schale Gold«, woraufhin der Marqueur eine Melange bringt, die so viel Milch enthält, dass der Kaffee goldbraun schimmert. Ein »Brauner« ist das Gleiche, nur mit einigen Tropfen weniger Milch. Anders als eine Melange werden jedoch die Schale Gold, der Braune, der Kapuziner und der Konsul nicht im Teeglas, sondern in einer Porzellanschale serviert. Schließlich soll der Gast sein Getränk auf den ersten Blick von einer Melange unterscheiden können.

All diese Varianten lassen sich freilich verfeinern, mit Rum oder Kirschwasser, mit Rotwein, Wodka, Zucker, Eigelb, Honig oder Weinbrand. Man bestellt einen »Fiaker« oder einen »Kosakenkaffee«, einen »Intermezzo« oder einen »Pharisäer«, einen »Obers gespritzt« oder einen »Schwarzen gespritzt«. In vielen Kaffeehäusern kann man dazu Schokolade, Sorbet, Gefrorenes oder Limonade genießen.

Selbst eine Melange korrekt zu bestellen ist in Wien alles andere als trivial. Der Marqueur will es genauer wissen: Eher weiß oder eher braun? »Mit« oder »ohne«, also mit oder ohne Schlagsahne? Mit oder ohne Haut oder passiert? Heiß oder kühl oder heiß mit kalter Milch in einem Glas oder in einer Schale oder lieber in einer Mokkaschale?

Wer darüber verzweifelt oder sich nicht entscheiden kann, bestellt »eine Portion«. Der Kellner bringt zwei Kännchen, eines mit Kaffee, eines mit Milch. So kann sich jeder selbst seine Melange mischen, was jedoch teurer ist als die fertige Mischung.

Zum Glück weiß ein gestandener Marqueur schon beim zweiten Besuch, was ein Gast gern trinkt. Er erinnert sich an dessen letzte Bestellung, manchmal nach Wochen oder Monaten. Nicht umsonst trägt ein traditionsbewusster Kellner einen gepuderten Zopf, eine weiße Halsbinde, eine grüne Jacke und Schnallenschuhe. Der große, schlanke Gast mit den blonden Haaren? Der hat letztes Mal eine kalte Melange, mehr weiß, ohne, passiert in der Teeschale geordert. Sollte der Marqueur wissen, dass es sich um Herrn Schneider handelt, wird er ihn als »Herr von Schneider« begrüßen. Kennt er den Namen nicht, sagt er »Euer Gnaden« – oder auch »Herr Doktor«, falls der Gast denn einen Zwicker, also eine bügellose Brille, auf der Nase trägt.

Wer im Stammcafé freundlich auftritt, dem erfüllt der Marqueur prompt jeden Wunsch, er schleppt Zeitungen herbei, reicht Briefe diskret weiter und streckt notfalls eine Zeche vor. Nur zu Silvester überreicht er dem Gast eine Karte und freut sich über ein nicht zu knauseriges Trinkgeld.

 

Am Michaelerplatz schreitet Hermann Bahr in diesem Moment auf ein viergeschossiges Palais zu, das an einer Straßenecke liegt, sodass das Tageslicht von zwei Seiten durch die Fenster ins Innere leuchtet. In Großbuchstaben steht gut sichtbar »Café Griensteidl« über dem Eingang. Bahr zieht eine Glastüre auf und betritt durch einen Windfang einen großen Raum ohne Pomp, Marmor und Plüsch. Einzig goldgerahmte Spiegel hängen an den Wänden, in der Ecke stehen Kleiderständer wie blattlose Bäume. Er geht an der Sitzkassa vorbei, wo die Betreiberin Susanna Griensteidl seit Jahrzehnten alle Abrechnungen tätigt – und setzt sich in eine der Fensterlogen.

Ein Hochnebel aus Tabakdünsten schwebt unter der Decke, ein Schleier der Diskretion, weiter hinten befinden sich ein Raum fürs Tarockspiel und ein stilles Lesezimmer mit traumhaft vielen Journalen. Dort liegen nicht nur alle Wiener Zeitungen aus, sondern auch alle Blätter aus dem Deutschen Reich, ferner französische, englische, italienische und amerikanische, dazu sämtliche Revuen über Kunst und Literatur, der Mercure de France aus Paris, Die neue Rundschau aus Berlin, bald auch aus London The Studio und Burlington Magazine. Alles erfährt der Leser hier aus erster Hand – welche Bücher gerade lesenswert sind und wer zuletzt für einen Theaterskandal gesorgt hat. So ist das Café Griensteidl eine Börse der Informationen, eine Welt der Worte, des Geistes und des Wissens. Zeitung und Kaffeehaus sind nicht nur vielfach verschwibbt, wie es jemand auf den Punkt bringt, sondern das eine ist ohne das andere oft nur eine halbe Macht.

Gelangweilt blättert Hermann Bahr in den Berliner Zeitungen Gegenwart, Nation und Freie Bühne, die mit den immer gleichen alten Tiraden aufwarten. Er kennt sie zu gut, war selbst Mitarbeiter der Freien Bühne und wollte leitender Redakteur werden, bis er sich mit dem Herausgeber zerstritt. Der Marqueur reicht ihm nun die Wiener Moderne Rundschau, Bahr schlägt sie eher lustlos auf und hält plötzlich inne: Da steht tatsächlich eine ausführliche Kritik seines neuesten Stücks, verfasst von jemandem, der sich Loris nennt. Wer gibt sich nur solch einen drolligen Namen? So könnte ein Pudel heißen, gut, ein vornehmer, sehr gekämmter Pudel. Der wunderliche Name klingt nach großer Welt und dabei so wohlerzogen. Für einen Kritiker viel zu nobel.

