Rattenkönig - L.C. Frey - E-Book

Rattenkönig E-Book

L.C. Frey

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Beschreibung

Der namenlose Junge kann seine Freundin Morrow zwar aus den Fängen der Mickies befreien, doch Verderben und Zerstörung folgen ihnen auf dem Fuße. Morrow stellt fest, dass sie nicht aus dieser Welt stammt. Sie erinnert sich nur bruchstückhaft an das, was vorher war, und auch der Junge ist ihr auch keine große Hilfe dabei. Sie begegnen Farmern, die vergessen haben, was ein Auto ist und Morrow hört von einem seltsamen Gott namens Zeuss, der sie vielleicht nach Hause bringen kann. Sie erfährt, wie die Mickies vor vielen Jahren gemeinsam mit den Farmern gegen den Wald kämpften - und verloren. Erneut geraten Morrow und der Junge in Gefahr und verstecken sich an einem rätselhaften und gefährlichen Ort. Mickies-Boss Napoleon steigt hinab in die Kanalisation unter der Stadt, wo er dem König der Ratten begegnet und einen teuflischen Handel eingeht. In unserer Welt am Ende der 1890er Jahre versucht der verrückte Massenmörder H. H. Holmes verzweifelt, dem Wissenschaftler Nikola Tesla, der Biologin Jeannette Baret und der Okkultistin Helena Blavatsky das Geheimnis der Kreation zu entreißen. In einem Geheimlabor in den USA der 1990-er Jahre gelingt es den Wissenschaftlern um Professor Chomsky, eine Tesla-Maschine zu bauen. Während die Wissenschaftler noch den Anbruch eines neuen Zeitalters der Physik feiern, offenbart sich eine schreckliche Wahrheit ...

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RATTENKÖNIG

DIE RIFTWELT-SAGA

L.C. FREY

Band 2

IMPRESSUM

Copyright © 2021 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: L.C. Frey, unter Verwendung von ©Grand Failure, https://stock.adobe.com

220.2104.1909

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten, Unternehmen und Produktmarken sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Gleichwohl kommen in der Handlung dieses Buches Personen und Zusammenhänge von historischer Bedeutung vor. Der Autor bemüht sich, diese Fakten nach bestem Wissen respektvoll zu behandeln, sie werden jedoch im Kontext dieses Buches frei ausgelegt. Der Autor distanziert sich von einer historischen oder sonstigen Deutung von geschichtlichen und anderweitigen Ereignissen und Zusammenhängen.

Dieses Werk ist reine Fiktion.

Noch.

WAS BISHER GESCHAH

Der Junge hebt die Beinahe-Leiche des Mädchens Morrow vom Platz vor der Kreuzhalle auf und beschließt, sie ins Leben zurück zu pflegen, wobei er feststellt, dass es ihr besser geht, wenn sie die blau leuchtende Flüssigkeit zu sich nimmt, die sie in einer kleinen Schachtel mit sich führt.

Napoleon, der Boss der Mickies, interessiert sich ebenfalls für die silbergewandeten Fremden und deren blaues Zeug. Er versteckt einige Ampullen davon im Schwarzen Haus am Rande des Mickie-Viertels und verhilft einem sterbenden Hund zu neuem Leben, der kurz darauf eine Patrouille der Mickies anfällt und den Käfermann zerfleischt. Als Morrow von den Mickies gefangen wird, bleibt Napoleons »Befragung« des Mädchens erfolglos. Der Junge beschließt, seine neue Freundin ein zweites Mal vor dem sicheren Verderben zu retten, doch die Keule eines Mickies stoppt ihn auf dem Dach des Mickie-Hauses.

Der Junge erinnert sich an seine Zeit beim Kinderhändler Onkel Ruggs, und wie er sich erst von der Kette um seinen Hals und dann von Ruggs selbst befreite, nachdem dieser ihm sein geheimes Tal mit dem Apfelbaum zeigte.

Im Chicago des Jahres 1890 versammelt der irre Mörder und Hotelbesitzer H. H. Holmes den Wissenschaftler Nikola Tesla, die Mystikerin Helena Blavatsky und die junge Biologin Jeannette Baret, um deren »Artefakte« zusammenzuführen, indem er sich als der Ägyptologe Howard Carter ausgibt. Die Vereinigung gelingt, doch Holmes offenbart sich eine schreckliche Wahrheit, die ihn das letzte bisschen seines Verstandes kostet.

Karte der Riftwelt © Franz Alken

TEIL V

NEUE ERKENNTNISSE

1

HEUTE // DORT

HAUS DER MICKIES

Allmählich konnte der Junge seine Umgebung wieder wahrnehmen. Sein Instinkt gebot ihm, weiterhin flach zu atmen und die Lider nicht zu öffnen, den Anschein der Bewusstlosigkeit aufrecht zu erhalten. Sich tot zu stellen, bis er sicher sein konnte, dass ihm keine unmittelbare Gefahr mehr drohte.

In dem Maße, in dem er wach wurde, nahmen die Schmerzen in seinem Schädel zu. An seiner Stirn, etwas oberhalb des rechten Auges, schien das Zentrum des Schmerzes zu sitzen, von dort pulsierten kräftige Wellen der Pein über seinen Kopf und eine warme, klebrige Flüssigkeit lief in sein Auge. Von dem Schmerz ging ein dumpfes Summen aus, als sei dort ein Schwarm emsiger Insekten am Werk.

Durch den fiebrigen Nebel zirpender Geräusche hörte er Stimmen, gedämpft durch eine Tür, und allmählich begannen diese Fetzen, sich zu Bestandteilen eines Gesprächs zu ordnen.

