Carneval Diablo - L.C. Frey - E-Book

Carneval Diablo E-Book

L.C. Frey

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Morrow und der Junge entdecken die Hütte des alten Sloat, der einst aufbrach, um den Zeuss und die rote Stadt der Götter zu suchen. Der Rattenkönig begreift, dass Morrow mehr ist als ein Mädchen, das seine Erinnerungen verloren hat, doch noch ist sein Geist zu schwach, um das Hotel verlassen zu können. In der Mickies-Stadt beginnt erneut das Sterben. Auf ihrer Flucht durch die Wüste verliert Morrow die Orientierung und findet ihre Freundschaft zu dem Jungen wieder. Sie betreten einen diabolischen Rummelplatz voller Fallen und Geheimnisse und finden einen seltsamen Turm, an dessen Grund ein schrecklicher Bewohner haust. Ein Orakel macht Morrow eine rätselhafte Prophezeiung und das Mädchen gewinnt einen neuen Freund, wo sie ihn am wenigsten vermutet hätte. Das schwarze Hotel schließt für immer seine Pforten. Sein letzter Bewohner folgt Morrow und dem Jungen durch die Wüste, doch diese sind bereits in Sicherheit - so glauben sie wenigstens. Doch die Idylle ist trügerisch ... und der Tod ist ihnen näher als je zuvor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CARNEVAL DIABLO

DIE RIFTWELT-SAGA

L.C. FREY

Band 3

IMPRESSUM

Copyright © 2021 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: L.C. Frey, unter Verwendung von ©Grand Failure, https://stock.adobe.com

220.214.1939

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten, Unternehmen und Produktmarken sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Gleichwohl kommen in der Handlung dieses Buches Personen und Zusammenhänge von historischer Bedeutung vor. Der Autor bemüht sich, diese Fakten nach bestem Wissen respektvoll zu behandeln, sie werden jedoch im Kontext dieses Buches frei ausgelegt. Der Autor distanziert sich von einer historischen oder sonstigen Deutung von geschichtlichen und anderweitigen Ereignissen und Zusammenhängen.

Dieses Werk ist reine Fiktion.

Noch.

WAS BISHER GESCHAH

Morrow und der Junge werden im Haus der Mickies in ein Zimmer gesperrt, doch ein wandelnder Leichnam verhilft ihnen zur Flucht. Es gelingt ihm, mit der bewusstlosen Morrow zu fliehen, während das Haus der Mickies in Flammen aufgeht. Fast alle Mitglieder der Gang sterben, doch es gelingt Napoleon, schwer verletzt in die Kanalisation zu entkommen, wo er ein Palaver mit den Ratten hält und einen Handel mit der Stimme des schwarzen Hotels eingeht – die keinem anderen als H. H. Holmes gehört.

In unserer Welt am Ende des 19. Jahrhunderts folgt H. H. Holmes Nikola Tesla nach New York in dem Versuch, ihm das Geheimnis der Kreation zu entreißen, doch er scheitert an dessen Bewachern. Die junge Biologin Jeanette Baret gibt sich nach ihrer Rückkehr nach Paris zügellosen Orgien im Wald hin, weshalb ihr Ehemann sie in eine Irrenanstalt einweisen lässt, wo man sie einer Lobotomie unterzieht, weshalb Holmes auch von ihr nichts erfahren kann. Somit bleibt ihm nur noch Helena Blavatsky, um den großen Schleier zu lüften – doch diese zu finden, stellt sich als ausgesprochen schwierig heraus, da sie inzwischen verstorben ist.

Als Morrow erwacht, erschrickt sie zunächst vor ihrem Retter, dem Jungen, denn dieser hat ein monströses Äußeres. Bis auf einige Erinnerungsfetzen kann sich Morrow an nichts erinnern – sie weiß, nicht, wo sie hier gelandet ist und wie sie herkam, und auch der Junge ist ihr nur eine begrenzte Unterstützung. Gemeinsam besuchen sie das Dorf der Farmer, doch diese haben längst vergessen, wozu man Autos benutzt. Von der alten Cylla erfährt Morrow die traurige Geschichte der Farmer und Sarah, des Mädchens, das aus dem Nichts kam – genau wie sie. Von Cylla als Schänderin bezeichnet, muss Morrow vor deren Sohn Stanley und den Farmern fliehen – nach einer Flucht durch die Kanäle landen sie im Hotel, welches Morrow eine tödliche Falle stellt und sich dann ihren Verfolgern annimmt.

Durch die Kräfte des Hotels geheilt, muss sich Napoleon im Mörderhotel einer Reihe von Prüfungen unterziehen und er begreift schließlich, dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hat. Er liest im Tagebuch des irren Mörders, wie H. H. Holmes das Ritual des Portals vollzog und eine neue Welt erschuf, indem er drei andere vernichtete – und beinahe auch sich selbst.

In einem Geheimlabor gelingt es den Wissenschaftlern um Professor Chomsky, eine Tesla-Maschine zu bauen. Es gelingt, sie in Gang zu setzen – doch mit schrecklichen Folgen. Während die Wissenschaftler noch den Anbruch eines neuen Zeitalters des energielosen Transports feiern, wird die junge Physikerin Sarah Barrett in ein künstlich erzeugtes schwarzes Loch gezogen ...

Karte der Riftwelt © Franz Alken

TEIL XIV

BLUES FÜR EINE ROTE SONNE

»Und wenn er aufhören würde zu träumen, was glaubst du, wo du dann wärst?«, fragte Twideldie.

– Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

1

HEUTE // DORT

Morrow öffnete die Augen und blinzelte in die tiefstehende Sonne, die glutrote Edelsteine aus Wassertropfen auf das Grün ringsum zauberte. Über ihr raschelten fleischige Blätter im Hauch einer sanften Brise. Die Luft war frisch und sauber. Ihre Haut und das Gras, auf dem sie lag, waren von der Sonne angenehm warm.

Nicht brütend heiß wie … wie in der Stadt.

Die Stadt, richtig.

Sie waren aus der Stadt gekommen. Letzte Nacht. Sie und der Junge, auf der Flucht. Dunkelheit, die beinahe greifbar gewesen war, und die Farmer, die sie gejagt hatten … und dann dieses schreckliche Haus. Dinge am Ende der Treppe, furchtbare Dinge … und dann … nichts mehr, nur Schwärze.

Morrow richtete sich auf und stützte sich auf ihre Unterarme, während sie versuchte, ganz zu sich zu kommen. Sie presste die Lider fest aufeinander und öffnete sie wieder, halb in der Erwartung, bloß aus einem weiteren Traum zu erwachen.

Aber die Blätter blieben, und ebenso die Sonne. Sie klebte am Himmel wie ein großer, goldgelber Ball, direkt über ihren Köpfen. Das Grün um sie herum war echt, das Gras, das sich an ihre Handflächen schmiegte und sie kitzelte, das alles war Wirklichkeit. Morrow drehte den Kopf, sah sich um.

Sie lag auf einer großen Wiese, und dort drüben begann ein tiefgrüner, gesunder Wald, dessen Wipfel sich hoch über ihrem Kopf in einem strahlend blauen Himmel verloren.

Sie war zu Hause!

Es musste so sein. Sie musste das alles nur geträumt haben – oder nicht? Die Stadt, die furchtbaren Menschen und den lieben Monsterjungen, und die Farmer, die sie gejagt hatten, um sie ihrem finsteren Gott Zeuss zum Fraß vorzuwerfen.

Alles nur ein Traum.

Nun, da sie erwacht war, würde sie auf ihr neues rotes Fahrrad steigen und nach Hause düsen, damit sie nicht zu spät zum Abendbrot kam, es würde Steak geben im Garten hinter dem Haus, natürlich. Und dann würde sie Beverly anrufen und ihr von dem verrückten Traum erzählen, den sie gehabt hatte. Sie würden richtige Limonade trinken und schon bald würde die Stadt und der schwarze Wald und das finstere Hotel nicht mehr als eine verschwommene Erinnerung sein, ein Traum in einem Traum, und dann würde sie es irgendwann ganz vergessen haben. Lächelnd setzte Morrow sich auf und sah sich nach ihrem roten Fahrrad um.

Aber sie sah es nicht.

Stattdessen entdeckte sie den Jungen aus ihrem Traum. Er lag bei dem Gebüsch, das einen sanften Übergang zu den ersten Bäumen bildete, die glänzend schwarzen Glieder von sich gestreckt, die großen Augen starr (oder blicklos, es ließ sich nicht sagen bei diesen Augen) in den Himmel gerichtet. Er war hier, bei ihr. War mit ihr aus diesem seltsamen Traum hinüber in die Wirklichkeit gekommen.

Aber …

Morrow senkte den Blick, widerwillig, als würde sie gegen einen fremden Willen ankämpfen, eine Stimme, die ihr zuraunte: Nein, tu das nicht. Sieh dich nicht an. Denn dann wirst du wissen …

Doch dann blickte sie an sich hinab.

