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Vielleicht kennen sie das Gefühl... Eingeklemmt im Alltag, jeder Tag wie der andere und das vielleicht über Jahrzehnte. Sogar der Weg zur Arbeit ist immer der gleiche. Wie es sich wohl anfühlen würde, der Tretmühle des Alltags für kurze Zeit den Rücken zu kehren? Genau hier beginnt Cappuccino al dente. Wie an jedem anderen Tag fährt Adi Prantl mit seinem Rad zur Arbeit, nur heute biegt er kurz vor seinem Arbeitsplatz in eine andere Richtung ab. Auf seinem Gepäcksträger nicht wie gewohnt die Schultasche, sondern ein Zelt und zwei schwere Satteltaschen. Sein Ziel: Mit dem Fahrrad bis nach Rom zu radeln. Während sein Wohnort hinter ihm immer kleiner wird, beginnt vor ihm ein Abenteuer, das ihn zuerst durch die beeindruckenden Landschaften der Alpen und später durch ein Italien, abseits der Touristenpfade führt. Es sind nicht nur die Beschreibungen der Orte, die den Reiz dieses Buches ausmachen, sondern die Begegnungen mit den Menschen, die ihnen Leben einhauchen. Trotz einiger Cappuccino Pausen, braucht man für so eine Tour viel Durchhaltevermögen und Biss, denn Strapazen gibt es bei so einer langen Radtour genügend: Steile Gebirgsstraßen, italienische Autofahrer, freilaufende Hunde, Jäger, Mückenattacken, Wildschweine und kriminelle Elemente. All das und viele andere Geschichten erwarten den Leser im Wohnzimmerstuhl. Vielleicht sogar bei einer Tasse Cappuccino?
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Seitenzahl: 381
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für meine immer noch aktive Mama, mit der ich auf unserer ersten Radtour die Liebe für Abenteuer auf zwei Rädern entdeckte.
Dezember 2021
Inhalt
Meine Route
Etappe 1: Inzing nach Grado
Start mit Hindernissen
Auf und ab
Restart – Neustart
Trocken durchs Drautal
Eine Bahnfahrt der Extraklasse
James Bond müsste man sein
Udine bis Grado
Etappe 2: Grado nach Florenz
Lagunenradeln
Im Podelta
La Via del Delta
Ein unerwartetes Ende
Toskana ich komme
Una passeggiata nella città di Firenze
Etappe 3: Florenz nach Rom
Nella regione di Chianti
La Vita è Bella
Lago Trasimeno
Perugia will erobert werden
Assisi
Chiesa S. Vittore
Lazio ich komme
Sono andato a Roma!
Sightseeing in Rom
Via Appia Antica
Etappe 4: Rom nach Paestum
Arrivederci Roma
Aamooore!
Die Italiener und der Müll
A Napoli
Vesuvio e Pompei
Amalfitana - schönste Küstenstraße Italiens
It´s always best to work for yourself
„Quo vadis?“
La Fine
Wenn du zehn Jahre zurück in die Vergangenheit gehen könntest, um dir selbst ein paar gute Ratschläge zu geben, welche würden das sein?
Ich machte es umgekehrt. Nahm die rosarote Brille von der Nase und stellte mir vor, was in zehn Jahren sein könnte. Das Berufsleben hinter mir. Die verdiente Pension vor mir. Dann vielleicht irgendeine Diagnose. Krankenhausaufenthalt.
Welche guten Ratschläge würden mir jetzt einfallen?
Es war an der Zeit einen Boxenstopp einzulegen. Dem Hamsterrad zu entfliehen. Pause zu machen. Oder anders ausgedrückt: die Zeit war reif für ein Sabbatical.
Sich täglich zehn Stunden auf einen Fahrradsattel zu setzen, den Staub der Straße einzuatmen und sich über die Unebenheiten der Landschaft zu plagen ist wahrscheinlich nicht Jedermanns Vorstellung von Erholung. Und dann ist da noch das Wetter. So eine Tour verlangt Durchhaltevermögen und „Biss“. Jeden Tag aufs Neue. Reisen - „al dente“!
Doch es gibt bei einer Radtour auch die vielen Momente des Glücks. Hinter jeder Kurve lockt das Unbekannte, beginnt das Festessen der Sinne: Augen, die sich nie satt sehen. Ein Körper, der sich nie lebendiger fühlte. Die kühle Brise auf der erhitzten Haut. Die Klänge und Gerüche der Natur. Und schließlich der „Cappuccino“auf der Piazza, der jegliche Strapazen schnell wieder vergessen lässt.
So eine Radtour ist beides: „Cappuccino“und „al dente“!
Innsbruck nach Rom (und darüber hinaus) Übernachtungsorte (1-27)
Etappe 1: Inzing nach Grado (ca. 400 km)
Kapitel 1
Start mit Hindernissen
„Das Leben ist wie Radfahren. Um im Gleichgewicht zu bleiben, muss man sich bewegen.“ (Albert Einstein)
Wie eine Rakete schießt das weiße Auto den Berg hoch. Alles geht sehr schnell. Was ich dann mache, überrascht nicht nur den Lenker. Manchmal übernehmen Reflexe unsere Entscheidungen. Oder ist es der Instinkt? Denn Zeit zum Überlegen hatte ich nicht. Spontan reiße ich mein Rad um 180° nach links auf die Fahrbahnmitte, werfe meinen Arm in die Höhe und versuche das Polizeiauto in seiner rasanten Fahrt zu stoppen.
Drei Monate zuvor…
Ich hatte ein Jahr frei. Das Fahrrad stand in der Garage.
Die Schlusszeugnisse sind ausgeteilt, dem Abschlussessen mit Kollegen folgen Wangenküsse, Händeschütteln und einige letzte, neugierige Fragen:
„Was wirst du in deinem Sabbatical machen?“
„Reisen. Mir die Welt anschauen, Südostasien,
Nordafrika, England - und mal schauen.“
“Was machst du als Erstes?“
“Eine Radtour.“
„Wohin?“
„Rom.“
Mit etwas ernsterer Miene lege ich aber sofort nach:
„Wenn ich es so weit schaffe und so lange, wie es mir eben Spaß macht. - Mal sehen.“
Mal sehen…
Mein lang ersehntes, freies Jahr beginnt und mit ihm meine erste Reise. Müde, fröstelnd und schlecht gelaunt blicke ich auf meinen Tischkalender.
„Beginn meiner Radtour“, lese ich dort in der Spalte vom 16. September. Heute ist der 22. September und mein Körper fühlt sich seit Tagen an, als hätte er gerade den Schleudergang in einer Waschmaschine hinter sich.
Der Druck in meiner Stirn lässt nichts Gutes erahnen und das Brennen im Hals fühlt sich an, als hätte ich Rasierklingen verschluckt. Draußen regnet es seit Tagen in Strömen, die Temperaturen sind für September viel zu kalt und auf den Bergen ist bereits der erste Schnee gefallen. Den Beginn meiner Radtour hatte ich mir anders vorgestellt!
–––
Donnerstag, 28. September
Endlich - nach tagelangem Ein,- Aus- und Umpacken meiner Satteltaschen ist es so weit und ich klettere unbeholfen und etwas schwerfällig auf mein Fahrrad. Obwohl ich mich seit Monaten auf diesen Moment freue, spüre ich heute ein Gefühl der Zerrissenheit. Selbstzweifel machen sich breit.
„Bin ich schon gesund genug? Werde ich die körperliche Herausforderung überhaupt schaffen? Bis nach Rom ist es weit und von den vielen Höhenmetern ganz zu schweigen.“
Hätte eine Tour nach Salzburg nicht auch gereicht? Warum habe ich von meinem ehrgeizigen Vorhaben erzählt? Wäre nicht eine Postkarte am Ende meiner Tour Information genug gewesen?
