Vergessene Götter - L.C. Frey - E-Book

Vergessene Götter E-Book

L.C. Frey

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Beschreibung

In unserer Welt des Jahres 2005 sieht sich Professor Chomsky physikalischen Problemen gegenüber, die das Ende der Welt bedeuten könnten. Sarah Barretts Verlobter David Vaughn ist inzwischen ein Bestseller-Autor und schlachtet Verschwörungstheorien für seinen Erfolg aus, doch nie war er unglücklicher, denn er hat das Trauma, das Sarahs Verschwinden im Jahr 1990 bei ihm auslöste, nie überwunden. Der Junge beißt auf eine harte Nuss und erlangt eine Erkenntnis, auf die er lieber verzichtet hätte. Eine friedvolle Glaubensgemeinschaft stellt sich als etwas gänzlich anderes heraus. Im Auge des Sturms, wo die Zeit selbst stillsteht, löst Morrow das Rätsel der Erinnerung - und gerät an einen wundersamen Ort, an dem es noch echte Helden gibt. H. H. Holmes hat ein Palaver und räumt mit den Illusionen der Verblendeten auf. Ein Möchtegern-Gott wird in seine Schranken verwiesen und der Junge sieht sich unverhofft mit alten Bekannten konfrontiert - und mit dem Tiger aus Onkel Ruggs Käfig.

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VERGESSENE GÖTTER

DIE RIFTWELT-SAGA

L.C. FREY

Band 4

IMPRESSUM

Copyright © 2021 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: L.C. Frey, unter Verwendung von ©Grand Failure, https://stock.adobe.com

2202.17.1850

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten, Unternehmen und Produktmarken sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Gleichwohl kommen in der Handlung dieses Buches Personen und Zusammenhänge von historischer Bedeutung vor. Der Autor bemüht sich, diese Fakten nach bestem Wissen respektvoll zu behandeln, sie werden jedoch im Kontext dieses Buches frei ausgelegt. Der Autor distanziert sich von einer historischen oder sonstigen Deutung von geschichtlichen und anderweitigen Ereignissen und Zusammenhängen.

Dieses Werk ist reine Fiktion.

Noch.

WAS BISHER GESCHAH

Morrow und der Junge erwachen auf einer malerischen Wiese, nachdem sie dem Hotel entkommen sind. Doch schon bald sind sie wieder auf der Flucht. Nachdem sie die Hütte des alten Sloat finden, erreicht sie die Wut von H. H. Holmes, der inzwischen begriffen hat, dass Morrow mehr ist als ein Mädchen, das seine Erinnerungen verloren hat, doch noch ist der Geist des irren Killers zu schwach, um das Hotel verlassen zu können. Er schickt Napoleon aus, die dafür nötigen Seelen in Form von Menschenopfern zu besorgen, was dieser schließlich tut, nachdem das Hotel jeden Widerstand in seiner »Fleischpuppe« Napoleon gebrochen hat.

Auf ihrer Wanderung durch die Wüste verliert Morrow die Orientierung und findet ihre Freundschaft zu dem Jungen wieder, und beide treffen auf einen seltsamen silbernen Turm, der einen schrecklichen Bewohner hat, während Morrow neue Erinnerungsfetzen in ihrem Gedächtnis findet und dem Jungen erste zaghafte Worte entlockt. Nur mit knapper Not entkommen die beiden einem geisterhaften Zirkus, wo ihnen das Orakel Ariadne eine rätselhafte Prophezeiung macht, nachdem sie sich im Spiegellabyrinth selbst erkennen mussten und in der Wüste einen neuen, pelzigen Freund finden.

Indes folgt ihnen Holmes, dessen Geist inzwischen ganz von Napoleon Besitz ergriffen hat, in die Wüste, und das schwarze Hotel schließt für immer seine Pforten. Der irre Zauberer kommuniziert mit Gewürm und Insekten und hetzt einen gigantischen Sandwurm auf die Spuren von Morrow und dem Jungen, welcher den Jungen verletzt, woraufhin dieser in ein Koma fällt. Verlassen von aller Hoffnung werden die beiden von einem Mann mit einem Monster Truck aufgegabelt, der sie in ein grünes Tal in den Bergen bringt, wo die »Kinder der Göttin« sich an köstlichen Speisen laben und sich der heiligen Meditation hingeben. Morrow findet schnell neue Freunde und Gefallen am friedlichen Leben inmitten der Gemeinde. Doch auch diese scheinbare Idylle ist trügerisch ... und Holmes ist ihnen näher als je zuvor.

Karte der Riftwelt © Franz Alken

2005 // HIER

NEUBAU DES MURNAUER LABORKOMPLEXES

Professor Chomsky starrte auf die Monitore. Auf die, welche das Drinnen anzeigten, und denjenigen, der in rasch wechselnder Folge Bilder vom Draußen sehen ließ. In Schleife geschnittene Nachrichten vom sogenannten Weltgeschehen. Chomskys Blick verweilte flüchtig auf der Rede irgendeines Präsidenten in irgendeinem Zwergenstaat im fernen Osten, der mit Vergeltungsmaßnahmen an der Bevölkerung drohte (vermutlich der des benachbarten Zwergenstaates, aber vielleicht auch seiner eigenen, wer konnte das schon so genau wissen?), falls Uncle Sam sich nicht auf der Stelle aus dem fraglichen Gebiet zurückzöge.

Schnitt.

Irgendwo in New York war mal wieder ein Wolkenkratzer in die Luft geflogen, man vermutete ein Sprengstoffattentat einer Gruppe christlich-militanter Weltuntergangsfanatiker, stand in der Laufschrift untendrunter zu lesen. Alles beim Alten, also.

Schnitt.

Einem Pharmakonzern drohten empfindliche Strafen, weil er eine Antibabypille herausgebracht hatte, die bei über einhundert jungen Frauen zu Lungenembolien geführt hatten. Etwa ein Dutzend Todesfälle waren bisher bekannt geworden, man vermutete eine weit höhere Dunkelziffer.

Und so weiter und so weiter.

Merkwürdig, dachte Chomsky, beinahe schien es, als folge die gesamte Menschheit einem spontanen Impuls der Selbstvernichtung. Ahnte das kollektive Bewusstsein vielleicht gar, womit sie sich hier unten, elf Stockwerke unter der Erde herumschlugen – und wie miserabel ihre Chancen dabei standen? Chomsky war noch nie ein großer Anhänger der Psychotherapie gewesen, glaubte sich aber an irgendwelche gewagte Thesen zu erinnern, das kollektive Bewusstsein der Masse betreffend. Die Menschheit ein einziges, großes Tier, dessen Wissensdurst nur noch von seinem Hang zur Vernichtung übertroffen wurde. Wer hatte das gesagt? Freud? Jung? Karl Marx?

Nun, es spielte ohnehin keine Rolle mehr.

Wie viele Jahre blieben ihnen wohl noch, bestenfalls, um das Geheimnis der Singularitäten zu lüften? Zehn, fünfzehn? Eher weniger, sagten die Prognosen, aber die waren in etwa so verlässlich wie jemanden mit einer Kristallkugel zu befragen. Niemand war wirklich in der Lage, vorherzusagen, was die Singularitäten wann tun würden, niemand konnte einen Grund für ihr abnormales Verhalten benennen. Niemand hatte einen Ansatz für ein mathematisches Modell ihres Auftauchens gefunden, kein Muster, gar nichts.