»Hatte nichts bei sich … nur ein Seil. Heilige Scheiße, Boss, was zur Hölle ist das bloß für 'n Ding?«

»Ja, Boss, ist das ´n Mensch oder ´n Tier oder was?«

»… gleich kotzen von dem Anblick!«

»Ein Mensch? Nie und nimmer, dieses Ding ist … Tier, 'n Monster. Muss wohl das sein, was der Frischling gesehen hat, Pickelgesicht Will.«

»Na, jedenfalls ist das doch keiner von denen in Silber, oder?«

»Nein, Sir. Keiner von denen.«

»Es sieht jedenfalls aus wie ein Tier, hmm. Oder wie … ich weiß auch nicht, irgendwas zwischen 'ner Ratte und 'ner verdammten Ameise, was weiß ich. Oder 'ne Art Affenhund oder sowas … verdammtes Monster … damals im Wald … gejagt …«

»Ja, muss wohl.«

»Frag` mich, was es hier zu suchen hatte.«

»Was zu Fressen, natürlich.«

»Könnte sein. Hat es denn was zu dir gesagt, Marion? Als du’s erwischt hast? Hat es da gesprochen?«

Es, dachte der Junge. Ein Tier. Eine Chance, vielleicht.

»Nein. Glaub’ nich’, dass es überhaupt reden kann. Hatte ja auch nicht viel Gelegenheit dazu. Hab die Missgeburt direkt ins neunte Inning geschickt. Hahaha … Scheiße, … das Ding ist aber auch hässlich wie …«

»Was ist ein neuntes Inning, Marion?«

»Keine Ahnung, Mann. Hab ihn jedenfalls …«

Die Schwärze griff wieder nach dem Bewusstsein des Jungen.

»… glatt ausgeknockt … «

Gelächter.

Der Junge sank zurück in die Ohnmacht.

2

Als er das nächste Mal zu sich kam, war er allein. Das heißt, nicht ganz. Die Menschen draußen auf dem Gang waren fort, aber er spürte deutlich die Anwesenheit einer anderen Person neben sich.

Ein Mädchen.

Das Mädchen.

Morrow.

Sie war hier!

Und was noch wichtiger war: Sie lebte!

Ihr Atem ging sehr flach, sie war kaum bei Bewusstsein. Aber sie atmete, immerhin. Die Schmerzen des Jungen verblassten zu einem ärgerlichen Rauschen im Hintergrund seines Bewusstseins. Er war nahe dran, so etwas wie Hoffnung zu verspüren.

Morrow.

Beschütze mich, weil es wichtig ist!

Langsam fand der Junge zurück in die bewusste Welt.

Sein linkes Auge funktionierte, aber das rechte fühlte sich an wie eine matschige Frucht – verklebt und zugeschwollen, sodass er es beim besten Willen nicht benutzen konnte. In seinem Schädel pulsierte ein roter Nebel. Zog sich zusammen, breitete sich aus, zog sich wieder zusammen. Aber das war nicht schlimm. Sein Körper würde heilen, sein Auge vielleicht ebenfalls. Bald. Wenn sie ihm nur ein wenig Zeit dazu ließen.

Er schaffte es, den Blick seines linken Auges zu fokussieren. Der Raum war vollkommen lichtlos und hatte keine Fenster, aber das brauchte der Junge auch nicht, um sich zu orientieren.

Morrow lag direkt neben ihm. Sie schlief. Ihr Gesicht war von altem Schmutz und frischem Blut bedeckt, aber das war vermutlich in Ordnung, sie war in Ordnung. Oder: Würde in Ordnung kommen, so wie er. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit – und ihre Medizin.

Vorsichtig streckte der Junge seine Beine aus, dehnte sie, soweit es ging. Sie funktionierten noch, stellte er fest, sie hatten sie ihm nicht einmal zusammengebunden.

Die Arme hatten sie ihm aber vor der Brust gefesselt, genau wie sie es bei dem Mädchen getan hatten. Straff und so fest, dass das Seil in seinen Brustkorb und seine Handgelenke einschnitt. Aber sie hatten ein Seil verwendet, und ihm die Finger genausowenig gebrochen wie die Knie oder Fußgelenke. Ihr erster Fehler.

Außerdem hatten sie ihm die Hände vor der Brust zusammengeschnürt anstatt auf dem Rücken, wo er wesentlich weniger mit ihnen hätte anstellen können.

Und das war ihr zweiter Fehler.

Onkel Ruggs wäre so etwas nicht passiert.

Der Junge hob die tauben Hände zentimeterweise gegen den Druck des Seils an, bis die Muskeln in seinen Armen zum Bersten gespannt waren und schmerzhaft an seinen Gelenken rissen. Das Seil knirschte, und legte sich noch enger um seinen Brustkorb. Der Junge ließ alle Luft aus seinen Lungen entweichen und brachte die Fesseln damit noch ein paar wertvolle Zentimeter näher an seinen Mund.

Dann senkte er das Kinn zur Brust, schob es zwischen seinen Körper und seine gefesselten Handgelenke, beugte seinen langen Hals, soweit es ging. Schließlich führte er die Hände vor seinen Mund, tastete nach dem Seil und biss kräftig hinein. Seine Zähne rissen ein paar Fasern aus dem Seil.

Er biss erneut zu, fand neue Fasern, zerbiss auch diese. So machte er weiter. Es würde eine Weile dauern auf diese Weise, aber bald würde er …

Von draußen drang ein gedämpftes Stöhnen an seine Ohren, als litte jemand ein paar Türen weiter furchtbare Schmerzen. Vielleicht waren sie heute Nacht nicht die einzigen Gäste im Haus der Mickies. Der Junge verharrte einen Augenblick in seinem Tun, jeden Muskel bis zum Zerreißen angespannt, und lauschte.

Dann verstummte das Stöhnen abrupt.

Der Junge verdoppelte seine Anstrengungen.

Wenn sie mit dem dort drüben fertig waren, würden sie sich vermutlich wieder um ihn und Morrow kümmern, und das konnte jeden Moment passieren, dem Stöhnen nach zu urteilen.

Der Junge grub seine scharfen Zähne wieder emsig in das Seil.

3

Napoleon runzelte die Stirn.

Zwecklos.

Er verstand einfach nicht, wieso es nicht funktionieren wollte, bei dem Hund hatte es schließlich auch geklappt. Er hielt die Kanüle noch immer in der Hand, deren leuchtend-blauen Inhalt er soeben ins Auge des Käfermanns gedrückt hatte. Er hatte noch gelebt, zumindest am Anfang, da war Napoleon ganz sicher.