„Hallo meine Lieben, ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin mit meinem Rad bis ins Salzkammergut gekommen.“
Nein, ich musste herumposaunen, dass ich bis nach Rom radle, obwohl ich noch keinen Meter davon gefahren war.
Der selbstauferlegte Druck motiviert mich an diesem Donnerstagmorgen nicht. Prallgefüllt und schwer hängen meine Satteltaschen gut angeklammert auf meinem Gepäcksträger. Die Garagentür knallt laut hinter mir zu und plötzlich kommt es mir vor, als verlasse ich nicht nur mein Haus, sondern auch mein bisheriges Leben.
Wackelig folgt mein schweres Gefährt einem Weg, der mir vertraut ist. Wie oft bin ich auf ihm müde und gestresst frühmorgens zur Arbeit gehetzt? Wie oft träumte ich im Halbschlaf davon, mein Rad an der nächsten Kreuzung statt nach links, einfach nach rechts zu lenken, um in ein ungewisses, spannendes Abenteuer zu starten?
An einer Abzweigung unterhalb meiner Schule bleibe ich stehen. Mit einem seltsamen Gefühl schiele ich zu den beleuchteten Klassenzimmern hinauf. In Gedanken stehe ich in einer der Klassen.
Es ist noch Pause. Der Raum ist gefüllt mit jugendlicher Energie, die das Bedürfnis hat, sich unentwegt mitzuteilen. Kaum ein anderer Ort verfügt über so viel Lebenskraft wie die Schule. Hier steht das Leben am Beginn. Hier wird darauf vorbereitet. Hier entstehen Lebenspläne. In einer Gemeinschaft, die der Zufall zusammengewürfelt hat, wird gelernt, gespielt, gestritten und geträumt. Als Lehrer bekommst du viel von dieser Energie ab. Wie anders muss die Arbeit in einem Altersheim sein?
Plötzlich, wie von einer fremden Macht gesteuert, schwenkt mein Lenker nach rechts und mein Rad rollt die Straße hinunter. Hinter meinem Rücken verschwinden nicht nur die Fenster der Klassenzimmer, sondern auch mein bisheriger Arbeitsalltag - während vor mir ein neues, noch unbekanntes Abenteuer beginnt.
Als ich nach etwa zehn Minuten auf meinen Radcomputer blicke, leuchtet mir die Zahl 5 entgegen und unwillkürlich frage ich mich:
„Wie viele Kilometer wird dieses kleine Gerät noch bis zum Ende meiner Tour aufzeichnen?“
Herbstlich gelb leuchten die vorbeiziehenden Laubbäume in der Morgensonne. Ein wärmender Anblick vor den schneebedeckten Bergen im Hintergrund. Obwohl es noch kühl ist, bemerke ich, dass mein Körper langsam in Gang kommt. Ich spüre ein aufkommendes Gefühl von Freiheit, das ich bereits von anderen Radtouren kenne, gemischt mit großer Dankbarkeit. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, nach vierzig Jahren Arbeit eine Pause machen zu können und trotzdem meinen bisherigen Arbeitsplatz behalten zu dürfen. Ich kann es immer noch nicht fassen: Ein ganzes Jahr frei!
Der Radweg entlang des Inns und der Sill führt mich sicher und schnell durch Innsbruck in den Osten der Olympiastadt. Es wird langsam wärmer und ich bin überrascht, wie problemlos ich die ersten fünfundzwanzig Kilometer trotz meines überwundenen grippalen Infekts und des schweren Gepäcks geschafft habe.
Kann es sein, dass meine ursprünglichen Bedenken mit jedem Tritt in die Pedale einfach weggetreten werden? Dass die Neugierde auf das Kommende wie ein Radiergummi alle kritischen Gedanken einfach auslöscht?
Wie oft im Leben zweifle ich? Zweifle ich an meinen Möglichkeiten? Zweifeln heißt Bedenken haben. Grüble ich zu oft? Blockiere ich dadurch die Gelassenheit, die ein unbekümmertes Leben erst möglich macht?
Noch immer türmt sich das Wort Rom wie eine unbezwingbare Felswand vor mir auf.
„Drop the thought“ - wenn dich ein negativer Gedanke quält - lass ihn fallen, heißt es im Buddhismus. Und so beschließe ich, ab jetzt nicht mehr an Rom als mein erklärtes Ziel zu denken, sondern ich konzentriere mich auf den Weg vor mir - auf das Jetzt.
Was mir bei mehrtägigen Radtouren am besten gefällt, ist die Vorfreude auf Neues. Was mich hinter der nächsten Ecke erwartet, kenne ich noch nicht und wo ich abends übernachten werde, ergibt sich, wenn es so weit ist.
Hinter jeder Kurve beginnt eine neue Szene. In etwa so wie in einem Film im Kino, den man noch nicht kennt. Eine Spritztour zu Hause hingegen ist wie ein Streifen, den man schon mehrmals gesehen hat.
Das Inntal bis Wörgl, ist so ein Film, den ich schon kenne. Die Radstrecke verläuft meistens neben der Autobahn und so hält sich meine Begeisterung für diesen Abschnitt auch etwas in Grenzen.
In Wattens lerne ich Emil, einen Pensionisten aus der Schweiz kennen, der vom Malojapass allein nach Rosenheim radelt. Er übernachtete heute in Innsbruck.
„Das Hotel war im Zentrum, aber leider nicht ganz billig“, teilt er mir in seinem Schweizer Akzent mit. Wenn ein Schweizer, „nicht ganz billig“ sagt, muss es teuer gewesen sein, interpretiere ich seine Aussage. Emil ist im Studium der Lebenslektionen bereits einige Semester vor mir. Das Seminar „Quälende Gedanken fallen lassen“ hatte er schon und auf meine Frage, “Wie weit hast du vor, zu radeln?“, antwortet er schweizerisch gelassen: “Mol sehe, wie wiit i kum.“
Selbst auf meinen Vorschlag, dass sich Passau als interessanter und lohnenswerter Abschluss seiner Velotour anbieten würde, da diese Drei-Flüsse-Stadt auch am Inn liegt, bleibt er gelassen und ruhig.
„Vieliicht - mol luege“. Nachdem wir bereits eine viertel Stunde, auf der Straße plaudernd den Wattener Innenstadtverkehr behindern, schlage ich vor, gemeinsam weiter zu radeln. Als wir so gemütlich nebeneinander am Innradweg nach Schwaz treten, erzählt er mir stolz von seinen bisherigen Radtouren, die er mit seinem Enkel entlang des Rheins unternommen hat. In drei Jahren sind sie so etappenweise von Basel bis zur Nordsee unterwegs gewesen.
„Anfangs musste ich ihn oft motivieren und warten, als er dann fünfzehn war, hat er öfter auf mich gewartet“, erklärt mir Emil. Heute fährt er allein, doch sein nachdenklicher Blick lässt ahnen, dass er der gemeinsamen Zeit mit seinem Enkel ein wenig nachtrauert.
Mein Blick fällt indessen auf seine Lenkstange, an der außer den üblichen serienmäßig vormontierten Bremsen und Gangschaltungen noch einige Extras Platz gefunden haben. Als er mein Interesse wahrnimmt, zeigt er mit einem verschmitzten Lächeln auf „seine Strommaschine“ am Tourenrad. Am Nabendynamo hängt ein kleines Gerät, welches wiederum an einem USB-Kabel angeschlossen ist.