An manchen Orten breiteten sich die schwarzen Löcher im Schneckentempo aus. Was gut war, denn es gab Chomskys Abteilung ausreichend Zeit, einen plausiblen Grund zu erfinden, um die betroffenen Gebiete schnellstens evakuieren zu können. Meist ging es dabei um irgendwelche Strahlenverschmutzung im Grundwasser – das glaubten die Leute fast immer.

Manchmal zogen sich die schwarzen Löcher aber auch einfach in sich zurück, fielen zusammen, waren verschwunden, als hätten sie nie existiert, und ließen höchstens ein paar Krater zurück. Manchmal große, wie im Fall der ersten Murnauer-Labore in Nevada damals, manchmal auch welche, die kaum größer waren als der Grundriss eines kleines Hauses.

Chomskys Blick schweifte hinüber zu den anderen Bildschirmen, welche verschiedene Bereiche der neuen Labore zeigten. Diesmal war das Unternehmen, sehr zu Murnauers Missfallen, gleich von Anfang an unter militärische Beobachtung gestellt worden, ein notwendiges Übel nach dem Fiasko von 1990.

Chomsky strich sich über den Kopf. Er war kahl geworden in den vergangenen fünfzehn Jahren, und er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, diese Tatsache mittels einer geeigneten Frisur zu kaschieren. Wozu auch? Er verließ die Labore ja ohnehin kaum noch und in Washington kümmerte es keinen, wie man sein Haar trug, solange man es schaffte, sich in einen Anzug zu quälen und irgendwelches dummes Zeug zu erzählen, dass danach klang, als bestünde Anlass zu einer irgendwie gearteten Art von Hoffnung. Vermutlich wussten selbst die Holzköpfe in Washington längst Bescheid, und hörten ihm einfach nur gern dabei zu, wie er sich und ihnen gleichermaßen Mut zu machen versuchte. Was hatten sie denn auch für eine Wahl?

Fakt war, alle Anstrengungen, all die zahllosen schlaflosen Nächte, all das Geld und alle Vorstöße in diversen Gebieten der Medizin und Physik hatten ihr Problem nicht lösen können, hatten es nicht einmal vermocht, es ihnen auch nur ein bisschen begreiflicher zu machen.

Was das betraf, hatten sie exakt den Stand, den sie ein Jahr nach Sarah Barretts Verschwinden in der ersten Singularität gehabt hatten, damals in Nevada: Schwarze Löcher tauchten aus unerfindlichen Gründen an nicht vorherzubestimmenden Orten auf. Anfangs meist nicht größer als ein Stecknadelkopf, breiteten sie sich nach und nach aus, bis es schließlich irgendwem auffiel, und sie einschreiten mussten, das Militär hinschickten und das Gebiet unter irgendeinem Vorwand räumen ließen und es absperrten. Danach breitete sich das betreffende schwarze Loch weiter aus, oder auch nicht. In jedem Fall gab es absolut nichts, das sie dagegen tun konnten.

Selbst der Versuch, die Geschwindigkeit ihres Wachstums zu bestimmen, war ins Leere gelaufen. Linear? Exponentiell? Logarithmisch? Fehlanzeige. Wenn das Wachstum der Löcher irgendeinem Muster folgte, dann war ihnen dieses bis heute verschlossen geblieben, genauso wenig, wie es ihnen gelungen war, eins der Löcher im Labor erneut und unter kontrollierten Bedingungen selbst herzustellen.

Sie hatten sogar eine zweite, verbesserte Tesla-Maschine gebaut. Mittlerweile arbeiteten über einhundert Wissenschaftler rund um die Uhr an nichts anderem als daran, eine Lösung für das Problem der Löcher zu finden, und das waren allesamt Spitzenleute auf ihrem Gebiet, um welches Gebiet auch immer es sich dabei handeln mochte. Mittlerweile beschränkten sich die Forschungen längst nicht mehr auf rein physikalische Zusammenhänge, sie hatten sogar Priester hier, Tora-Gelehrte und vermutlich auch ein paar Sufi-Mystiker. Die Definition eines bunt zusammengewürfelten Haufens, und für Chomsky ein sicheres Zeichen, dass die allgemeine Panik sich auch schon des militärischen Führungsstabs bemächtigt und ihn fest im Griff hatte.

Chomskys Aufgabe bestand zu seinem Leidwesen mittlerweile hauptsächlich darin, all die unterschiedlichen Abteilungen zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass sich die Vertreter gegensätzlicher Ansichten nicht ständig gegenseitig an die Gurgel gingen, während sie versuchten, den Ablauf der Apokalypse möglichst präzise vorauszusagen. Manchmal glaubte Chomsky, das Ganze wäre in einem Zirkus besser aufgehoben. Es wäre brüllend komisch gewesen, wenn es nicht so verdammt beängstigend wäre. Das Projekt verschlang derweil Monat für Monat Unsummen und auch das war ein Aspekt der Geheimhaltung, über den Chomsky nur staunen konnte.

Obwohl die Welt ständig von einer Finanzkrise in die nächste taumelte, war offenbar mehr als genug Geld vorhanden, um die Forschungen und die nötige Geheimhaltung zu finanzieren, inklusive des Abriegelns der von Löchern betroffenen Gebiete, verbunden mit jeder Menge Bestechung und Einschüchterung und militärischer Elitetruppen, die bei Bedarf scheinbar aus dem Nichts auftauchten.

Wir sind im Grunde wie die Mafia, hatte Willis einmal nach ein paar Bieren aus dem Laborkühlschrank zu ihm gesagt, nur stehen uns etwas bessere Mittel zur Verfügung. Chomsky hatte schon vor einer Weile begriffen, dass Willis das nicht einmal halb im Scherz gemeint hatte. Und dann hatten sie damit begonnen, die schwarzen Löcher zu benutzen, mit ihnen zu experimentieren. Sie hatten Gegenstände hindurchgeschickt, dann Tiere und schlussendlich sogar Menschen. Soldaten, bestens ausgebildet und von tadelloser Gesundheit, die sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet hatten, wohl wissend, dass sie niemand auf das vorbereiten konnte, das sie drüben – wo immer dieses Drüben liegen mochte – erwartete.

Kein einziger war zurückgekehrt.

Der Apfel von 1990 blieb der einzige Gegenstand, der von einer Teslamaschine heraus aus Chomskys Aspekt der Realität und gleich wieder zurückkatapultiert worden war. Es war weder ihm noch sonst einem Wissenschaftler gelungen, dieses Experiment erfolgreich zu wiederholen, nachdem Sarah damals in der ersten Singularität verschwunden war.

Das Telefon auf Chomskys Schreibtisch klingelte. Chomsky wandte sich langsam von den Bildschirmen ab und sah zum Schreibtisch hinüber. Es war das beigefarbene Telefon, das normale Telefon, gottlob. Was er übrigens jedes Mal dachte, wenn er es klingeln hörte. Gottlob. Gottlob nicht das rote.

Obwohl das Blödsinn war, denn eigentlich war er derjenige, der höchstwahrscheinlich eines schönen Tages dafür sorgen würde, dass die roten Telefone zu klingeln beginnen würden. Wann immer es so weit sein würde. Auch das war sicher ein Grund für die sich lichtenden Haare und Unmengen an Schlafmitteln, die Chomsky mittlerweile benötigte, um überhaupt mal ein Auge zutun zu können.

Er nahm den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr, und nachdem ihm seine Sekretärin gesagt hatte, es sei ein Major Soundso vom Stützpunkt in Nevada, stellte sie ihn durch. Nevada, der aufgegebene Stützpunkt, wohlgemerkt.