Es war alles wahr.

Sie sah die seltsame Kleidung, das Leder und den groben Wollstoff, das zerfetzte Silber ihrer Jacke und wusste, dass sie nicht geträumt hatte, und dass sie ihr rotes Fahrrad hier genauso wenig finden würde wie ein Telefon, um Beverly anrufen zu können, oder ein Auto oder ihre Eltern, die mit dem Abendessen auf sie warteten.

Nichts davon existierte hier.

»Aber ich bin wirklich«, schluchzte Morrow leise, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Ich bin doch wirklich, das muss ich doch sein!«

Aber stimmte das?

2

Napoleon betrachtete den Schnitt in seinem Oberschenkel mit mildem Interesse. Der Schmerz drang kaum an sein Bewusstsein. Die tiefe Wunde in seinem Fleisch starrte ihn an wie ein riesiges, karmesinrotes Auge. Jetzt schloss es sich …

Müde bin ich, geh zur Ruh'

… und Napoleon vernahm ein leises Schmatzen, als die Wundränder sich zusammenzogen. Wenige Sekunden später war der Schnitt gänzlich verschwunden, ohne auch nur eine Narbe auf Napoleons Bein zu hinterlassen. Er wischte einen einzelnen Blutstropfen fort.

Interessant, dachte das Haus in seinem Kopf, überaus interessant.

Napoleon lag nackt auf dem Bett in Mister Holmes' Büro. Es war die fünfte Wunde, die er sich in den letzten paar Minuten zugefügt hatte, oder vielmehr hatte seine Hand ihm diese Wunden zugefügt, mit einem Dolch aus Mister Holmes’ Schreibtisch, der eigentlich als Brieföffner gedacht war. Seine eigene Hand, die jetzt nur ein weiteres von Mister Holmes’ Werkzeugen war.

»Faszinierend«, raunte die Stimme des Hauses und öffnete Napoleons Hand. Mit einem blechernen Geräusch fiel das Messer zu Boden. Napoleon rechnete allerdings nicht damit, dass die Folter damit schon vorüber sein würde.

»Bist ein zäher kleiner Bursche, was?«, fragte die amüsierte Stimme, die sich jetzt unmittelbar hinter seinem rechten Ohr zu befinden schien.

»Ja, Sir.«

»Das kommt von dem Zeug, das in deinen Adern fließt, wie? Dem blauen Zeug aus den Röhrchen.«

»Ich weiß es nicht, Sir.«

Napoleon hatte schon vor einiger Zeit begriffen, dass es unmöglich war, jemanden zu belügen, der einem in den Kopf greifen kann, genau dorthin, wo der Sitz und Ursprung der Gedanken selbst ist.

»Das Zeug macht aus meinem kleinen Bonaparte einen robusten, kleinen Usurpator«, stellte die Stimme nachdenklich fest und jetzt war sie plötzlich bei seinem linken Ohr, dann entfernte sie sich, waberte in den Raum hinein. Dann war die Stimme plötzlich wieder nah, so laut und plötzlich, dass Napoleon zusammenzuckte.

»Vielleicht ist mein kleiner Bonaparte ja robust genug für diese eine, ganz bestimmte Sache? Was meinst du, Napoleon, bist du robust genug dafür? Für diese eine Sache?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Ich weiß ja nicht, welche Sache Sie meinen.«

»Natürlich nicht.«

»Es tut mir leid, Sir.«

Keine Antwort. Nur so etwas wie amüsierte Abscheu.

»Die Zeit wird knapp, mein kleiner Bonaparte.«

»Ja, Sir.«

»Wir werden bald aufbrechen müssen, wenn wir sie noch kriegen wollen.«

»Das … das Monster, und das Mädchen?« fragte Napoleon mit plötzlich erwachendem Interesse.

»Das Monster, ganz recht. Und die kleine Hure. Die beiden, die dein Haus abgefackelt haben, und deine Jungs gleich mit, mein schöner Usurpator.« Die Stimme kicherte.

»Ja, Sir.«

»Die dir das alles angetan haben.«

Napoleon nickte düster. »Wir werden sie kriegen, nicht wahr, Sir?«, fragte er zögernd.

»Das werden wir, mein kleiner Bonaparte, das werden wir sogar ganz bestimmt.«

»Das ist gut, Sir.«

Er würde seine Rache bekommen, für sich und seine Jungs, immerhin. Was solche Sachen betraf, konnte man der Stimme vertrauen. Wen die Stimme kriegen wollte, den kriegte sie auch. Wie sie die Farmer gekriegt hatte. Wie sie auch ihn gekriegt hatte.

»Aber Sir, warum gehen wir nicht gleich, und …?«

Napoleon verstummte. Aber es war zu spät, er hatte den Gedanken schon gedacht.

»Weil wir noch nicht stark genug sind, darum«, sagte die Stimme unwirsch und Napoleon spürte, wie mühsam beherrschte Wut in der Stimme brodelte. »Weil wir noch an dieses Haus gekettet sind, und weil uns die Farmer mit ihren Fackeln verbrannt haben.«

»Ja, Sir, na … natürlich, Sir«, stammelte Napoleon und krümmte sich vor neuen Schmerzen, die das Haus ihm verursachte.

»Und weil wir noch nicht wussten, was der Junge ist und woher das Mädchen stammt, als die beiden hier durchgekommen sind. Weil du uns nicht gewarnt hast, du Wurm!« Ein greller Blitz der Wut explodierte in Napoleons Kopf und er brüllte vor Schmerzen. »Weil du es vermieden hast, zu erwähnen, dass es diese beiden waren, die dein Haus abgefackelt haben! Weil du sie hast entkommen lassen, du nichtsnutziger kleiner Bastard!«

Das Brüllen der Stimme war jetzt ein tosender Orkan der Wut. Napoleons Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen, während die Stimme sich durch seine sensiblen Nervenenden wühlte.

»Du hast sie entkommen lassen!«, brüllte die Stimme ein weiteres Mal und dann …

Dann war es plötzlich vorbei. Napoleon, der sich in ein schluchzendes Häufchen Elend am Fuße des Bettes verwandelt hatte, zitterte von den Nachwirkungen der brutalen Vergewaltigung, die in seinem Kopf stattgefunden hatte. Dort, wo es am schlimmsten ist. Dann wartete das Haus, bis Napoleon aufhörte, zu zittern.

»Aber wir werden sie kriegen, keine Sorge«, sagte die Stimme in sanftem Ton, »diese beiden Brandstifter. Wir werden ihnen folgen, sobald wir stark genug dafür sind. Und dann werden wir sie kriegen.«

»Ja, Sir.«

»Und jetzt mach dich auf den Weg, Napoleon.«

Napoleon stand auf, wischte die Tränen fort und suchte seine neue Kleidung zusammen. Das weiße Hemd, nun zerknittert und schmutzig. Die Anzughose. Lange, seltsam dünne Socken aus Wolle, die juckten und ihm immer wieder von den Beinen rutschten. Er zog sie trotzdem an, wie auch die Schuhe, robust und schwer, die Jacke und den groben Mantel. Und die Melone, natürlich. So hieß nämlich der Hut, den er gefunden hatte, und die Stimme legte größten Wert darauf, dass er ihn trug. Die Stimme fand es nämlich amüsant.

Das Haus hatte seinen Kopf mit allerlei neuen Eindrücken und Gedanken gefüllt. Manche verwirrten ihn, aber er machte sich nichts daraus. Das Haus würde dafür sorgen, dass letztlich alles einen Sinn ergab. Wenn die rechte Zeit gekommen war. Napoleon wandte sich zur Zimmertür, die auf den Gang hinaus führte.

»Sieh' zu, dass du jemanden erwischst, der gut im Saft steht, Napoleon!«, rief es in seinem Kopf. »Jemand junges. Und keinen von diesen halbdebilen Farmern. Ein Mädchen, wenn möglich, jar! Ein zartes, frisches Geschöpf, und unschuldig, wenn du eines finden kannst. Setz' deinen ganzen Charme ein, mein schöner Prinz.«

Die Stimme kicherte gackernd.

»Ja. Ein junges Mädchen, Sir.« Napoleons Stimme war tonlos und blass wie die neue Haut, die sich über seinen fahlen Schädel spannte.

»Pass' auf, dass dich keiner sieht, und dass du bald zurück bist. Nimm eine der Flaschen aus dem Keller mit, damit sollte es leichter gehen, sie zu überzeugen, wenn sie dir erst ins Netz gegangen ist. Wirkt besonders bei den jungen Dingern ganz ausgezeichnet.« Die Stimme des Hauses troff vor unverhohlener Gier.