„Ich moche mine igenen Strom“, erzählt er nicht ohne Stolz und deutet auch auf seine Handyhalterung am Lenker, an dem zweckmäßig ein neues Natel (Smartphone) adjustiert ist.
In Schwaz sucht Emil - hungrig vom Strampeln - nach etwas Essbarem und so trennen sich unsere Wege nach einer herzlichen Verabschiedung am Eingang zur Altstadt wieder.
Von Schwaz bis Wörgl ziehe ich zügig durch und verlasse bei Wörgl endlich das Inntal und die laute Autobahn. Bei dem Versuch die Straße Richtung St. Johann zu finden, stoße ich an einer Kreuzung auf einen älteren Herrn, der mir auf einem E-Bike entgegenkommt.
„Entschuldigen Sie bitte, kennen sie sich hier aus“, bremse ich ihn kurzerhand ab.
„Ich möchte nach St. Johann.“
Nachdem er mir kundig den Weg beschrieben hat, rede ich ihn auf sein neues Mountainbike an. Grinsend erzählt er mir, dass er es erst diesen Frühling gekauft hat. An seinem typischen Unterländerdialekt erkenne ich, dass ich bereits einige sprachliche Längengrade überquert habe:
„ Zseascht hui mi oiwai a bisai gschaamt, wenn i damit gfoan bi, weils an Muudor hood. Oba es is a guats Raadl.“ Nebenbei fügt er dann noch hinzu:
„EntIats bini aft do schoo 84.“ (Zuerst schämte ich mich immer, als ich mit dem neuen Rad unterwegs war, weil es einen Motor hat. Es ist aber ein gutes Fahrrad. Ich bin ja immerhin schon 84 Jahre alt).
Ich hätte ihn auf maximal 70 geschätzt und sein zufriedener Blick auf seine neue Errungenschaft verrät, dass die anfängliche Skepsis gegenüber seinem neuen motorisierten Flitzer inzwischen purer Freude gewichen ist. Nachdem wir uns kurz darauf wieder verabschiedet haben, tritt der sportliche Pensionist mit der Behändigkeit eines Jugendlichen rasant in die Pedale und fährt die steile Straße hoch. Neidisch schaue ich ihm nach, bevor ich selbst wieder in meine nichtmotorisierten Pedale trete.
An der nächsten Kreuzung treffe ich auf den nächsten Freizeitsportler. Auch er ist schon über achtzig, und seinem Outfit nach zu schließen, hätte er gerade durchs Ziel bei der Tour de France kommen können.
„I bii heid nur a klaane Rund gfoan, 60 Kilomeda“, entschuldigt er sich, fügt aber gleich hinzu:
“Normalerwais fori waida.“ („Ich bin heute nur eine kleine Runde gefahren. Normalerweise fahr ich viel weiter“).
Als ich mir sein Rad genauer anschaue, finde ich dort keinen Motor eingebaut. Die Energie, die mir von diesem Mann entgegenstrahlt, ist ansteckend. Für einen kleinen Moment teile ich seinen Stolz und seine Freude, und spüre genau, wie er sich fühlt. Leute wie er machen mir Mut, älter zu werden.
Schon bald schlängelt sich mein Radweg über eine Anhöhe steil bergauf ins Leukental, und die Tatsache, dass ich viel Gepäck mit mir mitschleppe, macht sich jetzt zum ersten Mal bemerkbar.
An den vielen Rad- und Wanderschildern fällt mir auf, dass ich inzwischen den Freizeitpark des Wilden Kaisers betreten habe. Immer wieder locken gelbe Schilder, auf denen Mountainbike Routen angeschrieben sind, den ehrgeizigen Hobbysportler zu irgendwelchen Almen hinauf. Ein vielseitiges sportliches Angebot sorgt in dieser Region dafür, dass im Urlaub geschuftet und geschwitzt wird, damit das Weißbier am Abend umso besser schmeckt.
Gegen 18.00 Uhr erreiche ich Scheffau, wo ich beim Wiesenhof zum Abendessen einkehre. Obwohl sich neben dem Restaurant auch ein Campingplatz befindet, entscheide ich mich dafür, mein Zelt auf einer nahegelegenen Wiese am Waldrand aufzubauen. Es wird Zeit, dass ich mich an das Campieren in der freien Natur gewöhne.
Es ist schon dunkel, als ich endlich einen geeigneten Platz für mein Zelt finde. Mist! Ich sehe kaum die Hand vor Augen mehr. Gedankennotiz für morgen: Bei Helligkeit mit dem Zeltaufbau beginnen! Die Tage Ende September sind schon sehr kurz.
Kapitel 2
Auf und ab
„Beim Radfahren lernt man ein Land am besten kennen, weil man dessen Hügel empor schwitzt und sie dann wieder hinuntersaust.“ (Ernest Hemmingway)
Freitag, 29. September
Dass der Herbst Einzug im ganzen Land gehalten hat, merke ich um fünf Uhr früh. Draußen ist es noch dunkel. Aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken, denn meine Füße sind über Nacht zu Eiszapfen gefroren! Steif von der Nacht auf der dünnen Thermorest ruckle ich den Reißverschluss des Zeltes hoch. Eiskalte Wassertropfen klatschen auf meinen Unterarm.
Wie Wattebällchen klettern die Nebelschwaden über den Wald langsam durch das enge Tal zu mir hoch. Millionen von Tautropfen hängen schwer an den Grashalmen, die sich unter ihrer Last zu Boden drücken und bereits in wenigen Tagen wird sie der Frost weiß färben. Kurz nach sieben Uhr habe ich mein Zelt abgebaut. Es ist schwer und nass wie Wäsche aus einer Waschmaschine. Unerwartet lichtet sich die graue Wolkendecke und hungrig knabbern sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dicken Schleier.
Ich folge klamm und immer noch durchgefroren einem idyllischen Radweg bergauf Richtung Ellmau, Going und weiter nach St. Johann. Mein Weg führt mich an vielen Hotels und Ferienhäusern vorbei. Der Tourismus ist hier eindeutig das wirtschaftliche Aushängeschild und in der Zwischensaison wird fleißig am weiteren Ausbau der Beherbergungsbetriebe gearbeitet. Viel Geld wird jedes Jahr in die touristische Infrastruktur, die diese Gegend so wohlhabend machte, gesteckt. Investiert wird an allen Ecken und Enden. Bohr- und Schremmgeräusche diesseits und jenseits meines Weges weisen darauf hin, dass die Sanierungsarbeiten in den Hotels schnell gehen müssen - Saisonstart in den Winter ist bereits in zwei Monaten!
In keinem anderen Land der Erde fallen pro Einwohner mehr Nächtigungen an als in Tirol. Ungefähr 750.000 Menschen leben ständig hier. Jede Nacht könnten sich zusätzlich noch 340.000 Gäste in einem der vielen Gästebetten zur Ruhe begeben.
Tirol kann sich zurecht Tourismusweltmeister nennen. Vier Tage bleibt ein Durchschnittsurlauber in Tirol. Mit über 50% Urlauberanteil führen die Deutschen gefolgt von den Holländern, Österreichern, Schweizern und Briten in der Statistik. Da kommt eine Menge Geld ins Land, wenn man weiß, dass ein Winterurlauber im Schnitt etwa € 150.- pro Tag ausgibt.
Nach etwa dreißig Kilometern erreiche ich auf einem gut ausgebauten Radweg St. Johann. Ich frage mich, wie diese Gegend hier wohl aussehen würde, hätte noch nie ein Tourist seinen Wander- bzw. Skischuh in diesen Teil des Landes gesetzt. Gäbe es die schönen Lifte, Rad- und Wanderwege? Die gut ausgebaute Bundesstraße? Obwohl der Massentourismus zwangsläufig nicht nur Vorteile bringt, versorgt er uns auch mit einer angenehmen Infrastruktur.
