Aufstand der Matrosen - Dirk Liesemer - E-Book

Aufstand der Matrosen E-Book

Dirk Liesemer

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Beschreibung

Es braut sich etwas zusammen in diesem Herbst 1918. Nach mehr als vier Jahren Krieg haben die Menschen es satt: das Kämpfen, das Hungern, das Sterben. Die alte Ordnung ist längst in Unordnung geraten. Der militärische Zusammenbruch steht unmittelbar bevor. Und doch flüstert man auf den großen Kriegsschiffen vor der deutschen Küste von einem letzten großen Plan, die deutsche Flotte in eine alles entscheidende Schlacht mit England zu schicken. Aber unter den Matrosen, die nun fürchten müssen, in einem sinnlosen Kampf verheizt zu werden, regt sich Widerstand. Dirk Liesemer führt dem Leser auf eindringliche Weise vor Augen, wie sich gehorsame Soldaten in "Sturmvögel der Revolution" verwandelten, wie aus einem Matrosenaufstand eine landesweite Revolution wurde, die Deutschland für immer veränderte.

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Dirk Liesemer

Aufstand der Matrosen

Tagebucheiner Revolution

Mit einem Vorwort von

Norbert Lammert

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für Arno

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung duncan1890 / Getty Images

Satz mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-347-7

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-289-0

www.mare.de

Inhalt

Krieg – Revolution – Demokratie: Schicksalstage 1918

Ein Vorwort von Norbert Lammert

Montag, 28. Oktober

Wilhelmshaven

Dienstag, 29. Oktober

Wilhelmshaven – Berlin – Spa

Mittwoch, 30. Oktober

Wilhelmshaven – Spa – Berlin

Donnerstag, 31. Oktober

Wilhelmshaven – Magdeburg – Berlin – Kiel

Freitag, 1. November

Kiel – Berlin – Spa – Hamburg

Samstag, 2. November

Kiel – Berlin – Rendsburg – München – Berlin

Sonntag, 3. November

Kiel – Berlin – Spa

Montag, 4. November

Kiel – Berlin – Kiel – Berlin – München

Dienstag, 5. November

Kiel – Travemünde – Hamburg – Berlin – Cuxhaven – Köln – Frankfurt am Main – Spa – München

Mittwoch, 6. November

Alsen – Rendsburg – Hamburg – Cuxhaven – Stade – Bremen – Wilhelmshaven – Berlin – Leipzig – Köln – Spa

Donnerstag, 7. November

Hannover – Braunschweig – Magdeburg – Kiel – Berlin – Köln – Breslau – München – Spa – München

Freitag, 8. November

Leipzig – Compiègne – Wilhelmshaven – Cuxhaven – Hamburg – Braunschweig – Köln – Frankfurt am Main – München – Magdeburg/Berlin – Breslau – Spa

Samstag, 9. November

Berlin – Spa – Berlin – Hamburg – Berlin – Langgrün – Diez an der Lahn – München – Rehburg – Spa – Berlin – Hagenau – Berlin – Cuxhaven – Berlin

Sonntag, 10. November

Kiel – Wilhelmshaven – Braunschweig – Pasewalk – Leipzig – München – Berlin

Montag, 11. November

Compiègne – Berlin – Gibraltar

Dienstag, 12. November

Gibraltar – Cuxhaven – Amerongen – Wilhelmshaven

Ausblick

Zitatverzeichnis

Literaturverzeichnis

Dank

Register

Krieg – Revolution – Demokratie: Schicksalstage 1918

Ein Vorwort von Norbert Lammert

»Und dann sah ich deutsche Kraft verwesen, Dünger werden einer bessren Zeit.«

Joachim Ringelnatz, Leutnant zur See, hinterlassen mit Kohle an der Zimmerwand der Küstenbatterie Seeheim, 21. November 1918

Der Befehl, den die Admiralität am 24. Oktober 1918 erließ, war unmissverständlich: »Die Hochseeflotte erhält die Weisung, baldigst zum Angriff auf die englische Flotte vorzugehen. Dazu können alle verfügbaren Streitkräfte der Kaiserlichen Marine herangezogen werden.« Was mag den vom entsetzlich langen Krieg gezeichneten Matrosen durch den Kopf gegangen sein oder den der Schulbank gerade erst entwachsenen Rekruten, als sie Wind bekamen von dieser Order, die für jeden ersichtlich einem militärisch sinnlosen Himmelfahrtskommando gleichkam? Womöglich wanderten ihre Gedanken nach Hause, zu ihren Familien, sicher aber kreisten sie bei vielen um die Frage, ob es das wirklich noch wert war. Wie ließ sich der absehbare kollektive Untergang der Kaiserlichen Flotte mit der beschworenen soldatischen Ehre der Marine rechtfertigen? Wer wollte noch sein Leben für diesen Kaiser opfern, der Generationen seiner Untertanen in vier Kriegsjahren gnadenlos ›verheizt‹ hatte und, als er sich kurz darauf ins Exil zu gehen genötigt sah, das deutsche Volk als »Schweinebande« denunzierte? Und welchen Wert sollte es für ein erschöpftes, materiell ausgelaugtes, längst kriegsmüdes Land haben, den Kampf fortzusetzen – zumal aus dem fernen Berlin zu hören war, dass die Reichsleitung längst den ersehnten Frieden mit den Kriegsgegnern anstrebte? Die militärische Niederlage, von der Obersten Heeresleitung ebenso lange nicht eingestanden und vertuscht wie von einer von nationalistischer Hybris verblendeten Öffentlichkeit verdrängt, war unabwendbar, Vorverhandlungen zum Waffenstillstand deshalb bereits eingeleitet.