Wieso also stand er jetzt nicht auf und setzte über meterhohe Mauern, wie es der Hund getan hatte?

Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als bessere sich der Zustand des Käfermanns; in die Gesichtszüge war sogar so etwas wie Leben zurückgekehrt, und als Napoleon sich tief über das Gesicht des Mannes gebeugt hatte, hatte er dessen Atem an den empfindlichen Härchen seines Ohres gespürt.

Dann, ein paar Sekunden später, war es ganz plötzlich wieder bergab mit dem Käfermann gegangen. Aus seinen zahlreichen Wunden war widerwärtiger, violetter Schleim gelaufen, der große Blasen warf, und schließlich hatte Napoleon auch seinen Atem nicht mehr spüren können.

Seufzend zog Napoleon die lange Kanüle aus dem Augapfel des Käfermanns. Vielleicht war er doch schon zu hinüber gewesen, als das Experiment begonnen hatte. Doch wieso hatte es dann mit dem verdammten Hund funktioniert, war der vielleicht in einem besseren Zustand gewesen?

Kaum, dachte Napoleon. Sie hatten das Vieh mit ihren Knüppeln und Füßen bearbeitet, bis kaum mehr als Matsch von ihm übrig gewesen war. Der Käfermann selbst hatte ihm etliche Löcher mit einem spitzen Stock verpasst, und der Hund hatte kaum noch die Kraft gehabt, darauf zu reagieren. Überhaupt nur mit der verzweifelten Anstrengung eines Sterbenden hatte er das präparierte Fleisch fressen können, das Napoleon ihm hingeworfen hatte. Und doch hatte er sich später losgerissen und war über eine drei Meter hohe Mauer gesprungen und hatte den Käfermann innerhalb von Sekunden in den Haufen Fleisch verwandelt, der jetzt vor ihm lag.

Egal, dachte Napoleon. Alles zu seiner Zeit.

Aus dem Mund des Käfermanns quoll eine weitere blasige Wolke aus violettem Schaum. Rosiges Blut aus seiner Lunge, versetzt mit dem blauen Zeug, das in seinem Sterbenden Kreislauf noch ein paar letzte Runden drehte, bevor …

Der Arm des Sterbenden schnellte vor und packte Napoleons Handgelenk, quetschte es mit überraschender Kraft zusammen.

Der Boss der Mickies stieß ein überraschtes Grunzen aus.

Das verbliebene Auge des Käfermanns flog auf, doch seltsamerweise war nur noch das Weiße darin zu sehen, die durchbohrte Pupille war komplett aus dem Sichtfeld verschwunden. Der Käfermann war blind. Das Auge eines Toten, stellte Napoleon fest, erstaunt über seine eigene nüchterne Faszination angesichts dieser Tatsache. Und doch schien der Käfermann ihn direkt anzustarren.

Der Körper des Verletzten bäumte sich auf, er schnappte nach Luft wie einer, der tief getaucht ist und es gerade so bis zur Wasseroberfläche geschafft hat. Ein rasselnder Atemzug und dann entließ er die Luft mit einem langen, furchtbaren Stöhnen wieder aus den Lungen. In Napoleons Ohren klang es wie ein in die Länge gezogenes »Neeeeiiiinnn!«, aber da war er nicht sicher.

Dann sackte der Oberkörper des Käfermanns wieder in sich zusammen, der Griff um Napoleons Handgelenk lockerte sich, und die klamme Hand wurde wieder schlaff und kraftlos. Und damit endete dieser Versuch des Käfermannes, von den Toten aufzuerstehen.

Ziemlich kläglich, fand Napoleon, während er fasziniert die tiefroten Stellen betrachtete, die der Griff des Toten an seinem Handgelenk hinterlassen hatte.

Schließlich warf er das dünne Laken über das Gesicht des Leichnams und legte die Spritze auf dem bedeckten Oberkörper ab.

Schade um das blaue Zeug.

Vielleicht sollte er noch eine aufziehen und sehen, was das brachte? Aber das wäre vermutlich ebenfalls Verschwendung. Der Käfermann war tot, jetzt und für alle Zeit und in das weite Land Leng hinübergegangen, wo der Zeuss seinen Geist fraglos bereits in einen siedenden Kessel geworfen hatte, um ihn mit ek'troischen Blitzen zu quälen. Napoleon schüttelte den Kopf und drehte sich langsam zur Tür um.

Er zuckte zusammen, als er dem Blick des Doc begegnete.

»Scheiße«, entfuhr es ihm, und urplötzlich war die Wut wieder da, als hätte etwas in ihm einen Schalter umgelegt. »Doc«, zischte Napoleon. »Was schleichst du hier so herum, verdammt nochmal, mitten in der Nacht?«

Der Doc sagte nichts, aber sein Blick sprach Bände. Darin lag eine Mischung aus Ekel und Entsetzen, die teilweise dem gelten mochte, das Napoleon mit dem Käfermann angestellt hatte und teilweise … Napoleon selbst, vermutlich.

Der Käfermann hatte demnach die Wahrheit gesprochen, der Doc wusste tatsächlich Bescheid. Über diese Sache mit Napoleons Vater. Und alles andere.

Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war, dass der Doc die Spritze in seiner Handgesehen hatte, und den Schaum vorm Mund des Käfermanns, bevor dieser aufgebrochen war, um in der Wüste namens Leng nach der roten Stadt der Götter zu suchen. Denselben violetten Schaum, den er auch vor dem Maul des Hundes gesehen haben musste.

Der Doc war vieles, aber er war ganz sicher kein Idiot.

»Was zur Hölle treibst du hier?«, flüsterte er.

»Wer zur Hölle will das wissen?«, erwiderte Napoleon.

Der ausgestreckte Arm des Doc deutete auf auf die Spritze, welche auf dem reglosen Oberkörper des Käfermanns lag.

»Was ist das?«, fragte der Doc.