Bahr beginnt zu lesen, ohne viel zu erwarten, schließlich ist normalerweise er es, der mit immer neuen Thesen andere Menschen überrascht. Doch schon die ersten Zeilen verschlagen ihm den Atem, er zieht den Löffel aus seinem Kaffee und legt ihn zur Seite. Nicht schlecht, die Kritik gefällt ihm. Endlich mal ein Autor, der keine Phrasen loslässt oder einer zufälligen Stimmung folgt, sondern einer, der nach künstlerischen Kriterien urteilt. Und dabei so lässig und mit feiner Ironie formuliert, wie es sonst nur Franzosen können. Wer mag dieser vornehme Pudel bloß sein?

Später, beim Spaziergang durch die Stadt, trifft Hermann Bahr einige Redakteure der Modernen Rundschau, aber sie verraten ihm nichts, lächeln gutmütig bis spöttisch.

»Ein Franzose, nicht wahr?«, hakt Bahr nach.

Die Redakteure nicken nicht mal, versprechen ihm dafür aber, er werde den Kritiker in den nächsten Tagen im Café Griensteidl treffen. Immerhin geben sie preis, dass es sich um einen Wiener handelt.

Bahr grübelt stundenlang. Loris mag Wiener sein, aber er dürfte in Frankreich gelebt haben, anders kann er sich den Ton der Kritik nicht erklären. Wahrscheinlich wird er zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein und die Welt nunmehr als ein fernes Schauspiel wahrnehmen, sonst hätte er nicht diese verzichtende Ruhe in seinen Formulierungen. Vermutlich stammt Loris aus altem Adel, wurde von Jesuiten aufgezogen und war Gesandter in Paris. Ein kluger Bummler, der jetzt in einem Vorort Wiens zwischen Büchern, Bildern und Kristallen lebt. So wird es sein.

Am nächsten Tag sitzt Hermann Bahr erwartungsvoll im Griensteidl und plauscht mit diesem und jenem Gast. Die Sonne scheint durch die Fenster. Er blättert gerade in einer Zeitung, als er aus dem Augenwinkel sieht, wie sich am anderen Ende des Raumes ein sehr junger Mann vom Stuhl erhebt und schnurstracks auf ihn zueilt. Schon steht der Junge am Tisch, lacht entwaffnend und reicht ihm die Hand. Bahr greift erschrocken zu, spürt, wie sich die Hand ungewöhnlich weich und schmeichelnd anfühlt, als wäre sie mit Seide überzogen. Ganz irritiert hört er den Jungen mit ruhiger Stimme sagen: »Ich bin nämlich Loris.«

Hermann Bahr kann seine Verblüffung nicht verbergen, ja er kommt sich auch ein wenig dumm vor. Loris ist nicht vierzig oder gar fünfzig Jahre alt, sondern deutlich jünger als er, bestimmt zehn Jahre, ein Schüler, schlank wie ein Turner. Er hat einen Oberlippenflaum, einen kantigen Kopf, eine hohe Stirn, kurze, dunkle Haare und zutrauliche braune Mädchenaugen. Der Junge erinnert ihn an Dante, den Dichter der Göttlichen Komödie. Kleiner geht es nicht in diesem feierlichen Moment.

Loris stellt sich als Hugo von Hofmannsthal vor, er ist noch Gymnasiast und nicht einmal volljährig, weshalb er Zeitungskritiken nur unter fingiertem Namen veröffentlichen darf. Seit Februar sitzt er regelmäßig mit anderen jungen Autoren im Griensteidl zusammen. Vom Windfang aus gesehen immer am dritten Tisch links. Jetzt lernt Bahr die Gruppe kennen. Zu ihr gehört Arthur Schnitzler, der achtundzwanzig Jahre und damit nur wenig älter ist als er und ebenfalls einen Vollbart trägt. Schnitzler ist Arzt, schreibt aber viel lieber, als dass er operiert, wofür er sich ständig vor seinem Vater, einem berühmten Mediziner, rechtfertigen muss. Vor kurzem hat er ein trauriges Schauspiel fertigstellt, das er Das Märchen nennt.

Mit am Tisch sitzt auch Felix Salten, der Anfang zwanzig ist und einen Schnauzbart trägt. Er hat ein paar Gedichte verfasst, wirkt ungestüm und schaut am liebsten Frauen hinterher, weshalb er wenig zum Schreiben kommt und sich noch sehr lange gedulden muss, bevor ihm mit seinem Roman Bambi der ganz große Erfolg als Schriftsteller gelingt. Daneben hockt der vierundzwanzigjährige Richard Beer-Hofmann, der mit der Gelassenheit eines Genies auftritt, obwohl er sich, wie man sich erzählt, vor allem Gedanken über seine Knopflochblumen macht. So wenig bringt er zu Papier, dass die anderen überzeugt sind, er wolle sich nicht ans Schreiben verschwenden.

Es ist ein offener Tisch im Griensteidl. Ständig kommen neue junge Leute hinzu, setzen sich, möchten Gedichte vortragen oder schüchtern zuhören. Sage und schreibe zweiundvierzig Autoren, heißt es in einem Brief, tauchen im Laufe der nächsten Jahre im Kaffeehaus auf und fühlen sich der Elite der schriftstellerischen Jungmannschaft Österreichszugehörig. Sie tauschen sich aus über den norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen und den deutschen Freigeist Friedrich Nietzsche, über Skandälchen am Burgtheater und über die zauberhaften Verse von Loris Melikow, die in der Zeitschrift An der schönen blauen Donau erschienen sind und seither flüsternd als Geheimtipp durch die Wiener Salons gereicht werden.

Anfangs veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal nicht als Loris, sondern als Loris Melikow. Sein erstes Gedicht hieß schlicht »Frage«, während das zweite, das für so viel Aufsehen sorgte, mit dem Titel »Was ist die Welt?« die Frage nach dem großen Ganzen stellte:

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,

Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,

Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,

Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht.

 

Und jedes Menschen wechselndes Gemüth,

Ein Strahl ist’s, der aus dieser Sonne bricht,

Ein Vers, der sich an tausend and’re flicht,

Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

 

Und doch auch eine Welt für sich allein,

Voll süß-geheimer, nie vernomm’ner Töne,

Begabt mit eig’ner, unentweihter Schöne,

 

Und keines Andern Nachhall, Widerschein.