Nichtsdestotrotz war das Gelände des ehemaligen Murnauer-Laborkomplexes von einem stabilen, stromdurchflossenen Metallzaun und ständig patrouillierenden Einheiten umgeben. Schon allein, damit niemand nah genug herankam, um sich über den gigantischen, seltsam halbkugelförmigen Krater mitten im Sand zu wundern, an dessen Grund man noch die Reste der Tunnel eines Teilchenbeschleunigers sehen konnte.

»Major Harris, Sir«, meldete sich der Mann am anderen Ende der Leitung, nachdem er mit Chomsky verbunden worden war. Der Wissenschaftler hatte sich noch immer nicht richtig an den militärischen Jargon gewöhnt, oder daran, ständig mit Sir angesprochen zu werden.

»Sie rufen aus Nevada an?«, fragte Chomsky.

Nur um sicherzugehen.

»Positiv, Sir«, sagte der Major. »Es gab ein Vorkommnis.«

Beinahe hätte Chomsky laut aufgelacht. Dass es in Nevada ein Vorkommnis gegeben hatte, war vermutlich die Untertreibung des Jahrhunderts. Allerdings war das mittlerweile über fünfzehn Jahre her. »Verstehe«, sagte er zu dem Soldaten. »Ist die Singularität etwa wieder aufgetaucht?«

Nevada hatte zu den schwarzen Löchern gehört, die in sich zusammengefallen waren, nachdem sie etwa die Größe einer Kleinstadt erreicht hatten. Gottlob.

»Äh … Nein, Sir«, sagte Harris. »Ich glaube nicht, Sir.«

»Nun, was ist es denn dann, Harris?«

Der Major schien einen Moment zu überlegen. Ungewöhnlich für einen Soldaten, fand Chomsky. Wenn man etwas an ihnen mögen konnte, so war es ihre knappe und präzise Ausdrucksweise. Feind auf zwölf Uhr, Feuer frei, fertig.

»Ich glaube, hier ist eine Frau, Sir.«

»Eine Frau?«, fragte Chomsky verwundert. »Hat sie das Gelände etwa durch eine Lücke im Zaun betreten? Oder haben diese Verschwörungsspinner doch einen Tunnel gegraben? Herrgott! Sie hätte niemals so weit kommen dürfen, Major!«

»Nein, Sir, das ist es nicht. Sie hat das Gelände nicht betreten. Wir haben sie innerhalb des Zauns gefunden, auf … auf dem Boden des Kraters, Sir.«

»Auf dem Boden? Und wie ist sie Ihrer Meinung nach da hingekommen, Major?«

»Kann ich nicht sagen, Sir. Niemand hat sie kommen sehen. Sie lag einfach da im Sand, splitterfasernackt. Die Patrouille hat sie während des Rundgangs entdeckt.«

»Ist sie tot?«

»Nein, Sir, sie lebt. Ist ansprechbar. Ungefähr vierzig Jahre alt, blond.«

»Und? Hat sie etwas zu Ihnen gesagt?«

»Das hat sie in der Tat, Sir. Allerdings war es nicht viel, aber das hat sie ständig wiederholt. Sie fragte nur immer wieder nach einem Mann namens David Vaughn, dann wurde sie wieder bewusstlos. Sie ist sehr schwach.«

Im ersten Moment sagte der Name dem Professor nichts – Dave, Dave, was für ein Dave? Doch als sein Gehirn einen Augenblick später die richtigen Zusammenhänge herstellte, sackten ihm die Knie weg. Er musste sich mit einer Hand auf der Tischplatte seines Schreibtischs abstützen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.

»Sie hat nach Dave … oh, Gott! Major, hat diese Frau Ihnen ihren Namen genannt?«

»Das hat sie, Sir. Sie sagte, ihr Name sei Sarah. Sarah Barrett. Sagt Ihnen das vielleicht was?«

TEIL XXIV

ABENDMAHL

1

HEUTE // DORT

TAL DER KINDER DER GÖTTIN

So kam der Abend des großen Festes.

Morrow und die anderen Kinder der Göttin hatten die letzten Abendstunden mit eifrigen Vorbereitungen auf das große Ereignis verbracht. Die langen Tafeln waren mit weißen Laken gedeckt worden, eine überbordende Fülle an Schüsseln, Tellern und Brotkörben türmte sich darauf, jeder Quadratzentimeter des Zeltes war mit Blumen und bunten Girlanden geschmückt worden. Die Kinder der Göttin waren in gemurmelte Gespräche vertieft, ihre Gesichter glühten vor freudiger Erwartung.

Schließlich erschien Adam.

Würdevoll schritt er zwischen den Tafeln auf die Feuerstelle zu. Wie immer trug er eine blütenweiße Robe, und er hielt den weißen Stab in seiner rechten Hand. Hinter ihm liefen zwei Kinder der Göttin, ein Mann und eine Frau, ebenfalls in Weiß, wenn auch ihre Erscheinung bei Weitem nicht so strahlend war wie die des Hohepriesters, und trugen einen weißen Korb von der Größe eines Weinfasses, der mittels Schlaufen mit zwei Stecken verbunden war, die auf ihren Schultern ruhten wie die Tragegriffe einer Sänfte. Es ließ sich nicht sagen, was in dem Korb war, denn er war mit einem Deckel verschlossen. Wenn man aber ganz genau hinhörte, konnte man das Züngeln einer gespaltenen Zunge aus seinem Inneren vernehmen.

Adam und seine beiden Lastenträger nahmen am Stirnende der Tafel Platz und ihm gegenüber – am Ehrenplatz – saßen Morrow und der Junge, der sich jede Mühe gab, kränklich, aber ausgesprochen glücklich auszusehen. Morrows Gesicht hingegen war ein Ausdruck atemlosen Stolzes, während sie ununterbrochen lächelte und sich alle Naselang bei ihren Gastgebern bedankte.

Als der erste Gang vorüber war – der Junge hatte ihn damit beendet, dass er sich, ungesehen von den anderen, eine großes Stück der Nuss in den Mund gesteckt und darauf herumgekaut hatte, bis die Wirkung der mit Ambrosia versetzten Speisen auf ein erträgliches Maß zurückgegangen war – erhob sich Adam und breitete lächelnd die Arme aus. Augenblicklich verstummten die Tischgespräche der Anwesenden.

»Kinder der Göttin!«, rief Adam aus. »Preiset die Herrlichkeit der Isis und die reichlichen Gaben, mit denen sie uns auch an diesem Abend beschenkt. Das große Fest steht in dieser Nacht bevor, und wir wollen mit unseren Gästen speisen, bevor das Zeremoniell beginnt. Die Göttin selbst hat das prächtigste und fetteste Schwein aus ihrer Herde ausgewählt, damit wir von seinem Fleisch essen und uns daran laben mögen.«

Spontaner Applaus brandete auf, die Menge johlte und trampelte ausgelassen auf dem Boden unter den Tischreihen. »Gepriesen sei die Göttin«, riefen sie, »gepriesen sei Isis!«, bis Adam erneut die Arme hob.

Und damit öffnete sich ein Vorhang an der Seitenwand des Zeltes und zwei Köche brachten ein Schwein herein, das sie an einem langen Spieß auf ihren Schultern trugen. Der Spieß war durch den kompletten Rumpf des Schweins getrieben worden, von seinem Maul bis zum Hinterende und ragte auf beiden Seiten armlang daraus hervor. Von dem gebratenen Tier ging ein verführerischer Duft aus, denn die Köche hatten es bereits ausgenommen und mit Honig und allerlei Früchten gestopft, um sein Aroma zu verfeinern.