Es sind schicksalshafte Tage Ende Oktober und Anfang November 1918, nicht nur für Deutschland, sondern – wegen der zentralen Lage des Kaiserreichs, geografisch wie machtpolitisch – auch für Europa und die Welt. Was wir heute wissen, ahnten die Menschen bereits damals, fühlten sie geradezu körperlich: »Ich spüre bis ins Mark das Schauerlich-Historische«, notierte etwa Stefan Zweig Mitte Oktober in sein Tagebuch. »Jetzt sind wieder Sekunden von der grässlichen Spannung von 1914, nur dass in den Nerven nichts mehr zuckt; man ist lahm, ausgehofft, ausgeängstet. Man kann nicht mehr. … An ein Ende zu denken, wagt man gar nicht mehr, denn der Frieden ist ja nur ein neuer Unruheanfang.«

Die dramatischen Ereignisse, die in den Folgetagen als Reaktion auf den irrwitzigen Befehl der Marineführung von der Küste aus ihren Lauf nahmen und die in diesem Buch mit Zeugnissen zahlreicher Zeitgenossen aufregend verdichtet noch einmal aufleben, bestätigen Zweigs Zukunftsängste. Als Erstes widersetzten sich Matrosen auf Schiffen vor Wilhelmshaven, kurz darauf folgten Kameraden in Kiel und bald auch an anderen Marinestützpunkten des Reichs. Der Gehorsamsverweigerung der Soldaten schlossen sich Arbeiter an, die der Kriegsmaschinerie nicht weiter dienen wollten, zunächst in den Werften, dann sich rasch über das Reich ausbreitend – bis in die Hauptstadt. Der Aufstand an der Waterkant wurde zur Revolution im ganzen Land.

Orts- und Szenenwechsel: das politische Berlin, Reichstag und Wilhelmstraße im Oktober 1918. Während sich an der Küste der revolutionäre Sturm zusammenbraute, wehte auch hier der Wind längst aus einer anderen Richtung, vollzog sich eine für die deutsche Demokratie- und Parlamentsgeschichte folgenschwere Veränderung: Die Berufung des Prinzen Max von Baden am 3. Oktober an die Spitze einer parlamentarischen Regierung, der erstmals auch Abgeordnete der parlamentarischen Mehrheitsparteien, insbesondere Sozialdemokraten, angehörten, hatte bereits faktisch die Verfassung des Reichs vom Kopf auf die Füße gestellt – die Folge eines im Kriegsverlauf gewachsenen parlamentarischen Selbstbewusstseins, vor allem aber des Kalküls skrupelloser Militärs, die auf diese Weise die Verantwortung für die Niederlage und den Friedensschluss auf die politischen Instanzen abzuschieben trachteten. Mit den sogenannten Oktoberreformen, die die Reichstagsmehrheit am 25. und 26. Oktober verabschiedete und die einen Tag vor Beginn des Matrosenaufstands verkündet wurden, leitete die neue politische Führung auch die verfassungsrechtliche Parlamentarisierung des Kaiserreichs ein. Die obrigkeitsstaatliche Bürokratenregierung der Monarchie war Geschichte, der Reichskanzler fortan auf das Vertrauen der Reichstagsmehrheit angewiesen. Allerdings: Als sich Deutschland zur parlamentarischen Monarchie reformierte, war deren Verfallsdatum bereits erreicht. Mit der aus den Matrosenaufständen hervorgehenden Revolution rollten Anfang November – Friedrich Engels hatte es schon 1887 vorausgesagt – die Kronen in ganz Deutschland auf die Straßen, nicht nur die des Kaisers.

Dieses Buch taucht ein in die merkwürdigen Anfänge einer deutschen Revolution. »Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte«, soll Lenin angeblich gesagt haben. Selbst wenn sich dieser Ausspruch nicht verlässlich verifizieren lässt, so spiegelt sich darin eindrücklich die zeitgenössische Haltung in einem Land, in dem der Glaube an Temperament und Fähigkeit der Deutschen zur Revolution von jeher begrenzt war. Im Tagebuch des Dichters Friedrich Hebbel findet sich bereits 1836, zwölf Jahre vor den Barrikadenkämpfen in Berlin und Wien, der Satz: »Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen.« Nicht erst seit der Erfahrung des Scheiterns der Revolution von 1848/49 fand im Land der Reformation und der aufgeklärten Fürsten, in dem seit dem Dreißigjährigen Krieg das Trauma vom zügellosen Chaos in vielfältiger Weise nachwirkte, der gewaltsame Umbruch wenige Anhänger. Bezeichnend für die auch 1918 allgegenwärtige Sorge vor der Revolution als nicht allein politische, sondern zügellose Umwälzung der Gesellschaft ist die Warnung Friedrich Eberts an Max von Baden vom 7. November. Den blutigen Verlauf der Oktoberrevolution in Russland vor Augen, warnte der Sozialdemokrat eindringlich, die soziale Revolution sei, wenn der Kaiser nicht abdanke, auch in Deutschland unvermeidlich. Und er fügte hinzu: »Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde.«