Ja, wenn ich das wüsste, dachte Napoleon und sagte: »Das, Doc, ist ein toter Käfermann.«

»So … so schlimm waren seine Wunden gar nicht … «, stammelte der Doc, den Blick weiterhin starr auf die verräterische Spritze gerichtet. »Er hätte …«

»Hätte was?«, fuhr ihn Napoleon an. »Uns zur Last fallen können? Den ganzen Tag nutzlos im Haus herumliegen können? Sich von uns durchfüttern lassen? Uns mit seinen erfundenen Geschichten über den Waldkrieg auf die Nerven gehen?«

Der Doc starrte ihn an, und Napoleon sah, wie bleich er war, trotz des mickrigen Lichts, das die Fackel im Raum verströmte. Seine Augen waren ganz groß, gleich würden sie bestimmt herausfallen. Napoleon musste grinsen, weil es ihn wieder an die Sache mit dem blinden Huhn denken ließ, das auf dem Hof herumkroch und nach seinen Augen suchte. Der Doc wurde noch ein wenig bleicher, als er Napoleon so grinsen sah.

»Er hätte überleben können«, flüsterte er.

»Vielleicht«, sagte Napoleon und steckte eine Hand in die Tasche seines Kittels. Tastete nach dem Gegenstand darin. Dann ging er noch einen Schritt auf den Doc zu, nur einen kleinen. Und lächelte den Doc an. Nicht zu breit, oder zumindest hoffte er das.

»Du kennst ja unsere Gesetze«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. Und ging noch einen kleinen Schritt, während sich seine Finger um das Skalpell in seiner Tasche schlossen.

»Diese Gesetze« schnappte der Doc, der in seiner Entrüstung gar nicht zu bemerken schien, wie Napoleon ihm gefährlich immer näher kam, »diese Gesetze stammen von deinem Vater. Dein Vater ist gegen den Wald in den Krieg gezogen. Dein Vater hat das alles hier aufgebaut. Dein Vater …«

»Mein Vater … «, sagte Napoleon nachdenklich und ging einen weiteren Schritt auf den Doc zu, »Mein Vater ist tot, nicht wahr?«

4

Nun sah der Doc endlich richtig hin, sah hinter die Augen in der breit grinsenden Maske seines wahnsinnigen Gegenübers. Schwarz und grün, dachte der Doc zusammenhanglos, als der Blitz herabsauste. Das in seinen Augen ist schwarz und grün. Und es bewegt sich.

Der Doc machte einen unbeholfenen Schritt rückwärts, aber es war zu spät. Er stieß gegen einen der Labortische, irgend etwas fiel um und zersprang mit einem lauten Knall. Es zischte und ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Einer der Destillierkolben, dachte der Doc zusammenhanglos, der irgendeine Säure enthielt und …

Ein weiterer Blitz zuckte am Rande seines Gesichtsfelds auf und etwas biss kräftig in seinen Hals. Der Doc wollte schreien, doch aus seiner Kehle drang lediglich ein feuchtes Gurgeln.

In seinem Mund breitet sich ein metallischer Geschmack aus, intensiver noch als der beißende Geruch, der von dem Inhalt des Destillierkolbens stammte, der sich gerade in das Parkett zu seinen Füßen fraß. Eine warme Flüssigkeit schwappte über seine Lippen, rann über sein Kinn und tropfte auf den Boden zu seinen Füßen.

Als der Doc begriff, dass die Flüssigkeit sein Blut war, hatte Napoleons Skalpell die Vorderseite seines Halses bereits zur Gänze durchfahren und den Kehlkopf des Mannes glatt durchtrennt, bevor er es auf der gegenüberliegenden Seite wieder herauszog.

Das ging ganz leicht und mühelos.

Das Skalpell war gut geschliffen.

Der Doc schnappte nach Luft, aber da war nichts, dass er noch hätte atmen können, nur die warme, blasenwerfende Flüssigkeit in seiner Kehle. Er presste seine Hände auf die klaffende Wunde, aus der sein Blut hervorsprudelte. Taumelte rückwärts. Dabei stieß er erneut gegen den Labortisch und stieß irgendetwas um, weitere Glasgefäße zerschellten klirrend auf dem Boden.

Seine Arme streckten sich nach Napoleon aus, der zurücktänzelte, das Skalpell weit von sich gestreckt. Er grinste ein Grinsen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Seine Augen schienen jetzt nur noch aus riesigen Pupillen zu bestehen. Schwarz, so schwarz … und leuchtend grün schimmerte die Iris darin wie der Widerschein eines irren Mondes über einem Tümpel aus Finsternis.

Die Gedanken des Docs verknoteten sich und sein Blick wurde unscharf und dunkel an den Rändern, während er in einer halbherzigen Geste seine Hände schützend vors Gesicht hob.

Erneut biss das kleine, blitzende Tier zu, und trennte zwei Finger von der Hand des Doc, die zu Boden fielen. Er bemerkte es nicht einmal.

Sterbend taumelte er rückwärts, glitt in seinem eigenen Blut aus, fing sich wieder, und versuchte verzweifelt, sein Gleichgewicht zu halten, während ein Blutstrom zwischen den Fingern hervorquoll, die er immer noch auf seinen Hals presste.

Sein rechter Fuß zuckte vor und er kippte weg, als hätte ihm jemand einen Teppich unter den Füßen weggezogen. Sein Hinterkopf knallte schwer auf die Kante des Labortischs, sein Kinn krachte auf seine Brust.

Der Doc rutschte zusammen, sein Kopf sackte nach vorn, und er fiel auf die Knie, die Arme baumelten nutzlos an seinen Seiten herab. In dieser Position verharrte er, während er versuchte, seine Hände wieder an den Hals zu heben, wo der Blutstrom langsam versiegte.

Doch er hatte keine Kraft mehr dazu.

5

Der Doc hob ein letztes Mal den Kopf, unbegreiflicherweise, und der Schlitz in seinem zerfetzten Hals öffnete sich, als versuche er, durch den neuen Mund zu sprechen, den Napoleon ihm gemacht hatte. Ein blutig rotes, zahnloses Grinsen mitten auf seinem Hals. Poetisch, fand Napoleon das, und interessant.

Aber dann blieb er doch stumm, der Doc.