Nun trugen sie es unter den Jubelrufen der Gemeinde zur Mitte des Raumes, wo sich ein großer Haufen Feuerholz mehrere Fußbreit über dem Boden stapelte. Sie setzten die Enden der Stangen auf die hölzernen Böcke, die zu diesem Zweck in den Boden getrieben worden waren, dann steckten sie an beide Enden des Spießes jeweils eine Kurbel.

»Feuer!«, riefen die Menschen aus, »Entzündet das Feuer!«, und Adam erhob sich und deutete auf den Holzstapel, über dem das Schwein hing. Er hielt seinen rechten Arm so, dass der Ärmel seiner Robe zurückrutschte und dann schoss plötzlich eine kleine Flamme zwischen seinen Fingern hervor. Das Holz fing sofort Feuer.

Unter allgemeinem Jubel ging Adam zurück zu seinem Platz, während die Köche damit begannen, das Schwein am Spieß zu drehen. Alsbald rötete sich die Haut des Tieres, dann wurde sie braun und schließlich knusprig. Fett troff zischend in die Flammen und der köstliche Duft gebratenen Fleisches erfüllte bald darauf das Zelt. Niemand achtete auf den Jungen, der mit einer heftigen Übelkeit kämpfte, während er sich alle Mühe gab, nicht auf das zu starren, was sich wirklich am Spieß über dem Feuer drehte.

Doch die Wunder waren noch längst nicht vorüber an jenem Abend: Adam warf zwei Äpfel in die Luft und noch im Flug verwandelte sich jeder Apfel in eine Taube, die aufgeregt aus dem Zelt in Richtung Freiheit davonflatterten. Die Menge verfolgte das Schauspiel mit offenstehenden Mündern und brach dann in tosenden Applaus aus. Adam senkte seine Hände über den Tisch und plötzlich erhoben sich ein gutes Dutzend dürrer Zweige, formierten sich zu kleinen Männchen und begannen zur allgemeinen Begeisterung auf dem Tisch zu tanzen, wobei sie jeder noch so kleinen Bewegung seiner führenden Hände bereitwillig folgten. Sie warfen ihre winzigen Stockärmchen in die Luft, drehten sich und sprangen auf dem Tisch umher, bis Adam mit den Fingern schnippte und sie plötzlich wieder zu den unbelebten Zweigen wurden, die sie vorher gewesen waren.

Ahs und Ohs erfüllten das Zelt und Adam deutete eine kleine Verbeugung an. Dann endlich wurde das Schwein angeschnitten und jeder von ihnen bekam eine reichliche Portion des dampfenden, rosigen Fleisches.

Große Becher und Krüge wurden mit Ambrosia gefüllt, und Adam machte alle darauf aufmerksam, dass es an diesem Abend ganz besonders köstlich schmeckte – worauf er eine weitere Runde Applaus erntete. Die Becher kreisten eifrig und nicht wenige füllten ihre Schüsseln und Teller ein zweites Mal. Der Junge ließ sein Stück Fleisch unauffällig unter dem Tisch verschwinden.

»Ein Becher auf die Göttin!«, rief Adam aus.

Der Ruf wurde von der Menge begeistert aufgenommen. »Ein Becher auf Isis!«, riefen sie. »Die Gäste sollen einen Becher auf Isis leeren!«

Sofort eilten die Mundschenke mit zwei großen Tonkrügen herbei und füllten den Becher neu. Zuerst trank Morrow, und sie schaffte das Gefäß in drei Zügen. Erstaunlicherweise setzte sie sich nach dem Verzehr ausgesprochen elegant auf ihren Sitz und wankte kein bisschen dabei.

Der Junge jedoch musste sich zwingen, die Flüssigkeit überhaupt zu schlucken, doch die begeisterte Menge ließ ihn nicht aus den Augen. Also nahm auch er einen kräftigen Zug, obwohl er das Getränk mittlerweile aus tiefstem Herzen verabscheute. Als er sich setzte, begann sich die Welt um ihn herum zu drehen.

Das letzte, das der Junge denken konnte, bevor der Applaus und die Dunkelheit gleichsam über ihm zusammenschlugen, war die Vermutung, dass sein besonderer Zustand wohl daher rührte, dass er sich unbemerkt ein weiteres kleines Stück der schwarzen Nuss in den Mund geschoben hatte, bevor er den Becher geleert hatte. Offenbar kämpften die beiden Wirkstoffe in seinem Körper um die Oberhand.

Die Welt zerfiel in Bruchstücke.

Das nächste, das der Junge mitbekam, war, wie Maria sich über ihn beugte und ihm noch mehr Ambrosia einflößte, während sie ihm über die Stirn strich, und dann setzte wieder ein langer Abschnitt reinster Dunkelheit ein. Als er das nächste Mal zu sich kam, befand er sich in seinem Zelt. Er spürte, wie etwas aus seinem Magen empor in den Mund schoss, und schaffte es gerade noch bis zur Sickergrube, bevor ein breiter Schwall hellgrüner Flüssigkeit aus ihm hervorschoss wie Wasser aus einem Schlauch, in den man ein Loch geschlagen hat. Als alles aus ihm heraus war, taumelte er zurück zu seiner Bettstatt und fiel erneut in die Schwärze.

2

Der Junge erwachte wieder. Er setzte sich auf, schwang die Beine herum und saß dann für eine Weile am Rand des Bettes, während das Leben in seinen Körper und das Denken in seinen Kopf zurückkehrte. Er war allein, und draußen war es inzwischen Nacht geworden. Morrow war nicht hier, und auch Maria nicht. Das Feuer in der Mitte des Zeltes war längst niedergebrannt, in der Asche glommen die roten Reste einer verblassenden Glut. Es musste Stunden her sein, dass sie ihn in das Zelt gebracht hatten.

Der Junge rollte sich vom Lager auf die Knie, wo er ein paar Augenblicke hockenblieb, bis die Welt vor seinen Augen aufgehört hatte, sich zu drehen. Dann stand er auf.

»Du weißt, was zu tun ist«, stellte eine Stimme hinter ihm fest und der Junge fuhr herum. Vorher, da war er ganz sicher, war er allein in dem Zelt gewesen. Auch jetzt konnte er keine Quelle ausmachen, der er die Stimme zuordnen konnte. War er etwa doch wieder eingeschlafen, schlief er vielleicht immer noch? Träumte er das alles nur? Doch dann bewegte sich etwas, tief in den Schatten des Zelts und der Junge begann sich zu erinnern, dass es für ihn keine wahren Schatten gab, dass seine Augen anders waren als jene der Menschen und dass er gar kein Junge war, zumindest kein Menschenjunge.

Konturen schälten sich vor ihm aus der Dunkelheit und der Junge seufzte verzückt, als er bemerkte, dass es ein grüner, beruhigender Schimmer war, der die Gestalt umgab. »Mutter«, sagte der Junge und in diesem Moment war ihm, als müsse sein Herz zerspringen.

»Du weißt, was zu tun ist«, wiederholte die Stimme.

»Ich muss sie beschützen«, antwortete der Junge und die Gestalt, beide Gestalten, die seiner Mutter und die des schönen Kopfes der Zigeunerin mit dem beträchtlichen Dekolletee, neigten sich ihm zu, während das grüne Leuchten ihren Doppelkopf umrahmte. »Ja, mein Junge. Du musst sie beschützen. Sie hat niemanden sonst.«

»Niemanden sonst«, wiederholte der Junge.

