Cara - Drachenseele - Sabine Hentschel - E-Book

Cara - Drachenseele E-Book

Sabine Hentschel

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Beschreibung

"Ich hielt Drachen immer für einen Mythos. – Jetzt bin ich selbst einer." Seit einem grausamen Experiment hat die siebzehnjährige Cara plötzlich Zugang zu der Welt der Unsterblichen. Einer Welt, die von Machtgier, Angst und Hass zerrissen ist. Doch Zugang zu ihr zu haben bedeutet nicht, dass man Cara dort auch akzeptiert. Denn in beiden Welten wimmelt es vor Herausforderungen und Gefahren. Ihr Dasein wird zum Balanceakt zwischen den Welten, und ausgerechnet der Mann, den sie für eine Illusion hielt, scheint der Einzige zu sein, der ihr helfen kann. Doch der Beistand des Wächters der Verdammten hat einen hohen Preis. Kann der eigene Tod gleichzeitig ein neuer Anfang sein?

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Sabine Hentschel

Cara 

Drachenseele 

Impressum

Freiberufliche Autorin “Sabine Hentschel”

Inhaberin Sabine Trommer

Ludwig-Weimar-Gasse 6 - 07743 Jena

http: www.sabinehentschel.de 

E-Mail: [email protected]

Lektorat, Korrektorat:

Juliane Niebling

Coverdesign:

Sabine Trommer

Illustrationen:

Dominique-Sophie Zimmer

© 2012 by Sabine Hentschel

4. Auflage 2020

ISBN: 978-3-7531-1575-7

Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlichung, Nachdruck etc., auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Manchmal läuft das Leben an uns vorbei,

weil wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen.

Aber man muss sie bewältigen,

um die Zukunft neu gestalten zu können.

Inhalt

Caras ewiger Traum
Der Morgen
Die Einladung
Dunkle Ruine
Dunkelheit
Rotes Morgengrauen
Der Hüter der Verdammten
Nebel oder Dunkelheit?
Wie lebt ein halber Mensch?
Freundschaft oder Liebe?
Wie hält man ein Gefühl fest?
Sterbliche Prüfungen
Die Entscheidung
Zurück ins Dunkel
Der Garten der Liebe
Was heißt Familie?
Feuer und Eis
Wo wohnen Drachen?
Der Rat der Drachen
Caras Entscheidung
Das Leben geht weiter
Personenregister

Caras ewiger Traum

Wenn wir träumen, dann erinnern wir uns an den Tag, an Erlebnisse, an Gutes oder Böses. Wenn ich träume, ist das anders. Ich habe nur den einen Traum – immer und immer wieder: 

Ich stehe allein in einem düsteren Raum. Es herrscht nichts außer einer vollkommenen Dunkelheit. Ich strecke meine Finger nach allen Seiten aus. Doch ich kann nichts ausmachen. Keine Wand, kein Boden. 

Ich spüre wie sich mein Atem wie ein Nebel auf meine Haut legt. Es fröstelt mich. Mein Puls beginnt zu rasen. Die Leere umfasst mich.

Doch dann steht er vor mir. 

Ein Mann, eingehüllt in einen schwarzen Mantel. Er hat mir den Rücken zugedreht, sodass ich ihn nicht erkennen kann. Er bewegt sich nicht und doch habe ich das Gefühl, er ist kurz davor, sich mir zuzuwenden. Eine unglaubliche Wärme geht von ihm aus. Als würde uns etwas verbinden, das tiefer ist als Zeit und Raum. 

Die Wärme ergreift langsam Besitz von mir – zieht mich in ihren Bann. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, weil ich sein Gesicht sehen will. Aber er bleibt stumm. Ich gehe weiter. Einen Schritt, noch einen. Immer weiter auf ihn zu. 

Da streckt er plötzlich seine Hand, an der ich einen silbernen Ring mit einem Drachensiegel darauf erblicke, nach hinten aus und ergreift die meine. 

Das Gefühl wird stärker. 

Seine Wärme durchströmt meinen gesamten Körper.

Mir wird schwindlig.

 Meine Beine beginnen zu schwanken. Die Sehnsucht nach ihm steigt in mir hoch, umfasst mein Herz, umfasst meinen Kopf und meine Gedanken. Alles um mich herum wird zweitrangig. In diesem Moment zählen nur wir. 

Dann dreht er sich zu mir um.

 Mein Herz beginnt zu rasen.

‚Wer bist du?’, frage ich ihn. 

Aber in dem Augenblick, als er seine Lippen bewegt, um mir zu antworten, – wache ich auf.

Der Morgen

Ich saß in meinem Bett. Draußen war es stockdunkel. Trotzdem rieb ich mir unbewusst die Augen. Dieser Traum hatte mich wieder einmal eingeholt. 

Das erste Mal hatte ich ihn, als ich 12 war. In demselben Jahr, als mein Großvater starb. Er war etwas ganz Besonderes für mich gewesen. 

Ich erinnere mich daran, dass er mich immer seine kleine Prinzessin nannte und versuchte, mir alle Wünsche zu erfüllen, egal was sie kosteten. Mein Großvater hatte mich bewacht und behütet. Nach seinem Tod füllte dieser Mann in meinen Träumen die entstandene Leere. 

Es war einfach nur ein Traum, der mir half, die Geschehnisse zu verarbeiten. Als ich 13 wurde, verschwanden sowohl der Traum, als auch der seltsame Mann von heute auf morgen aus meinem Leben. Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Schließlich war es eine schwierige Zeit.

Aber jetzt ist es etwas anderes. Seit drei Wochen ist er wieder da.

 Jede Nacht schleicht er sich in meine Gedanken. Was ich als Kind als Wärme der Harmonie und des Glücks empfand, wird immer mehr zur Begierde, ihm nah zu sein. Diese Gefühle machten mir Angst und raubten mir den Schlaf. So konnte es nicht weiter gehen.