»Ja, Sir.«

»Gut. Und jetzt fort mit dir, Napoleon, ich muss nachdenken, bevor wir speisen.«

Die Stimme zog sich aus Napoleons Kopf zurück, und im nächsten Moment war er allein. Er kleidete sich fertig an, trat auf den stockfinsteren Gang hinaus und ging hinab in den Keller. Die Metallklappe in der Wand stand weit offen. Er ignorierte sie, und die Röhrchen mit dem blauen Zeug darin. Er brauchte es jetzt nicht mehr. Zumindest in dieser Hinsicht war er erfolgreich gewesen – er hatte herausgefunden, was das Zeug mit Lebenden anstellte, denn er hatte es an sich selbst ausprobiert.

Es sorgte dafür, dass sich zentimetertiefe Wunden von allein wieder schlossen, und das gebrochene Knochen wieder zusammenwuchsen, das Haus hatte es an etlichen von seinen ausprobiert. Und jedes Mal war der Knochen anschließend ein bisschen stabiler gewesen als zuvor.

Das Kellerfenster stand jetzt weit offen, aber auch das war kein Problem. Keiner würde es wagen, auch nur in die Nähe des schwarzen Hauses zu gehen. Nicht nach dem, was letzte Nacht mit den Farmern passiert war.

Napoleon schnappte sich eine der Flaschen aus dem staubigen Regal an der gegenüberliegenden Wand. Gebrannter, aber guter. Nicht solcher, wie ihn der Doc zusammengepanscht hatte in seinen glorreichen vergangenen Tagen bei den Mickies. Sondern richtiger, mit einem Papierschild vorn drauf, das ihn als Veuve Monnier auswies, was immer das bedeuten mochte.

Ja, vermutlich würde dieser Gebrannte gut funktionieren bei den jungen Mädchen in der Stadt. Und ganz bestimmt bei denen, die leichtsinnig genug waren, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße herumzutreiben.

Napoleon ließ sich schwer auf eine Apfelkiste fallen und entkorkte die Flasche mit den Zähnen. Ein süßlicher, betörender Duft stieg aus dem Hals der Flasche auf. Napoleon setzte sie an und nahm einen tiefen Schluck. Er schüttete das Zeug direkt in seine Kehle, und spürte dem sanften Brennen einen Augenblick nach. Davon abgesehen schmeckte er nichts mehr. Auch das hatte das Haus ihm inzwischen genommen.

Unverdrossen machte Napoleon weiter, bis er die ersten Anzeichen einer beginnenden Trunkenheit spürte und sich eine wohlige Wärme in seinem Magen auszubreiten begann. Aber auch das hielt nur für Sekunden an. Napoleon steckte die Flasche wieder weg.

Er bemerkte, dass eine einzelne Träne seine stoppelige Wange hinabrann, für einen Moment an seinem Kinn hing, dann größer wurde, sich schließlich löste und fiel. Sie zerplatzte auf dem staubigen Boden des Kellers wie eine winzige, silberglänzende Kostbarkeit. Er spuckte aus.

Dann stand er auf und machte sich daran, durch das Kellerfenster hinaus in die Nacht zu kriechen. Beinahe wie eine Ratte.

3

Morrow wischte die Tränen fort. Dann stand sie auf und ging zu dem Jungen hinüber. Er schlief, wenn auch seine Augen nicht geschlossen waren. Sich vermutlich gar nicht schließen konnten. Die winzigen Schlitze, die seine Nasenlöcher sein mussten, bebten leicht.

Er atmete, lebte.

Und das war zu gleichen Teilen schön, wie es schrecklich war. Sie beschloss, ihn noch ein wenig schlafen zu lassen.

Morrow drehte den Kopf in die Richtung, in der sie das schwarze Haus vermutete. Das schreckliche schwarze Haus, in das sie gegangen waren – wann war das gewesen? Gestern Nacht, oder vor einer Ewigkeit?

Sie waren vor den Farmern geflohen, erinnerte sie sich. Und sie hatte ihre Eltern gesehen, am Kopfende der Treppe, bloß, dass es überhaupt nicht ihre Eltern waren, sondern gefräßige Raubtiermäuler und unzählige Augen und Fangarme, die wie Schlangen in ihre Richtung züngelten. Eine Stimme, die sie gelockt hatte, die Treppe zu besteigen, süß und klebrig wie verdorbener Honig. Dann war sie gefallen und der Junge hatte sie von der Treppe gezerrt, und hinaus auf den Gang und dann …

Nichts mehr.

Aber dann mussten sie sich jetzt hinter dem Haus befinden, denn zurück in der Stadt waren sie jedenfalls nicht, und die Farmer waren auch verschwunden. Die hatten das Haus nie betreten, da war sie ganz sicher. Allein, hier gab es überhaupt nichts, das zu dem Haus gepasst hätte. Nichts, dass schwarz und tot war und aussah, als sei es bereits vor Jahrhunderten vertrocknet.

Hier gab es frisches Grün, soweit das Auge reichte.

Morrow drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Das schwarze Haus war nirgends zu sehen. Der Junge musste sie also weiter getragen haben, als sie es für möglich gehalten hatte. Möglicherweise waren sie hier – in Sicherheit?

Und dann setzten die Kopfschmerzen ein.

Morrow zuckte zusammen wie vom Schlag getroffen. Stöhnend krümmte sie sich vor, presste die Hände an ihre Schläfen. Ein bohrender Schmerz war urplötzlich dort erwacht. Sie presste die Augenlider so fest zusammen, dass kleine, bunte Lichtpunkte vor ihren Augen tanzten.

Es nützte nichts.

Der Schmerz blieb.

Er dehnte und streckte sich, als gefiele ihm die Stelle gut, an der er jetzt nistete. Er bohrte fröhlich weiter in ihrem Kopf herum. Morrow öffnete stöhnend ihre Augenlider. Die Sonne, gerade noch hell und angenehm, sandte jetzt stechende Lichtblitze in ihre überempfindlichen Augen.

Der Junge!

Sie begann in seine Richtung zu kriechen, während sie sich gleichzeitig den Kopf hielt, als befürchte sie, er könne sonst auseinanderplatzen wie eine überreife Melone. Auch der Junge war inzwischen erwacht, und presste seine Klauen an die Stirn, wobei er ein ängstliches Wimmern ausstieß. Er kroch von Morrow weg, auf den Wald zu. Irgendwie schaffte Morrow es, auf die Knie und dann auf die Beine zu kommen, als sie den Jungen schließlich erreichte.

Sie zog ihn auf die Beine und dann wankten sie, mit schmerzverzerrten Gesichtern und sich gegenseitig stützend, auf das Unterholz zu.

Hier war es etwas besser.

Morrow blieb stehen, und sofort setzten die hämmernden Schmerzen in ihrem Kopf wieder ein. Also setzte Morrow sich erneut in Bewegung und zog den Jungen einfach mit sich.

Sie liefen immer tiefer in den Wald hinein, und damit fort von den hämmernden Schmerzen in ihrem Kopf. Die Schmerzen ließen nach, solange sie nur in Bewegung blieben, einen Fuß vor den anderen setzten, fort von der Wiese, auf der sie erwacht waren, und tiefer hinein in das dichte Grün des Waldes liefen.

Nach einer Weile verfielen sie in ein moderates Lauftempo, dann in einen Spazierschritt und schließlich blieb Morrow ganz stehen. Ihre Kopfschmerzen waren nur noch ein mattes Echo des brüllenden Infernos, dass sie auf der Lichtung heimgesucht hatte, aber sie blieben in ihrem Kopf, lauernd, wie ein dösendes Raubtier, jederzeit bereit, wieder ganz zu erwachen und zum tödlichen Sprung anzusetzen.

»Lass uns noch ein Stück gehen«, schlug Morrow vor, und das taten sie. Nach ein paar Metern waren die Kopfschmerzen kaum noch zu spüren. Aber sie würden wiederkommen, dessen war Morrow sich gewiss. Dazu mussten sie nur zurücklaufen. Oder vielleicht auch nur lange genug stehenbleiben.

»Das ist besser«, sagte sie und meinte im Gesicht des Jungen so etwas wie Zustimmung zu lesen. Goldfarbene Zustimmung im Schimmern seiner riesigen, schwarz glänzenden Augen.

»Wo sind wir bloß?«, fragte Morrow den Jungen und gleichsam sich selbst. Der Junge starrte sie aus großen Augen an. »Das Haus«, überlegte sie dann laut, »In welcher Richtung wohl das Haus von hier aus liegt?«

Wie um ihr eine Antwort zu geben, griff sich der Junge an den Kopf. Und vermutlich hatte er damit recht. Das Haus, auch wenn sie es nicht sehen konnten, lag in der Richtung der stärker werdenden Kopfschmerzen. Ein untrüglicher Kompass der Pein, und jetzt suchte es nach ihnen.

Also gingen sie weiter.