Und die Gestalten lächelten, während sie in dem grünen Leuchten verschwanden, und dann verblasste auch das grüne Leuchten selbst. Dann war der Junge wieder allein in der Dunkelheit. Nur war sie nun keine Dunkelheit mehr für ihn, sie war verschwunden wie die blonden Locken auf seiner Stirn, denn beides war, genau wie die Dunkelheit, nur eine Illusion gewesen. Stattdessen prangten nun wieder kleine und große Hörner auf der schuppigen Haut seiner Stirn, und das war die Wahrheit und würde es immer sein.

Der Junge kroch unter der fauligen Zeltbahn hindurch, und jetzt fuhr ihm der Geruch des verschimmelten Stoffes mit aller Deutlichkeit in die Nase. Er schüttelte angewidert den Kopf und kroch dann weiter auf das Unterholz des beginnenden Wäldchens zu, fort von dem Dorf, dem er einen flüchtigen Blick über seine hornbesetzte Schulter schenkte – auch hier herrschte nichts als Dunkelheit.

Vermutlich schliefen die Leute den Rausch aus, den ihnen die Festlichkeiten beschert hatten. Sollten sie, dachte der Junge, umso ungestörter konnte er später nach Morrow suchen. Doch zunächst galt es, sich darum zu kümmern, dass ihre Flucht nicht nach wenigen Metern mit erneuter Gefangenschaft oder Schlimmerem enden würde.

Der Junge schlich zum Hain im Zentrum des Waldes. Dort, wo die Büsche den Anfang des verbotenen Pfades markierten. Auch das war dem Jungen inzwischen wieder eingefallen. Hier hatte er Adam, den Hohepriester und höchsten Diener der Göttin verschwinden sehen, als er den Hain einmal mit Maria besucht hatte.

Der Junge fand den verbotenen Pfad ohne die geringsten Schwierigkeiten, und auch das, vermutete er, lag an der Ambrosia und der Zauberei, deren Wirkung das Getränk verstärkte. Der Pfad war nicht einmal versteckt. Es glaubten nur alle daran, dass er nicht zu finden war, und deshalb gelang es ihnen auch nicht. Der Junge verschwand geräuschlos zwischen den Büschen und betrat den verbotenen Pfad, der zum Tempel der Göttin führte.

3

Adam ließ seine Augen über die Geschehnisse im großen Festzelt schweifen. Er hatte sich mit wenig Ambrosia begnügt, gerade genug, damit die Zaubertricks gelangen – und war es nicht prächtige Magie gewesen, die er den Kindern der Göttin gezeigt hatte? Die tanzenden Holzmännchen, die sich den kleinsten Bewegungen seiner Hände unterwarfen – natürlich hatten sie diese Spiegelbilder ihrer Selbst begeistert beklatscht. Oder die prallen, reifen Äpfel, die noch im Flug zu Tauben wurden. Welch wundervolle Magie ich ihnen doch geschenkt habe, dachte Adam zufrieden. Doch der größte aller Tricks stand ihnen an diesem Abend noch bevor. Und der würde in einer völlig neuen, spektakulären Auflösung enden. Eine, mit der sie nicht rechneten, die sie aber umso enthusiastischer beklatschen würden.

»Noch ein Fass!«, rief Adam, und Mundschenke rannten los, um es zu holen. Adam lächelte gütig, während er beaufsichtigte, wie sich die Kinder der Göttin systematisch in Ekstase tranken. In diesem Zustand würden sie feiern und tanzen, bis sie von ihren Füßen fielen – und genau das war schließlich die Absicht. Adam erhob sich und schritt würdevoll zum seitlichen Ausgang des Zeltes. Jubel brandete auf und folgte ihm nach, als er in die Nacht hinausging.

Er winkte einen der Mundschenke heran. »Sorgt dafür, dass jeder reichlich trinkt«, sagte Adam, und zwinkerte ihm zu.

»Ja, Hohepriester«, lautete die fröhliche Antwort.

Auch der Mundschenk hatte der Ambrosia an diesem Abend schon reichlich zugesprochen, schien es. Adam ging noch ein paar Schritte weiter in die Dunkelheit hinein, welche das leuchtende Festzelt umgab, bis er den Rand des Baumbestandes erreicht hatte, an den das Dorf grenzte, das jetzt verlassen und still dalag. Das Zelt beherbergte nur einen einzigen Schläfer, wusste Adam. Den Jungen, dem die Ambrosia außergewöhnlich heftig zugesetzt hatte. Offenbar war er doch noch nicht so weit genesen, wie Lazarus gemeint hatte. Egal. Er würde sich später um den Jungen kümmern.

Momentan gab es Wichtigeres zu tun.

Adam ließ sich auf einem Baumstamm nieder und warf einen raschen Blick in Richtung Festzelt, wo der fröhliche Tumult unverändert weiterging. Niemand war ihm gefolgt. Der Hohepriester neigte den Kopf, als würde er lauschen. Und dann lauschte er tatsächlich, während der Käfer in seinem Kopf erneut zu sprechen begann.

»Ja, so soll es geschehen«, flüsterte Adam. »Es ist alles vorbereitet, Herr!«

Er lächelte, denn nun kannte er ein neues Geheimnis, und das war sogar noch besser als der Trick mit den Tauben und den Holzmännchen, viel besser sogar.

Er neigte den Kopf und hielt die Finger seiner rechten Hand an die Ohrmuschel, dann wackelte er mit dem Kopf, immer noch leise lächelnd.

Schließlich kroch der träge, schwarzer Käfer aus seinem Ohr heraus, zeigte zuerst seine dürren, zitternden Beinchen, dann zog er Stück für Stück den fetten, gepanzerten Körper nach. Die Schale des Geschöpfs raschelte und knirschte laut in seinem Ohr, aber das störte Adam nicht. Als der Käfer auf seiner Hand saß, nahm er ihn mit spitzen Fingern und setzte ihn vorsichtig auf dem Boden ab, wo das Insekt eilig davonkrabbelte. Adam sah ihm nach, bis es im Gebüsch verschwunden war. Dann stand er auf und lief zurück zum Festzelt.

Es war Zeit, zu beginnen.

4

Der Junge folgte dem mondbeschienenen verbotenen Pfad, und schon bald lichtete sich das Gebüsch zu seinen Füßen. Der Pfad wurde breiter, und ein munter plätscherndes Bächlein gesellte sich dazu, bis beide in einer kleinen Ansammlung von dicht stehenden Bäumen verschwanden. Noch immer schien ein ferner Mond von oberhalb der Felsen. Der Teil des Pfades, den er nun beschritt, führte auf die Felswand zu, die das Dorf auf allen Seiten umgab. Der Bach verschwand hier in einem Spalt zwischen zwei mannshohen Felsbrocken. Der Junge stand am Eingang zu dem, was das Heiligtum der Göttin sein musste.

Der Junge zwängte sich durch den Spalt und folgte dem Lauf des Baches in den Felsen. Tiefer und immer tiefer in den Stein hinein ging der Junge, bis der Gang schließlich in eine Höhle mündete, deren Decke mehrere Meter über dem Kopf des Jungen endete. Ein Himmel aus Stein, dachte der Junge, wie jener in der Kreuzhalle in der Stadt, die er vor langer Zeit betreten hatte. Nur fehlten diesem hier die aufgemalten Wolken und bärtigen Heiligen.

Das Beeindruckendste war jedoch der Schmuck, der die Wände ringsum bedeckte, auch wenn es sich hierbei nicht um beleibte Frauen und Männer mit Flügeln handelte. In der Mitte der gewaltigen Felshalle stand ein großes Ding, das der Junge zuerst für einen Kasten hielt, aber dann entdeckte er, dass seine Vorderseite das Dunkel der Höhle reflektierte – es war ein gewaltiger Spiegel. Solche hatte der Junge auf dem Rummelplatz kennengelernt – sie hatten alle Wände des Labyrinths bedeckt, und seine Sinne verwirrt, bis er gemeinsam mit Morrow durch einen der Spiegel in die Freiheit gesprungen war.