In der Revolutionsskepsis kommt zum Tragen, was die Wissenschaft die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nennt, also sich parallel vollziehende Prozesse, die in unterschiedlichen Phasen der Geschichte wurzelten. Schon das Kaiserreich war ein Staat von erstaunlichen Widersprüchen gewesen. Dem monarchischen Prinzip verpflichtet, verfügte es auf Reichsebene über ein im europäischen Vergleich modernes allgemeines und gleiches Wahlrecht, allerdings nur für Männer. In Preußen blieb es mit dem Dreiklassenwahlrecht hingegen hartnäckig rückständig. Geistig und politisch dem 19. Jahrhundert verhaftet, war das Kaiserreich technisch, industriell, ökonomisch und sozial schon viel weiter – eine der konfliktreichen Ungleichzeitigkeiten, die von der Jahrhundertwende in die Revolutionsepoche am Ende des Krieges reichte und die für den Verlauf der Revolution entscheidend wurde. Denn weshalb sollte ein Volk, das seit Jahrzehnten in allgemeinen Wahlen seine Vertretung frei wählen durfte, der Diktatur des Proletariats das Wort reden? Als 1918 in Deutschland die Revolution der Arbeiter und Soldaten ausbrach, dominierte denn auch nicht der bolschewistisch befeuerte weltrevolutionäre Gedanke. Vielmehr setzte sich – begleitet freilich von gewaltsamen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen und erst mit Auflösung zeitweiliger Soldaten- und Arbeiterräte im Reich – die parlamentarische Demokratie durch. Damit schien sich endlich der liberale Traum von Freiheit und nationaler Einheit des 19. Jahrhunderts zu vollenden – wesentlich getragen und mit den Oktoberreformen vorgezeichnet ausgerechnet von der Partei der Arbeiterbewegung, den Sozialdemokraten.

Unser Bild von der »Novemberrevolution« ist nachhaltig geprägt vom Scheitern der Republik, die aus ihr hervorging. Hatte denn die Revolution 1918/19 wirklich Schluss gemacht mit den alten Gewalten? Prominente Zeitgenossen Eberts, ob Walther Rathenau, Ernst Troeltsch oder Max Weber, waren sich in der Bewertung der Novemberereignisse einig: Sie bezeichneten sie als Revolution. Theodor Wolff, der einflussreiche Chefredakteur des Berliner Tageblatts, erkor sie gar zur »größten aller Revolutionen«, »weil niemals eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille in einem Anlauf genommen worden« sei. Differenzierter fällt hingegen das Urteil der Wissenschaft aus, die gegenüber dem vollzogenen politischen Systemwechsel von der Monarchie zur Republik die fehlende, von Ebert so gefürchtete tief greifende Umwälzung der Gesellschaftsstrukturen betont. Ohne sozioökonomischen Wandel sei die Revolution – so die Kritiker je nach politischer Warte – unvollendet geblieben oder sogar ›verraten‹ worden. Und tatsächlich erwiesen sich die Kontinuitäten in Militär, Wirtschaft und Verwaltung, nicht zuletzt die unangetastete Agrarverfassung Ostelbiens, durch die konservative preußische Junker ihren Einfluss bewahren konnten, als schwere Bürde für die Weimarer Republik, der es gegenüber dem antidemokratischen Erbe – und dann auch gegenüber den neuen totalitären Herausforderungen – erkennbar an aufrechten Demokraten fehlte.

In den letzten Jahren ist durch die Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor einhundert Jahren die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus unserer Aufmerksamkeit zurückgekehrt. Deutlich wurde dabei das bemerkenswerte Doppelgesicht dieses Krieges: Er war, so der Historiker Jörn Leonhard, die viel beschworene »Büchse der Pandora« für ein beispiellos gewalttätiges Jahrhundert, aber er stieß auch beträchtliche Modernisierungsschübe an. War das unvorstellbare Leid des Krieges also wirklich »Dünger einer bessren Zeit« (Joachim Ringelnatz)? Die Mobilisierung der Massen im Krieg setzte zumindest Kräfte frei, die nicht mehr zu bändigen waren. »In Europa fegte die Demokratisierung des Wahlrechts wie ein Wirbelwind über die Demokratien«, schreibt der Historiker Tim B. Müller – freilich nicht überall und gerade für Frauen nicht überall gleich schnell. Aber: Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa, das vor 1914 noch ein Kontinent der Monarchien gewesen war, stand der liberalen und sozialen Demokratie, wie Müller schreibt, »eine glänzende Zukunft« offen. Zur Tragödie unseres Kontinents gehört, dass es anders kam. Dem Sturz der Monarchien in Deutschland, Österreich und Russland und dem Untergang des Osmanischen Reichs folgte kein Siegeszug der Demokratie, sondern deren frühe Erosion. 1938 waren von den jungen Demokratien, die am Ende des Ersten Weltkriegs in Kontinentaleuropa entstanden waren, nur noch zwei übrig: die Tschechoslowakei und Finnland. Überall sonst waren autoritäre und diktatorische Regime an der Macht – am folgenschwersten in Deutschland mit verheerenden Folgen, nicht nur für das eigene Land, sondern für die Welt.