Ich setzte mich ans Fenster und lauschte in die Nacht. Es war so friedlich da draußen, wenn alles schlief. Die Bäume rauschten im Wind hin und her. Die Nachbarkatzen schlichen auf leisen Pfoten durch unseren Garten. 

Ich saß, wie jedes Mal nach diesem Traum, bis zum Morgengrauen am Fenster. Die Gefühle, die er in mir hervorrief, hielten mich wach. Mein Kopf brummte vor Fragen, die ich ihm nicht stellen konnte.

 Wer war er? Was wollte er von mir? Wieso suchte er ausgerechnet mich auf? Ich fand keine Antworten. 

Als der Wecker schließlich klingelte, machte ich mich fertig für die Schule. Mit meinen langen, schwarzen Haaren hatte ich nach jenen Nächten immer zu kämpfen. Sie waren total zerzaust. Als ich in den Spiegel sah, wurde es auch nicht besser. Unter meinen blaugrauen Augen waren dicke Augenringe zu sehen. Aber egal, was ich auch versuchte, sie blieben.

 Es half einfach nichts. Ich musste, so wie ich war, in die Schule. Deshalb stolperte ich schließlich die Treppe herunter, frühstückte und machte mich auf den Weg zum Unterricht. 

***

Die Schule dauerte wieder ewig. Ich saß einfach die Fächer ab, bis die Uhr halb zwölf schlug. 

»Noch fünf Minuten, dann ist Schluss!«, flüsterte ich und rutsche aufgeregt auf dem Stuhl umher. 

Lisy sah mich ganz verschlafen an: »Was ist?«

»Es ist gleich Schluss!«, entgegnete ich genervt: »Hast du heute Nachmittag schon was vor?« 

»Nein!«, antwortete sie. Perfekt! Genau das wollte ich von ihr hören. 

Ich neigte mich leicht zu ihr rüber und starrte sie flehend an: »Ich will heute Nachmittag ins Fitnessstudio. Du weißt schon ... wegen diesem Typen, Rey. Kommst du mit? Bitte!« 

Sie runzelte die Stirn: »Von mir aus! Ob Stene auch da ist?« 

»Bestimmt! Obwohl ich mich an deiner Stelle lieber von ihm fernhalten würde. Hast du seine Augen gesehen? Der macht mir irgendwie Angst!«, antwortete ich schnell. 

Lisy war, was diesen Mann anging, stets anderer Meinung als ich.

Deshalb wunderte es mich auch nicht, als sie mir direkt widersprach: »Mir nicht! Er ist so faszinierend!«

Das Klingeln durchbrach unser Gespräch. Alle standen auf und packten ein. Es war die letzte Stunde für heute. Zum Glück, sonst hatten wir länger Unterricht. Aber da der folgende Tag ein Feiertag war, machten sie einmal eine Ausnahme. 

Die Schule war neben dem Sport die einzige Möglichkeit, mich selbst von dem Traum abzulenken. An diesen Orten spielten andere Dinge eine Rolle. 

Im Training lenkte mich Rey ab. Ein sehr süßer Typ, den ich schon so manches Mal beobachtet hatte. In der Schule war es, wie sollte es anders sein, der ewige Konflikt mit stochastischen Rechnungen oder ewig ausartenden Erörterungen. 

Lisy und ich waren beide im letzten Schuljahr am Gymnasium in Werdau. Es war kurz vor den Prüfungen.

Die schlimmste Zeit, wenn ihr mich fragt. Jeder Lehrer wollte das Meiste aus einem herausholen. Das hieß Hausaufgaben bis zum Abwinken und ewige Stundendiskussionen über Lösungswege. 

Nichts für uns. Wir genossen lieber das Leben in unserer kleinen Stadt. Es war zwar nicht besonders viel los, aber man hatte alles, was man brauchte. Ein paar Einkaufsmöglichkeiten und zum Kino mussten wir nur bis zur Nachbarstadt fahren. Das Leben hier war nicht langweilig, aber überschaubar – eben Kleinstadtflair. Alles lief seine geregelten Bahnen, tagein, tagaus. 

Als wir aus dem Zimmer traten, blieb Lisy auf einmal stehen. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Handy, wie immer eigentlich. 

Ich war genervt und drängelte: »Ich will heim!« 

»Ich doch auch! Irgendwo muss es doch sein! Cara, hast du es gesehen?«, antwortete sie schnell. Als ich sie so anschaute, sah ich es. Sie hatte es wie immer in ihre Jackentasche gestopft.

»Ist es vielleicht das?«, sagte ich, während ich es aus ihrer Tasche zog und vor ihrem Gesicht hin und her bewegte. 

»Ja!«, man konnte eine tiefe Erleichterung in ihrem Gesicht sehen. Lisy war ohne ihr Handy nur ein halber Mensch. Was ich mir allerdings nie erklären konnte. 

Ich gab es ihr zurück: »Na, dann komm endlich!« und wir gingen die Treppe hinunter zu den Spinden. 

Ich trat vor meinen, während Lisy weiter nach hinten lief. Wieso man uns zwei Fächer soweit voneinander entfernt gegeben hatte, wussten wir beide nicht. Das Zufallsprinzip hatte es angeblich so entschieden. 

Als ich mein Fach aufschloss, kam mir mein Motorradhelm schon fast entgegen gefallen. Die Mädchen hinter mir fingen an zu kichern. Diese Ziegen, dachte ich und warf ihnen einen bösen Blick zu, weswegen sie direkt verschwanden. An unserer Schule galt das ungeschriebene Gesetz, dass das Fahren von Motorrädern was für Männer war. Weshalb ich mit meiner Maschine des Öfteren belächelt wurde. 

Die meisten Mädchen, so auch Lisy, fuhren lieber Moped. Kleine, süße Krachmacher, wie Lisy sie gern nannte. Ich legte den Helm nach unten und verstaute die Bücher, die ich nicht mehr brauchte. Dann schloss ich zu und ging samt Tasche und Helm zu Lisy. 