In St. Johann lockt mich der örtliche Mc Donald‘s auf ein Frühstück. Nicht wegen der aufgebackenen, geschmacklosen Semmeln im Kartonteller, sondern wegen der Steckdosen. Hier nütze ich die Zeit, mich bei einem heißen Kakao aufzuwärmen und die Batterien des Handys und meines Laptops wieder aufzuladen. Die WLAN-Verbindung hilft mir, die erste Seite meines Reiseblogs samt Fotos ins Internet hochzuladen.
Nachdem ich mich durch den gutbesuchten Wochenmarkt in St. Johann durchgekämpft habe, trete ich auf einem leicht ansteigenden Radweg Richtung Fieberbrunn weiter.
Neben mir plätschert friedlich das Wasser der gleichnamigen Ache. Durch das gelbe Dach der Laubbäume blinzelt das warme Sonnenlicht auf den Waldboden. Die Luft steht still. Trotzdem löst sich ab und zu ein gelbes Blatt und fällt akrobatisch zu Boden. Herbststimmung wie auf einem Kalenderfoto!
Pfeifend trete ich durch eine mir fremde Landschaft und meine Stimmung könnte besser kaum sein. Irgendwo hinter mir ist während der letzten Stunde unbemerkt eine Tür zugefallen. Der Alltag hat dem Abenteuer die Türklinke in die Hand gedrückt und neugierig radle ich in eine neue, mir unbekannte Welt.
Ist Abschalten erst möglich, wenn Ablenkung durch etwas Neues, Unbekanntes erfolgt? Nehmen deshalb Millionen von Menschen jedes Jahr die Mühen einer langen Reise auf sich, um diesen Schalter zu finden?
Hungrig lenke ich mein Gefährt vom Radweg in den Ortskern von Fieberbrunn. Mein Riechorgan hat die Witterung von gebratenem Fleischkäse aufgenommen. Und tatsächlich sehe ich kurz darauf ein Schild, auf dem in großen Buchstaben einladend das Wort „Metzgerei“ steht. In meinem Magen stürzen Bäche von Magensäure in freudiger Erwartung die Schleimwände hinab. Doch gerade als ich auf den Laden zusteure, dreht die Verkäuferin ein Schild hinter der Glastür um:
„Geschlossen!“
Enttäuscht drücke ich meine Nase gegen das Glas und sehe, wie der Zeiger der Wanduhr hinter dem Verkaufstisch auf 13.00 Uhr springt.
„Eine einzige Minute!“, knurre ich. Hinter der Vitrine wischt eine Verkäuferin mit einem Lappen den Tisch ab. Ein kurzer Blickkontakt, ein verzweifeltes Lächeln und…
…gleich darauf das vertraute Geräusch eines Schlüssels im Schloss. Als mir die freundliche Verkäuferin endlich die herrlich duftende Semmel überreicht, fällt ihr Blick auf mein vollbeladenes Rad vor dem Geschäft.
„Wohin geht denn die Reise?“, will sie wissen.
„Nach Rom“, ich reiche ihr das Geld.
„Wohin?“ fragt sie erstaunt nach.
„Nach Rom - in Italien“. Ungläubig schüttelt sie ihren Kopf, gibt mir das Restgeld und geht in ihre wohlverdiente Mittagspause.
Orts - und Flurnamen ergeben sich oft aus topographischen Gegebenheiten. So auch bei meinem nächsten Ort - Hochfilzen. Als Radfahrer lernt man Ortsnamen sehr bald zu deuten. Nach Hohenberg zu treten, erfordert mehr Kraft als nach Unterberg. Obertilliach liegt schweißtreibende zweihundert Meter höher als Untertilliach. Das gleiche bei Hoch- und Untergurgl, Nieder- und Oberbayern und so weiter.
Seit fast einer Stunde quäle ich mich rauf nach Hochfilzen. Auf 959 m gelegen, umgibt diese für den Tourismus hervorragend erschlossene Hochebene im Winter ein Langlaufeldorado. Nicht umsonst fanden hier letzten Winter die Weltmeisterschaften im Biathlon statt. Im starken Kontrast zur Urlaubsidylle wirken die Betriebsanlagen eines seit den 50-iger Jahren ansässigen Magnesit Abbaubetriebes, an dem ich beim Ortsausgang vorbeikomme.
Spontan führen mich meine Gedanken zurück in den Geografieunterricht vor über 30 Jahren. Es ist 18.40 Uhr abends und Professor Hofrat Fink, Direktor des Abendgymnasiums und unser Geografielehrer, betritt das Klassenzimmer. Nervös blicken wir auf die schwarze, zusammengerollte Landkarte, die er fest unter seinem Arm eingeklemmt, mit sich trägt.
„Herr Prantl, kommen Sie doch zur Tafel und erklären Sie uns alle Industriestandorte von Wörgl bis Zell am See auf dieser stummen Karte“, beginnt er heute seine Stunde. Mit Widerwillen nähere ich mich der von allen Schülern gehassten, schwarzen Landkarte, die inzwischen auf einem Ständer montiert drohend in das Klassenzimmer glotzt. Auf dem dunklen Untergrund sind im Gegensatz zu herkömmlichen Landkarten nur die Umrisse von Ländern, Flüssen und Punkte für größere Städte weiß eingezeichnet.
Etwas verunsichert suche ich nach einem Punkt auf der Karte, der mit der Position von Wörgl identisch sein könnte. „Wörgl, Schuhfabrik“, beginne ich mittlerweile etwas selbstsicherer und zähle dann der Reihe nach, alle relevanten Orte bis Zell am See auf. Auf halbem Wege stoppt mein Finger bei Hochfilzen. Ich überlege kurz.
„Magnesit“, fällt es mir dann doch noch rechtzeitig ein: „Aufgrund seiner hohen Temperaturbeständigkeit werden Magnesitziegel in Hochöfen und auch wegen ihrer Wärmespeichereigenschaften auch in Speicherheizungen verwendet,“ sprudelt das in der Vorstunde Gelernte aus mir heraus. Der Professor gibt mir mit einem zustimmenden Nicken zu verstehen, dass ich mich wieder zurück auf meinen Platz setzen dürfe.
Nachdem ich am alten Magnesitwerk vorbeigeradelt bin, überquere ich meine erste Grenze. Salzburg empfängt mich freundlich und lädt mich gleich zu einer längeren Talfahrt Richtung Saalfelden ein. Vorbei geht es dabei auch an Leogang. Ich dachte immer, dass die Tiroler den Tourismus erfunden hätten - die Salzburger stehen uns aber in nichts nach.
Die ländliche Bevölkerung im Alpenraum führte seit jeher ein hartes und beschwerliches Leben in einer abgelegenen, menschenfeindlichen Umgebung, die durch einen langen, harten Winter geprägt war. Mit dem einsetzenden Tourismus im 18. Jahrhundert veränderten sich langsam die Einkommensmöglichkeiten der Landbevölkerung. Auf Bauernhöfen wurden erstmals Zimmer vermietet, später sogar anstelle von Ställen Hotels errichtet.
Bei einem Vortrag in der Wirtschaftskammer in den 90-iger Jahren erklärte mir einmal ein für den Tourismus Zuständiger, dass es in Tirol zwei Arten von Hotelbesitzern gäbe.
Auf die Frage; „Was sind Sie von Beruf?“, konnte man vor zwanzig Jahren noch zwei verschiedene Antworten von ehemaligen Bauern bekommen.