Der Junge stellte sich nun vor diesen Spiegel und blickte hinein, doch da war nichts, kein Spiegelbild. Es war, als existiere der Junge für den Spiegel einfach nicht.

Die Wände ringsum waren schwarz, doch von dicken, weißlichen Adern durchzogen – die zurückgekehrte Nachtsicht des Jungen erlaubte ihm diese Feststellung auch in nahezu vollkommener Dunkelheit. Für einen Augenblick glaubte der Junge, die Wände seien mit unzähligen ausgeblichenen Ästen bedeckt, doch dann sah er genauer hin und entdeckte die Knochen.

Unmengen davon.

Sie lagen in den Ecken und Nischen, in einem langen Felsspalt stapelten sie sich bis zur Decke, und als der Junge näher herantrat, sah er, dass zwischen den Gebeinen menschliche Schädel lagen. Es mussten etliche Dutzend sein. Die meisten der Schädel waren menschlich und viele von ihnen waren außergewöhnlich klein.

Die Knochen und Schädel von Kindern.

Fleischlos, weiß und glattpoliert starrten sie ihn aus leeren Augenhöhlen an. Und dann erkannte er die verrosteten Ringe, die immer noch um manche der Knochenhälse geschlungen waren und anderen Kinderschädeln wie spöttische Eisenkronen auf der haarlosen Stirn saßen. Und plötzlich wusste der Junge, was mit den Generationen von Kindern geschehen war, die Ruggs dem Käufer alljährlich für ein paar Flaschen Gebrannten verscherbelt hatte, und er begriff, dass dieses Geschäft bereits Tradition gehabt haben musste, lange bevor er bei Onkel Ruggs gelandet war.

Der Junge vernahm ein Geräusch aus den Tiefen der Höhle und zuckte zusammen. Er wandte den Blick in die Richtung, aus der das Rascheln gekommen war. Eine Nische, eingelassen in die Wand aus Knochen und Fels. Dort lag etwas, halb verborgen unter zottigen, verfilzten Fellen und stöhnte im Schlaf. Etwas, das noch lebte in dieser gigantischen Halle des ungezählten Todes. Etwas, das vielleicht so alt war wie der erste Knochen, der die Wand dieser Kathedrale der Todesverehrung geschmückt hatte, oder vielleicht sehr viel älter.

Der Junge ging zu dem flachen Stein, der eine Art Lager bildete, beugte sich hinab und verzog angewidert sein Gesicht. Die Felle, unter denen sich jetzt ein Körper regte, waren kaum mehr als brüchige Lumpen, besetzt mit ein paar Haarbüscheln.

Als er heran war, erwachte das Ding vollends.

Die ledrigen Felle wurden träge beiseite geschoben und eine Hand, gefolgt von einem dürren Arm, schob sich darunter hervor.

Dann sah der Junge ihr Gesicht.

Für einen Augenblick dachte er, es läge noch eins der zerknautschten Lederfelle darauf, doch dann begriff er, dass dies das Gesicht der Kreatur war. Er hatte Mühe, in den zerfurchten Linien überhaupt so etwas wie Gesichtszüge auszumachen, vielmehr glich das Antlitz einer felsigen Miniaturlandschaft, in die unzählige Miniaturflüsse tiefe Gräben gezogen hatten, bevor sie allesamt ausgetrocknet waren.

Die zerklüftete Landschaft kam in Bewegung und etwa in der Mitte öffnete sich ein unansehnlicher Krater, aus dem ein paar röchelnde Geräusche drangen. Der Junge trat hastig einen Schritt zurück, dann stieß der Faltenmund ein langgezogenes Husten aus. Es klang, als bestünden die Lungen, die zu diesem Körper gehörten, zum größten Teil aus Staub.

Dann öffneten sich schwarze Höhlen im Schädel oberhalb des furchtbaren Mundes, um blicklos in die Richtung zu starren, wo sie den Jungen vermutete. Dort drin, begriff er, hatte einmal ein Paar Augen gesessen, nun waren es nur noch leere, schwarze Krater. Auf ihre Sehtüchtigkeit schien das allerdings nicht den geringsten Einfluss zu haben. Decken rutschten von dem Lager auf den Steinboden, als das Ding sich anschickte, aufzustehen.

Hastig trat der Junge ein paar weitere Schritte zurück, unfähig, den Blick von der Kreatur abzuwenden. Das Ding wackelte hin und her, als es sich aufrichtete. Strähnige Büschel schlohweißen Haars umwehten seinen viel zu großen Kopf. Es war eine Frau, erkannte der Junge, oder es war einmal eine gewesen. Und sie war nackt.

Ihr Körper war klapperdürr, und ledrige Haut hing in schlaffen Falten daran herab wie ein zu großes Kleid. Ihre Brüste waren fleischlose Hautsäcke, ihre Arme und Beine kaum mehr als dürre Äste. Allein ihr Bauch war dick und rund, was ihrem Aussehen beinahe etwas Komisches verlieh. Zumindest bis der Junge begriff, womit dieser ekelerregend pralle Bauch gefüllt war, der die unheilige Existenz dieses Monsters Mahl um Mahl verlängerte. Und wohin die Augen blickten, deren dumpfe Glut schon vor Ewigkeiten hätte verlöschen müssen.

Der Junge machte einen Schritt zurück, und stieß dabei gegen einen Stein, der polternd über den Felsboden schlitterte, das Geräusch tausendfach zurückgeworfen von den hohen Wänden ringsum. Die Göttin fuhr herum, und ihre Hände, die nichts als spindeldürre, verkrümmte Klauen waren, schossen vor, packten zu, doch der Junge war schneller, wenn auch nur um eine Winzigkeit.

Die verschrumpelten Lider über ihren Augenhöhlen waren weit aufgerissen, und ihr Kopf fuhr zuckend durch die Luft, während sie rief: »Adam? Adam, bist du das, mein hübscher Junge? Adam?«

Vorsichtig trat der Junge einen weiteren Schritt zurück. Sie folgte ihm, und wandte ihm unbeirrt ihr furchtbares Gesicht zu. Er bemerkte, dass tief in den schwarzen Höhlen ein schwaches, blaues Leuchten glomm – dort, wo vor Urzeiten ihre Pupillen gewesen sein mussten.

»Adam«, rasselte die unmögliche Stimme aus dem Loch, das die Gestalt statt eines Mundes im Gesicht trug, »ich habe es nie gewollt, das musst du begreifen! Ich wollte eine schöne Welt, für dich, für mich – für alle meine Kinder. Ich wollte ein Paradies, einen Garten Eden, Liebe unter Willen, Adam, Liebe ist das Gesetz!«

Das Ding wankte auf dürren Knochenbeinen näher, der mächtige, pralle Wanst hing ihr dabei fast bis zu den Knien, Geschwüre bedeckten die straff gespannte Haut. »Doch auch das Paradies hat seinen Preis! Es hat einen besonders schrecklichen Preis, verstehst du das, Adam?«

Der Junge schwieg, doch die Alte fuhr unbeirrt fort: »Ich will nicht, dass ihr sie opfert, hörst du? Diesmal nicht! Ich ertrage es nicht mehr. Mein Hunger, Adam, mein Hunger nach Leben, er frisst mich selbst auf. Wenn du doch nur sehen könntest, was aus deiner schönen Göttin geworden ist! Ein grausames, altes Weib, eine …«

Sie streckte einen zitternden Arm nach dem Jungen aus, es schien ihr unsägliche Mühen zu bereiten. »Lass mich endlich sterben«, stöhnte das Ding, »Bitte …«

Da wusste der Junge, dass er der Göttin selbst gegenüberstand, und dass sie ebenso eine Gefangene war wie jedes einzelne ihrer verlorenen Kinder.