Er starrte Napoleon noch eine Weile an, während der neue Mund gurgelnd und blubbernd ein letztes bisschen Blut ausspuckte. Dann war auch das vorbei.

Der Doc kniete immer noch vor Napoleon auf dem Boden, doch aus seinen Augen war jedes Leben gewichen. Seine Arme hingen schlaff zu beiden Seiten des zusammengesunkenen Körpers herab, so als kniee er staunend zu Füßen einer mystischen Erscheinung. Einem Gott, vielleicht.

Ja, dachte Napoleon. Einem Gott. Warum nicht?

Napoleon ging um den knienden Leichnam herum, schob ihm seine Hände unter die Achseln und schleifte den Körper in den hinteren Bereich des Labors. Dort öffnete er einen der Schränke und stopfte den toten Doc hinein.

Dann ging er hinüber zur Leiche des Käfermanns und nahm die leere Spritze vom Laken. Er öffnete das schwarze Kästchen und entnahm ihm die zweite Phiole, entfernte den Gummipfropfen, der sie verschloss und zog die Spritze dann erneut mit dem blauen Zeug auf.

Die kleine Episode mit dem Doc eben hatte ihn nämlich auf eine neue Idee gebracht. Was, überlegte Napoleon, würde wohl passieren, wenn man das Zeug in den Röhrchen jemandem spritzte, der noch richtig am Leben war?

Zufälligerweise, oder auch nicht, wartete auch gleich nebenan jemand darauf, dass er seine neue Idee ausprobierte.

Genaugenommen warteten sogar zwei.

6

Das Mädchen, das er Morrow nannte, war noch immer nicht erwacht. Hin und wieder, während der Junge fieberhaft an seinen Fesseln gezerrt und darauf herumgebissen hatte, war sie beinahe zu sich gekommen, hatte ein tiefes Seufzen von sich gegeben und war dann sofort wieder ohnmächtig geworden.

Aber jetzt waren Schritte auf dem Gang zu hören.

Der Junge riss an den Fasern des Seils, bekam einen Finger zwischen zwei Seilenden, wo sie zu einem Knoten zusammenliefen. Etwas im Inneren des Knotens riss und der Druck um seine Handgelenke löste sich ein wenig, aber nicht vollständig.

Der Junge biss erneut zu.

Die Schritte kamen näher.

Der Junge zerrte an der entstandenen Schlaufe, das Seil flutschte unter seinen Fingern weg, und das Blut schoss zurück in seine tauben Hände. Tausend kleine Nadeln pieksten und prickelten in den Innenflächen seiner Hände, die sich anfühlten wie ein Paar großer Ballons.

Er knabberte mit verzweifelter Hast an dem Seil, als die Schritte vor der Tür zu ihrem provisorischen Gefängnis stehenblieben.

Jemand fummelte einen Schlüssel in das Schloss der Tür, kratzte mit dem Bart des Schlüssels über das Metall rund um das Schlüsselloch, und noch immer waren die Hände des Jungen nicht ganz heraus aus seinen Fesseln.

Erneut riss er an der Schlaufe in seinem Mund, und brachte zustande, dass das Seil nun seine Handballen umschloss anstatt seiner Gelenke.

Dann steckte er erneut fest.

Der da draußen auf dem Gang stieß einen Fluch aus, etwas fiel zu Boden, klirrte metallisch und wurde wieder aufgehoben. Der Schlüssel. Kurz darauf machte er sich wieder an dem Schloss zu schaffen.

Der Junge biss in seinen Handballen, etwas oberhalb des Seils und sofort quoll das aufgestaute Blut daraus hervor. Erneut biss er zu, spürte, wie sich die glitschige Wärme zwischen seinen zusammengepressten Händen ausbreitete, und dann, endlich, konnte er seine Hände ein Stück aus dem Seil herausziehen.

Der Schlüssel fand das Schloss erneut, drehte sich darin, es klackte vernehmlich und dann flog die Tür auf – genau in dem Moment, da der Junge seine Hände aus der Schlaufe des Seils freibekam.

Dann kam das Feuer über ihn.

Das unerwartet grelle Licht der Fackel fuhr dem Jungen schmerzend in sein unversehrtes Auge, und er wich strampelnd zurück, rutschte auf seinem Rücken zurück in die Ecke, in der er gefesselt gelegen hatte. Hinter der Fackel war ein Mensch aufgetaucht, eine große, breitschultrige Gestalt, in der einen Hand das grelle, flackernde Licht, in der anderen einen metallisch glänzenden Gegenstand.

Klein und mit einer gefährlich funkelnden Spitze am nach oben gerichteten Ende.

Mit einem missmutigen Grunzen fuhr Napoleon zu dem Jungen herab, der sich instinktiv zur Seite fallen ließ und in einer drehenden Bewegung unter der Fackel wegtauchte, so knapp, dass die Hitze seine Haut ansengte.

Aber der Junge spürte den Schmerz nicht, Napoleon ließ ihm keine Zeit dazu.

Der Junge stieß mit seiner Schulter gegen die hintere Wand des Raumes und kam dort torkelnd auf die Beine. Seine Hand schnellte vor und traf den auf ihn einstürmenden Gegner noch im Laufen am Brustbein, was diesen zurücktaumeln ließ, jedoch eher vor Überraschung als von der tatsächlichen Wucht des Schlags.

Irgendwo im linken Gesichtsfeld des Jungen sauste erneut das Feuer heran. Er bog seinen Oberkörper blitzschnell zurück.

Der Stiel der Fackel erwischte den Jungen an der Schläfe, etwas knackte hörbar und die Welt zerbarst in unzählige rot flimmernde Sterne, dann kippte sie nach oben weg.

Der Junge schüttelte den Kopf, um die rotflimmernde Schwärze vor seinen Augen zurückzudrängen, dann rappelte er sich auf, gerade, als Napoleon die Hand mit der Fackel zu einem erneuten Schlag anhob. Gleichzeitig fuhr seine Linke nach vorn.

Der Junge erblickte für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht mit dem unnatürlich starren Grinsen. Eine Maske, schoss es durch den Kopf des Jungen, sein Gesicht ist nichts als eine Maske. Und dahinter lauern grüne und schwarze Würmer, die übereinanderkriechen und seinen Geist vergiften, immerfort.