Sie meckerte schon wieder vor sich hin: »Mensch, ist das Fach wieder voll! Ich glaub, ich muss anbauen!« 

Als sie bemerkte, dass ich neben ihr stand, drehte sie sich zu mir: »Bist du schon fertig? Mach mal keinen Stress!« 

»Mach ich doch gar nicht!«, ich lehnte mich an das Nachbarfach. Meine Gedanken kreisten um den Traum. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wieso er jetzt seit drei Wochen wiederkam. Irgendetwas musste das Ganze bedeuten. 

»Hey, Cara, träumst du schon wieder? Also, halb vier vor dem Studio, Ok?« 

»In Ordnung!«, entgegnete ich kurz. 

Ich war mir sicher, dass sie genau wusste, woran ich gedacht hatte, aber im Moment wollte ich nicht darüber reden und auch das schien sie zu wissen. 

Es gab eine seltsam enge Verbindung zwischen uns. 

Trotz der Tatsache, dass wir uns erst seit einem Jahr kannten, weil ich aufgrund eines kleinen Problems mit einer Mitschülerin die Schule wechseln musste, waren wir wie Pech und Schwefel. 

Ein eingespieltes und gutes Team in allen Lebenslagen. 

Lisy scherzte stets, dass wir uns nach der Schule unbedingt eine Universität aussuchen mussten, an der wir gemeinsam studieren könnten. Immerhin durfte man dieses eingespielte Team auf keinen Fall trennen.

Vorher wollte sie aber mindestens ein halbes Jahr auf Reisen gehen. Am liebsten mit mir. Aber ich war nicht sonderlich von der Idee begeistert. Denn wo zum Teufel sollte ich das Geld dafür hernehmen?

Lisy war in vielem ganz anders als ich. Sie war klein, aber schlank, im Gegensatz zu mir. Und eigentlich mochten die Jungs Lisy, weil sie mit ihren rehbraunen Augen und den langen, braunen Haaren alle um den Finger hätte wickeln können. 

Aber ihr geringes Selbstvertrauen machte ihr oft einen Strich durch die Rechnung. Ihre Familie war eher arm, weshalb Lisy oft babysitten ging, um sich Geld dazu zu verdienen.

Ich unterstützte sie immer wieder dabei.

Da ich wusste, dass sie noch länger brauchen würde, riss ich mich vom Spind los und ging nach draußen während ich ihr ein: »Bis dann!«, zurief. 

Das Schulgelände war nicht sonderlich groß.

 Neben unserem Hauptgebäude gab es noch eine riesige Turnhalle und ein kleineres Gebäude für die fünften und sechsten Klassen. In unserem Gebäude war vor allem zur Mittagszeit immer sehr viel los. Man wurde regelmäßig umgerannt. 

Als ich die Tür erreichte, stürmten mir zwei Sechstklässler entgegen. Ich musste ihnen zu meiner Verärgerung ausweichen. 

»Hey, ich steh hier auch noch! Meine Güte!«, schrie ich ihnen hinterher. Aber sie hörten wie immer nicht zu. Über das Schulgelände hinweg gelangte man zum Parkplatz. Eigentlich standen hier immer nur die Lehrer, aber mit der Zeit hatten wir es geschafft, einen Parkplatz für uns drei, Lisy, Taylor und mich, zu ergattern. 

Seitdem standen hier nun jeden Tag fein säuberlich sortiert, je nachdem, wer als Erster wieder wegmusste, mein Motorrad und Lisys, sowie Taylors Schwalben. 

Ich ließ die Tasche neben die Maschine fallen und zog meine Sandalen aus. Ich hatte zum Fahren immer ein zusätzliches Paar Schuhe dabei. 

Nachdem ich die Schuhe gewechselt hatte, ließ ich den Motor an und setzte den Helm auf. 

»Schönes Wetter, heute! Fahren Sie aber vorsichtig!«, rief mir jemand zu. Ich drehte mich verwundert um.

Ein paar Autos weiter stand unser Biologielehrer und blickte mich an. Er war zwar nicht groß, aber sehr interessant, wie Lisy immer sagte. Der Liebling aller Mädchen und der absolute Frauenheld. Alle verehrten ihn und ja, auch ich muss gestehen, er war wirklich sehr … faszinierend. 

Vermutlich gab es genau deshalb die meisten Gerüchte über ihn. Von Scheidung und Single-Leben war da zu hören. Ich grüßte höflich und antwortete: »Ich werde ganz langsam fahren und die Sonne genießen!« 

Er lächelte mich an und stieg in sein Auto. Als er vom Parkplatz fuhr, wendete ich gerade mein Motorrad. Er winkte noch einmal kurz. Dann verschwand er und ich verließ ebenfalls den Platz. 

Das Geräusch der Maschine klang über die Straße und der Wind fegte durch meine Haare. Es war ein Gefühl von Freiheit und Glück. Ich liebte es so sehr. Nichts denken, nichts fühlen. Nur die Konzentration auf die Bewegung der Maschine. Frei wie ein Vogel schwebte man über den Asphalt. 

Leider war mein Schulweg nicht weit genug. Nach zehn Minuten kam ich bereits zu Hause an.

Wir wohnten in einer kleinen Siedlung am Stadtrand. Idyllisch und ruhig. Aber alles hat Vor- und Nachteile. Denn hier wollte quasi jeder über jeden Bescheid wissen. Freundlich grüßen und gute Laune, egal wie man drauf war oder ob man sie überhaupt leiden konnte. Immer dasselbe Spiel. 

Ich stieg vom Motorrad ab und parkte es auf dem Stellplatz. Die Nachbarn schauten schon wieder und ich grüßte höflich mit einem Nicken. Dann nahm ich meinen Helm ab und zog die Handschuhe aus. Die Sonne schien mir dabei direkt ins Gesicht. Was für ein herrlicher Tag. Blauer Himmel, keine einzige Wolke. Nur die Sonne. 

Unter der Jacke wurde es in diesem Moment ziemlich warm. Deswegen entschloss ich mich, reinzugehen und mich umzuziehen. Bis um vier hatte ich noch genug Zeit, meine Hausaufgaben zu erledigen. Beides nicht unbedingt meine Stärken, aber ich kämpfte mich durch. 