Schließlich sagte Morrow: »Was ist da eigentlich passiert, in dem Haus, meine ich? Es war Nacht, oder? Wir müssen geschlafen haben, als wir hier … als wir hier angekommen sind.«

Sie zeigte zurück in Richtung der Wiese.

Die Reaktion des Jungen bestand darin, vorsichtig die Rinde eines der Bäume zu betasten. Dann steckte er den Finger blitzschnell in den Mund, zog ihn wieder heraus und zerbiss dann irgendetwas, dessen Panzer mit einem lauten Knacken barst. Morrow schüttelte den Kopf.

»Hast du mich getragen, den ganzen Weg aus dem Haus heraus? Ich glaube, ich erinnere mich an so etwas. Es muss eine weite Strecke gewesen sein. Du bist sehr stark.«

Der Junge zeigte keinerlei Reaktion, außer weiterhin fasziniert auf die Borke des Baumes zu starren. Morrow bemerkte, dass auch sie hungrig war, aber nicht hungrig genug, um nachzusehen, was der Junge aus der moosbewachsenen Borke gekratzt hatte. Ein Bild schob sich vor ihr Bewusstsein.

Ein Wald wie dieser, und ein Junge und ein Mädchen, so wie sie. Und mitten in diesem Wald ein Haus, aber nicht so wie das, aus dem sie geflohen waren, sondern ein Haus, das ganz aus Süßigkeiten besteht. Lebkuchen und Kekse und bunte Stangen aus süßem, klebrigen Zuckerzeug. Aber das Haus ist kein richtiges Haus, es ist eine Falle – die Süßigkeiten dienen nur dazu, Kinder anzulocken, denn in seinem Inneren verbirgt sich ein schreckliches Geheimnis. Ein Ofen, in den die Kinder gesteckt werden, und dann kommt eine alte, hässliche Frau – Morrow glaubt, dass es die alte Cylla sein könnte – sie kommt heraus, um …

… um sie zu fressen …

Morrow schüttelte den Kopf und die Vision verging. Manche von den Bildern kamen ihr so real vor! Wie etwas, das tatsächlich einmal stattgefunden haben mochte und anderes – anderes war mehr wie die Erinnerung an eine Erinnerung, ein Traum in einem Traum. Und nichts davon ergab irgendeinen Sinn.

»Das Haus?«, fragte sie den Jungen nochmals und dann hatte sie eine bessere Idee.

Immerhin hatte es schon einmal geklappt, als sie auf der Ruine gestanden und zum Dorf der Farmer hinüber geblickt hatten. Sie rief sich ihre letzte Erinnerungen vor Augen, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren hatte, in jenem schwarzen Haus.

»Das Haus«, presste sie hervor, während sie mit aller Kraft versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf in Richtung des Jungen zu senden, »Kannst du sehen, was ich meine?«

Nichts.

Schließlich gab sie es auf, und jetzt kam ihr das Ganze ziemlich lächerlich vor. Wahrscheinlich war es auch beim ersten Mal nur Zufall gewesen, oder Einbildung. Morrow drehte sich um, und sah noch einmal in die Richtung zurück, aus der sie gerade gekommen waren. Nichts als Bäume und der braune Nadelteppich zu ihren Füßen. Grüne Ranken, ein paar Büsche, ein ganz normaler Wald. Kein Haus, und vor allem keine Farmer.

Sie ging weiter, und der Junge folgte ihr, wobei er gelegentlich stehenblieb, um die Rinde eines Baumes oder eins der grünen Blätter zu betasten.

Und dann endlich kapierte Morrow es. Der Junge sah so etwas zum ersten Mal – einen richtigen, grünen Wald. Dort, wo er herkam, gab es so etwas nicht, oder schon seit langer Zeit nicht mehr.

Grün. Leben. Das Gezwitscher kleiner Vögel. Überhaupt irgendetwas außer Ruinen, Staub, der unbarmherzigen Sonne und grausamen Menschen. Dieser Wald schien viel mehr aus ihrer Welt zu stammen als aus seiner, wenn das irgendeinen Sinn ergab.

Da regte sich ein kleines bisschen Hoffnung in Morrow, so wie eine Pflanze einen winzigen Trieb vorsichtig aus dem Boden steckt. Kaum sichtbar, aber dennoch ist er da. Und in ihm steckt die Möglichkeit, etwas so Gewaltiges zu werden wie ein Baum, oder ein ganzer Wald. Denn auch ein Wald beginnt mit einem ersten, hoffnungsvollen Gedanken.

4

Die Sonne war inzwischen noch ein Stück tiefer gesunken, der Abend würde bald hereinbrechen. Die Schatten senkten sich über das Unterholz und über den Wipfeln der Bäume war nur noch der blutig rote Widerschein des kleinen Feuerballs zu sehen, der sich anschickte, hinter dem Horizont zu versinken.

Als Morrow sich ein weiteres Mal zu dem Jungen umdrehte, bemerkte sie, dass im Wald hinter ihnen die Nacht bereits begonnen hatte. Schatten senkten sich tiefer und dunkler über das Grün, so als kosteten sie bereits den Teil des Waldes, den sie bald verschlingen würden. In den Schatten knarrten alte Bäume, und das Laub der Wipfel raschelte, als hätte sich dort ein Wind erhoben. Es würde eine kühle Nacht werden, aber vielleicht fanden sie eine Stelle, an der sie ein kleines Feuer entzünden konnten, so wie es der Junge schon einmal auf dem Dach des zerstörten Hauses im schwarzen Wald getan hatte.

Morrow hielt nach einer geeigneten Stelle Ausschau.

Eine Senke wäre gut und weiche Erde, in die man ein kleines Loch graben und mit ein paar Steinen begrenzen konnte, und kleine Zweige, um die erste Glut zu entfachen.

Während sie noch überlegte, woher sie eigentlich so viel übers Feuermachen wusste, deutete der Junge plötzlich auf einen Punkt vor ihnen. Morrow wäre an der Stelle vermutlich vorbeigegangen, wenn der Junge sie nicht darauf hingewiesen hätte. Auf den ersten Blick war da nichts zu sehen als ein umgestürzter Baumriese, der vor Urzeiten in einen kleinen Hügel gekracht war. Er war entwurzelt worden und nun selbst zu einem Teil des Hügels geworden, überwuchert von Gräsern und Moosen, wie der restliche Waldboden.

Dann sah sie es.

Etwas unterhalb der Mitte des Stammes gähnte ein schwarzes Loch. Da es fast vollständig im Schatten des Baumstammes lag, war es schwer zu bemerken, aber offenbar waren die Augen des Jungen besser dafür geeignet, verborgene Dinge zu entdecken. Gemeinsam traten sie näher heran.

Das Loch erwies sich als ein Durchgang und Morrow ließ sich auf die Knie nieder, um hindurchschauen zu können. Dahinter ging es weiter, die Öffnung führte offenbar direkt in das Innere des Hügels, wo jemand einen Hohlraum herausgeschabt hatte.

»Glaubst du, da drin ist jemand?«, flüsterte Morrow, doch der Junge, wie um ihre Frage zu beantworten, war schon unter dem Stamm hindurchgeschlüpft und kurz darauf in der Finsternis jenseits des Baumstamms verschwunden. Einen Augenblick später tauchte sein Kopf in der Öffnung auf, und dann seine Hand. Er winkte, und Morrow folgte ihm. Als sie unter dem Baumstamm durchgekrochen war, traute sie ihren Augen kaum. Dies hier war viel mehr als nur ein Erdloch.

Es war eine richtige Höhle.

Ein breiter Spalt zwischen dem Baumstamm und dem Hügel ließ gerade genug Helligkeit der untergehenden Sonne durch, um sich umsehen zu können. Die Wände der Behausung waren sorgfältig mit Ästen ausgekleidet worden, armdicke Stämme stützen die Decke ab. Wer immer das gebaut hatte, war sich offenbar bestens darüber im Klaren gewesen, was er tat. Kleine Baumstämme und Äste waren mit der festgeklopften Erde auf einzigartige Weise zu einer gemütlichen Behausung verknüpft worden. Diese Bauweise erinnerte Morrow ein bisschen an die Hütten im Dorf der alten Cylla, allerdings hatte diese hier wesentlich mehr Charme. Vielleicht, weil das Baumaterial hier nicht aus den aschegrauen, steinharten Ranken des toten Waldes bestand, sondern aus den lebenden Gewächsen eines richtigen Waldes.

Da bemerkte Morrow etwas, das in dieser Umgebung völlig fehl am Platze wirkte. In der hinteren Ecke war etwas in die Decke eingearbeitet worden, wohl um sie abzustützen. Etwas, an dem noch Reste roter Farbe zu erkennen waren, und das jetzt größtenteils von einer schmutzig-braunen Kruste überzogen war.