Und wenn Du gar zu lesen d’rin verstündest,

Ein Buch, das Du im Leben nicht ergründest.

Manch einem tritt dieser Knabe allzu selbstsicher auf, beurteilt er doch gar den großen Goethe großzügig als »ganz g’scheit«. Im Griensteidl versetzt er ständig alle ins Staunen, so jung ist er und schon so geschliffen. »Früh gereift und zart und traurig«, wird er bald als Einleitung für ein Schauspiel seines Freundes Arthur Schnitzler dichten und damit auch sich selbst charakterisieren. Viel mehr als um die äußeren Dinge der Natur geht es ihm und seinen Freunden um Gefühle und Innerlichkeit, um die Seele und das empfindsame Selbst. Und um die Geschichte und die großen alten Zeiten, denen Hofmannsthal melancholisch nachtrauert wie niemand sonst in der Runde. Trotz des Glanzes der Ringstraße erscheint ihm die Zukunft des Habsburgerreiches zweifelhaft, weshalb er sich schon einmal verabschieden will, bevor alles zusammenbricht. An vielen Ecken der Donaumonarchie rumort es unüberhörbar.

Vielleicht nimmt Hugo von Hofmannsthal die seismischen Erschütterungen seiner Zeit stärker wahr als andere. Als einziges Kind einer Bankiersfamilie wuchs er behütet auf. Die Katastrophe, die seine Eltern kurz vor seiner Geburt durchstehen mussten, dürfte sich ihm eingeprägt haben. Sie waren auf Hochzeitsreise in Italien, als sie per Telegramm erfuhren, dass die Wiener Börse abgestürzt war und dabei fast ihr gesamtes Familienvermögen mitgerissen hatte. Zum Glück erhielt der Vater rasch eine Stelle in einem der wenigen Geldhäuser, die von der Krise verschont geblieben waren. Zügig arbeitete er sich in der Oesterreichischen Central-Boden-Credit-Bank empor.

So wuchs der Sohn unbeschwert auf, musste sich über Geld keine Gedanken machen und las eifrig Gedichte und Romane – bis auf jene Buchseiten, die der Vater für fragwürdig hielt und mit einem Faden zusammengenäht hatte. Der folgsame Junge kam gar nicht auf die Idee, sich gegen die Bevormundung aufzulehnen. Für Aufstand und Protest fehlt ihm jedes Verständnis. Angesichts des Massenprotests der Arbeiter im Jahr zuvor notierte er ein Gedicht, das in den Zeilen gipfelt: »Lass den Pöbel in den Gassen:/Phrasen, Taumel, Lügen, Schein./Sie verschwinden, sie verblassen –/Schöne Wahrheit lebt allein.« Dass er die Massen fürchtet und ihren Protest für etwas Blindes und Gefährliches hält, nehmen die Freunde kopfschüttelnd zur Kenntnis.

Mit der Welt der Malocher will der Schöngeist Hofmannsthal nichts zu tun haben. Er hat begeistert Iwan Turgenjews Roman Väter und Söhne gelesen, ein Buch, in dem es auch um die Nihilisten geht, jene Menschen also, die angeblich keine Werte kennen und denen nichts heilig ist. Gegen diese richtete Hofmannsthal sein Gedicht »Was ist die Welt?« Für ihn ist sie viel mehr als eine sozialistische Werkstatt, in der Arbeiter billige Produkte für niedere Bedürfnisse herstellen. Wo blieben da Kultur, Religion und Metaphysik? In seinem Gedicht klagt er deshalb mit den letzten beiden Zeilen einen namenlosen Nihilisten an: »Und wenn du gar zu lesen d’rin verstündest,/Ein Buch, das Du im Leben nicht ergründest.« Wie hätte er seine Ansicht deutlicher machen können als mit einem Pseudonym, das auf einen ihrer mächtigsten Gegner anspielt, den kürzlich verstorbenen russischen Innenminister Graf Michael Tarielowitsch Loris-Melikow? Mittlerweile unterzeichnet Hofmannsthal seine Gedichte nurmehr mit »Loris«, was keineswegs bescheiden ist. Loris leitet sich vom lateinischen laurus ab, dessen Plural lauris als »mit Lorbeeren« übersetzt wird.

Kaum war das Gedicht »Was ist die Welt?« im Juli 1890 in der Zeitschrift An der schönen blauen Donau veröffentlicht, lernten sich Hofmannsthal und Arthur Schnitzler auf dem Flur der Redaktion kennen. Schnitzler ahnte bald, erstmals einem Genie begegnet zu sein. »Wissen, Klarheit und, wie es scheint, auch echte Künstlerschaft, es ist unerhört in dem Alter«, hielt er irritiert in seinem Tagebuch fest, obwohl er selbst mit achtzehn Jahren zufrieden resümiert hatte, dreiundzwanzig Dramen vollendet und dreizehn weitere begonnen zu haben. Aber diesem talentierten Jungspund fühlt sich Schnitzler von ihrer ersten Begegnung an unterlegen. Er sucht zwar dessen Nähe, verzweifelt aber, wenn er meint, nicht ausreichend geschätzt zu werden. Jahrelang wird das so gehen.

Auf ebenjenem Redaktionsflur traf Schnitzler auch den einundzwanzigjährigen Felix Salten, der seinen Jagdhund Hex dabeihatte. Salten heißt eigentlich Siegmund Salzmann, stammt aus dem ungarischen Pest, ging in Wien aufs Gymnasium, das er nach einem Streit mit den Lehrern abbrach. Seither muss er Geld verdienen gehen. Schuld sei der Vater, ein Träumer, der beim Kauf einer Kohlegrube ein Vermögen verloren habe. Über ihre Väter können sich die beiden jungen Männer ausführlich unterhalten. Während Salten sich zu wenig unterstützt glaubt, fühlt sich Schnitzler bevormundet. Sein Vater, Johann Schnitzler, ist Professor für Medizin an der Universität und ein renommierter Kehlkopf-Spezialist. Aus ganz Europa strömen Schauspieler zu ihm, wenn die Stimme versagt. Der Vater drängte denn auch den Sohn zum Medizinstudium.