Ich war bereits vor dem Fitnessstudio, als Lisy dort eintraf. Sie nahm ihren Helm ab und rief mir gleich zu: »Na, bist du wieder mal eher da?« 

»Klar!«, grinste ich vor mich hin: »Lass uns reingehen!« Wir betraten das Studio. Lisy stupste mich mit dem Ellenbogen an: »Die Jungs sind auch wieder da! Und sie starren uns an!« 

Mit ‚die Jungs’ meinte sie Eric, Mike und Rey. Eigentlich waren sie vollkommen unterschiedlich, aber trotz allem traten sie stets als Gruppe auf. Ich glaube, das Einzige, was »die Jungs« miteinander verband, war Stene.

Mike war ungefähr 1,80 m groß, schlank und durchtrainiert. Seine dunklen Haare fielen ihm bis in den Nacken, hingen aber seltsamerweise nie im Weg. Er fiel nie besonders auf, weil er mehr beobachtete als redete. Ganz im Gegensatz zu Eric. Er war eher der Frauenheld. Alles, was lange Beine und einen ordentlichen »Vorbau« hatte, war nicht sicher vor ihm. Er hatte ein wahnsinniges Talent im Umgang mit Frauen und auch sein Äußeres war ein wahrer Hingucker. 

Eric war kleiner als Mike, aber ebenso muskulös. Die blonden Haare trug er stets kurz. Das Faszinierendste an ihm war sein charmantes Lächeln. Die Mädchen schmolzen reihenweise dahin. 

Aber ich hatte nur Augen für Rey.

 Gegenüber Lisy nannte ich ihn immer ‚mein Rey’. Neben dem Mann aus meinen nächtlichen Träumen war Rey der Einzige, der mich in seinen Bann ziehen konnte. Sobald ich ihn sah, überkam mich ein unglaubliches Kribbeln, das den gesamten Körper einhüllte. Nicht so stark wie jenes aus dem Traum, aber ebenso fesselnd. 

Rey trainierte nicht so häufig. Trotzdem war er genauso schlank und durchtrainiert wie die anderen beiden. Sein Charme war sein unbeschreiblicher Blick aus diesen tiefen, wunderschönen blauen Augen. Seine Haare waren blond und reichten bis zur Schulter. Er band sie beim Training zusammen. 

Während Lisy weiter fasziniert die Jungs anstarrte, wandte ich mich dem Trainer zu, der uns schon begrüßte: »Na, Mädels, auch wieder da? Hier habt ihr die Schlüssel.«

»Danke!«, sagte ich schnell und nahm die Schlüssel in meine linke Hand. Mit der Rechten fasste ich Lisy am Arm und zog sie zu den Umkleideräumen. 

»Du solltest ihn endlich ansprechen?«, sagte Lisy zu mir, während sie ihre Sportschuhe anzog.

»Ist klar«, antwortete ich patzig. »Ich geh zu den drei Kerlen und sage: ‚Hi Rey, willst du mit mir ausgehen?’«

Lisy kicherte: »Soll ich die anderen zwei irgendwie ablenken?«

Ich verzog das Gesicht: »Dir ist schon klar, dass die nur im Rudel auftreten?«

»Ja«, lachte Lisy: »Deshalb ja die Ablenkung.«

Ich seufzte leise: »Und wie willst du das anstellen? Du weißt schon noch, dass du meistens kein Wort herausbekommst, wenn du mit Männern zusammen bist?«

Lisy stupste mich vielsagend an: »Das dürfte sie für eine Weile ablenken.« 

Bei dem Gedanken an dieses seltsam, abstruse Bild mussten wir beide lachen.

»Aber mal ehrlich«, sagte sie schließlich, nachdem wir uns beruhigt hatten: »Du starrst ihn jetzt seit fast vier Wochen nur an. Wir haben extra unsere Sportzeiten verlegt, um sie regelmäßig zu sehen. Du musst langsam einen Schritt auf ihn zumachen, sonst wird das nichts.«

»Ich glaube nicht, dass er auf mich steht«, antwortete ich seufzend: »Wieso können Männer eigentlich nicht den ersten Schritt machen? Das wäre viel einfacher.«

Lisy schmunzelte: »Wenn du es nicht angehst, wirst du es nie herausfinden, Süße.«

»Sagt diejenige, die überhaupt keinen Ton herausbekommt«, lachte ich und half ihr auf.

»Hey, das ist was ganz anderes. Ich hab einfach eine Blockade, wenn ich auf Männer treffe«, ermahnte sie mich, bevor wir uns nach draußen auf die Laufbänder begaben. Eigentlich waren die Geräte nur für Aufwärmübungen gedacht, doch wir nutzen sie gerne länger. Vor allem weil sie einen sehr guten Blick auf die Jungs an den Hantelständen boten.

»Er schaut immer noch!«, war das Erste, was Lisy herausbrachte: »Der will wirklich was von dir, Cara. Da bin ich mir sicher!« Dabei hatte sie ein so breites Grinsen im Gesicht, dass man es wahrscheinlich durch den ganzen Raum sehen konnte. 

»Toll und was bringt mir das? Vom Anschauen kann ich mir auch nichts kaufen!«, erwiderte ich patzig. 

»Er ist eben schüchtern!«, versuchte sie es weiter. 

Um sie abzulenken, hielt ich dagegen: »Wo ist denn dein Kerl?« Da verschwand ihr Grinsen wieder. 

Sie blickte sich im Raum um, während sie auf dem Rad strampelte: »Keine Ahnung! Scheint noch nicht da zu sein! Seltsam.« Dabei runzelte sie nachdenklich die Stirn. 

Sie wartete auf Stene. Er war eigentlich ganz gewöhnlich. Dunkle, kurze Haare, trainierter Körper, eben wie die anderen. Aber etwas an ihm war anders. Es schien fast so, als sei er ihr Oberhaupt, ihr Anführer. 