Die Suche nach den Gründen dafür führt immer auch zu den Anfängen der gescheiterten Demokratiebewegungen zurück. Und so ist nicht nur absehbar, sondern angesichts einer über viele Jahre vernachlässigten Forschung auch zu erhoffen, dass der Jahrestag des Kriegsendes Anlass dazu gibt, zugleich die Revolutionsepoche in ihren historischen Bedingungen und weitreichenden Folgen neu zu vermessen. Dirk Liesemer gebührt großer Dank dafür, uns in einer ebenso klugen wie originellen Auswahl überlieferter Stimmen die Zeitgenossen in den Schicksalstagen zwischen Matrosenaufstand und dem 9. November ganz nahe kommen zu lassen – mit all ihren Hoffnungen, Befürchtungen, Sorgen und Ängsten, ihren Utopien und Untergangsvisionen, gelähmt von der tödlichen Kälte, die im Weltkrieg auf den »Sommer des Jahrhunderts« gefolgt war. Mit diesen Zeitgenossen wird eine kurze Zeitspanne lebendig, voll Spannung, Ungeduld und Erwartung, die nicht nur historisches Interesse verdient, sondern deren Nachwirkungen bis in unsere Zeit reichen.

Montag, 28. Oktober

Wilhelmshaven

Als das Ende absehbar wird, flüstern sich die Matrosen die letzten Neuigkeiten zu, geben sie von einem zum anderen weiter, verbreiten sie oben an Deck, unten in den dunklen Kasematten und beim nächsten Besuch an Land. So gelangen die Neuigkeiten von Schlachtschiff zu Schlachtschiff, bis Zehntausende Seeleute sie gehört haben. Manches klingt erlösend schön. Kürzlich hieß es, der Kaiser sei tot. Er habe Selbstmord begangen. Die Matrosen lächelten. Die Heizer nickten sich zu. Aber es war nur ein Gerücht. Ein anderes Mal wurde verbreitet, der Generalfeldmarschall sei kindisch geworden. Heute Nachmittag ist zu hören, dass eine feindliche Flotte auf Helgoland zusteuert. Sogar Offiziere hört man raunen, dass 150 britische und amerikanische Kriegsschiffe die Nordseefestung einnehmen wollen.

Jahrelang hat der Matrose Richard Stumpf eine Seeschlacht herbeigesehnt. Jetzt beobachtet er von Bord der Wittelsbach aus, wie die Schiffe der Kaiserlichen Flotte auf einen Seegang vorbereitet werden. Überall hieven Männer massenweise Munition und Kohlen an Deck. Die Schornsteine erhalten orangerote Anstriche, und die Vorgesetzten treten noch zackiger auf als üblich. Gedankenverloren fragt sich Richard Stumpf, ob er die Kriegsschiffe heute zum letzten Mal sieht. Er malt sich aus, wie es wäre, die Feinde zu versenken. Sollte doch noch ein Sieg möglich sein? Es sind kurze, rauschhafte Vorstellungen. Nach so langer Zeit des Wartens hat er nicht mehr mit einer Seeschlacht gerechnet. Endlich kann die Flotte dem ganzen Land beweisen, dass sie nicht nur im Hafen schläft. Wenn sie siegten, meint er, machte sich niemand mehr über die Seeleute lustig.

Bereits vor dem Krieg hatte sich Richard Stumpf freiwillig zur Marine gemeldet. Er suchte das Abenteuer und wollte die Welt erobern. Es ist ein Wunsch, den er früh hegte. Als Jugendlicher ist er mal von seiner Heimat in Oberfranken bis nach Südtirol gewandert. Nach einer Lehre als Zinngießer heuerte er auf einem Kriegsschiff an. Und als Deutschland in den Krieg zog, jubelte er. Statt zu Seeschlachten auszurücken, ankerte sein Schiff im Hafen. Reglos verstrichen Tage, Wochen und Monate. Nur ein Mal war die Flotte ausgerückt, zur Skagerrakschlacht. Aber die dauerte kaum vierundzwanzig Stunden, ist mehr als zwei Jahre her und brachte keinen sonderlichen Erfolg. Seither liegen die Schiffe in der Deutschen Bucht fest und sollen die Feinde nur noch von einer Invasion der Küste abschrecken. Über die Untätigkeit war Richard Stumpf oft enttäuscht, verdrossen und zornig. Dachte er an die Soldaten in den Schützengräben, jammerte er: »Unsere Kameraden liegen wohl auch draußen im Dreck bei Sturm und Wetter, aber die wissen wenigstens warum. Wir aber nicht!«

Anfangs sah Richard Stumpf in den Schiffen lebendige Wesen. Er dichtete ihnen eine Seele an und glaubte, dass sie in »jeder Niet, jeder Planke, jedem Schräubchen lebt und webt«. Einmal, als sein Kriegsschiff von einem Vorstoß aufs Meer zurückkehrte, sah er von Deck aus zu den anderen Schiffen der Flotte hinüber und erkannte überall »äußerst erschöpfte Kampfestiere«, die »in den Stall zurücktrotten«. Als die Liegezeiten im Hafen immer länger wurden, sich über Monate bis ins offen Unendliche hinzogen und er sich mit der alltäglichen Routine des Zeittötens abgefunden hatte, kamen ihm die Schiffe nur noch vor wie nutzlose, Kohlen fressende Ungeheuer. Er fühlte sich in ihrem dunklen, muffigen Innern eingesperrt. »Unser aller Gefängnis«, hielt er nach einem Heimaturlaub in seinem Notizheft fest und haderte damit, dass er seine Familie bereits nach zwei Wochen wieder hatte verlassen müssen. Zurück in Wilhelmshaven, dachte er bloß: »Da ist nun wieder diese Welt von Eisen und Wasser, jetzt musst Du wieder vergessen, dass Du Mensch bist.«