Arthur Schnitzler hasste es von Beginn an und spürte früh, wie sich in seiner Seele medizinische und poetische Weltanschauung miteinander prügelten. Obwohl er sich nur für einen mittelmäßigen Arzt hält, tut er alles, was der Vater verlangt: Erst hat er promoviert, nun assistiert er ihm in der Poliklinik. Trotz allem ist der Vater nicht zufrieden. Es passt ihm nicht, dass der Sohn ins Kaffeehaus geht, dort Billard und Karten spielt, anderen seine Dramen vorliest und sich von jedermann kritisieren lässt. Es stört ihn, dass Arthur eigene Texte in Kulturzeitschriften veröffentlicht – nicht einmal unter einem Pseudonym, sondern unter dem Namen »Schnitzler«. Tatsächlich wird der Vater einmal zu Theaterproben eingeladen, weil man ihn mit dem Sohn verwechselt hat. Es ist beiden höchst peinlich.

Ständig zitiert Johann Schnitzler daher seinen Erstgeborenen zu sich, fordert mehr wissenschaftlichen Ehrgeiz. Er mache sich lächerlich, niemand nehme ihn ernst. Er solle Geld verdienen, ein anständiges Mädchen heiraten, auf seine Gesellschaft achten und an seinem Pflichtgefühl arbeiten. Der Sohn gibt sich renitent und beharrt auf dem, was ihm wichtig ist. Zornig notiert Arthur Schnitzler im Juni 1891 nach einem Streit mit seinem Vater ins Tagebuch: »Ekelhafter Auftritt zu Haus mit sentimental-düstern Anspielungen über meinen Lebenswandel.«Kaum hat er es aufgeschrieben und sich damit des Ärgers entledigt, sind seine Gedanken wieder frei.

 

Im Café Griensteidl sind die jungen Talente unter sich. Von Zwängen und Erwartungen unbedrängt, finden sie hier eine sichere Zuflucht, um ihre Gedanken schweifen zu lassen und über alles zu sprechen, was ihnen in den Sinn kommt. Derzeit geht es oft um einen neuen Pariser Kunststil namens Symbolismus. Die symbolistischen Maler wollen in die tiefere Wirklichkeit der Träume, Empfindungen und Leidenschaften vordringen. Passend dazu berichtet jemand von seinen Erfahrungen mit Meditation und Buddhismus. So kommen sie von einem Thema aufs andere, ohne dass jedem in der Runde allzeit ersichtlich sein muss, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Enthusiastisch ruft Hofmannsthal einmal mit spitzer Stimme aus, man sollte Protokoll führen über alles, was in diesem Café gesagt werde. Immerhin hält Schnitzler im Tagebuch einige abstrakte Gesprächsfetzen aus dem Griensteidl fest: »Die Frau liebt am Mann das Herausgekehrte, wir lieben das Eingestülpte, genau dem Sexuellen entsprechend. Der Künstler hat schon etwas Hermaphroditisches.« Den Künstler stellen sich die jungen Herren demnach als ein Zwitterwesen vor, Grenzen überwindend, sich nicht festlegend und in unterschiedlichen Welten daheim. Unablässig finden neue, jugendliche Dichter, Dramatiker und Schriftsteller durch den Windfang ins Griensteidl. Mittlerweile kursiert für die Gruppe der Name »Jung-Wien«, womit sie für sich die Zukunft beanspruchen. Mitten in diesem summenden Bienenstock sitzt wie die Bienenkönigin Hermann Bahr, der mit seinen Essays, Thesen und Wortschöpfungen die Richtung vorgeben möchte, was ihm aber nicht recht gelingen will.

Vier Jungwiener, die talentiertesten zumal, entziehen sich regelmäßig ins Private. Oft lädt Schnitzler die anderen drei zu sich in die Grillparzerstraße ein, und Felix Salten, Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal kommen gerne. Im Herbst 1891 liest Letzterer dort sein neuestes Versdrama mit dem Titel Gestern vor, mit dem er darlegen will, warum sich auch junge Menschen nicht nur fürs Hier und Jetzt interessieren sollten. Es geht um einen Lebemann namens Andrea, der im Italien der Spätrenaissance lebt und das Hier und Jetzt beschwört, bis es zur Katastrophe kommt. Alles, was zählt, ist der Moment, die Stimmung, das Verlangen. Vergangenheit oder Zukunft erklärt der Lebemann für gleichgültig. Niemand soll seine Triebe zähmen, und wenn er dafür einen Verrat begehen muss. Erst eine Nachricht erschüttert am Ende des Versdramas seinen Glauben: Seine Geliebte hat ihn mit dem besten Freund betrogen, und zwar: gestern.

Schnitzler ist gerührt. Ihm dürften die Streitereien mit seiner Freundin einfallen, der Schauspielerin Marie Glümer, seiner »Mizzi«. Sie ist seine große Liebe, aber dass sie vor ihm andere Männer hatte, wirft er ihr bis heute vor, weshalb er sie ständig verdächtigt, ihn zu betrügen, sie darum auch nicht heiraten will und ihr überdies nur eine heimliche Beziehung mit ihm zugesteht.

Auch Hermann Bahr, der immer wieder Kontakt zu der Vierergruppe sucht, ist von Hofmannsthals Versdrama Gestern angetan. Er liest es erst still, dann laut, was er noch schöner findet. Es ist nach seinem Geschmack. Überhaupt sollten sich Schriftsteller viel mehr mit Gefühlen, Seele, Trieben, Stimmungen, Wünschen und dem Unbewussten befassen. Es sei die Aufgabe der Dichter, posaunt er, das Ich zu erforschen, gerade wenn es sich der Selbsterkenntnis entziehe. Jede Nervenregung gelte es zu registrieren. Erkunden, schauen, beobachten, leiden, schreiben.