Hotelbesitzer 1:„Ihun a Hotel“- (Er verkaufte mehrere seiner Grundstücke und Kühe, um sich ein Hotel zu bauen. Sein Interesse gilt in erster Linie dem Geld seiner Gäste. Vom Hotelfach hat er nicht wirklich Ahnung.)
Hotelbesitzer 2:„Ich bin Hotelier“ - (Er hat sein Handwerk zumeist in einer Fachschule für Tourismus erlernt, weil er sich für die Gastronomie und seine Gäste interessiert).
Mein Radweg führt bergab nach Bad Leongang. Diese Ortschaft ist einer von mehreren Zugängen zum Skizirkus Saalbach Hinterglemm, einem der größten Skigebiete Österreichs. Zehn Kilometer weiter erreiche ich Saalfelden am Steinernen Meer. Aufgrund seiner geografisch günstigen Lage hat sich das Städtchen zu einem idealen Verkehrsknotenpunkt entwickelt, was ich am zunehmenden Autoverkehr bemerke.
In der Fußgängerzone findet gerade ein großes Kinderfest statt. Bemalte Kindergesichter verschwinden hinter rosaroter Zuckerwatte, Seifenblasen steigen auf und werden eifrig gejagt. Irgendwo spielt eine Band. Hungrig steuere ich auf einen Kebab Laden außerhalb der Fußgängerzone zu. Das kleine Geschäft findet gerade mal Platz für drei Tische. Ich trete an die Theke, hinter der ein Mann gerade einen Hamburger auf eine Grillplatte wirft. Es riecht nach Gebratenem.
An der Wand über mir glänzt ein Schild mit Fotos diverser Speisen. Ich zeige auf ein rundes, halboffenes Sandwich, das mit grünem Salat, Tomaten, Zwiebeln, leckeren gegrillten Fleischstreifen und einer Yoghurtsauce befüllt ist.
„Dürüm?!“, krächzt der ältere Herr hinter der Theke unfreundlich, von dem ich annehme, dass er der Besitzer ist. Ich nicke. Ein Mann und eine Frau sitzen an einem der drei Tische bei einem Cola, aus dem Fernseher über uns plärrt ein lautes, türkisches Musikvideo, in dem bauchfreie Frauen aufreizend mit ihren Hüften schwingen.
Mein hungriger Magen reagiert bereits auf den Geruch von gegrilltem Fleisch und Zwiebeln und knurrt wie ein gereizter Kettenhund.
Ich beobachte den Besitzer, wie er ein längliches Sandwich zubereitet, das so überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Farbglanzfoto über mir hat, auf das ich bei meiner Bestellung gezeigt habe.
„Ich hätte gerne das, was da auf dem Foto ist“, unterbreche ich ihn, alarmiert darüber, dass er womöglich das falsche Gericht für mich zubereitet.
„Dürüm!“, bellt er zurück.
„Ich möchte das, was hier auf dem Foto ist“, wiederhole ich langsam, aber etwas lauter.
„Dürum!!“, faucht er unhöflich zurück.
„Das da“, zeige ich auf die Tafel, die er aber von hinten nicht wirklich sehen kann.
„Du Dürum bestellt!“, protestiert er.
„Ich habe das da auf dem Foto bestellt, ich weiß nicht, ob das ein Dürüm ist“, gebe ich ihm etwas genervt zurück.
„Dürüm ist Dürüm!“, faucht er abermals zurück.
„Ich weiß nicht, was ein Dürüm ist“, gebe ich zu,
„aber ich möchte einfach das hier haben“, und zeige erneut auf die Abbildung über der Theke.
„Dürüm - du nicht wissen Dürüm, jeder weiß Dürüm, hah!“
Wenn eine Katze auf einen bellenden Hund trifft, stellen sich ihre Rückenhaare auf und sie faucht auf ihren Widersacher los. Ich verstehe plötzlich, wie sich Katzen dabei fühlen. Knurrend und gereizt - wie mein Magen - versuche ich es noch einmal, diesmal aber deutlich langsamer:
„Ich - bin heute - das erste - Mal - hier, Sie - arbeiten - jeden Tag - hier. Sie - kennen - ihre Speisekarte. - Ich - nicht! Ich möchte einfach nur - daas -da!“
Zum x-ten Mal zeige ich auf die Abbildung von weiß Allah was.
„Du nicht wissen Dürüm!?“ stellt er abwertend fest, als ob ich 2 plus 2 mit 5 beantwortet hätte.
„Nein!“, kapituliere ich offen, „ich weiß nicht, was ein Dürüm ist“, und gebe mich nun unwiderruflich als kulinarischen Schafskopf der türkischen Küche zu erkennen.
Inzwischen hat er mein vermeintlich längliches Sandwich fertig belegt und bringt es an den Tisch, wo die zwei Gäste sitzen…, bevor er mit meinem Dürüm beginnt.
Als ich auf der stark befahrenen Bundesstraße 161 Richtung Bischofshofen fahre, überholt mich eine etwa achtzigjährige Dame auf ihrem E-Bike. Gefährlich knapp und laut schießt der abendliche Berufsverkehr an uns beiden vorbei. Sie fährt etwas wackelig einige Zeit vor mir, reißt ihren Arm plötzlich nach links und als kein Auto von der Gegenseite kommt, biegt sie ohne je nach hinten geblickt zu haben in eine Seitenstraße ab.
„Wie konnte diese Frau je so alt werden?“ Ab heute zweifle ich an der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Hoffentlich bleiben bei diesem Massenverschleiß an Schutzengeln auch für mich noch welche übrig!
Einige Kilometer vor dem Zeller See, diesmal rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit, man lernt ja dazu, finde ich auf einem almähnlichen Gelände einen idealen Zeltplatz. Was kann jetzt noch schief gehen?
Schnell in die nächste Ortschaft, um meine Wasserflaschen aufzufüllen und einer erholsamen Nacht steht nichts mehr im Weg! Stolz, dass ich von meinem Fehler des Vorabends gelernt habe, strample ich zurück zu meiner Campingparzelle.
Doch inzwischen hat eine Gruppe aus dem Pinzgau an meinem Zeltplatz Gefallen gefunden. Anstatt Ruhe - Glockengebimmel! Eine Rinderherde genießt unbekümmert das saftige Gras auf meinem Grundstück. Empört über so viel Dreistigkeit und mit lautem Gejohle versuche ich die Herde wild fuchtelnd zu vertreiben.
Was bei Tiroler Wiederkäuern schon einige Male funktioniert hat, macht auf die Pinzgauer Rasse wenig bis keinen Eindruck. Mein Geschrei schüchtert die standhaften Dauerkauer nicht im Geringsten ein. Sie rühren sich keinen Zentimeter vom Platz. Ich bin sauer. Stinksauer. Noch aber gebe ich nicht auf. Um zu demonstrieren, dass der menschliche Verstand die Krönung der Schöpfung ist, schmiede ich einen Plan.
Mit gesenktem Haupt täusche ich zuerst vor, mich geschlagen zurückzuziehen. Als ich etwa zehn Meter von der Herde entfernt bin, ziehe ich meine rote Jacke aus und atme tief ein. Ich suche nach der größten Kuh, von der ich annehme, dass sie die Leitkuh ist. Dann presche ich verwegen auf sie zu. Über meinem Kopf schwinge ich meine Jacke wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. Mein archaisches Geschrei hätte sicherlich jedes Mammut in die Flucht gejagt.