Genau wie bei Onkel Ruggs. Und genau wie bei Ruggs ist ihre Arbeit beinahe vollendet.

Aus dem Augenwinkel sah der Junge ein silberglänzendes Geschoss auf sich zufliegen – in einer verzweifelten Bewegung warf er seinen Oberkörper herum und landete unsanft auf Morrows immer noch bewusstlosen Körper.

Napoleon setzte ihm nach, trieb ihn tiefer in die Ecke des Raumes, aus der es kein Entkommen gab. Der Mickie hob erneut die Spritze, um sie in den Körper des Jungen zu jagen. Panisch krabbelte der Junge zurück, doch da war nichts als die unnachgiebige Wand.

Napoleon drehte die Spritze in seiner Hand so, dass er den Glaskörper mit vier Fingern umfassen konnte, und drückte seinen Daumen fest auf den Druckstempel am oberen Ende, um ihn in dem Moment, da sich die Kanüle im Fleisch des Jungen versenkte, bis zum Anschlag hineinzudrücken.

Allerdings kam er nie dazu, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn in diesem Moment legten sich die zerfetzten Überreste von etwas, das einmal ein Arm gewesen war, um den Hals des Mickie-Bosses und rissen ihn überraschend kraftvoll zurück.

Knochen, an denen das Fleisch herabbaumelte wie Klumpen halbfertigen Teigs, legten sich mit einer Kraft um seinen Körper, die sie eigentlich nicht hätten haben dürfen. Sehnen und Fasern von Fleisch fanden sich neu zusammen, verbanden sich zu grotesken, flüchtigen Strukturen und zerfielen wieder, als seien sie in einen Kampf mit sich selbst verwickelt – Einen Kampf zwischen Vergehen und Entstehen, bei dem das Vergehen die Oberhand zu gewinnen schien.

Dennoch bewegte es sich.

Das Ding, das Napoleon gepackt hielt, brüllte aus einer unmenschlichen Kehle, aus der kein Laut mehr hätte dringen dürfen und zog ihn dann mit einem Ruck fort von der Tür, hinaus auf den Gang. Napoleon hieb seine Faust, die aufgezogene Spritze noch immer in der Hand, nach hinten, wo er seinen Gegner vermutete. Sein Ellenbogen krachte in den Brustkorb des Leichnams, morsche Knochen zerbarsten unter der Wucht des Aufpralls, doch sein Gegner schien davon völlig unbeeindruckt.

Napoleon versuchte ein weiteres Mal, sich aus der eiskalten Umklammerung des Toten loszureißen, und in dem Gerangel achtete er nicht mehr auf die Spritze in seiner Hand. Er geriet für einen Moment aus dem Gleichgewicht und stolperte, die offene Spritze noch immer fest umklammert.

Bevor er überhaupt begriff, was passiert war, hatte er sich die Kanüle bis zum Anschlag in seinen eigenen Oberschenkel gejagt. Von der Wucht der Bewegung angetrieben drückte er den Stempel nieder, bis er den gesamten Inhalt der Spritze in sein Bein geschossen hatte. Die Kanüle brach ab und der Rest der Spritze fiel zu Boden, wo das Glas mit einem leisen Klirren zersprang. Napoleon stieß einen unmenschlichen Schrei aus, der sich mit dem Brüllen des Leichnams vermischte, als die sengende Hitze in seinem Bein explodierte und von dort in seinen gesamten Körper spülte.

Der Leichnam verdoppelte seine Anstrengungen.

Die Kämpfenden gerieten ins Wanken, flogen gegen eine Tür und stolperten, immer noch ringend, in den Raum dahinter. Eine Wolke beißenden Gestanks drang aus dem Raum in den Flur. Napoleon schnaufte und der Leichnam brüllte gurgelnd, als sie im Schein der Fackel ihren seltsamen Tanz fortsetzten.

Die Kämpfenden krachten gegen das Regal in der Nähe der Tür, rissen ein paar große Glasbehälter um, deren Inhalt sich spritzend über den Fußboden ergoss.

Achtlos zerstampften sie zerborstene Glasbehälter und Laborgerätschaften, während sie tiefer in den Raum und in die wabernden Dämpfe hineinstolperten. Die Luft, die Napoleon keuchend einsog, verwandelten seine Lunge in ein beißendes Inferno der Schmerzen. Napoleon hustete, die Sicht verschwamm vor seinen tränenden Augen.

Dennoch kämpfte er verbissen weiter.

Das musste er, denn der Leichnam des Käfermannes ließ ebenfalls nicht locker. Der Leichnam des Käfermannes hustete nicht. Und er hatte auch keine Augen mehr, die hätten tränen können.

7

Der Junge stand auf und schüttelte den Rest seiner Benommenheit ab, während er den Geräuschen draußen auf dem Gang lauschte. Dann stemmte er sich gegen die Wand, packte Morrows Handgelenke und zerrte sie vom Boden hoch. Das Mädchen war immer noch ohnmächtig und so wuchtete der Junge sie einfach auf seine Schulter.

Sie war erstaunlich leicht. Viel leichter als Ruggs Tasche, als er aus dessen Haus geflohen war, vor vielen Jahren. Und seitdem war der Junge größer geworden, und kräftiger. Viel kräftiger.

Dann rannte er los.

Die Geräusche aus dem Zimmer mit der zerborstenen Tür hielten an, der Junge hörte das Keuchen und Schnaufen, aber das stammte nur von Napoleon. Der andere kämpfte geräuschlos. Keiner der beiden achtete auf den Jungen, als der in den Raum rannte und sich die schwarze Schachtel schnappte, die er auf einem der Labortische entdeckt hatte. Die Medizin. Genau in diesem Moment fing das linke Bein des Käfermanns Feuer.

Der Junge rannte zurück in den Flur, Morrow auf seinen Schultern, eine Hand auf ihren Mund gepresst, wegen der Dämpfe. Als sie das Ende des Gangs fast erreicht hatten, hörte er die polternden Schritte weiterer Mickies, welche die Treppe heraufstürmten, alarmiert von den Geräuschen und Gerüchen aus dem Labor.