»Könnten wir’s nicht irgendwo spielen«, schlägt er Hofmannsthal vor. »Im Griensteidl sind so viele Zimmer, braucht’s nur einen geschickten Tapezierer, die Regie führe ich.« Er wäre der Impresario. Das würde ihm gefallen.

3. Der Erfinder des »süßen Mädels«: Arthur Schnitzler (1890)

Eine heikle Aussprache

September 1891 bis Juni 1893

Arthur Schnitzler sehnt sich nach Einsamkeit. Kaiser Franz Joseph mag nicht telefonieren und kann auch sonst nicht viel mit modernen Dingen anfangen. Ein weiteres Jahrhunderttalent betritt das Café Griensteidl, das baldige Wiener Größenwahn: Der Gymnasiast Karl Kraus setzt sich an den Autorentisch und lobt die Gedichte seiner neuen Freunde überschwänglich. Die nehmen ihn zwar nicht ganz ernst, aber er beobachtet sie alle ganz genau. Hugo von Hofmannsthal fühlt sich derweil von dem deutschen Studenten Stefan George verfolgt und meidet das Kaffeehaus. Ein erster Erfolg ist zu vermelden: Hermann Bahr und Felix Salten gelingt ein Theaterskandal.

4. Wiener Größenwahn: Café Griensteidl am Michaelerplatz (1896)

Wien

Es muss etwas vorgefallen sein, vielleicht ist es auch nur eine flüchtige Stimmung. Im September 1891 klagt Hugo von Hofmannsthal jedenfalls über Ekel vor dem Kaffeehaus. Möglicherweise ist er schlicht genervt vom ständigen, erdrückenden Gewusel der vielen Menschen. Es zerstöre jegliche Intimität, nie sei man für sich, jammert der Jungdichter. Auch sein Freund Schnitzler fühlt sich von der Atmosphäre im Griensteidl deprimiert und erklärt, er wolle ein Virtuose der Einsamkeit werden.

Doch sie kommen nicht vom Kaffeehaus los. Sie brauchen die größere Runde, wollen nicht auf die Meinungen und die Bewunderung der anderen jungen Leute verzichten. Noch sind sie unbekannt und können sich ihr Publikum nicht aussuchen, aber damit sich das möglichst bald ändert und sie als Talente erkannt werden, fordern sich die Jungwiener mit Sprüchen, Gedichten und Vorträgen heraus. Sollten sie in ihrem Elfenbeinturm ausnahmsweise einmal nicht wissen, worüber es sich zu reden lohnt, heißt es abzuwarten, was der Tag bringt: Gerüchte aus einem der vielen Theater, Schmäh über den frivolen Hof von Kaiser Franz Joseph, Aufrührerisches von den Jungtschechen in Prag, die partout auf ihrer eigenen Sprache bestehen.

So ist das Kaffeehaus mal ein Epizentrum für lästerlichen Klatsch, dann wieder eine Börse für weltbewegende Neuigkeiten. Mal erweist es sich als Spiegelkabinett törichster Eitelkeiten, kurz darauf als Echokammer reizender Bonmots. Die einen suchen das Griensteidl auf, um in einer stillen Ecke produktiv zu sein, während sich andere in endlosen Gedankenspielen verlieren. Kaum wird an einem der Marmortischchen eine Theorie ausgeheckt, fühlt sich die Gesellschaft am nächsten Tischchen provoziert, diese Theorie grundsätzlich zu hinterfragen. Dabei setzt sich ernsthafte Gründlichkeit eher selten gegen das freie Spiel der Assoziationen durch. Schließlich hocken an diesem flirrenden, von Gasflammen und stickiger Luft verdorbenen Ort so viele Menschen rauchend und schwitzend beisammen, dass manch einem schwindelig wird. Menschen kommen und gehen, bleiben mitten im Raum stehen, schauen sich schwatzend um und schwirren beständig durcheinander, Kellner huschen klappernd von Tisch zu Tisch, Kaffeetassen scheppern zu Boden, während das Geplauder der Gäste im Laufe des Abends zu einem betäubenden Lärm anschwillt. Wenn erst der Tumult regiert, ist ruhiges Nachdenken oder Zeitunglesen unmöglich. Nach dem dritten Kaffee sind die Nerven überreizt, jeder Artikel, jedes Feuilleton, alles, was mehr als hundert Zeilen lang ist, erweist sich als ungenießbar. Man hört überhaupt auf zu lesen. Allenfalls Überschriften ziehen noch kurz die Aufmerksamkeit auf sich. Sekundenschnell werden kunstvolle Berichte überflogen, ehe zur nächsten Seite weitergeblättert wird, immer auf der Suche nach neuen Reizen. Selbst die größten Kritiker kommen nicht vom Kaffeehaus los. Denn wer nicht herkommt, verpasst, was in der Stadt, auf dem Kontinent und überhaupt in der Welt vor sich geht.

Die Wiener Zeitungsleser beobachten genau, wie das Deutsche Reich aufstrebt und wie dort Fabriken aus dem Boden schießen, während im Habsburgerreich alles müde taumelt, schwankt und zerbröselt. Aus der Lombardei wurde die kaiserliche Armee schon 1859 von Italien verdrängt, und in Königgrätz verlor sie 1866 eine entscheidende Schlacht gegen Preußen. Seither hat Wien im Deutschen Bund nichts mehr zu melden. Nur wenig wandelte sich in der Habsburgermonarchie während der vergangenen Jahrzehnte zum Besseren, jedenfalls aus Sicht jener Familien, denen die meisten Jungwiener entstammen: So setzten die Liberalen im Reichsrat eine Trennung von Schule und Kirche durch, auch eine Verfassung, eine Wahlreform und das Versammlungsrecht, aber weiterhin herrscht Zensur. Jedes Theaterstück muss von den Behörden freigegeben werden, bevor es öffentlich aufgeführt werden darf.