Nur für was? Was tat dieser Mann wirklich?

Verschiedene Blickwinkel

schaffen unterschiedliche Welten.

(Lisy)

Die Einladung

»Was meinst du, ob die Mädels gerade über uns reden?« Eric schaute Mike auffordernd an. 

»Keine Ahnung! Du weißt, was Stene gesagt hat: ‚Beobachtet sie’. Nicht mehr und nicht weniger!« Mike war genervt. Er mochte Eric eigentlich nicht. So ein Frauenheld, dachte er immer. Dennoch musste er gezwungenermaßen mit ihm auskommen. Er gehörte zur Gang. Egal, was er über ihn dachte.

»Ich frage mich, was er von den beiden will?«, Eric ließ nicht locker. Er wollte Mike unbedingt in ein Gespräch verwickeln. 

»Was wohl! Es ist alles vorbereitet! Stene meinte, sie sind perfekt«, antwortete Mike sofort. 

»Du meinst, er will es an ihnen ausprobieren?«, Eric war sichtlich erfreut, dass Mike nun doch mit ihm redete. »Anscheinend! Allerdings eher an der Schwarzhaarigen. Wie hieß sie gleich?«, Mike wandte sich Eric zu und blickte ihn an. 

»Cara!«, entgegnete Eric. 

»Ach, ja!«, fuhr Mike weiter fort: »Na, ob das was wird? Sie sehen nicht so aus, als würden sie es freiwillig machen!« 

»Dann müssen wir eben nachhelfen!«, grinste Eric auf einmal. 

Mike schoss hoch und baute sich vor ihm auf: »Ich hab aber keinen Bock, wieder im Knast zu landen!« 

»Musst du ja gar nicht! Stene weiß schon, wie er sie rumkriegt!«, Eric versuchte, ihn zu beruhigen. 

»Wenn ich diesen Bunker noch einmal von ihnen sehen muss, dreh ich durch«, fügte Mike mürrisch hinzu.

»Mach dich mal locker. Jeder von uns war bereits im Knast. Ich weiß auch, wie das ist. Aber Stene hat einen Plan. Auf die Burg wird uns keiner folgen«, versuchte Eric, Mike zu beschwichtigen.

»Ich hoffe, du behältst damit recht«, antwortete Mike grummelnd und blickte auf die Mädchen: »Eigentlich sind sie viel zu schade. Ich steh auf diese langen schwarzen Haare.«

Eric boxte Mike in die Seite: »Sie steht aber leider auf unseren schmächtigen Rey. Du wirst bei ihr also nicht landen können.«

Rey stand einige Gerät entfernt und ignorierte, wie fast immer, Mike und Erics Gespräche. Doch als sein Name fiel, horchte er auf.

»Was ist mit mir?«, fragte er in die Runde.

»Mike steht auf deine Kleine!«, erwiderte Eric, während Mike ihn mürrisch ansah. Er wollte das nun wirklich nicht weiter besprechen. Wieso ihm das so rausgerutscht war, wunderte ihn immer noch.

Rey trat an die Beiden heran: »Ihr lasst die Beiden gefälligst in Ruhe. Sie haben keine Ahnung davon, in welche Gefahr sie sich mit uns begeben würden.«

»Du willst sie schützen? Wovor?«, hakte Eric nach.

»Sind wir so schlimm?«, fügte Mike hinzu.

Rey sah beide mit einem durchbohrenden Blick an: »Ihr wisst genau, was ich meine. Sie sind zwei unschuldige und süße junge Mädels, die keine Ahnung davon haben, wie beschissen einem das Leben in die Karten spielen kann. Ihr lasst sie gefälligst in Ruhe ihr perfektes Leben führen.«

»Verstehe ... «, antwortete Eric augenzwinkernd.

Rey schnappte nach Luft.

»Wenn du sie nicht ansprichst und mit ihr ausgehst, mach ich das«, konterte Mike unberührt.

»Sag mal, hört ihr Dummköpfe mir überhaupt zu? Ja, ich mag sie. Aber nein, ich werde sie nicht ansprechen. Erstens, weil ich nicht gut genug für sie bin und zweitens, weil sie mit unserer Welt nicht klar kommen würde«, entgegnete Rey wütend.

Eric zuckte mit den Schultern: »Als wäre unsere Welt so schlecht. Sie macht wenigstens Spaß!«

***

Einen Moment später betrat Stene das Studio. »Hey, Mike, Eric, Rey! Wie geht’s?« 

»Gut!«, antworteten die drei Jungs nacheinander. Dann wandte er sich den Mädchen zu: »Tag, Mädels!« 

»Hallo!«, brachten sie gerade so heraus. Cara hatte sich angewöhnt, kurze Wörter zur Begrüßung zu benutzen, die ihre Freundin Lisy umgehend wiederholen konnte. Da Lisy Männern gegenüber stets ihre Schwierigkeiten hatte, vollständige Sätze zu formulieren.

Stene verschwand daraufhin in die Umkleide. 

Rey folgte ihm, wie jedes Mal. 

Anscheinend hatten sie gewisse Dinge zu besprechen, die unter vier Augen bleiben sollten.

***

Rey trat in die Umkleide. »Hey, Stene. Auch wieder da? Deine zwei Freunde da draußen scheinen heute mal wieder etwas locker in der Birne zu sein!« 

Stene wandte sich zu ihm um: »Tja, die sind nun mal Dummköpfe! Nicht so wie DU und ICH!« 

Rey horchte auf: »Was willst du? Ich kenne dich. Also?« 

Stene lächelte ihn an: »Ertappt! Ich will Cara und du wirst dafür sorgen, dass ich sie bekomme!« 

Rey schreckte zusammen: »Was willst du mit ihr? Du weißt, dass ich bereits ein Auge auf sie geworfen habe! Ich werde sie nicht in die ganze Sache hineinziehen.«

Stene packte ihn an der Schulter: »Deshalb ja! Bring sie zur Burg. Sie sind perfekt! Ich kümmere mich um Lisy, du holst Cara und den Rest lässt du meine Sorge sein. Verstanden?« 

Er grinste höhnisch. 