TEIL XXV

RITUALE

5

Als der Junge zum großen Festzelt zurückkehrte, fand er es verlassen vor. Die Leute, das spürte er, waren noch nicht lange fort. Das Gras, das sie niedergetrampelt hatten (jetzt gelb und kränklich und blass) war gerade dabei, sich wieder aufzurichten. In den nun verlassenen Feuern glomm noch Glut.

Er ging zum Kopfende der großen Tafel, wo Adam (Hohepriester und Wanderer auf verbotenen Pfaden) gesessen hatte. Für einen Moment fragte sich der Junge, ob der Hohepriester die wahre Gestalt der Göttin, in deren Namen er sprach, je mit eigenen Augen gesehen hatte. Ob er das, was der Junge in der Höhle zurückgelassen hatte, je wirklich hatte sprechen hören. Ob er den Preis kannte, den das Leben im Garden of Eden kostete – ihn und alle anderen Kinder der Göttin, und ihre ungezählten Opfer.

Der Junge besah sich die plumpen Schnüre an den Holzstecken, die vorhin noch kleine lebende Männchen gewesen waren, als Adam seinen Trick vorgeführt hatte. Jegliche Magie war jetzt aus ihnen gewichen, es waren nur dürre Zweige. Der Junge fand die fauligen Äpfel, in denen schmutzige, weiße Lappen steckten, die alle für empor flatternde Tauben gehalten hatten, benebelt vom Rausch der Ambrosia.

Die Reste der Speisen auf den Tellern boten ein noch trostloseres Bild. Kaum verdauliche Gräser, welche die Leute für frisches Gemüse gehalten hatten, harte Knollen, die zur Hälfte aus den Erdklumpen bestanden, die noch an ihnen klebten. Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte sich der Junge dem großen Feuer in der Mitte zu und warf einen Blick auf die abgenagten Knochen dessen, was die Kinder der Göttin als Krönung ihres Festmahls verzehrt hatten. Knochen, die in der Höhle der untoten Göttin landen würden wie unzählige vor ihnen.

Dann sah er es.

Das, was die Kinder der Göttin zu ihrem Festmahl verzehrt hatten, war kein Schwein gewesen, auch wenn sie alle das geglaubt hatten. Und Jonah, der Morrows Freund gewesen war und sie geküsst hatte, würde niemals mehr aus dem Hain der Göttin zurückkehren.

6

Der Junge sah Triggers Sandkäfer-Fahrzeug schon von weitem, als er sich der Lücke in der Felswand vom Dorf her näherte. Der Junge war in mehrere der Zelte gestürmt, aber alle waren verlassen gewesen. Keine Spur von Morrow oder den Kindern der Göttin. Da er bei seinem Weg durch den Hain ebenfalls niemanden angetroffen hatte, gab es nur eine Richtung, in die sie gegangen sein konnten.

In die Wüste – also schlug auch der Junge den Weg zu dem schmalen Serpentinenpfad ein, der hinab in die endlose Sandweite führte.

Am Boden zwischen den gewaltigen Reifen der Vorder- und der Hinterachse des Sandkäfers flackerte ein kleines Lagerfeuer, und an dessen Rand saß unverkennbar dessen Fahrer. Der Junge ging in Deckung und beobachtete den Mann eine Weile, der gelangweilt in der Glut herumstocherte. Dann stand er auf und schlich so nah heran, wie er es sich traute, bevor er hinter dem nächsten Felsbrocken Deckung suchte. Ein kleiner Stein kullerte vom Felsen und landete im Sand. Der Junge warf einen raschen Blick zu Trigger, doch der schien nichts gehört zu haben.

Auf diese Weise umrundete der Junge ein kleines Felsplateau, das ihn zu einer Position in Triggers Rücken brachte. Der Duft von gebratenem Fleisch zog in die Nase des Jungen und für einen Augenblick kämpfte er mit einem heftigen Anfall von Übelkeit, als er sich an das erinnerte, das er auf dem Spieß im Festzelt gefunden hatte. Dann bemerkte er, dass der Duft anders war als der des so genannten Schweins im großen Festzelt. Trigger briet sich irgendein kleines Tier, vielleicht einen Hasen, den er sich in den höheren Regionen der Berge gefangen hatte. Und hatte er nicht auch aus seiner eigenen Flasche getrunken, als er mit ihnen in die Wüste gefahren war?

Da begriff der Junge, dass Trigger Bescheid gewusst hatte, die ganze Zeit über. Der Fahrer stand nicht unter dem Einfluss der Ambrosia. Er wusste, was hier gespielt wurde. Und er hatte es gebilligt, die ganze Zeit.

Der Junge begann, auf dem Sandboden herumzusuchen, bis seine tastenden Finger einen faustgroßen Stein fanden. Er packte ihn, erhob sich und schleuderte ihn mit aller Kraft über den Wagen hinweg in Richtung der gegenüberliegenden Steilwand. Der Stein beschrieb einen hohen Bogen und landete etwas rechts von Triggers Feuerstelle mit einem hohlen Plok! an dem Felsen.

Triggers Kopf fuhr herum, er langte nach einem langen Stock, der zu seinen Füßen an der Feuerstelle lehnte. Er betätigte einen kleinen Hebel an der Seite des Stocks und legte ihn dann auf seine Schulter, während er damit in Richtung der Felsen zielte. Die Mickies, erinnerte sich der Junge, hatten solche Stöcke gehabt, wenn sie sie auch nur äußerst selten eingesetzt hatten. Diese Art von Stöcken spuckte Feuer und konnte gewaltige Löcher in die Bäuche von Menschen reißen, wenn man sich am falschen Ende befand.

Der Junge warf einen zweiten Stein.

Dieser schlug etwas weiter rechts ein als der erste und landete im Sand. Trigger presste das dicke Ende des Stocks fester an seine Schulter und rief: »Zeig’ dich, na los! Ich tu’ dir auch nichts, versprochen!«

Zur Antwort warf der Junge noch einen Stein, der ebenfalls im Sand landete. Trigger setzte sich in Bewegung und verließ die Feuerstelle, den Stock weiterhin im Anschlag. Der Junge schlich näher, verbarg sich hinter einem der riesigen Räder des Fahrzeugs und lugte um das Stollenprofil des Reifens herum. Trigger begann, mit den Füßen zwischen den Felsen herumzustochern, wo der Stein hingefallen war.

Der Junge huschte geräuschlos unter der Karosse hindurch zum nächsten Felsen und dann auf die andere Seite des Durchgangs. Einen Augenblick später war er auf dem Weg zum Pfad, der ihn hinunter in die Wüste führte, wobei er Deckung zwischen den verkrüppelten Bäumen suchte, die dessen Rand begrenzten. Sein Ziel war ein großes Lagerfeuer, das zu Füßen der Serpentinenstraße mitten in der Wüste brannte.

Lange bevor er die Kinder der Göttin erreichte, hörte er ihre hypnotischen Gesänge, die sich an den Felswänden vielstimmig brachen, und das Prasseln des großen Feuers, und dann Adams Stimme, die das Geschehen anleitete.

Der Junge hastete die Serpentinen hinab.