Schon vor Jahren hat Richard Stumpf begonnen, Gedanken und Erlebnisse festzuhalten. Seine Notizen umfassen Hunderte Seiten, aufgezeichnet mit schwarzer Tinte. Mittlerweile schreibt er jedoch seltener und hält sich kürzer. Manches wird er später nachtragen und überarbeiten. Seit einigen Wochen registriert er, wie das Ende des Kriegs unübersehbar näher rückt. Immer offener zeigen die Mannschaften, wie sehr sie ihre Vorgesetzten verachten. Kürzlich haben Matrosen einen Leutnant totgeprügelt, was nicht einmal mehr hart bestraft worden ist. Und als vor zwei Tagen der Kleine Kreuzer Straßburg in See stechen sollte, verhinderten die Heizer die Ausfahrt, indem sie einfach ihr Schiff verließen und sich stattdessen an Land herumtrieben. Ihre Kameraden löschten unterdessen die Feuer unter den Kesseln und öffneten die Flutventile, um das Schiff zu versenken. Das konnte verhindert werden, aber niemand musste für die Rebellion ins Gefängnis.

Richard Stumpf versteht den Hass seiner Kameraden auf die Vorgesetzten, obwohl er der Deutschen Vaterlandspartei angehört, die unter keinen Umständen auch nur einen eroberten Meter in Frankreich aufgeben will. Gleichwohl hält er die allermeisten Seeoffiziere für arrogante Aufsteiger, die nichts lieber tun, als ihre Untergebenen zu schikanieren. Sie tummelten sich besonders auf den großen Schlachtschiffen, die zu Abfallsammelstellen für die unfähigsten Marineoffiziere geworden seien. Ständig präsentierten sie sich als militärische Elite und beschimpften ihre Untergebenen unablässig als Pack, Dreckskerle, Schweinebande und Proletengesindel. »Ihr Dämelsäcke, ihr Affengesichter! Geh weg, du Schwein, du Biest, du stinkst!«, schrie einer, und ein anderer meinte zu einem Matrosen: »Ob Sie verrecken oder nicht, das ist uns egal, die Hauptsache ist die Gefechtsbereitschaft des Schiffes. Leute sind Nebensache, denn die können wir kriegen, soviel wir haben wollen.« Von unzähligen solcher Ausfälligkeiten werden die Seeleute später vor einem Reichstagsausschuss erzählen. Diese sadistischen Offiziere haben ihm, klagt Richard Stumpf, die Liebe zum Vaterland ausgetrieben.

Nirgends offenbart sich die Kluft zwischen Offizieren und Matrosen eindrücklicher als beim täglichen Essenfassen. Während sich die Mannschaften mit halber Brotration begnügen müssen und grundsätzlich keinen Alkohol trinken dürfen, werden die Vorgesetzten täglich fetter und aufgedunsener: Sie erhalten abends bis zu sieben Gänge, fast immer Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Oft besaufen sie sich noch mit Wein, Bier und Schnaps. Wenn sie dann in der Offiziersmesse anfangen zu singen, ist ihr Krakeelen bis in die Kasematten der Matrosen und Heizer zu hören.

Am späten Nachmittag beginnt es zu nieseln. Nebel umhüllt die Flotte und lässt sie im Staubregen verschwinden. Vom Bug aus ist nicht einmal mehr das Heck zu sehen. Eine Ausfahrt wäre damit viel zu gefährlich. Richard Stumpf klettert unter Deck des 125 Meter langen Schlachtschiffs. Anfangs hatte er Tage gebraucht, um sich in diesem schmucklosen Labyrinth aus Gängen, Steigleitern, Heizräumen und Kammern zurechtzufinden. Damit die Räume bei einem Angriff kein Feuer fangen, hat man bei Kriegsbeginn Teile des Mobiliars von Bord geschafft und die Farbe der Innenwände heruntergekratzt. Während die Kabinen der Kommandanten und Offiziere achtern und somit ruhig im Wasser liegen, sind Unteroffiziere und Mannschaften im Vorschiff untergebracht.

Frühmorgens, mittags und abends speist Richard Stumpf mit seinen gut tausend Kameraden an langen Bänken und Tischen. Sie erhalten Corned Beef mit Zwiebeln, einfache Graupensuppe oder dicke Graupen, die sie als Kälberzähne bezeichnen. Letztlich ist es immer der gleiche, meist faulige Fraß, der unbekömmlich im Magen liegt. Manchmal kotzen sie wenig später alles wieder aus.

Mehrmals haben die Mannschaften besseres Essen gefordert, besonders im Sommer vergangenen Jahres: Am 6. Juni 1917 rebellierten die Heizer der Prinzregent Luitpold. Nachdem sie vormittags tonnenweise Steinkohlen geschaufelt hatten, gab es für die müden, rußverschmierten Kerle nur dünnes Dörrgemüse. Als sie sich beschwerten, ließ der Erste Offizier alles wegschütten und schickte die Männer zurück zum Dienst. Dann schimpften die Kameraden auf der Posen über vermoderte Rüben. »Ihr verfluchten Schweinehunde!«, schrie ein Vorgesetzter. »Ihr sollt froh sein, dass ihr überhaupt noch etwas zu fressen bekommt.« Und auf der Helgoland hieß es: »Ihr bekommt immer noch zu viel zu essen. In den Speiseabfällen finden sich Reste von guten Kartoffeln und einwandfreiem Brot.«