Rey versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen: »Was hast du vor, Stene? Du kriegst sie nicht für dein blödes Spiel!« 

Aber Stene packte fester zu: »Ich dachte, du könntest mir behilflich sein, aber wenn du nicht magst. Ich kann der Polizei ja auch ein paar kleine Dinge über dich erzählen, das stört dich ja nicht!« 

Rey verzog mürrisch das Gesicht. Stene hatte ihn in der Hand. Einen weiteren Eintrag in seiner Strafakte konnte er sich nicht erlauben.

»Nein, schon gut!«, Rey lenkte ein: »Ich tu es, aber wehe, wenn ihr was passiert!« 

»Sie wird es überleben!«, Stene grinste wieder: »Es wird funktionieren. Und du wirst mir danach noch dankbar sein«, dann ging er zurück ins Studio. Rey blieb noch. 

***

»Hey, Stene, wir haben sie beobachtet, was willst du wissen?«, Eric war total aufgedreht und stolperte fast über die Gewichte. 

»Nun aber mal langsam, Eric, wir wollen doch hier keinen Lärm machen!«, wandte Stene ein. Mike schaute beide nur flüchtig an und kehrte dann zu dem Gerät zurück, an dem er gerade trainiert hatte. 

»Wartet es nur ab!«, sagte Stene: »Es verläuft alles nach Plan!« 

***

Von dem ganzen Trubel bei den Jungs hatte ich nichts mitbekommen. Ich starrte unentwegt auf die Tür zu den Umkleiden. Lisy verfolgte, im Gegensatz zu mir, das ganze Geschehen. Erst als sie anfing zu lachen, wandte ich mich wieder zu ihr. 

»Der ist so blöd! Stolpert über die Gewichte!«, sie grinste wieder wie ein Honigkuchenpferd. Ich musste schmunzeln. 

Dann verschwand ihr Lächeln plötzlich. 

Sie stammelte nur noch: »Hey, dein Süßer … kommt her!« Rey trat aus der Umkleide, gerade in dem Moment, 

als ich nicht hingesehen hatte. 

»Hey, Cara, der kommt zu uns! Hey, hörst du? Cara?«, sie rüttelte mich am Arm, als müsste sie mich aus einem hundertjährigen Schlaf wecken. 

»Ja! Sei ruhig!«, war das Einzige, was mir einfiel. 

»Hallo, Mädels!«, sagte Rey und ich brachte keinen einzigen Ton heraus. 

Lisy antwortete stattdessen: »Hallo Rey!« 

Rey blickte sie kurz an, wandte sich aber schließlich mir zu: »Dürfte ich dich kurz allein sprechen, Cara?« 

»Hey, ich will auch wissen, was hier läuft!«, fiel Lisy mir gerade in dem Moment ins Wort, als ich antworten wollte. 

Woraufhin ich zu Rey nur: »Klar!«, sagte und sie mit einem durchbohrenden Blick anschaute. 

Dann stieg ich vom Laufband und lief mit ihm zu einem der Tische im Barbereich. Wir setzten uns in eine der ruhigeren Ecken. 

»Was gibt es?«, fragte ich ihn. 

»Ich wollte dich fragen, ob du Lust auf einen schönen romantischen Abend hättest?«, Rey stammelte etwas, was ich aber total süß fand. 

Wir waren beide total aufgeregt. 

»Gern und wo genau?«, antwortete ich. 

»Ich hol dich ab, so gegen halb acht? Der Rest ist eine Überraschung! Also keine weiteren Fragen, bitte!«, er grinste mich an. 

»Super!«, entgegnete ich sofort: »Weißt du denn, wo ich wohne?« 

»Ja!«, sagte er auf einmal. 

Das überraschte mich: »Aha?« 

Aber er ging nicht weiter darauf ein: »Gut, dann bis heute Abend!«, war alles, was er darauf antwortete. 

Dann stand er auf und ging zu Stene. Ich drehte mich noch einmal verwundert nach ihm um. 

War das gerade ein Traum gewesen? Halluzinierte ich? Kneif mich mal jemand, dachte ich.

Als ich zurück zu Lisy ging, die uns natürlich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, schüttelte ich unentwegt den Kopf. 

Das Erste, was sie fragte, war natürlich: »Was hat er gesagt? Was wollte er?« 

Woraufhin mir nur übrig blieb, ihr alles zu erzählen: »Er hat mich eingeladen für heute Abend! Zu einem romantischen Ausflug.« 

»Wow!« 

Lisy war sprachlos.

 Sie fiel fast vom Laufband. Ich wusste nicht genau, was ich ihr sagen sollte. 

Würde sie sich einfach für mich freuen? 

Ich kannte sie besser als jeder andere und ich wusste, dass sie sich ein Date mit Stene wünschte. 

Deshalb jubelte ich auch nicht, sondern sagte nur: »Du sagst es!« Als ich aber gerade versuchen wollte, sie abzulenken, trat Stene auf einmal zu uns: »Darf ich kurz stören?« 

Da stand er – ihr Schwarm – nur zwei Schritte von ihr entfernt. Ich glaube, ich habe in diesem Moment ihr Herz schlagen hören können. 

»Du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich und die süße Lisy euch heute Abend begleiten! Oder?« 

Ich runzelte verwundert die Stirn. Was hatte er gerade gesagt? Ich blickte Lisy an, die mich quasi mit ihren Augen anflehte, nichts Falsches zu sagen: »Äh! ... Nein! Ich hab nichts dagegen!« 

Er grinste wieder: »Dann bis heute Abend, tschüss!« 

Ich war total verwirrt. 

Wieso fällt den beiden gerade heute zur selben Zeit ein, dass sie mit uns ausgehen wollen? Und jetzt auch noch zu viert?