Rost, dachte Morrow, Rost auf einem Blech wie dem von dem Auto neben Cyllas Hütte, und hier dient es offenbar als Dach. Die Decke war gerade hoch genug, um einigermaßen bequem in der Höhle stehen zu können. Das Innere war eine krude Mischung aus spartanischer Einfachheit und einer Ansammlung obskurer Gegenstände. Es gab eine Schlafstätte aus getrockneten Gräsern und Moos, aber keinen Tisch oder primitive Stühle wie in Cyllas Hütte.

Neben der Schlafstätte fanden sie eine Ansammlung wüst aufeinandergeschichteter, bizarrer Gegenstände. Krimskrams, das meiste davon – aber dieses Zeug stammte ganz bestimmt nicht aus dem Wald – oder aus irgendeinem Wald.

Da waren dünne, biegsame Metallfasern, ganz ähnlich denen an dem Gerät, dass Cylla ihr gezeigt hatte. Toh-Ken, hatte Cylla es genannt. Der ehemalige Bewohner der verlassenen Höhlenbehausung hatte aus diesen Metallfasern seltsame Gebilde gebastelt, und einige dieser kleinen Kunstwerke hatte er an die Wand über seiner Schlafstätte gehängt. Morrow glaubte sogar, einige bekannte Umrisse in den kruden Drahtfigürchen zu erkennen. Kleine Männchen, mit biegsamen Ärmchen und Beinchen. Etwas, das einen Quell darstellen mochte, und vor dem die Männchen niederknieten. Einen Kreis, geflochten aus einem einzelnen, langen Draht. Und in der Mitte dieses Kreises etwas längliches, das in die Höhe ragte und die Männchen lagen davor auf dem Boden, ihre kleinen Drahtglieder von sich gestreckt.

Die Darstellungen waren mit einiger Kunstfertigkeit ausgeführt und in die Wand der Höhle eingearbeitet worden, für Morrow sahen sie aber vor allem aus wie etwas, dass jemand gebastelt hatte, dem sehr langweilig gewesen war, während er allein in dieser Höhle gehaust hatte.

Plötzlich wurde Morrow klar, wo sie sich befanden. Was das alles hier nur bedeuten konnte. Offenbar hatten sie die Höhle des alten Sloat gefunden, der aufgebrochen war, um im weiten Land Leng nach dem Zeuss zu suchen, und der dann zurückgekehrt war zu den Seinen, um von ihrer Hand den Tod zu finden.

5

Als sie unter dem Baumstamm hindurch wieder hinaus ins Freie krochen, deutete der Junge auf etwas zu seinen Füßen. Mitten auf der freien Fläche vor dem Baumstamm befand sich eine kleine, rußgeschwärzte Kuhle, um die man einen Kreis aus Steinen geschichtet hatte. Eine Feuerstelle. Die Reste der schwarz verkohlten Holzstücke im Inneren des Steinkreises waren von Gras und Moosen überwuchert und auf ihrer Spitze reckte eine kleine Ansammlung morchelartiger Pilze ihre Köpfchen in den Himmel, die Morrow unangenehm an die Augenpflanzen im Kanal erinnerten.

Morrow setzte sich ins Gras und der Junge ging ein Stück abseits in die Hocke und begann, dürre Zweige zu sammeln, während Morrow die Feuerstelle mit einem Stöckchen von Pilzen und Moos befreite.

Morrow dachte über diese seltsame Behausung nach, gebaut aus Dingen, die in der Vorstellung der Farmer von einem Gott namens Zeuss stammten, der in einer rot glühenden, heiligen Stadt leben sollte. In Morrows Vorstellung passten diese Gegenstände

… kaputte Autos, verfilzte Drähte, rostige Blechteile, ein Radio und ein rostiges Blechdach …

… allerdings nicht zu einem Gott, sondern vielmehr in eine ganz andere Umgebung. Zum Beispiel auf einen …

Schrottplatz, Autofriedhof, letzte Ruhestätte der nützlichen Haushaltshilfen. Es sind die Sachen, die wir wegwerfen, wenn sie ihre Funktion nicht mehr erfüllten. Dinge, die mit Strom funktionieren, hauptsächlich. Kaputte Toaster, oder eine Waschmaschine, oder Daddys Auto oder ihr Spielzeug, eine Puppe ohne Kopf, ein …

Der Ansturm der Erinnerungen, die über sie hereinbrachen, war zu viel. Das Stöckchen glitt aus ihrer Hand und sie sank auf ihre Knie, presste die Fäuste an ihre Schläfen. So viele Bilder, Erinnerungen. Und Wörter, so viele Wörter! Die meisten noch ohne Bezug oder Bedeutung für Morrow, manche mit einem Bild von einem Gegenstand, dessen Bedeutung sich ihr noch nicht erschloss.

Dann riss die Flut von Eindrücken urplötzlich ab, und Morrow öffnete langsam die Augen. Der Junge war herbeigekommen, immer noch in der Hocke, und sah sie an. Morrows Beinahe-Zusammenbruch schien er gar nicht bemerkt zu haben.

Ihr fiel auf, dass er etwas Glänzendes in einer seiner Klauen hielt, einen faustgroßen Metallzylinder, dessen Grundfläche etwa handtellergroß war. Auch dieser war an einigen Stellen mit dem rotbraunem Rost bedeckt. Und es gab noch mehr dieser Zylinder, in verschiedenen Größen und Stadien des Verfalls. Auf einigen der besser erhaltenen klebten dünne Papierstreifen, auf denen etwas abgebildet war.

Äpfel.

Ja, das waren Äpfel und die schien auch der Junge zu kennen, denn er deutete aufgeregt auf die Abbildung.

»Äpfel«, sinnierte Morrow und der Junge machte einen Laut, der eine gewisse Ähnlichkeit mit »Ääh - fel« haben mochte. »Äffel«, probierte er es noch einmal und Morrow lächelte ihn an.

»Genau«, sagte sie, »Äpfel«, und dann nahm sie ihm die Dose ab. »Pass auf«, sagte sie und hieb die Dose dann mehrmals gegen einen der Steine, welche die Feuerstelle begrenzten. Unter den staunenden Blicken des Jungen wiederholte sie das ein paar Mal und schließlich schaffte sie es, ein Loch hineinzuschlagen. Ein süßlicher Duft stieg auf und etwas Saft benetzte den Boden. Vorsichtig hob Morrow die Dose über ihren Kopf und ließ ein paar Tropfen auf ihre Zunge tropfen. Kostete, schmeckte, schluckte.

Es war wundervoll.

»Gut«, sagte sie dann, »Das ist gut«, und reichte die Dose dem Jungen. Nach kurzem Zögern tat er es ihr gleich, und ließ sich ebenfalls etwas Saft in den Mund tropfen. Dann bohrte er seinen Finger in das kleine Loch, das Morrow hineingeschlagen hatte und riss die Dose dann der Länge nach auf, mit nur einem seiner Klauenfinger und ohne dass es ihm die geringste Mühe oder gar Schmerzen zu bereiten schien. Dann machten sie sich gemeinsam über die süßen, eingelegten Äpfel her.

»Wo hast du die her?«, fragte Morrow, als sie ihre Mahlzeit beendet hatten.

Der Junge stand auf und zeigte Morrow eine Stelle seitlich der Hütte. Er schob ein Geflecht aus Wurzeln und Zweigen beiseite und dahinter kam eine weitere kleine Aushöhlung zum Vorschein, und noch ein paar der Dosen. Die …

Konservenbüchsen

… waren säuberlich in Reihen an der rückwärtigen Wand des Erdlochs übereinandergestapelt. Insgesamt fanden sie ein gutes Dutzend der metallenen Dosen, die meisten davon trugen die Aufschrift Grannie Coopers Canned Apples.

Beim Herausräumen der Dosen fand Morrow außerdem ein altes Messer, dessen Klinge zwar in der Mitte abgebrochen war, das Morrow aber dennoch einsteckte, weil es irgendwie nützlich aussah. Sie schleppten ihre Beute zurück zur Feuerstelle, wo der Junge einen schwarz glänzenden Stein aus seiner Tasche zog und dann damit begann, ihn gegen die Steine am Rand der Feuerstelle zu schlagen.

Alsbald stoben Funken auf die kleinen Zweige, die Morrow zu einer kleinen Pyramide aufgeschichtet hatte. Ein Funke sprang in das Gestrüpp in der Mitte und entzündete es. Vorsichtig legte der Junge seine großen Hände darum und hauchte sanft auf die schwache Glut. Morrow sah fasziniert zu, wie bald winzige Flämmlein zu züngeln begannen, die auf die locker aufgestapelten Zweige übersprangen.