Mitte Juli 1917 setzte man der Mannschaft der Prinzregent Luitpold schimmelige Steckrüben vor. Nicht einmal ein Hungerstreik änderte etwas an der miesen Kost. Als die Vorgesetzten zwei Wochen später einige Kameraden für einen unerlaubten Ausflug bestraften und zudem mal wieder eine Filmvorführung absagten, die zu den seltenen Vergnügungen zählen, begann der Protest: Am 1. August 1917 verließen vierhundert Matrosen ihr Schiff, marschierten durch Wilhelmshaven und über den Deich nach Rüstersiel. Dort, im Wirtshaus »Zum Weißen Schwan«, forderte der Heizer Albin Köbis erstmals öffentlich ein Ende des Krieges und sofortigen Frieden. Hunderte der Matrosen wurden darauf hin verhaftet. Die meisten kamen zu Strafbataillonen an die Front oder wurden zum gefährlichen Minensuchdienst in der Nordsee eingeteilt. Sechsundsiebzig Seeleute erhielten jahrelange Gefängnisstrafen. Gegen zwei angebliche Haupträdelsführer wurden zweifelhafte Todesurteile verhängt. Sie hätten einen, wie es hieß, vollendeten Aufstand gewagt. Admiral Reinhard Scheer verhinderte sogar, dass die beiden Unglücklichen ihr Recht auf ein Gnadengesuch beim Kaiser wahrnehmen konnten. Er wollte unbedingt ein Exempel statuieren. Der zweiundzwanzigjährige Matrose Max Reichpietsch und der vierundzwanzigjährige Heizer Albin Köbis hatten sich 1912 freiwillig zur Marine gemeldet. Fünf Jahre später, am 2. September 1917, wurden sie auf dem Artillerieschießplatz Wahner Heide in Köln erschossen. »Ich hätte jeden für einen Narren erklärt, der behauptet hätte, dass in meinem Vaterlande ein Mensch zu Zuchthaus und zum Tode verurteilt werden kann, ohne dass er etwas Ungerechtes getan hat«, notierte Richard Stumpf damals. »Allmählich geht mir eine ganze Bogenlampe auf, warum manche Menschen das Militär und sein System mit solcher Leidenschaft bekämpfen. Armer Karl Liebknecht! Wie tust Du mir heute leid.« Noch immer trauern die Matrosen aller Schiffe um die beiden hingerichteten Kameraden.

Nach dem Abendessen klappen die Matrosen und Heizer die Tische und Bänke zusammen. Sie erhalten schmale Hängematten, die in engen Reihen nebeneinander aufgehängt werden. Ein jeder kriecht in seinen Krepierbeutel, den Schlafsack. »Ich kann mir kein beruhigenderes Gefühl denken, als wie wenn man nachts in der Hängematte liegt, plötzlich aufwacht und hört das gleichmäßige Pochen der Schiffsmaschine«, berichtet Richard Stumpf. Nur sein Kopf mit der hohen Stirn, dem schmalen Mund und den Augen mit ihrem milden Blick schauen noch aus dem Schlafsack heraus. Selten kommt ihm der Gedanke, dass eines Nachts ein feindlicher Torpedo an der Bordwand einschlagen könnte. Er schläft mit der Gewissheit ein, dass anderswo auf dem Schiff noch Kameraden wachen. Kürzlich jedoch – als er im Urlaub bei den Eltern war – plagte ihn ein Albtraum: Er sah sich mitten auf der Nordsee treiben, umgeben von lauter schwarzen Augen, die nichts anderes waren als tückische Minen. Unheimlich nah schwammen sie an ihm vorbei. Und plötzlich hörte er ein feines, metallisches Klicken.

Dienstag, 29. Oktober

Wilhelmshaven

Morgens lechzt Richard Stumpf immer nach frischer Luft. Sein Kopf schmerzt und ist schwer wie Blei. Der Körper fühlt sich matt und müde an. Es ist stickig in dem kleinen Raum, den er mit neununddreißig Kameraden teilt. Jeder spricht einen anderen Dialekt. Die Männer kommen aus Berlin, Leipzig, Frankfurt und Köln, aus dem Ruhrgebiet und Oberschlesien. Vor dem Krieg waren sie Mechaniker, Ingenieure, Techniker, Elektriker, Telegrafisten oder Maschinisten. Man hat sie verpflichtet und in eine blau-weiße Seemannskluft gesteckt. Auch Bäcker, Metzger, Sattler, Maler, Zimmerleute, Schuhmacher und Schneider dienen an Bord, während die Seeoffiziere aus reichen Familien oder dem Adel stammen.

Jeden Tag verrichten die Seeleute die gleichen Arbeiten. Jede Stunde ist straff durchorganisiert von frühmorgens bis spätabends. Obwohl die Schiffe fast nie ausrücken, werden die Matrosen und Heizer ständig beschäftigt. Denn eine untätige, auf engem Raum zusammengedrängte Menschenmenge gilt als höchst gefährlich. Hätte sie doch, wie es heißt, allzu viele Gelegenheiten zum Schwatzen und Kritisieren. Der Vormittag beginnt mit Musterung und Gefechtsdienst, »Kanonenschwoof« genannt. Nachmittags lästige Turnübungen an Deck und vaterländische Erziehung, der »Hampelmanndienst mit Unterricht«. Anschließend sind Geschütze und Uniform zu putzen, Seile und Netze zu flicken. Während die Matrosen auf Trab gehalten werden, müssen die Heizer in den Katakomben tonnenweise Kohlen schaufeln, um die stählernen Kolosse unter Dampf zu setzen. Nach dem Abendessen finden noch Scheinwerferübungen statt. So vergehen die Tage von der Morgendämmerung bis in die Nacht.