Lisys lauter Schrei riss mich aus den Gedanken. »JA! Ich gehe mit Stene aus! Ich gehe mit Stene aus! Ich ...« 

»Hey, komm mal wieder runter! Das wird ein Abend zu viert! Ok?«, ich wollte sie nicht anmotzen, aber ganz damit einverstanden war ich nicht. Vierer-Date. Na klasse. 

Lisy sah mich glücklich an: »Ja! Schon verstanden! Ich glaube trotzdem, dass es lustig wird. Und irgendwie schaffen wir es schon, mit den Jungs ganz allein zu sein!« Sie zwinkerte mir zu. 

Ihr Lächeln reichte in diesem Moment bis zu den Ohren. Ich ließ mich schließlich davon anstecken. Es war einfach unglaublich. Endlich konnte ich Zeit mit Rey verbringen. Davon hatte ich seit Wochen geträumt. 

Wir beeilten uns mit dem Training und fuhren danach getrennt nach Hause. Irgendwann gegen sieben stand sie vor meiner Tür. Schick angezogen und vollkommen nervös. Aber mir ging es auch nicht besser. Wir setzten uns aufs Sofa und warteten ungeduldig der Dinge, die da kommen würden. Wir ahnten nicht, welchen Verlauf dieser Abend nehmen sollte.

Dunkle Ruine

Punkt halb acht klingelte es endlich an der Tür. Unsere Hände waren schon schweißnass und ich musste erst einmal ein Taschentuch zücken, bevor ich die Tür öffnete. 

Da standen sie, Rey und Stene. 

Beide herausgeputzt mit schicken Hemden. Sie lehnten an einem blauen BMW. Lisy und ich zogen schnell unsere Schuhe an und liefen raus, um die beiden zu begrüßen. 

Ich wollte eigentlich nur „Hallo“ sagen, aber stattdessen gab ich Rey einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange. Sein wundervolles Aftershave hatte mich dazu verleitet. Er roch einfach unglaublich gut. 

Er grinste mich sichtlich erfreut an. Dann hielt er mir die hintere Tür des Wagens auf und ich stieg ein. Lisy und ich saßen hinten. Rey und Stene vorn. Stene fuhr den Wagen, was für uns hieß, dass er wohl ihm gehörte. 

Lisy war total aufgedreht. Sie rutschte auf dem Sitz hin und her, stupste mich hin und wieder an, als sollte ich etwas sagen.

Die Fahrt kam mir unterdessen ziemlich lang vor. 

Wir fuhren gemeinsam aus der Stadt hinaus, durch ein paar kleine Dörfer und Orte in Richtung der Berge. Dann einen Steilpass hinauf bis zu einer Bergkuppe. 

Noch bevor wir oben ankamen, erklärte uns Stene: »Wir sind auf dem Weg zur Burg Lendenstein. Na ja, eigentlich ist es eher ein uraltes, romantisches Schlösschen, als eine Burg.« Er lachte laut. 

Rey ergänzte: »Es gibt einige Legenden über diese Burg.

 Der Geschichte nach lebte hier im 15. Jahrhundert ein reicher Mann, der seine Untertanen vor einer Hungersnot bewahrt hatte, indem er selbst sechs Monate auf sein Essen verzichtete. 

Die Untertanen waren ihm alle sehr dankbar gewesen, aber die Bürger der Nachbarstadt, welche die Hälfte ihrer Angehörigen durch den Hunger verloren hatten, streuten vor Neid das Gerücht, dass dieser Mann ein Vampir sei und nur deshalb noch am Leben wäre. 

Beweis dafür wäre, dass jede seiner vier Ehefrauen bereits nach vier Wochen, angeblich an Blutmangel, verstarb. Die Untertanen weigerten sich, das zu glauben und beschützten ihren Wohltäter bis zu dem Tag, als er spurlos verschwand.

 Danach verließen viele die Umgebung und es wurde still. Die Burg wurde verriegelt, damit sie keiner betreten konnte. Denn die Bürger waren der festen Überzeugung, dass nur ihr Wohltäter oder ein Angehöriger seiner Familie das Recht hätten, jemals wieder die Burg zu bewohnen. Seit jenem Tag stand sie leer und unbewohnt. Über all die Jahrhunderte. Lediglich das Tor zu ihr wurde Tag und Nacht von den Familien der einstigen Untertanen bewacht«, Rey blickte zu uns hinter und deutete mit der Hand auf ein Tor, auf das wir geradewegs zufuhren. 

In der Dunkelheit konnte man kaum etwas sehen. Lediglich die riesigen Metalltorflügel sowie eine steinerne Fassade waren zu erkennen. Stene hielt an. Er stieg aus dem Wagen und schloss das Tor auf. Ich wunderte mich. Sollte das Tor nicht bewacht sein? 

Rey grinste, als hätte er meine Gedanken gelesen. 

Stene stieg wieder ein: »Du musst ihnen die ganze Geschichte erzählen! Nicht nur die Hälfte!« 

Rey nickte zustimmend und fuhr fort: »Bis ins 17. Jahrhundert ist hier nichts mehr passiert. Die Familien bewachten das Tor und hofften auf die Rückkehr der

Adelsfamilie. Aber am 25.06.1686 geschah etwas Unerwartetes. Ein Mädchen, gerade einmal 12 Jahre alt, war mit ihrem Vater hierhergekommen, um wie immer das Tor zu bewachen, ... als sie ein leises Flüstern aus dem Haus hörten. Ihr Vater ermahnte sie, das Flüstern zu ignorieren und sich vom Inneren der Burg fernzuhalten.

Doch sie wartete, bis ihr Vater am Torpfosten eingeschlafen war und schlich sich dann hinein. Laut dem Bericht des Ortsvorsitzenden ist er erst aufgewacht, als er einen lauten Schrei vernahm. Er sah das offene Tor und rannte hinein, aber alles, was er dort fand, war ein Tier ..., das die Zähne in den Hals seiner Tochter gebohrt hatte.

 Er erstarrte, bangte um sein Leben, doch das Tier verschwand. Seine Tochter überlebte nicht.