Schon lange welkt der erzkatholische Kaiser auf seinem Thron dahin und trotzt aller Modernisierung. Franz Joseph hält zwölf Nationen zusammen, weigert sich aber beharrlich, ein Telefon in die Hand zu nehmen. Auch elektrisches Licht behagt ihm nicht, er zündet lieber Kerzen an. Erst in knapp zehn Jahren wird er Hofburg und Schloss Schönbrunn mit Glühbirnen ausstatten lassen. Selbst vor den neuartigen Wassertoiletten scheut er zurück. Wenigstens befolgt er die Verfassung, ohne dass er wüsste, wie sich sein Reich entwickeln sollte. Zum Glück gibt er sich friedliebend, auch wenn seine Kamarilla zunehmend kriegslüstern auftritt.

 

An einem Tag im Spätherbst 1891 tritt plötzlich ein junger Mann selbstsicher durch den Windfang ins Café Griensteidl. Er ist nicht besonders groß und trägt keinen Bart, was beides sofort auffällt. Seine Haare sind kurz und dunkel, seine Brille randlos, sein Blick wach und konzentriert. Es zieht ihn an den Autorentisch, wo er sich setzen und zuhören darf. Vorzulesen hat er nichts. Er stellt sich als Karl Kraus vor, ist siebzehn Jahre alt und noch Gymnasiast, er tritt witzig auf und gibt spitze Bemerkungen von sich, ohne wirklich ernst genommen zu werden.

Das wird sich ändern, denn Kraus wird den Jungwienern genau das liefern, wonach sie sich so sehnen: Aufmerksamkeit, ein Leben lang, wenn auch anders, als es ihnen lieb ist. Er wird sie vor aller Welt kritisieren, ihre Werke und ihre Äußerungen in seiner künftigen Zeitschrift abfackeln. Sie werden ihn dafür hassen und sich rächen, indem sie ihn als »kleinen Kraus« verspotten, obwohl er gar nicht so viel kleiner ist. Von dem einen oder anderen wird er eine Ohrfeige erhalten, was zu Prozessen führt, über die wiederum ausführlich berichtet werden wird.

Noch ist er zahm und lobt Hofmannsthals Versdrama Gestern, das gerade in der Modernen Rundschau erscheint. Karl Kraus hält es für unsagbar schön und fast jeden Vers für gelungen, wobei er in einer Zeitungskritik auf das kurze, unscheinbare, hilflos wirkende und doch böse lauernde Wörtchen »fast« nicht verzichten möchte. Das Wort ist wie eine stille Reserve, als wisse er nur nicht, wo er seine Kritik ansetzen muss. »Vers und Reim, von Meisterhand behandelt, keine Zeile, die gemacht klingen würde, kein Reim, der den Dichter Schweiß gekostet haben mag«, notiert er in der Wiener Literatur-Zeitschrift. »Die Sprache, so schön, so edel, so natürlich-ungezwungen, wie auf das Kolorit der Scenerie gestimmt, so klassisch-ruhig.« Überschwänglicher wird er nie wieder über Hofmannsthal schreiben, der nur ein paar Monate älter ist. Während Hofmannsthal auf das Akademische Gymnasium geht, besucht Kraus das kaiserlich-königliche Franz-Joseph-Gymnasium. Seine Familie stammt aus Gitschin, einem Ort in Böhmen. Er war ein Kleinkind, das neunte in der Reihe, als die Familie des Papierfabrikanten Jacob Kraus nach Wien zog.

Bereits in diesem Winter gewöhnt sich Karl Kraus einen unverschämten, so noch nie gehörten Ton an. Er bespricht die Gedichte eines Moritz von Gutmann, steigert sich dabei eindrucksvoll in Rage und zerreißt die Texte als »außerordentlich niederträchtig, als Karikatur der alten Lyrik, als Hochzeitstoaste und Volksschulverslatein in Goldschnitt«. Der Verprügelte wird keinen einzigen unsterblichen Vers jemals zu Papier bringen. Nach dieser ersten Hinrichtung sucht sich Kraus andere Opfer, aufstrebende Autoren, die sich beleidigt wehren und trotzig weiterschreiben, womit sie ihm langfristig erhalten bleiben.

Vorerst verschont Karl Kraus seine Kaffeehausfreunde. Mit Hofmannsthal geht er feiern. Mit Schnitzler wechselt er freundliche Briefe. Auch mit Felix Salten versteht er sich bestens und zieht bald sogar für einige Zeit mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. Noch genießt Kraus das Treiben im Griensteidl, obwohl dort wenig passiert. Eigentlich so gut wie gar nichts. Würde man einen Roman über ein Café schreiben, lästert er einmal, müsste man nur schildern, was in zwei Jahrzehnten in zwei nebeneinanderliegenden Kaffeehauszimmern passiert. Nun, nicht viel, außer dass sich hin und wieder ein Gast von einem Zimmer ins andere setzt.

 

Unterdessen meidet Hugo von Hofmannsthal das Kaffeehaus. Er möchte zwar gerne ins Griensteidl kommen, teilt er seinen Freunden im Januar 1892 brieflich mit, aber dort gehe der Symbolist um. Erfreulicherweise wolle der Mann in absehbarer Zeit verschwinden. Hofmannsthal fürchtet sich vor einem aufdringlichen Dichter aus dem Rheinland, den er erst kürzlich, in einer späten Nacht kurz vor Weihnachten, im Café kennengelernt hat.

Plötzlich stand der Mann am Autorentisch, vielleicht saß er auch nur in der Nähe und ließ den Marqueur eine Mitteilung zu Hofmannsthal bringen. So genau weiß das später niemand mehr. Mit seinen verschatteten Augenhöhlen und dem wächsernen Teint wirkte er ungewöhnlich alt, zudem hochmütig und leidenschaftlich, aber dieser Stefan George fesselte die Runde mit seinen Erzählungen über die französischen Symbolisten. Diese Schriftsteller, sagte er, wollten zurück zu einer Welt der Schönheit, sie forderten Kunst um der Kunst willen und versuchten mit Allegorien und Metaphern eine tiefere Wirklichkeit zu erfassen.