Als das Feuer brannte, unterzogen sie ihre Funde einer eingehenden Prüfung. Etwa die Hälfte der Konserven war noch zu gebrauchen. Nicht alle Dosen enthielten Äpfel. Eine trug die Aufschrift Corned Beef. Morrow reichte die Dose dem Jungen, der sie mit einer beiläufigen Handbewegung öffnete. Der Inhalt verströmte den köstlichen Geruch von salzigem Fleisch, und Morrow spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenzulaufen begann.

Der Junge schabte eine Fingerspitze Fleisch aus der Dose und wollte es sich gerade in den Mund stopfen, als Morrow rief: »Nein, nicht doch! Du willst es doch nicht roh herunterschlingen, wenn wir ein Feuer haben!«

Der Junge starrte sie an und sah einigermaßen ratlos aus.

Morrow schüttelte den Kopf. »Da weiß ich etwas viel Besseres. Wir machen ein Barbecue.«

»Bah-beh-kuh?«,fragte der Junge und Morrow nickte bestimmt.

Dann stellte sie die Dose in die Glut ihres Feuers, unter den sehnsüchtigen Blicken des Jungen, dem das offenbar gar nicht recht war.

»Das wird gut«, sagte Morrow, »Du wirst schon sehen.«

Ein paar Minuten später erfüllte der Duft von gebratenem Fleisch die Luft und ihre Nasen. Morrow angelte die Dose mit Hilfe zweier Äste aus der Glut und stellte sie an den Rand der Feuerstelle. Der Junge amüsierte sie damit, dass er sich einen Batzen Fleisch aus der Dose angelte, ihn auf seine Kralle spießte, daran herumschnüffelte und schließlich vorsichtig ein winziges Stück abbiss, das er langsam kaute und schließlich herunterschluckte. Dann verschlang er gierig den Rest seiner Hälfte des Fleisches.

»Gut, nicht?«, fragte Morrow lächelnd.

Der Junge nickte und sagte »Hut!«, bevor er noch einen weiteren Bissen aus der Dose angelte und ihn sich in den Mund stopfte.

Da spürte Morrow, wie die Tränen wieder kamen. Sie wollte nicht, dass sie der Junge so sah, also wandte sie sich ab, als sie erneut an Mommy und Daddy und das Barbecue denken musste, das richtige Barbecue, das sie manchmal im Garten hinter ihrem Haus gemacht hatten. Und Daddys Schürze mit der Aufschrift »Küss den Koch!«.

Und plötzlich hatte Morrow das Gefühl, dass, wenn sie diesem Stich nur etwas mehr Raum geben würde, ihr Herz möglicherweise vor Sehnsucht zerbrechen würde.

6

Das Mädchen war sturzbetrunken. So betrunken, dass Napoleon einige Mühe hatte, sie durch die Eingangshalle des Hotels und die Stufen hinauf in den ersten Stock zu bugsieren wo das Zimmer lag. Auch, wenn die junge Frau ihm kaum bis zur Schulter reichte, so war sie doch alles andere als schlank und dementsprechend schwer.

Ihr Kopf rollte an seinem Arm hin und her, während sie sich an ihn kuschelte, ihren wogenden Busen gegen seinen Oberkörper gepresst, und ihn nuschelnd um einen weiteren Schluck von dem Gebrannten anbettelte. Der war ihnen allerdings schon vor einer ganzen Weile ausgegangen. Sie schien es allerdings gar nicht bemerkt zu haben, oder sie hatte es inzwischen vergessen.

»Bitte … nur’n Schluck, großer … starker Mann … Nur’n Schluck, starker Mann … « Mit überraschender Heftigkeit packte sie Napoleons Hand, führte sie zwischen ihre fetten Schenkel und presste diese dann zusammen. »Nur’n Schluck, Mann … dann kannst du Alles ha’m, auch das da unten … ‘s wird dir gefallen, großer Mann …«

Nein, das würde es nicht, dachte Napoleon. Früher hätte ihm ein solches Mädchen vielleicht sogar Freude bereiten können, speziell nach dem Genuss von ein, zwei Flaschen Gebranntem. Jetzt stieß ihn diese armselige Kreatur nur noch ab. Schrägstehende Augen, die ihn blutunterlaufen aus einem teigigen Gesicht anstarrten. Sie rülpste ungeniert und stieß eine Wolke ihres sauren Atems in Napoleons Gesicht. Ekelhaft.

»Komm … hol’s dir … da unten. Ist schon ganz heiß da«, sagte sie. Den Gebrannten schien sie plötzlich ganz vergessen zu haben. Mit dieser, dachte Napoleon, würde es leichter werden als mit der letzten, die wirklich hübsch und auch nicht richtig betrunken gewesen war. Nun, vielleicht war genau das der Zweck der Übung. Dass er, Napoleon, sich daran gewöhnte. Anfangs hatte er sich noch ungeschickt dabei angestellt, die richtigen Begleiterinnen zu finden, und sie davon zu überzeugen, mit ihm zu kommen. Die hübschen, und vor allem die jungen, die noch nicht krank waren.

Die Huren und die fetten Weiber aus den Waschhäusern, die ein loses Mundwerk hatten und ein ständiges Jucken zwischen den Beinen dazu, das war eine Sache. Die jungen Mädchen jedoch waren eine ganz andere gewesen. Die hatten Väter und gelegentlich auch Brüder, die auf sie aufpassten. Mittlerweile war es schwer geworden, nach Einbruch der Dunkelheit überhaupt noch jemanden aufzutreiben, der alleine unterwegs war.

Das mochte einerseits an Napoleons nächtlicher Arbeit liegen, die sich herumsprach. Vor allem aber lag es an dem Hund, von dem sie jetzt überall in der Stadt hinter vorgehaltener Hand sprachen. Ein riesiges, borstiges Vieh, dass sich in der Nähe des alten Mickiehauses herumtrieb und andere Straßenköter riss und hin und wieder auch einen unvorsichtigen Menschen. Das zumindest erzählten sich die Leute in der Stadt.

Daher war Napoleon inzwischen fast gänzlich auf die Sorte Mädchen angewiesen, die sich spätnachts noch arglos in den Gassen herumtrieb, und ohnehin schon unter dem Einfluss ihres eigenen, billigen Fusels stand. Verdorbene, Süchtige, Abschaum. Leichte Beute freilich, aber keine besonders geeignete, und das hatte ihm auch das Haus zu verstehen gegeben.

»Wir werden mehr davon brauchen«, hatte es gesagt, »und bessere Qualität.«

»Aber sie kommen nicht mehr raus, besonders nicht in der Nacht«, wandte Napoleon ein. »Sie verstecken sich, und das ist bestimmt erst der Anfang. Sie merken etwas. Die Leute werden es nicht ewig hinnehmen, dass Nacht für Nacht junge Mädchen aus der Stadt verschwinden.«

»Wir werden es nicht mehr ewig machen müssen«, unterbrachen ihn die Stimmen unwirsch. »Nur noch ein paar mehr, ein paar junge mehr und dann werden wir stark genug sein.«

»Stark genug?«

»Für das Ritual!«, brüllte ihn die Stimme fröhlich an, und da war er zusammengebrochen, hatte seine Hände auf seine blutenden Ohren gepresst und aus seinen Augen waren scharlachrote Tränen geschossen. »Aber davon verstehst du freilich nichts, mein kleiner Bonaparte«, hatte die Stimme dann gesagt, und urplötzlich wieder versöhnlich geklungen. »Und das musst du auch nicht. Es genügt vollauf, wenn du einfach nur das tust, was man dir sagt.«

Also hatte Napoleon das getan.

Er packte das fette Mädchen unter ihre klebrigen, heißen Achseln, um sie eine weitere Stufe nach oben zu hieven.

»Wassndas für'n komisches … komisches Haus, mein Süßer?«, lallte sie, während sie einen Blick aus ihren trägen Augen auf die Eingangshalle unter ihnen warf. »Wohnste etwa hier?«

»Ja«, antwortete Napoleon und hievte ihren Körper auf den Treppenabsatz.

Er musste sie stützen, weil ihre Beine immer wieder wegsackten. Er gratulierte sich zu seinem Glück, dass dieser widerwärtige Brocken von einem Mädchen ihm nicht schon in der Stadt zusammengebrochen war und sie es wenigstens einigermaßen aufrecht bis ins Haus geschafft hatten. Beim Zeuss, was war das Weib auch schwer!

Er führte sie in das Zimmer, in dem er vor Urzeiten – so kam es ihm zumindest vor – beinahe vergast worden war, und gab ihr einen kleinen Schubs, der sie auf die Zimmermitte zutaumeln ließ. Er wartete auf das Klicken im Türrahmen, was bedeutete, dass das Zimmer nun verschlossen war. Die Fette stolperte auf die Mitte des Zimmers zu. Ihre pummeligen Beine steckten in zerrissenen knielangen Wollstrümpfen. Fasziniert betrachtete sie den Teppich.