Ihre Leiche wurde von der Polizei geborgen und der Rat der Stadt verkündete, dass niemals wieder jemand den Berg zur Burg betreten sollte.« 

Rey sah uns beide mit einem finsteren Blick an, in der Hoffnung, dass es seine Gruselgeschichte unterstützen würde. Lisy zuckte erschrocken zusammen und rutschte näher an mich heran. 

Ihr war sichtlich unwohl.

Rey schmunzelte, als er es bemerkte: »Das ist nur ein albernes Märchen. Sie wollten wahrscheinlich nur diese alte Tradition des Torbewachens abschaffen.«

Dann drehte er sich zurück nach vorn und blickte in die Dunkelheit. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, ob es richtig gewesen war, hierherzukommen. 

Die Geschichte machte mich nachdenklich. Normalerweise glaubte ich nicht an Märchen oder Sonstiges. Aber seit mich der Traum wieder jede Nacht einholte, war ich mir nicht mehr sicher, was ich denken sollte. War es ein Omen?

Stenes Worte durchbrachen meine Gedanken: »Da sind wir! Willkommen auf Burg Lendenstein!« 

Die Burg war hell erleuchtet. Überall waren Scheinwerfer, die das Gemäuer anstrahlten. Die beiden hatten recht. Es war viel eleganter als eine Burg.

 Überall waren reiche Verzierungen an der Fassade zu erkennen. Aber wie eine Ruine wirkte es auch nicht. 

»Eigentlich ist nur ein Viertel der Burg zerstört, der Rest ist sogar noch bewohnbar!«, sagte Stene: »Mein Großvater hat mir den Schlüssel gegeben. Er ist hier Verwalter. Soll retten, was noch zu retten ist!« 

Lisy grinste mich an, als wollte sie sagen: »Mein Schatz hat den Schlüssel zu einer Burg.«

Es interessierte mich nicht sonderlich, wer uns das hier ermöglicht hatte, viel mehr ging mir die Geschichte nicht aus dem Kopf. Stene parkte das Auto direkt vor dem Eingang und wir stiegen alle aus. Ich blickte zum Horizont. Alles war schwarz, nirgendwo ein Haus, ein Baum, eine Linie. Nur eine rabenschwarze Nacht, wie in meinen Träumen. Ich zuckte zusammen, als mich ein kalter Windhauch umspielte. 

Rey bemerkte es sogleich und bat uns: »Geht doch schon einmal hinein! Drinnen ist es wärmer!« 

Er deutete mit der Hand auf eine große, schwere Tür. Lisy folgte seiner Aufforderung. Ich jedoch zögerte einen Moment, bevor ich es ihr gleichtat. 

***

Stene blieb am Auto zurück.

Rey trat zu ihm: »Tu ihr nicht weh! Du weißt, dass ich sie sehr gerne habe! Sie soll mich nach diesem Abend nicht hassen!« 

»Das wird sie schon nicht! Beruhige dich!«, er klopfte Rey auf die Schulter: »Falls sie überhaupt etwas merkt! Schließlich benötigt es mehrere Anwendungen, ehe es vollständig ist! Ich würde sagen, wir geben ihnen erst einmal das Schlafmittel. Hast du es dabei?« 

Obwohl Rey unwohl zumute war, holte er ein kleines Röhrchen aus der Tasche: »Ja!« 

Stene nickte und nahm es ihm ab. Dann traten die beiden ebenfalls in die Burg hinein. 

***

Wir standen in der Vorhalle. Ringsherum brannten Kerzen und beleuchteten den Raum. Eine wundervolle geschwungene Treppe führte auf beiden Seiten des Raums in das Obergeschoss. Sie dominierte das Bild des Raumes.

 Stene führte uns durch eine Flügeltür direkt vor uns ins nächste Zimmer. In dem dumpfen Kerzenschein hatte ich die Tür zunächst gar nicht bemerkt. 

»So, meine Süßen, zur Feier des Tages gibt’s einen kleinen Drink!«, sagte er, als er in den Wohnraum trat. 

»Oh, danke!«, entgegneten wir fast zeitgleich.

 Wir setzen uns auf eines der alten Sofas, die dort um den Kamin angeordnet standen. Der Raum wurde durch einen großen Deckenleuchter hell erleuchtet. 

Hier fühlte ich mich wohler als in der Halle. Der Kamin brannte bereits. 

»Ist noch jemand hier?«, fragte ich. 

»Nein!«, antworte Rey schnell. 

Was hatte er nur? Er war plötzlich merkwürdig angespannt. Als wollte er etwas vor uns verbergen.

»Mein Großvater war vorhin noch hier und hat alles hergerichtet. Er war so freundlich!«, sagte Stene, als er das Tablett mit den Getränken auf den Tisch abstellte. 

Er gab jedem von uns ein Glas in die Hand, erhob dann das seine und verkündete: »Auf das Leben und uns!« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Oder wie sehr er damit recht behalten sollte.

Rey stieß mit mir an und ich trank schließlich. Es schmeckte nach Erdbeeren und etwas Minze. Eigentlich eine sehr gute Kombination, dennoch war etwas Seltsames daran. Kaum dass ich einen Schluck genommen hatte, überkam mich ein Gefühl der Müdigkeit.

Was war nur los mit mir? 

Ich konnte doch jetzt nicht schlappmachen. Jetzt, in diesem Moment, wo ich endlich mit Rey zusammen war. Ich versuchte, mich wach zu halten, aber es funktionierte nicht. Das Letzte, was ich hörte, war Lisy: »Danke! Schmeckt gut, aber irgendwie – ich werde so müde.« 

Dann schlief ich ein. 

***

Lisy fiel Stene direkt in die Arme.

»Sie schläft!«, sagte er erleichtert. 

Rey trat zu Cara herüber: »Sie auch! Träum süß!« 

Stene rempelte ihn an: »Hör auf mit dem Blödsinn! Los. Schaffen wir sie rein, bevor die Nacht vorbei ist!«

Dunkelheit

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