Stefan George, der sich als Student an der Universität Wien eingeschrieben hat, sucht seit jener Dezembernacht die Nähe zu dem Gymnasiasten, von dessen Gestern auch er hingerissen ist. In Europa, meinte der Deutsche, gebe es nur wenige, die ahnten, was wahre Dichtkunst sei, in Österreich nur einen, nämlich ihn, Hofmannsthal. Der junge Wiener lauschte angetan, nahm alles auf, was George erzählte, selbst wenn der mal nur über das beste Papier und den perfekten Druck sprach. Auch Nebensächliches intonierte der Deutsche mit imponierendem Ernst, sodass Hofmannsthal in den Bann geschlagen war. Sie schrieben sich daraufhin Briefe, tauschten Bücher aus und spazierten durch Wien.

Am Weihnachtsabend suchte Hofmannsthal den Rheinländer dann gegen siebzehn Uhr in dessen Unterkunft auf. Dort muss ihn der sechs Jahre ältere George das Fürchten gelehrt haben. Zurück im Elternhaus, setzte sich der Gymnasiast an den Schreibtisch, um loszuwerden, was ihm widerfahren war. Er verfasste ein düsteres Gedicht von süßen Düften, bunten Schlangen, dumpfem Bangen, von einem Zaubertrunk und nach Herrschaft verlangenden Worten. Er nannte es »Der Prophet«, was nur so lange ironisch klingt, bis man zu lesen beginnt:

In einer Halle hat er mich empfangen,

Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt,

Von süßen Düften widerlich durchwallt:

Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen.

 

Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt,

Der Seele Atmen hemmt ein dumpfes Bangen,

Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen

Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt.

 

Er aber ist nicht wie er immer war,

Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.

Von seinen Worten, den unscheinbar leisen,

Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen,

 

Er macht die leere Luft beengend kreisen

Und er kann töten, ohne zu berühren.

Während Hofmannsthal nach Weihnachten ausrichten ließ, er sei im Urlaub, wartete George ungeduldig auf die angebliche Rückkehr des Verehrten. Und deshalb wagt sich der Gymnasiast nun nicht mehr ins Griensteidl. Doch vor der Schule kann er nicht flüchten. Dort, vor dem Akademischen Gymnasium, passt ihn Stefan George schließlich ab, schickt ihm wohl sogar ein Bouquet roter Rosen in den Unterricht, worüber sich die Klasse amüsiert – bis auf Hofmannsthal, dem lächerliche Szenen zutiefst peinlich sind.

Es ist der 10. Januar 1892, als Hugo von Hofmannsthal dem vehementen Drängen Stefan Georges nachgibt und zu einer Aussprache ins Griensteidl kommt. Doch er taucht dort nicht alleine auf, sondern zusammen mit dem Dichterfreund Felix Salten, der rechtzeitig zum Aufbruch drängen soll. George ist so verblüfft, dass es ihm die verführerischsten Worte verschlägt. Er lässt den Verehrten wieder ziehen.

Der Deutsche gibt gleichwohl nicht auf, nie hat er sich so sehr einem Menschen offenbart wie Hugo von Hofmannsthal. Niemand hat ihn jemals so verzweifeln lassen wie dieser Junge. Und so schickt er dem Verehrten vier Tage nach ihrem kurzen Treffen im Café erbost einen Brief voll kleiner, spitzer Wörter, die sich, von keinerlei Komma getrennt, atemlos aufreihen: »Sie sehen, ich rede ganz gesetzt, und wenn Sie nach einigen tagen gelassen denken oder nach jahren, so werden Sie mir (mit Ihren werten eltern deren einziges kind Sie sind!) sehr verbunden sein, dass ich so viel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasste, was mit Ihrem oder meinem tod endet.« Fast klingt es so, als fordere George ein Duell, doch so etwas ist nur Offizieren und Adeligen vorbehalten.

Hofmannsthal antwortet kühl und hält sich danach zurück. Sein Vater übernimmt jetzt und bittet den Deutschen zum Gespräch in sein Bureau in der Bank.

Am 16. Januar verlässt Stefan George die Donaumetropole und fährt mit dem Zug zurück nach Deutschland. Er wird dort die elitäre Zeitschrift Blätter für die Kunst gründen und in München einen Kreis ergebener Lyriker um sich sammeln. Manchmal denkt er an seine Stunden in dem »unglücklichen café« zurück und erinnert sich an die Jungwiener als einen »bund beliebiger schreibmenschen«. Nur von einem kommt er nicht los – und der nicht von ihm: Hugo von Hofmannsthal. Von ihm druckt er in seinen Blättern achtundzwanzig Gedichte ab, dazu die Dramen Der Tod des Tizian, Elektra und Das gerettete Venedig. Sie werden sich jahrelang schreiben, ein paarmal auch kurz sehen, ohne je eine Aussprache, geschweige denn eine Aussöhnung zu wagen. Stefan George wird fortan seinen fordernden Ton zügeln, damit ihm Hofmannsthal nicht ausweicht. Der wiederum wird – noch genauer, als er es ohnehin tut – auf seine Worte achten. Sie sind beide zu sehr Menschen der Sprache, als dass sie dem anderen eine ungeschickte Formulierung oder eine nebensächliche Kritik verzeihen könnten. Bis 1906 halten sie Kontakt, bevor sie sich über Urheberrechte endgültig zerstreiten.

 

Im Frühjahr 1892 treffen sich Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann regelmäßig bei den Schnitzlers am Burgring. Der Gastgeber hat rote Lampen aufgehängt. Während sie an ihrem Cognac nippen, liest einer von ihnen aus einem neuesten Werk vor, um anschließend die Kritik der anderen einzuarbeiten. Sie sind jetzt eine eingeschworene Runde. Der innere Kreis des Kreises der Jungwiener. Sie streben nach Erfolg und wollen, auch wenn es vielleicht unausgesprochen bleibt, die besten Autoren ihrer Generation werden.