»O … schön … Was ‘n schönes … Muster«, lallte sie und gab dann einen weiteren Rülpser von sich. Ja, dachte Napoleon, diesmal würde es ausgesprochen leicht werden. Sie bewunderte das vorgebliche Muster weiter, ohne zu begreifen, dass es sich dabei in Wahrheit um das verspritzte Blut derer handelte, die vor ihr den Weg durch dieses Zimmer gegangen waren.

Wie ein hässlicher, fetter Gummiball hüpfte sie bald hierhin und bald dorthin, während sie mit verzücktem Blick auf den fleckigen Teppich starrte. Eine ihrer Hände hatte den Weg in ihren Schritt gefunden und rieb dort geistesabwesend herum, während das Mädchen ganz von dem Muster der rotbraunen Spritzer in Anspruch genommen schien.

»Biss ein rischtisch nobler, Herr, was? Ohh…«, stöhnte sie und umfasste eine ihrer gewaltigen Brüste. Ihre Hand wirkte winzig in dem Berg losen Fleisches. Irgendetwas an dem Anblick des Teppichs schien sie maßlos zu erregen, auch wenn Napoleon nicht so recht verstand, was das sein könnte.

Ohne sich weiter um ihr Gestammel zu kümmern, ging Napoleon in eine Ecke des Zimmers und nahm die große Axt, die dort stand. Dann ging er zu dem kleinen Tisch hinüber, nahm sich eine der Glasflaschen und steckte sie in die Tasche seines Jacketts. Sie war leer, aber bald schon würde sie wieder voll sein, angefüllt mit blauem Leuchten. Es war wichtig, sie im richtigen Moment griffbereit zu haben. Auch das hatte ihm der Meister der Schmerzen beigebracht.

Von der Mitte des Zimmers war ein lautes Poltern zu hören, als das Mädchen der Länge nach hinfiel, vermutlich war sie über ihre eigenen Füße gestolpert.

»Oh«, gluckste sie dümmlich. In der absurden Parodie einer Betenden hockte sie sich auf ihre fetten Knie und begann zu kichern. »Ich … Komm nich´… nich’ mehr hoch, Mister.« Und dann ließ sie sich lachend auf ihren fetten Rücken fallen, und spreizte ihre Beine weit auseinander, sodass Napoleon die schmutzstarrende Unterhose sehen konnte, die zwischen ihren fetten Schenkeln hing.

»Kannst ihn mir …« rief sie lachend, und gluckste dabei, »Kannst ihn mir gleich hier auf dem Boden reinschieben, ich glaube … ich bin schon soweit.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Napoleon und drosch ihr das Blatt der Axt mitten in die Stirn. Das fette Mädchen bäumte sich auf, ihr Becken zuckte vor, und unbegreiflicherweise gluckste und kicherte sie dabei immer noch.

Napoleon zog an der Axt, bekam sie aber nicht gleich aus dem Kopf seines Opfers. Blut lief in einem breiten Strom über ihre Stirn und in ihr fettiges, von Schuppen besprenkeltes Haar.

»Hey, was … schlägst mich, wie?«, lallte das Mädchen und verdrehte die Augen. Es klang noch nicht einmal besonders erbost. Dann durchlief ein erneutes Zittern ihren massigen Körper, und sie atmete ein letztes Mal stöhnend aus. Dann murmelte sie etwas, das wie »Lumpenhund« klang.

Dann lag sie still.

Napoleon zog die kleine Flasche aus seiner Jacketttasche und kniete sich neben sein Opfer, deren sterbender Körper sich derweil auf den Teppich entleerte. Das hatten ein paar der anderen ebenfalls getan. Er drehte die kleine Glasflasche um und sprach die Worte, wie die Stimme es ihn gelehrt hatte. Wie er es schon dutzende Male getan hatte in den letzten Tagen.

Die kleine Flasche begann zu glimmen. Etwas strömte hinein, das wie ein phosphoreszierendes blaues Gas aussah. Es breitete sich in der Flasche aus, bis es sie etwa bis zur Hälfte gefüllt hatte und sandte dabei ein pulsierendes Glimmen aus. Rasch verschloss Napoleon die Flasche wieder, dann stand er auf, und stellte sie zurück auf den Tisch.

Anschließend stellte er sich neben die Leiche, und zog an dem Griff der Axt, die immer noch im Kopf des Mädchens steckte. Das Blatt hatte sich verklemmt, sodass er seinen Fuß auf der Stirn des Mädchens abstellen und eine Weile an dem Griff herumhebeln musste, bis er das Blatt endlich freibekam.

Schließlich rutschte die Schneide heraus, mit einem feuchten Ploppen glitt sie aus dem eingeschlagenen Kopf des Mädchens. Ein Schwall dunklen Blutes schwappte aus der Wunde, lief über ihr Gesicht und begann dann, ein neues Muster auf dem Teppich zu zeichnen.

Das Mädchen, fand Napoleon, sah jetzt beinahe besser aus als noch vor ein paar Minuten. Er kicherte. Aber er war sich nicht sicher, ob dies wirklich seine Gedanken waren, oder vielleicht doch die des Hauses. Einerlei, er war ohnehin zu müde, um darüber nachzudenken.

Napoleon hieb nochmals zu, ohne dass es einen speziellen Grund dafür gegeben hätte und diesmal spaltete er den Kopf oberhalb der Nasenwurzel in zwei Teile. Ein großes Stück der Schädelplatte flog durch den Raum und schlitterte unter das Bett. Napoleon kümmerte sich nicht weiter darum. Fasziniert beobachtete er, wie eine blutig-graue Masse aus dem Kopf des Mädchens auf den schmutzigen Teppich quoll. Die Kleine hatte also doch ein Gehirn gehabt, wer hätte das gedacht.

Dann war das Haus zufrieden.

Der Riegel in der Tür klickte leise, als sie sich öffnete und Napoleon schlurfte aus dem Raum, nachdem er die blutbespritzte Axt, wieder in die Ecke neben der Tür zurückgestellt hatte. Es bestand kein Grund, die Klinge abzuwischen, sie würde ohnehin schon bald wieder in Gebrauch sein.

Er wartete draußen, bis das Haus sein Mahl beendet hatte. Wenn er das Zimmer wieder betrat, das wusste er, würde von dem Mädchen nichts mehr übrig sein außer ein paar neuen Blutspritzern auf dem Teppich, die rasch eintrocknen würden. Und vielleicht das Stück ihres Schädels unter dem Bett, weiß gebleicht und ohne eine Spur von Fleisch, Haut oder dem Gehirn, das daran geklebt hatte. Der Appetit des Hauses war groß.

Napoleon ging hinunter in die Lobby, wo die schlürfenden Geräusche aus dem Zimmer oben nicht so laut zu hören waren. Dort rollte er sich auf dem angekohlten Sofa zusammen und starrte blicklos ins schummerige Halbdunkel der Lobby. Er weinte ein bisschen, und lächelte dabei, ohne sich des einen oder anderen bewusst zu sein. Irgendwann döste er ein.

Irgendwann wachte er auf.

»Es war eine Jungfrau«, lobte ihn die Stimme später, »Das war gut. Und recht nahrhaft.«

»Danke« sagte Napoleon, auch wenn es ihm schwerfiel, dem Haus das mit der Jungfrau zu glauben. Es klang demütig, als er sich bedankte, kriecherisch – und der winzige Teil in ihm, der von seinem alten Selbst noch übrig war, verachtete ihn dafür. Das Haus spürte das, und es ergötzte sich daran, ihn seinen Hohn und die Freude über seinen Selbsthass spüren zu lassen.

In gewisser Hinsicht, dachte Napoleon, war es der fetten Bauerntochter vielleicht besser ergangen als ihm selbst. Sie hatte das Sterben nur einmal erleben müssen, als sie seine Axt gekostet hatte. Für sie war es schnell vorbei gewesen.

Andererseits befand sich jetzt ein Teil von ihr in dieser kleinen Flasche und leuchtete blau – und das war vielleicht noch viel schlimmer als das Sterben.

7

Als Morrow am Morgen erwachte, war der Junge bereits draußen vor der Höhle damit beschäftigt, aus den Resten der Glut ein neues Feuer zu entfachen. Der Schlaf hatte ihr gut getan, Morrow fühlte sich kräftig und von neuer Energie erfüllt, wenn sie auch immer noch leichte Kopfschmerzen verspürte. Während sie sich von der Lagerstätte erhob, fiel ihr Blick ein weiteres Mal auf die Darstellung der kleinen Drahtmännchen, die der alte Mister Sloat an der Wand angebracht hatte.

Ein Kreis, ganz recht, und er umschloss die simple Darstellung der Hütte und des Waldes, falls es das war, was die Drahtbäumchen darstellen sollten. Aber schließlich hatte auch der alte Mister Sloat ihn irgendwann verlassen, den Wald und den Kreis, und war zu den Farmern zurückgekehrt, wenn ihm das auch nicht all zu viel genützt hatte, weil die seinen inzwischen mindestens genauso verrückt geworden waren wie die vielgerühmten Langkäfer.