Noch fünf Meter, noch drei, noch zwei Meter - Wumps! Nach einem kurzen Aufprall gegen den gasgefüllten Leib des Wiederkäuers katapultiere ich zurück, als ob ich gegen eine Trampolinwand gesprungen wäre. Regungslos und unbeeindruckt bleibt das schwere Vieh stehen. Was man leider nicht von mir sagen kann. Ich stolpere, verliere das Gleichgewicht und lande unsanft neben der Kuh auf dem Boden. Meine Hand nur knapp neben einer Kuhflade.
Das ständige Läuten der Kuhglocken lässt nicht auf die bereits erhoffte Nachtruhe schließen. Mit der Neugierde der Kühe auf Almen haben mein langjähriger Bergkamerad Christian und ich leider schon schlechte Erfahrungen gemacht. Kühe lieben nun mal die Nähe von Menschen. Da kann es schon mal vorkommen, dass einem der Mund- bzw. Maulgeruch eines solchen Almtieres beim Kuscheln im Schlafsack durch die Zeltplane ins Gesicht schnaubt, vom ständigen Lärm der Kuhglocken ganz zu schweigen.
In einem letzten Anlauf versuche ich meinen Zeltplatz zurückzuerobern. Aber außer einem gelangweilten Blick, der so viel sagt wie: „Aus welchem Stall haben sie denn den Verrückten ausgelassen?“, reagieren die Kühe überhaupt nicht.
Eine halbe Stunde später und einige Kilometer weiter baue ich mein Zelt hinter einem Stadel im Dunkeln auf. Erschöpft und komplett verschwitzt krieche ich in meinen Schlafsack. Gerade noch rechtzeitig, denn draußen klopfen inzwischen die ersten Regentropfen wie kleine Nägel auf meine Zeltplane: Was für ein Tag!
Kapitel 3
Restart - Neustart
„Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren.“ (John F. Kennedy)
Samstag, 30. September:
Zuerst denke ich an ein Erdbeben, aber als ich den Reißverschluss meines Zeltes öffne, sehe ich eine riesige Herde Bisons auf mich zulaufen. Erschrocken versuche ich mich aufzurichten. Möchte weglaufen, bin aber wie gelähmt. Plötzlich liegt der Geruch von Gebratenem in der Luft. Auf einem riesigen Fleischgrill dreht sich der Kopf einer Kuh und blinzelt mir entgegen. Sie bewegt ihr Maul, scheint mir etwas sagen zu wollen: „Dürüm. Dürüm.“
Etwas weiter entfernt höre ich einen Traktor, dessen Motor rasch beschleunigt. Ich drehe mich zur Seite, öffne meine Augen und blinzle in mein gelbes Innenzelt, das greller als sonst leuchtet. Nach dem Regen der Nacht scheint draußen bereits die Sonne.
„Kommt jetzt vielleicht der Bauer?“ schrecke ich - von meinem wirren Traum noch immer benommen, hoch. Doch der Traktor verschwindet und beruhigt lege ich mich auf meine zusammenknüllte Jacke, die irgendwie nach Kuhstall stinkt.
Die Regenwolken der Nacht kriechen mit der Thermik die Waldhänge hoch, als ich am noch nassen Radweg zwischen Seeufer und Eisenbahn ins Zentrum von Zell am See gleite. Noch einmal steuere ich den örtlichen Mc.Donald´s an, um nicht nur mich, sondern meine Geräte mit Energie und freiem Internet zu versorgen. Alles ist schwarz. Ich tippe mehrere Male auf die Tasten - ohne Erfolg. Der Bildschirm meines Laptops bleibt dunkel! Zuerst denke ich an eine komplette Restentleerung des Akkus, aber selbst nach einer halben Stunde Ladezeit - bleibt der Bildschirm schwarz. Lange hatte ich überlegt, ob ich die zusätzlichen zwei Kilo, überhaupt auf meine Radtour mitnehmen sollte und ob es klug wäre, den Laptop den Erschütterungen der Strecke auszusetzen. Nun sieht es danach aus, als hätte sich diese Frage von selbst beantwortet.
„Ein Elektrofachgeschäft muss her“, denke ich und suche im Internet auf meinem Handy nach einem Laden. Und tatsächlich, nur zwei Kilometer entfernt, gibt es einen Media Markt!
Die nette Dame am Servicetisch möchte das Gerät sofort einschicken.
„ Dauert drei Wochen, ihre Adresse bitte?“
„Könnte ich mit einem Spezialisten von der Computerabteilung sprechen?“, bitte ich sie.
„Ja, natürlich, hinten rechts. Am besten kennt sich der Ernst aus.“
Ernst schlägt einen Restart meines Gerätes vor. Gespannt starren wir beide auf den schwarzen Bildschirm. Und tatsächlich erscheint nach einiger Zeit mein gewohntes Desktopbild. Überglücklich bedanke ich mich und mit neuer Euphorie schwinge ich mich aufs Rad. Die Welt ist wieder so schön wie vorher!
Von Zell am See führt mich mein Weg noch ein kurzes Stück gegen Süden nach Bruck an der Großglocknerstraße. Dort wartet der nächste Schock.
Vor Millionen von Jahren begann die afrikanische Platte wie ein gewaltiger Bagger, den ehemaligen Meeresboden des Tethysmeeres, vom Bereich des heutigen Mittelmeeres nach Norden zu schieben. Durch den gewaltigen Druck wachsen unsere Berge jedes Jahr auch heute noch für einige Zentimeter in die Höhe. Diese Kräfte im Erdinneren sorgten dafür, dass in den letzten zweihundert Millionen Jahren die höchsten Berge Österreichs gewachsen sind.
Eine mächtige Wand aus Dreitausendern bäumt sich auf der anderen Talseite quer vor mir auf. Die Hohen Tauern mit Granatspitze, Hoher Sonnblick und Großglockner, um nur einige zu nennen, bilden mit ihren ständig schneebedeckten Spitzen und Kämmen die Grenze zwischen dem Salzburger Land und Kärnten.
Durch Bruck fließt die Salzach. Brav, weil aufgestaut und kerzengerade gleitet der ursprüngliche Wildbach unter mir sanft Richtung Salzburg. Auf einer Strecke von fünfzig Kilometern von Krimml bis hierher schicken gleich zwölf Täler ihre Gesteins- und Wassermassen ins Salzachtal.
Von der Salzachbrücke aus blicke ich ehrfürchtig in die Höhe. Erst als ich meinem Kopf vollständig ins Genick gedrückt habe, kann ich die schneebedeckten Gipfel der Hohen Tauern sehen. Ich schlucke kurz und komme mir plötzlich unendlich klein vor. Wie soll ich da mit meinem Rad nur drüber kommen?
Der Salzach entlang radle ich flussabwärts nach Taxenbach. Ich befinde mich jetzt auf dem Tauernradweg. Das Tal wird bei Lend eng wie ein Nadelöhr. Eine Eisenbahn, die Bundesstraße, ein Feldweg und ein Radweg zwängen sich durch die enge Schlucht. Warum heute Unwetter innerhalb weniger Minuten zu Millionenschäden führen, liegt sicher auch daran, dass Infrastruktur, ohne Respekt vor der Natur, in solch ausgesetzte Bereiche gebaut wird.
In Lend stehe ich schließlich vor der Entscheidung, die ich bis jetzt elegant hinausschieben konnte. Rechts gegen Süden führt eine steile Straße hinauf ins Gasteinertal. Flussabwärts folgt der Tauernradweg flach der Salzach nach Schwarzach St. Veit und weiter bis nach Salzburg. Von St. Veit könnte ich bequem mit dem Zug nach Mallnitz in Kärnten fahren und dadurch viele Höhenmeter über den Alpenhauptkamm einsparen.