Nur wenig freie Zeit bleibt den Matrosen und Heizern. Aber anders als die Soldaten in den Schützengräben verbringen sie Monate oder Jahre miteinander. Sie erzählen aus ihrem Leben, singen, tauschen verbotene Zeitungen und Bücher aus, die versteckt in vermeintlichen Fresspaketen an Bord gelangen – und wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen. Nur selten dürfen die Matrosen und Heizer – im Gegensatz zu ihren Vorgesetzten – an Land übersetzen, um einen Film zu sehen oder ins Wirtshaus zu gehen. Damit das Schiff jederzeit auslaufen kann, muss der größte Teil der Besatzung stets an Bord bleiben und deshalb auch die dienstfreie Zeit unter Deck verbringen.

Richard Stumpf vervollständigt dann sein Tagebuch oder spielt seine Zither, die er aus der oberfränkischen Heimat mitgebracht hat. Längst fühlt er, wie eine schier unerträgliche Kriegsmüdigkeit auf seinem Herzen lastet und eine moralische Depression sein Gemüt beschwert. »Meine allzeit optimistische Seele beginnt allmählich für Vorstellungen empfänglich zu werden, deren Annahme sie früher beharrlich verweigerte.« Bolschewistische Ideen kursierten in den Köpfen mancher junger Männer. Viele sprächen davon, wie sie sich demnächst als »rote Gardisten« benehmen würden. »Was wird nun geschehen, wenn alle Friedensverhandlungen scheitern sollten und uns nichts übrig bleibt als ein Kampf bis aufs Messer? Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass sich ein Volk in letzter, höchster Not seiner Peiniger mit furchtbarem Schlage erwehrt hätte.«

Gegen zwanzig Uhr versammelt Admiral Franz von Hipper, Chef der Hochseeflotte, seine Geschwaderchefs auf seinem Flaggschiff Baden. Nur der Kommandant der Thüringen, eines der größten und neuesten Kriegsschiffe, kommt etwas zu spät. Gerade hat er noch seine Mannschaft antreten lassen, um die mehr als 1100 Mann auf eine große Schlacht einzuschwören: »Wir verfeuern unsere letzten zweitausend Schuss und wollen mit wehender Flagge untergehen.« Mitten im Satz brüllte ein Matrose dazwischen: »Dann fahr mal alleine los.«

Nun, an Bord der Baden, erteilt Franz von Hipper den Befehl: Alle Kriegsschiffe – vier Geschwader mit mehr als 30 000 Mann – sollen sich auf Schillig-Reede am äußersten Nordosten Ostfrieslands sammeln, um nachts gegen drei Uhr zu einer entscheidenden Seeschlacht auszulaufen. Einzig General Erich Ludendorff ist seit Längerem über das Vorhaben unterrichtet. Er wurde jedoch vor drei Tagen vom Kaiser als Chef der Obersten Heeresleitung entlassen. Wilhelm II. gegenüber hat die Marineführung nur eine vage Andeutung gemacht. Reichskanzler Max von Baden ahnt nichts vom Plan einer finalen Seeschlacht. Im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung will man ihn ohnehin wieder loswerden. Den Matrosen und Heizern soll weisgemacht werden, es handele sich lediglich um ein Flottenmanöver in der Deutschen Bucht.

Schon seit Tagen warten erste kleinere Schiffe auf hoher See auf die Kriegsflotte. Den Befehl, dort Position zu beziehen, haben sie vor gut einer Woche, am 21. Oktober, erhalten – genau einen Tag nachdem die deutsche Regierung den U-Boot-Krieg – trotz des Protestes der Admiräle – für beendet erklärt hatte.

Jetzt will die Marineleitung auch die Großkampfschiffe in Stellung bringen. Während sich die Kommandeure noch beraten, wird dem Chef des III. Geschwaders mitten in die Sitzung hinein gemeldet, auf dreien seiner fünf Kriegsschiffe verweigerten unzählige Matrosen und Heizer, so viele wie nie zuvor, die Befehle oder seien erst gar nicht wieder an Bord aufgetaucht.

Hunderte Matrosen treiben sich in Wilhelmshaven herum und wollen nicht mehr auf ihre Schiffe übersetzen. Von Offiziersburschen und Funkern haben sie gehört, dass Großes vor sich geht. Was genau, wissen sie nicht. Vor allem die Mannschaften der Schlachtkreuzer Von der Tann, Seydlitz und Derfflinger weigern sich, an Bord zurückzukehren. Auf der Straßburg löschen Matrosen das Feuer unter den Kesseln, weil die Heizer ohnehin den Kreuzer verlassen haben. An ein Anschlagbrett des Schlachtschiffs Großer Kurfürst hat jemand einen Zettel geheftet: »Schmeißt die Arbeit nieder! Wir wollen Frieden – oder nicht? Oder sollen wir unseren Kameraden an der Westfront entgegenarbeiten? Nieder mit dem Krieg!« Immer mehr Mannschaften erfahren über Funksprüche und Morsezeichen, was auf anderen Schiffen vor sich geht. An Bord der König, der Kronprinz Wilhelm und der Markgraf halten die Heizer die Feuer absichtlich niedrig. Als die Offiziere an die dreißig Mann festnehmen lassen, missachtet die übrige Mannschaft alle weiteren Befehle. In einem Heizraum, tief unten im Bauch eines Kriegsschiffs, wo die Feuer glühen, schneidet jemand die Lichtkabel durch. Nur noch die Feuerstürze unter den Kesseln leuchten in der Dunkelheit. Wasserdampf quillt brausend auf. Wände, Rostböden und Decken sind kaum mehr auszumachen. Unterdessen nimmt die Mannschaft des Schiffs Friedrich der Große keine Kohlen mehr an Bord, womit jede Ausfahrt verhindert ist. Und auf der Thüringen demolieren Matrosen und Heizer die Ankerwinden, zerschlagen Lampen und Heizschlangen, sperren ihre Unteroffiziere in Kammern ein und erklären ihrem Kommandanten, nur im Falle eines feindlichen Angriffs kämpfen zu wollen – und keineswegs weiter als bis Helgoland hinauszufahren. Dann verschanzen sie sich im Vorschiff.