Der Junge drückte sich mit seiner Last in die Türflucht zum letzten Raum vor der Treppe, und die Mickies stürmten an ihm vorbei auf das Labor zu, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie hasteten, verwirrte und aufgeregte Rufe ausstoßend, den Gang entlang zum Labor. Ihre Rufe gingen in Keuchen und Husten über, als sie die Tür erreichten.

Plötzlich gab es einen dumpfen Knall und eine riesige Flamme schoss mit lautem Fauchen in den Flur, erwischte einen Mickie, der direkt vor der Tür stand, und daraufhin in ein unmenschlich hohes Kreischen ausbrach. Der Mann drehte sich um und lief blindlings auf seine panisch fliehenden Kameraden zu, während Alles in einer Wolke von beißendem, schwarzen Rauch und grellen Flammen unterging.

Der Junge riss Morrow mit sich fort, die Treppe hinab, fort von der sengenden Hitze des oberen Stockwerks. Ein weiterer der Mickies kam ihm entgegen, ein Nachzügler, der die Treppe nach oben sprinten wollte, doch in der Dunkelheit konnte er den Jungen nicht sehen.

Der ihn jedoch schon. Bevor er wusste, was geschah, flog der Mickie durch das marode Holzgeländer und schlug kurz darauf ein Stockwerk tiefer auf, wo er mit gebrochenem Genick liegenblieb.

Der Junge stürmte weiter.

Überall im Gebäude wurden Türen aufgestoßen, und entsetzte Mickies taumelten schlaftrunken daraus hervor, viele in nichts gekleidet außer ihre schmutzigen Unterhosen. Verschlafene Stimmen riefen sich sinnlose Fragen und Befehle zu, bis sie endlich begriffen, dass etwas nicht stimmte.

Dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Und dann der erste Ruf von oben: »Feuer! Feuer!«

Diejenigen, die das Inferno im oberen Stockwerk bis jetzt überlebt hatten, stürmten ihrerseits die Treppe hinab, stolperten über Hindernisse und liefen in ihre panisch durch die Finsternis stolpernden Kameraden hinein.

Die Treppe, durch deren Geländer der Junge den Mickie gestoßen hatte, fing Feuer. Sie gab nach und sauste mit allen, die sich darauf befanden, in das Stockwerk darunter.

Den Mickies, die sich jetzt noch oberhalb dieser Treppe befanden, wurde auf diese Weise der Weg nach unten abgeschnitten. Einige sprangen in panischer Verzweiflung in die Tiefe, brachen sich Arme und Beine und verletzten mit ihrem Aufprall diejenigen, die dort unten schreiend durch das rasende Inferno taumelten.

Der Junge stürmte weiter voran.

Schließlich erreichten die Flammen das untere Stockwerk. Endlich begriffen auch die Mickies, dass sie nach unten mussten, wenn sie leben wollten, zur einzigen Tür, die hinaus aus dem Gebäude führte.

Der Junge spürte die Welle ihrer Schmerzen, die sich hinter ihm zusammenballte und auf ihn zurollte – eine Flutwelle der Verzweiflung. Er war sich nicht sicher, ob er das Auftreffen dieser Welle auf seinen Geist überstehen würde, aber er war ziemlich sicher, was passieren würde, wenn die Mickies ihn einholten, bevor er die Tür erreichte.

Er rannte weiter.

Im Erdgeschoss endete die Treppe in einem kurzen Gang, und dieser wiederum führte zu einer massiven Stahltür, von der der Junge annahm, dass sie auf den Innenhof hinausführte.

An der Tür war ein Knauf. Der Junge drehte ihn in beide Richtungen. Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter. Er rüttelte an dem Knauf und trommelte mit seinen Fäusten gegen die Tür, warf sich mit der Wucht seines Körpers dagegen, während die fliehenden Mickies hinter ihm heranstürmten, das Feuer dicht auf ihren Fersen.

Die Tür blieb verschlossen.

8

Der Junge riss noch einmal an dem Knauf, aber die Tür gab nicht nach. Stattdessen wurde jetzt von der anderen Seite dagegen gewummert und eine ungeschlachte Stimme polterte:

»Was'n da drin los? Was rennste so gegen die Tür an, Mann?«

Eine gute Frage, auf die ihm der Junge jedoch kaum wahrheitsgemäß antworten konnte, ganz davon abgesehen, dass Reden nicht eben zu seinen Stärken zählte. Er warf einen Blick auf Morrow, die schwach und schläfrig über seiner Schulter hing, kaum bei Bewusstsein. Aus ihrer Nase lief ein dünner Blutstrom.

Der Junge holte tief Luft und presste sie beim Ausatmen durch seine Kehle, während sein Mund versuchte, so etwas wie Worte zu formen.

»Feuer! Feuer!«, wollte er rufen, wie er es oben gehört hatte.

»Ö-hrr! Ö-hrr!«, war in etwa das, was dabei herauskam.

Aber es genügte. Hastige Schritte auf der anderen Seite der Tür entfernten sich und kamen dann im Laufschritt zurück.

»Scheiße auch! Scheiße!«, rief der Mann immer wieder, während er mit dem Schlüssel im Schloss herumfuhrwerkte. Offenbar hatte er zu einem der Fenster hochgespäht und den Feuerschein bemerkt. Es knackte und ein schwerer Riegel im Inneren der Tür fuhr zur Seite. Die Tür schwang auf, frische Luft strömte in den Gang und wurde von der Hitze im Inneren des Gebäudes förmlich aufgesaugt.

Der Junge hörte die Mickies hinter sich schreien, als der Feuersturm sie erfasste. Bevor die erste der taumelnden Gestalten die Tür erreicht hatte, waren er und das Mädchen schon draußen, in der stockdunklen Nacht. Er warf die Tür hinter sich zu, hörte, wie sie schwer ins Schloss fiel und irgendetwas in ihrem Inneren einrastete. Er starrte in ein bulliges Gesicht, aus dem riesige, staunende Augen hervorquollen, als sie den Jungen erblickten.