Morrow ertappte sich bei einem Lächeln und kroch nach draußen, wo der Junge vor dem Feuer hockte und sie keines Blickes würdigte. Morrow lief um die Hütte herum und folgte dem mächtigen Stamm, der die Rückwand bildete, bis sie eine Stelle gefunden hatte, die flach genug war, dass sie darüber klettern konnte. Das tat sie und suchte sich auf der anderen Seite eine Stelle, an der sie ihre Blase erleichtern konnte.

Als sie damit fertig war, stand sie auf und kletterte zurück über den Stamm, doch nicht, ohne oben kurz stehen zu bleiben, und sich umzublicken.

Orientierung. Einen Orientierungspunkt suchen und die Marschrichtung festlegen.

Nun, da war zum einen der Junge, der dort hinten am Feuer saß, und damit beschäftigt war, eine weitere Dose zu öffnen. Und da waren Bäume, jede Menge davon, ein ununterbrochenes grünes Dickicht, das keinerlei Orientierung zuließ.

Aber Morrow war sich ziemlich sicher, dass sie gestern aus dieser Richtung gekommen waren, von der dem Feuer abgewandten Seite. Dort, wo der Wald dunkler wurde. Dort hinten war er auch gestern Abend schon dunkler gewesen, aber da hatte sie noch geglaubt, dass das an der hereinbrechenden Nacht liegen würde. Seltsamerweise schienen Ihre Kopfschmerzen wieder stärker zu werden, je länger sie in dieser Richtung blickte.

Morrow wandte den Blick ab und die Schmerzen hinter ihren Augen verringerten sich wieder auf ein erträgliches Maß. Aber sie gingen nicht ganz fort. Wenn ihre gestrige Theorie sich als richtig erwies, dann würden sie rasch weiterziehen müssen, weg von da, wo es dunkler wurde und … nicht nur dunkel. Da hinten wurde der Wald noch zu etwas anderem.

Da waren Schatten in dem dunklen, dichten Grün. Schatten, die sich bewegten. Dinge, die an den Rändern der Zeit nagen, hatte die alte Cylla gesagt.

Morrow sprang von dem Baumstamm. Auf dem Weg zum Feuer fiel ihr ein kleiner Tümpel auf, den sie auf dem Hinweg gar nicht bemerkt hatte. Klares, frisches Wasser sprudelte aus einem schmalen Rinnsal in den Tümpel. Morrow streckte eine Hand aus. Es war kühl, dieses Wasser, fast schon eisig. Ausgesprochen angenehm. Nachdem sie flüchtig ihr Gesicht gewaschen hatte, lief sie zurück zum Feuer, wo der Junge saß.

Als er sie bemerkte, stellte er eine Dose ins Feuer, die er genau wie die gestrige, geköpft hatte. Als Morrow einen Blick hineinwarf, sah sie, dass er eine mit den eingelegten Äpfeln erwischt hatte. Die Dose verströmte einen penetrant sauren Geruch, und die Apfelstücke hatten eine braune Färbung angenommen, die von grünen Stellen und weißen Punkten durchsetzt war. Obenauf schwamm eine schleimige, weiße Insel. Morrow schüttelte den Kopf.

»Nicht«, sagte sie und griff nach der Dose, um den Inhalt ins Feuer zu kippen. Aber der Junge war schneller. Er griff sich die Dose und drückte sie an seine Brust.

»Nein«, sagte Morrow, »es ist schlecht. Verdorben.«

Als der Junge sie weiter verständnislos anstarrte, griff sie sich an den Hals und gab würgende Geräusche von sich. »Es ist schlecht, das kannst du nicht essen.«

»Äff - el!«, beharrte der Junge und hoppelte ein Stück weg, wo er sich den essigsaueren Inhalt der Dose mit einem einzigen Schluck einverleibte, inklusive der kleinen, weißen Insel obendrauf.

Morrow wandte sich angewidert ab. Fürs Erste verspürte sie keinen all zu großen Appetit mehr, und so setzte sie sich einfach wieder ans Feuer. Nachdem er den Inhalt der Dose komplett verschlungen und sie mit seiner langen (und ebenfalls vollkommen schwarzen) Zunge ausgeschleckt hatte, gesellte sich der Junge wieder zu ihr.

»Wir müssen weiter«, sagte Morrow, und deutete in den Wald hinein. »Weg von den Kopfschmerzen.«

Als es im Gebüsch hinter ihnen raschelte, fuhren sie beinahe synchron herum, und sahen gerade noch, wie ein kleiner Vogel aus dem Busch heraushüpfte. Dann blieb das Tier stehen, legte sein Köpfchen schräg und beobachtete sie aus sicherer Entfernung. Nachdem es das eine Weile getan hatte und sie offenbar für ungefährlich befand, kam der kleine Vogel näher, hüpfte auf den Jungen zu und setzte sich schließlich auf dessen ausgestreckte Hand.

Der Junge hob den Vogel hoch, vor sein Gesicht und für einen absurden Moment dachte Morrow, seine schwarze Zunge würde aus seinem riesigen Mund mit den orangeroten Zähnen herausschnellen, um das kleine Tier mit einem Happs zu verschlingen. Stattdessen ließ sich der Vogel nun auf der Hand des Jungen nieder, plusterte sein Gefieder auf und starrte dem Jungen ins Gesicht. Über die Augen des Jungen huschte der goldene Schimmer und dann schüttelte der Vogel sein Gefieder, hopste von der Hand des Jungen und flatterte davon.

Einen Augenblick später verfinsterte sich der Himmel zwischen den Baumkronen und Morrow beobachtete staunend, wie ein mächtiger Strom von Flügeln über ihren Köpfen dahinflatterte. Eine schwarze Wolke aus Federn.

Dicht an dicht gedrängt flogen die Vögel, große und kleine, schlugen und flatterten und waren doch völlig stumm dabei, nicht ein einziger unter ihnen tschilpte oder krächzte oder gab auch nur ein Piepsen von sich. Nur das Schlagen von Abertausenden von Flügeln war zu hören.

Als Morrow den Blick vom Himmel abwandte, hatte sich der Junge bereits erhoben und war nun eilig dabei, Erde auf die Feuerstelle zu schütten. Was immer ihm der kleine Vogel anvertraut hatte, offenbar war es höchste Zeit, aufzubrechen.

Und dann endlich begriff Morrow.

Die Kopfschmerzen waren wieder im Anmarsch, und die Vögel spürten sie ebenfalls. Und nicht nur die Kopfschmerzen. Dinge, welche die Zeit an den Rändern auffressen. Bewegliche Dinge.

In den Wipfeln über ihren Köpfen hob ein Sturm an, und diesmal stammte er nicht von den Vögeln. Diesmal war es ein richtiger Sturm, und er kam aus der selben Richtung wie die Kopfschmerzen und die Finsternis. Es krachte vernehmlich, als der erste der Bäume jenseits der Schatten umfiel. Der stürzende Riese riss kleinere Bäume mit sich, als er zu Boden krachte.

Aber das war erst der Anfang.

Plötzlich kam Bewegung in die Bäume, als pflüge eine gigantische Hand durch sie hindurch. Diese drückte die mächtigen Stämme beiseite, als wären sie nichts als Grashalme. Etwas erhob sich in der Finsternis zwischen den Stämmen und erwachte dort zum Leben. Etwas Großes, das keine richtige Form zu besitzen schien, und dieses Etwas raste jetzt auf sie zu.

8

Am Anfang gingen sie, dann liefen sie zügig und schließlich rannten sie. Dorthin, wo der Wald heller wurde, und die Bäume weniger dicht standen. Dorthin, wo der Wald irgendwann zu Ende sein würde.

Und danach, was kam dann?

Der Junge sprang auf einen umgestürzten Baumstamm und wandte sich behende nach Morrow um, die dankbar seine ausgestreckte Hand ergriff. Der Junge zog sie mühelos zu sich hinauf auf den Stamm.

Morrow drehte sich um und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dorthin, wo die Höhle stand, in der sie übernachtet hatten. Doch in dieser Richtung gab es inzwischen nichts als den schwarzen Nebel, der nun bis zu den Wipfeln der Bäume hinaufreichte, und den Wald hinter ihnen in ein nachtgleiches Dunkel tauchte. Von der Höhle unter dem gefallenen Baumriesen war nun nichts mehr zu sehen. Es war, als hätte es all das nie gegeben.

Morrow beobachtete, wie eine Gruppe von Tieren aus dem Unterholz brach und irgendwo im Dickicht zu ihrer Linken verschwand. Erst, als die Waldtiere wieder verschwunden waren, fiel Morrow auf, was an diesem Grüppchen nicht gestimmt hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---