Traurig, tieftraurig beobachtet Richard Stumpf von der Wittelsbach aus die Meuterei auf der Thüringen und der Helgoland. Aber er verspürt doch auch eine gewisse Schadenfreude und fragt sich, wo die Allmacht der stolzen Kapitäne und Stabsingenieure geblieben ist. Von jeher seien die Heizer und Matrosen wie Hunde behandelt worden. Jetzt aber, da sie ihre Arbeit verweigerten, werde ihnen klar, dass ohne sie an Bord nichts laufe. »Wer so lange unter dem Bewusstsein der eisernen Disziplin, des blinden Kadavergehorsams gedient hat wie ich, muss so etwas für unmöglich halten.« Dass die Matrosen ausgerechnet bei einem Angriff – eine feindliche Flotte ist ja angeblich unterwegs nach Helgoland – alles hinwerfen, war für ihn bisher undenkbar. »Jahrelang aufgehäuftes Unrecht hat sich zu gefährlichem Sprengstoff verwandelt und detoniert schon hier und dort mit heftiger Gewalt.« Weshalb nur hat man ihnen so schuftige, gewissenlose Offiziere vorsetzen müssen?

Noch in der Nacht stellt Admiral Franz von Hipper fest: »Das geplante Gefechtsbild fällt aus.« Er verschiebt den Befehl zum Auslaufen der Großkampfschiffe auf morgen früh um acht Uhr. Während die Schlachtgeschwader vorerst nahe der Küste bleiben, sollen die Torpedoboote, auf denen es ruhig geblieben ist, in die Nordsee vorstoßen.

Berlin

Am späten Abend bringt die Kaiserin ihren Gatten zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig nimmt sie ihn mit Tränen in den Augen fest in den Arm und drückt ihm still eine Rose in die Hand. Wenig später rollt der Hofzug mit Wilhelm II. gen Westen. Der Kaiser will zu seiner militärischen Führung ins Hauptquartier in der belgischen Bäderstadt Spa reisen, ein paar Tage dort verweilen, die Fronttruppen besuchen und ansonsten seine Ruhe haben. Denn in Berlin gibt es ständig Diskussionen um seine Abdankung. Selbst Großindustrielle wie Hugo Stinnes und Robert Bosch verlangen inzwischen öffentlich, dass er endlich verschwindet. Und dieser Tage ist ein enttäuschender Brief von Kaiser Karl angekommen, dem Freund aus Wien. Stumm hatte Wilhelm die Zeilen gelesen und am Ende geklagt: »Nun stehen wir allein gegen die ganze Welt! Um Österreich nicht im Stich zu lassen, haben wir den Krieg über uns ergehen lassen müssen, jetzt lässt es uns im Stich!« Karl hatte mitgeteilt, er werde mit den Feinden Frieden schließen. Die Verhältnisse zwängen ihn dazu.

Um mit den Amerikanern über Frieden verhandeln zu können, hat sich Wilhelm II. gestern einer neuen politischen Ordnung gefügt, dem Reichstag weitgehende Rechte zugestanden und damit seine Macht selbst beschnitten. Die Regierung ist nicht mehr von seinem Vertrauen abhängig, sondern wird fortan von den Mehrheiten im Reichstag gewählt und abberufen. Ferner muss das Parlament sowohl einer Kriegserklärung als auch einem Friedensschluss zustimmen. Offiziere können nur mit einer Unterschrift des Reichskanzlers oder der Kriegsminister der einzelnen Länder ernannt, befördert oder entlassen werden. Damit ist das Deutsche Reich einer Forderung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nachgekommen.

Jetzt, da es überall im Lande gärt, braucht Wilhelm II. schnellstmöglich einen Waffenstillstand. Nur wenn keine feindliche Invasion mehr droht, könnte er an der Spitze der eigenen Fronttruppen zurück in die Hauptstadt marschieren und jeden, der weiterhin seine Abdankung verlangt, verfolgen und unterdrücken. Mit dem Hofzug verlässt er Berlin in der Dunkelheit.

Spa

Im Großen Hauptquartier im belgischen Heilbad Spa überlegen die obersten kaiserlichen Militärs seit Längerem hin und her, wie man den lästigen Kaiser loswerden und die Monarchie retten könnte. Man müsste Wilhelm mit einem Stoßtrupp weit nach vorne an die Front bringen, damit er dort heldenhaft ums Leben käme, von feindlichen Kugeln getroffen, von einer Granate zerfetzt oder durch Giftgas getötet. Auf diese Weise wäre ein Mythos geschaffen: Künftige Generationen könnten in Wilhelm eine deutsche Legende erblicken, einen tragisch gescheiterten Arminius. Allerdings wäre es ein Desaster, wenn der Kaiser in Gefangenschaft geriete.