»Was zur Hölle …«, sagte der Mann und hob seine stachelbewehrte Keule, wie er es vor ein paar Stunden schon einmal auf dem Dach des Hauses getan hatte.

Aber diesmal war der Junge schneller.

Bevor der Posten noch richtig zum Schlag ausholen konnte, hatte die kräftige Rechte des Jungen den Schaft der Keule gepackt und dem Bulligen aus der Hand gerissen. Gleichzeitig schnellte sein Knie vor und traf mit voller Wucht in die Weichteile des Mannes, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenkrümmte und zu Boden ging.

Die Keule folgte ihm beinahe zeitgleich – der Junge erwischte ihn mit der stachelbewehrten Seite am Hinterkopf, dann riss er die großen Widerhaken der Waffe aus dem Schädel und schlug nochmals zu, diesmal mit der stumpfen Seite. Bis er sicher war, dass der Mickie nie wieder aufstehen und irgendwelche Türen öffnen würde.

Dann stemmte er die Keule unter den Knauf der Stahltür und rannte los.

Als der Junge und seine Last in den Schatten zwischen den Ruinen auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschwanden, stand das Gebäude hinter ihm bereits in hellen Flammen. Schreie waren keine mehr zu hören, nur doch das gelegentliche Splittern von berstenden Balken, und ein lautes Krachen, als das oberste Geschoss vollständig in sich zusammenfiel.

Aus den Häusern entlang der Straße kamen ihnen ein paar verschlafene Bewohner entgegen, aber keiner beachtete sie oder machte Anstalten, sie aufzuhalten, oder gar den Menschen in dem brennenden Haus zu Hilfe zu eilen.

Der Widerschein des lodernden Feuers schälte die Konturen ihrer Körper bronzefarben aus der Dunkelheit und jetzt erinnerten sie den Jungen ein wenig an den aufgehängten Steinmenschen in der Kreuzhalle. Mit offenen Mündern starrten die Bewohner des Viertels auf das Spektakel, das sich ihren Augen bot, bis von dem Haus der Mickies nichts weiter als rauchende Trümmer übrig waren.

Der Junge aber rannte, bis ihn die Schwärze der Nacht über den Ruinen verschlungen hatte.

9

Der Junge hatte das Mädchen die ganze Strecke getragen, von der Stadt bis zur Mitte des schwarzen Waldes. Es war ein erschöpfender Marsch gewesen und die Kräfte des Jungen waren am Ende.

Er bettete den Kopf des Mädchens auf seiner Tasche und umwickelte ihren zitternden Körper fest mit der Decke aus dem Versteck. Dann öffnete er die Schachtel, die er aus dem brennenden Labor der Mickies mitgenommen hatte. Zwei der Röhrchen waren noch darin und er flößte ihren Inhalt dem Mädchen ein, das die blau schimmernde Flüssigkeit gierig trank.

Sekunden später war sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Der Junge rollte sich neben Morrow zusammen und schlang seine langen, sehnigen Arme um seine Knie, während er an die letzten Worte seiner Mutter dachte.

Beschütze sie, weil es wichtig ist.

Und das hatte er getan.

Er hatte sie beschützt und ihr die Medizin besorgt. Das weitere Schicksal des Mädchens namens Morrow lag nun ganz allein in den Händen des Zeuss.

Ein paar Augenblicke später schlief auch der Junge ein.

10

DER SPATZ IN DER HAND

Das, was sich durch die Kanäle unter der Stadt schleppte, hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Boss der Mickies. Und eigentlich war Napoleon auch niemandes Boss mehr, denn die Mickies hatten sich vor ein paar Stunden sozusagen komplett in Rauch aufgelöst.

Er war der einzige, der noch übrig war von den einstigen glorreichen Herrschern der Welt diesseits des Walls und runter bis zum Kanal. Der letzte derer, die gegen den Wald gekämpft und die Brothers-Gang vernichtet hatten. Doch auch er war jetzt wenig mehr als ein verkohlter Haufen Fleisch.

Aber er war Fleisch, das sich bewegte – wenn auch mühsam, schmerzvoll und unendlich langsam.

Zentimeter für Zentimeter schleppte er sich voran. Einfach nur vorwärts, durch knöchelhohen Schlamm und träge fließendes Brackwasser, ohne ein Ziel und ohne die geringste Orientierung. Fleisch, das von seinen Knochen tropfte, zu neuen Formen gerann und wieder verging. Er bekam es kaum mit.

Das Lid seines rechten Auges war zusammengebacken und auf dem linken nahm er wenig mehr als zerlaufende Schemen in der Dunkelheit des Ganges wahr. Unter seinen Fingern und Knien zerlief glitschige Feuchtigkeit am Rande seiner Wahrnehmung. Da waren Schmerzen, die wie von Ferne in seinen tauben Geist eindrangen. Schmerzen, die nicht zu seinem Körper zu gehören schienen, sondern zu dem eines Anderen.

Er wusste nicht mehr, wie oft er das Bewusstsein schon verloren hatte und in dem stinkenden Morast zusammengebrochen war. Er hatte giftiges Wasser geschluckt, es hustend wieder ausgespien, sich erbrochen, war wieder ohnmächtig geworden.

War weitergekrochen.

Die Ratten.

Die Ratten waren jedes Mal ein Stück näher gekommen, vermutlich in der Hoffnung auf eine leichte und ergiebige Beute. Das Rudel folgte ihm seit einiger Zeit, eine dichte, graue Masse borstigen Fells mit unzähligen spitzen Zähnen und winzigen, messerscharfen Krallen.

Die Nager holten sich manchmal kleine Stücke aus seinem Körper, während er bewusstlos war. Eine von ihnen hatte sich in seinen Oberschenkel verbissen und er schleppte das kleine, fiepsende Bündel schon seit ein paar Metern durch den Gang, bevor es schließlich abfiel und davonstob, einen fetten Batzen knusprig gebratenen Fleisches im Schnäuzchen.

Mit lautem Fiepen stürzte sich der Rest der Meute auf das geraubte Fleisch.

---ENDE DER LESEPROBE---