Wie weit bin ich bereit, meine persönliche Komfortzone zu verlassen? Die sportliche Variante beginnt einige Meter vor mir mit etwa 20% Anstieg. Wann die Straße wieder flacher wird, kann ich von hier unten noch nicht erkennen.
Der Asphalt ist vom nächtlichen Regen noch nass. Zu hoch ist der Berg, als dass die Sonne den Talboden hier unten um diese Jahreszeit erreicht. Obwohl ich an einer Straßenkreuzung stehe, ist es erstaunlich ruhig hier. Ein Eichelhäher krächzt aufgeregt irgendwo im Wald. Meine Beine werden unruhig, wofür entscheide ich mich?
Ein Auto kommt und ist gerade dabei, neben mir den steilen Berg hochzufahren. Ich strecke die Hand aus. Ich weiß nicht, wie viele Pickups es in Österreich gibt. Ich weiß aber, dass ich nur wenige Minuten an dieser Kreuzung stand, bevor mir meine schwere Entscheidung abgenommen wurde. Bestimmung oder nur verdammtes Glück? Ohne das Gepäck vom Rad zu nehmen, hieven Robert und ich mein Fahrrad auf die offene Ladefläche. Alles geht sehr schnell. Mit Vollgas kämpft sich der Pickup die steile Straße hoch. Das Tempo des Autos verunsichert mich. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ein Teil von mir noch unten an der Kreuzung steht. Das ist das Schöne am Radfahren. Man fährt so gemütlich, dass die Seele immer genügend Zeit hat, mitzukommen. Von den Indianern in Nordamerika wird erzählt, dass sie bei längeren Reisen mit ihren Pferden immer wieder Rast einlegten, um ihren Seelen Gelegenheit zu geben, nachzukommen.
Robert erleichtert mir die Entscheidung.
Robert, mein Entscheidungsengel ist etwa fünfzig Jahre alt und selbst begeisterter Radfahrer. Er war frühmorgens bereits mit seinem Rad unterwegs. Nun hat er es eilig. Er ist selbstständig und muss zu einem Termin. Vor dem Tunnel, der ins Gasteinertal führt, lässt er mich aussteigen. Etwa 200 Höhenmeter eingespart! Ich danke ihm und bereite mich auf die Tunnelfahrt vor.
„Mist, was ist jetzt mit dieser Gangschaltung los?“ Verärgert steige ich vom Rad. Der Ganghebel auf meiner linken Seite lässt sich nicht mehr betätigen. Beim Auflegen des Rades auf den Pickup, muss ein Teil der Gangschaltung verbogen worden sein. Ungeduldig sehe ich mir den Werfer, der für das Umschalten der Gänge am Hinterrad zuständig ist, an. Zum zweiten Mal an diesem Tage sehe ich schwarz und stehe still. Neben mir donnert der Verkehr durch den Tunneleingang. Ich suche nach geeignetem Werkzeug und versuche ruhig zu bleiben. Nach einigem Hantieren und Drücken lässt sich die Schaltung dann aber glücklicherweise doch wieder bewegen.
Mein zweiter Restart des Tages ist gelungen! Um möglichst wenig Abgase abzubekommen, möchte ich so schnell wie möglich durch den Tunnel fahren. Doch meine Sorge stellt sich als unbegründet heraus. Eine Ampel am Eingang des Tunnels leuchtet rot. Aufgrund einer Baustelle ist heute Blockabfertigung und so fahre ich die zwei Kilometer bergauf fast ohne Autoverkehr und das sogar auf einem eigenen Fahrradstreifen. Am Tunnelende wartet das wunderschöne Gasteiner Tal.
Das Tal erinnert mich von der Topografie her an das Stubaital. Da es für den Autoverkehr - abgesehen von der Tauernschleuse der ÖBB - ein Sacktal ist, hält sich der Verkehr zumindest im Sommer in Grenzen. In moderatem Anstieg geht es zuerst nach Dorfgastein und dann weiter nach Bad Hofgastein. Während meines Aufstieges begleitet mich auf der anderen Talseite die Eisenbahnstrecke, die sich so wie ich, langsam, aber stetig, bergauf kämpft.
Hinter Bad Hofgastein durchschneidet mein Radweg einen Golfplatz. „Betretenfür Nichtmitglieder verboten!“ lese ich auf einem Schild, hinter dem einige Sitzbänke mit Tisch und einem Wasserbrunnen stehen. Ich ignoriere das Schild und setze mich zum Brunnen, der den durstigen Golfspieler gleich mit zweierlei Wasser verwöhnt. Der linke Wasserhahn bietet normales Trinkwasser, während der rechte 47° Grad warmes Thermalwasser offeriert, das stark belebend sein soll.
Ich ignoriere das seltsam schmeckende warme Heilwasser und belebe mich mit vertrautem, kühlen Gebirgswasser. Eine folgenschwere Entscheidung, die ich schon bald bereuen soll.
Eigentlich wäre der Weg ans Ende des Gasteiner Tales eine gemütliche Sache, wenn - da nicht ein überdimensionaler Felsblock bei Bad Gastein das gesamte Tal versperren würde. Und so stehe ich vor meiner zweiten Bergstrecke des heutigen Tages.
Wahrscheinlich durch das Zeitalter der Romantik inspiriert, fanden sich verwegene Baumeister von den Extremen der Natur angezogen. Und so bauten sie kühne Hotels an noch kühnere steile Felswände und ignorierten die flachen Baugründe auf den ebenen Wiesen unterhalb Bad Gasteins. Was mit Hotelbauten gerade noch gelang, war mit dem Bahnhof allerdings nicht mehr möglich. Dieser befindet sich weit oberhalb der Ortschaft und blickt erhaben auf Gastein und mich herunter.
Mit weichen Knien schiebe ich meine schwere Last über die steile Straße hinauf ins Zentrum, wo ein tosender Wildbach über senkrechte Wände in die Tiefe stürzt und den Kurort in zwei Hälften teilt. Wie in einem Bühnenbild zu einer Wagneroper ragen zu beiden Seiten gewaltige Felswände gegen den Himmel. Die Gewalt der Natur macht hier am Ende dieses friedlichen Tales noch einmal durch den ohrenbetäubenden Lärm des wilden Wassers auf sich aufmerksam. Ich stehe auf der hohen Brücke und beobachte überwältigt das ungestüme Schauspiel der unbändigen Wassermassen über und unter mir. Der Name Gastein kommt aus dem indogermanischen und bedeutet so viel wie gischtender Fluss.
An beiden Seiten dieses Naturschauspiels der Extraklasse, stehen unzählige Hotelbauten aus einer längst vergangenen Zeit. Eines thront dicht neben dem anderen, so als wollten sie sich gegenseitig vom nassen Felsen schieben. Eine große Nobelherberge mitten im Ort steht leer und nur die verschnörkelte Fassade mit ihren Aufschriften, erinnert an die vielen illustren Besuche von Kaisern und berühmten Dichtern. Welch aufregende Geschichten von damals könnten die leeren Räume heute erzählen?
Wegen des Heilwassers kommen Gäste bereits seit dem 14. Jhd. nach Bad Gastein. Im 19. Jhd. aber erlebte Gastein seine Glanzzeit. Alles was damals Rang und Namen hatte kam zum Kuren hierher. Kaiser Franz Joseph, Kaiserin Sissy, Kaiser Wilhelm von Deutschland und Reichskanzler Graf Bismarck. Die Anreisen waren beschwerlich und zeitaufwändig und so wurde schon bald eine Eisenbahn ins Tal gelegt.