Manchmal, wenn sie Ausflüge unternehmen, nehmen sie Hermann Bahr mit. Der ist immer gut, um über hochfliegende Träume zu reden. Allerdings fürchtet Bahr, sie alle könnten am Nichterkanntwerden zugrunde gehen, woran die Stimmung in der Stadt schuld sei. Während sich die Berliner gegenseitig in Szene setzten, schimpften die Wiener aufeinander. Wir brauchen ein eigenes Blatt, schlägt Schnitzler deshalb vor, während Hofmannsthal alle großen Zeitungen mit genialen Texten erobern will, bis die alten Herren aus den führenden Blättern verdrängt sind.

Doch selbst die Berliner Freie Bühne, die ihnen wohlgesonnen sein müsste, weil sie nach jungen Autoren sucht, lässt sich nicht mal nebenbei übernehmen. Deren Redakteur lehnt fast alle ihre Texte ab. Schön geschrieben, ja, sicher, meint Wilhelm Bölsche, aber zu wenig sinnlich und naturgetreu, überhaupt zu subjektiv, zu psychologisch. Sie passen damit nicht in eine Zeitschrift, die sich dem Naturalismus verpflichtet hat. Schlimmer noch, zumindest aus naturalistischer Sicht: Die jungen Wiener sorgen sich nicht um Armut, Landflucht und Industrialisierung. Darüber aber will man in Berlin lesen, zumindest als Abonnent der Freien Bühne. Nur von Schnitzler wird eine Novelle abgedruckt und von Bahr ein Aufsatz, ausgerechnet »Loris«, ein Text, der Hofmannsthal zum künftigen Literaturstar erklärt, obwohl der Redakteur mit dessen Schriften am allerwenigsten anfangen kann.

Schon lange beobachten sich Wien und Berlin. Zuweilen wohlwollend, oft neidisch, zunehmend wetteifernd, auch wenn die Hohenzollern den Habsburgern in Politik und Wirtschaft enteilt sind. Nur in der Kultur behauptet sich Österreich-Ungarn trotzig. Fürstin Pauline von Metternich-Winneburg hat daher beschlossen, das hundertste Todesjahr Mozarts zu nutzen, um den breitbeinigen Piefkes zu beweisen, dass Wien die unangefochtene Metropole der Kultur, des Theaters und der Musik ist und bleiben wird. Am 7. Mai 1892 eröffnet im Prater die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. Anderthalb Millionen Menschen strömen das Jahr über durch die gigantische Rotunde, den größten Kuppelbau der Welt: vierundachtzig Meter hoch, hundertacht Meter im Durchmesser und damit mehr als doppelt so groß wie die Kuppel des Parthenons in Rom. Die auf zweiunddreißig Eisensäulen ruhende Stahlkonstruktion mit einem Innenraum von achttausend Quadratmetern gilt als ein Meisterwerk moderner Ingenieurskunst. Die Besucher versammeln sich vor Handschriften, Drucken, Musikinstrumenten und Porträts, drängeln sich in Konzerte, Komödien und Opern, bestaunen musikalische Helden, die als Tonfiguren aufgestellt sind, darunter Mozart, Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy, Wagner und der jüngst verstorbene Franz Liszt. Die Ausstellung beschwört das Vergangene und verklärt die Gegenwart. Und genau das gefällt Hugo von Hofmannsthal, der alles Alte tief berührt betrachtet, ganz gleich ob es sich um einen englischen Kupferstich oder einen vergilbten Privatbrief handelt. Alles erfüllt ihn mit einer Sehnsucht nach dem Kleinen und Altmodischen. Überhaupt fasziniert ihn das Verflossene mehr als die greifbare Gegenwart, die für ihn gerade mal hübsche Möbel gebracht hat. Schon sein Drama Gestern spielte in der Renaissance, andere Stücke wird er ins alte Persien oder in die Zeit des Wiener Kongresses von 1815 versetzen. Die Zukunft wird nie seine Sache sein. Hofmannsthal sieht sich als Spätgeborenen.

Als er nach der Matura im Sommer 1892 mit seinem Privatlehrer durch Frankreich reist, rauschen Menschen, Städte und Landschaften an ihm vorbei. Nichts berührt ihn, nichts nimmt ihn gefangen, nicht einmal so zauberhafte Landschaften wie das Rhônetal, die Provence oder die Camargue. Es ist, als würde ihm alles, was er erlebt, aus einem Buch vorgelesen. Immerhin begreift er unterwegs, wie sehr er die Vergangenheit zum Leben braucht, sie verklärt ihm die Dinge, verleiht ihnen Duft und Farbe. Er weiß jetzt, mit achtzehn Jahren, was seine Bestimmung ist: Er will in seinen Schriften einstige Epochen aufleben lassen, obwohl er bald ahnt, dass das wirkliche Leben an ihm vorbeizieht.

 

Unterdessen gelingt Hermann Bahr ein Theaterskandal, wenngleich unabsichtlich. Mit einigen Freunden will er ein Drama des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck auf die Bühne bringen, Der Eindringling. Als Neulinge machten sie einen Fehler nach dem nächsten. Erst gab es einen Streit mit Hofmannsthal wegen der Übersetzung, dann fehlte es an Geld, um Schauspieler und Theatermiete zu bezahlen, was sich alles noch lösen ließ. Doch am Tag der Premiere tauchte plötzlich die Polizei auf und untersagte die Aufführung. Felix Salten hatte vergessen, das Stück den Zensoren vorzulegen.

Das Versäumnis erweist sich als Glück, denn die Zeitungsberichte über das Verbot machen die Wiener neugierig. Der Name Bahr spricht sich herum, als handle es sich um den Anführer eines Trupps verwegener Kaffeehausliteraten. Kaum ist Der Eindringling von der Zensur freigegeben, werden so viele Karten gekauft, dass die Aufführung auf eine größere Bühne ausweichen muss. Das Publikum hat sich herausgeputzt und hofft auf Intrigen, Streit und Mord.