Nach fast einer Stunde erreiche ich müde und erschöpft den Bahnhof und bin mit meinen Kräften am Ende. Warum habe ich das Heilwasser am Golfplatz ignoriert? „Übernachtung mit Frühstück € 38.-“, lese ich auf einem Schild vor einem Hotel. Meine Entscheidung steht fest, die Weiterfahrt nach Kärnten kann noch eine Nacht warten.
Kurze Zeit später löst das warme Wasser der Dusche meine Rückenverspannungen und ein deftiges Abendessen in meinem Hotel gibt mir meine verlorene Energie zurück. Bin mal gespannt, wie gut ich in einem richtigen Bett schlafen werde? Nach siebzig Kilometern und vielen kräfteraubenden Höhenmetern brauche ich definitiv nur mehr eines:
Einen Restart!
Kapitel 4
Trocken durchs Drautal
“Mir ist es eingefallen, während ich Fahrrad fuhr.” (Albert Einstein über die Relativitätstheorie, deutsch-schweizerischer Physiker und Nobelpreisträger, 1879 - 1955)
Sonntag, 1. Oktober:
Nach einem ausreichenden Frühstück „durchbohre“ ich den Alpenhauptkamm mit der ÖBB. In nur drei Jahren wurde die Eisenbahnstrecke Schwarzach St. Veit nach Bad Gastein gebaut. 1905 wurde sie von Kaiser Franz Josef I. eingeweiht. Ab jetzt konnten die Wiener Adeligen, relativ leicht zum Kuren ins Gasteiner Tal kommen. Vier Jahre später 1909 wurde der Tauerntunnel Richtung Kärnten fertiggestellt, an dem hauptsächlich slowenische, kroatische und bosnische Wanderarbeiter gearbeitet haben.
„Was versteht man unter einem Scheiteltunnel?“ höre ich erneut die krächzende Stimme meines ehemaligen Geografie Professors aus den achtziger Jahren. Nur wenige der Studenten heben an diesem späten Abend ihre Hände. Wie am Tagesgymnasium, so wird auch am Abendgymnasium für Berufstätige viel Wert auf die Mitarbeit der Studenten gelegt. „Bei einem Scheiteltunnel liegt der höchste Punkt des Tunnels irgendwo in der Mitte zwischen dem Ein- und Ausgang“, höre ich Herwig neben mir antworten und ergänzend meint er noch: „Der Tauerntunnel bei Bad Gastein ist so ein Tunnel.“
Vierzig Jahre später sitze ich in einem Zug, der sich seinen Weg durch den gerade erwähnten Tunnel bahnt. Doch nach acht Kilometern und dreizehn Minuten Fahrtdauer ist die bequeme Zugfahrt schon wieder zu Ende. Ab Mallnitz in Kärnten setze ich meine Tour wieder mit dem Fahrrad fort.
Die roten Rücklichter des Zuges werden immer winziger und auf dem kleinen Bahnhof in Mallnitz ist es wieder ruhig. Ein eisigkalter Wind bläst mir ins Gesicht. Von den wenigen Leuten, die ausgestiegen sind, ist nichts mehr zu sehen. Neun Grad zeigt das Thermometer an der Hauswand! Zwischen den schnell dahinziehenden Wolken leuchten weißverschneite Bergspitzen zum Himmel. Der Winter hat erneut über Nacht ein Zeichen seines baldigen Kommens gesetzt.
Vor dem Bahnhof rüttelt der Wind an einem grünen Schild, auf dem ich Alpe Adria Radweg lese. Dieser von der EU finanzierte, länderübergreifende neue Radweg beginnt im Stadtzentrum von Salzburg und führt auf einer vierhundert Kilometer langen Strecke bis an die Adria nach Grado. Für die nächsten Tage wird diese Route Teil meines Weges nach… („Drop the thought!“) sein.
Als ich gegen den eisigen Wind aus Mallnitz hinaustrete, sind meine Satteltaschen fast leer. Ich habe mir jedes erdenkliche Kleidungsstück, das ich dabeihabe, übergezogen. Immerhin stehen mir 600 Höhenmeter Talabfahrt auf der breiten, kaum befahrenen Bundesstraße nach Obervellach bevor. Nach meinem gestrigen Aufstieg nach Bad Gastein fühle ich mich heute wie ein dreijähriges Kind auf einem Spielplatz, welches selbstständig die steile Leiter auf die Rutsche hochgeklettert ist und jetzt freudestrahlend ganz oben sitzt und sich auf das Runterrutschen freut. Nach der gestrigen Bergetappe sehe ich heute einer durchwegs entspannten Abfahrt durch das Mölltal und später durch das Drautal Richtung Villach entgegen.
Nach einer rasanten Abfahrt biege ich ins historische Zentrum von Obervellach ab, wo gerade eine Festprozession Richtung Kirche zieht. Männer und Frauen in farbenprächtiger Tracht warten in Zweierreihe vor der Kirchentür. Die örtliche Blasmusik untermalt die Zeremonie stilvoll. Ein Herr in Tracht kommt auf mich zu. Wir unterhalten uns kurz. Er ist der Organisator der Feierlichkeit und möchte wissen, wohin ich fahre. Für einige Minuten bin ich Teil dieser Gemeinschaft und es fühlt sich gut an. Irgendwann öffnet sich das große Kirchenportal und die farbenfrohe Prozession verschwindet dahinter.
„Wir feiern heute das Erntedankfest“, erklärt mir der gesprächige Herr, bevor er dem Festzug nacheilt.
„Gute Reise!“, ruft er und verschwindet mit den anderen in der Kirche. Ich schwinge mich aufs Rad, drehe mich noch einmal um und sehe gerade noch, wie das riesige Kirchentor hinter dem letzten Besucher ins Schloss fällt.
Ist es die Sehnsucht nach einer gleichgesinnten Gemeinschaft, oder die Suche nach Gott, die Menschen dazu bewegt, frühmorgens ihr Haus zu verlassen, um in die Kirche zu gehen? Der Gang zur Kirche war für Generationen von Menschen seit jeher ein wichtiger Teil des Alltages.
In der „Italienischen Reise“ beschreibt Goethe wie er durch Tirol über den Zirler Berg nach Innsbruck fährt. Es ist Sonntag, fünf Uhr in der Früh. Sein Postkutschenfahrer, ein gläubiger Mann, treibt die Pferde erbarmungslos an, denn der Kutscher möchte noch rechtzeitig die Messe in Innsbruck erreichen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie der Flixbus Fahrer aus München kommend, den Zirler Berg hinunterrast, um nur nicht zu spät zur Sonntagsmesse in den Innsbrucker Dom zu gelangen.
Vorbei am Maltakraftwerk folge ich dem Mölltal und stoße unterhalb von Möllbrücke zum ersten Mal auf die Drau, der ich bis Villach folgen werde.
Der Drauradweg beginnt Nahe der drei Zinnen in den Dolomiten und führt über Osttirol nach Kärnten, vorbei an Villach, weiter in die Büchsenmacherstadt Ferlach ins verträumte Jauntal bis in die Grenzstadt Dravamünd (Slowenien), von wo man noch weiterradeln kann bis man die Universitätsstadt Maribor (Zagreb) erreicht. Von Slowenien führt der Radweg weiter nach Kroatien und bis nach Ungarn. Alles zusammengerechnet können ambitionierte Radfahrer somit an die 750 Kilometer entlang der Drau fahren.
Nach vierzehn Kilometern erreiche ich Spittal. Locker und guter Dinge trete ich Richtung Zentrum. Heute vor sechs Jahren war ich auch schon hier, saß allerdings in einem Rettungswagen und war weniger entspannt als heute. Einer meiner Schüler hatte sich während einer Sommersportwoche beim Mountain Biken den Arm gebrochen.