7

Die Kinder der Göttin waren splitternackt und tanzten in seltsamen Verrenkungen um das Feuer. Ihre Schatten glichen zuckenden Leibern von grotesken Traumwesen, deren Füße in der Mitte des Feuers mit der Erde verbunden waren und deren Arme gierig nach den Sternen griffen, die auf den schwarzen Wüstenboden hinabgefallen waren.

Sie hielten sich bei den Händen und ihre Leiber glänzten wie geölt in den zuckenden Flammen, während ihre bloßen Füße einen großen Kreis um das Feuer in den Wüstenboden stampften. Der Junge entdeckte Adam, der etwas abseits stand, und als einziger nicht nackt war – seine weiße Robe leuchtete im Feuerschein, und da war noch etwas bei ihm. Ein Tier, das sich im Widerschein der Flammen um seinen Priesterstab wandt – eine riesige, weiße Schlange.

Der Junge kroch geräuschlos näher.

Der Leib der Schlange war so dick wie der Oberschenkel eines Mannes und mindestens so lang wie Adam selbst. Das Reptil hatte sich um das weiße Holz des Stabes geringelt, der dreieckige Kopf baumelte vom oberen Ende herab und blickte träge auf die tanzenden Menschen. Ihre Augen strahlten ein mattes, blaues Leuchten aus, das den Jungen an das fahle Glimmen erinnerte, das er in den Augen der alten Frau im Felsentempel gesehen hatte. Doch dann wurde die Aufmerksamkeit des Jungen von etwas anderem in Anspruch genommen.

Morrow.

Zunächst hatte der Junge sie unter den Tanzenden vermutet, aber da war sie nicht. Erst als Adam einen Schritt in Richtung des Feuers trat und den Stab in die Höhe hob, entdeckte der Junge die kleine, gefesselte Gestalt, die auf dem flachen Felsen hinter dem Hohepriester lag. Es war Morrow. Sie rührte sich nicht.

Der Junge verließ den Pfad und huschte abseits hinter einen Felsen. In einem weiten Bogen lief er um die Tanzenden, seine Augen hatte er dabei auf Adam und die Schlange gerichtet, bis er den flachen Felsen erreichte und dahinter in Deckung ging. Dort verschmolz er mit der Dunkelheit. Morrow lebte noch, aber sie war nicht bei Bewusstsein.

Vermutlich hatten sie ihr die gleiche Menge Ambrosia eingeflößt wie ihm, möglicherweise auch viel mehr. Bloß hatte sie nicht von der Nuss gegessen, deren Reste der Junge noch in seiner Tasche trug, und war dem betäubenden Getränk daher im vollen Umfang ausgesetzt. Wenn sie in diesem Moment zu sich käme, würde sie ihn vermutlich nicht einmal erkennen.

Der Junge kroch näher heran. Als er den Felsen erreicht hatte, duckte er sich dahinter in seinen Schatten und begann, die Fesseln an Morrows Handgelenken zu bearbeiten. Die Gesänge und der wogende Tanz um das Feuer schwollen unterdessen immer weiter an. Immer dann, wenn Adam den Stab mit der Schlange in die Höhe reckte, steigerten sie sich zu einem extatischen Crescendo. Der Höhepunkt der Zeremonie stand bevor.

Die Fesseln waren stark, und die Seile von kundiger Hand geknüpft. Der Junge bedauerte, keins der Messer aus dem großen Festzelt mitgenommen zu haben, oder wenigstens einen scharfkantigen Stein. So war er lediglich auf die Kraft seiner Finger angewiesen. Morrow stöhnte jedes Mal auf, als das Seil in ihr Fleisch schnitt, an dem der Junge fieberhaft arbeitete. Er warf einen gehetzten Blick auf Adam, doch dieser wandte ihm nach wie vor den Rücken zu, während er die Menge anfeuerte.

Schließlich gelang es dem Jungen, einen der Knoten zu lösen und Morrows rechten Arm freizubekommen. Sofort machte er sich an den nächsten Knoten.

Es war in diesem Moment, dass die Tanzenden erstarrten.

Von einem Moment auf den nächsten herrschte eine fast vollkommene Stille, die nur durch das Prasseln des Feuers unterbrochen wurde. Dann erhob Adam seine Stimme erneut, laut und kraftvoll schallte sie über den Platz. Die übrigen Kinder der Göttin standen still wie groteske Statuen, jeder von ihnen in der Pose, die er während seines wilden Tanzes zuletzt gehabt hatte. Alle ihre Blicke waren nun auf den Priester gerichtet.

»Kinder der Göttin!«, rief Adam aus, »Preiset das höchste Wesen, denn die Göttin hat uns in ihrer unendlichen Gnade ein Festmahl geschenkt. Und wie es Brauch ist, werden wir der Göttin im Austausch ein Opfer darbieten.«

»Ein Opfer!«, riefen die Tanzenden ehrfürchtig und warfen sich ergriffen in den Sandboden. »Ein Opfer für die Göttin, ja!«

»Die Göttin verlangt ein Leben, damit wir alle leben. Ein einziges Leben nur für euch alle – so groß ist ihre Liebe!«, fuhr Adam fort und die anderen riefen: »Gepriesen sei die Göttin in ihrer Herrlichkeit!«

Der Junge nutzte die Ablenkung, um an Morrows Fesseln weiterzusäbeln. Das Unternehmen gestaltete sich zunehmend schwieriger; er schaffte noch zwei Knoten, bis sich Adam umdrehte, und, die Hände zum Himmel erhoben, auf den Altar zuschritt. Für den Bruchteil eines Augenblicks trafen sich ihre Blicke.

Dann verzog sich Adams Mund zu einem breiten Grinsen.

Er ließ den schweren Holzstab in seine linke Hand wandern und zog noch in derselben, fließenden Bewegung einen breiten Dolch aus dem Futteral an seinem Gürtel. Hoch über seinen Kopf hob er die gebogene Klinge. Sie funkelte gierig im Licht eines trunkenen Mondes und dann sauste sie urplötzlich herab.

Das letzte, das der Junge sah, war das blaue Glimmen in Adams irren Augen.

8

Der Junge riss die Arme schützend vors Gesicht in der Erwartung, dass die mächtige Klinge ihm den Schädel zertrümmern würde – doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hörte er ein reißendes Geräusch wenige Zentimeter oberhalb seines Kopfes, und dann ein feuchtes Klatschen, als irgendetwas Großes neben ihm in den Sand fiel.

Der Junge lugte zwischen seinen verschränkten Armen hindurch und starrte direkt in das aufgerissene Maul der weißen Schlange, deren Kopf fast so groß war wie sein eigener. Eine gespaltene Zunge schlängelte sich zwischen fingerlangen Giftzähnen daraus hervor wie ein kleiner, hellroter Bach. Der Rest der Schlange fehlte – der Kopf endete in einem zerfetzten Stumpf.

Im gleichen Augenblick ergoss sich ein Schwall dunkelroten Blutes über die Hände und Arme des Jungen, und dann glitt der Kopf der Schlange von dem Altarstein, auf den er gefallen war. Den Stab hielt der Hohepriester noch immer in den Händen, verdeckt von seiner Gestalt und den weit bauschenden Schößen seiner Robe, die nun rot getränkt war vom Blut des Reptils.

Adam hatte die weiße Schlange getötet.

Der Priester schenkte dem Jungen ein Grinsen, dann machte er eine blitzschnelle Bewegung mit dem Dolch, der die letzte von Morrows Fesseln zerschnitt. Er beugte sein blutbespritztes Gesicht hinab zu dem des Jungen und flüsterte: »Lauft!«

Und das tat der Junge. Er hob Morrows reglosen Körper von dem Stein, drehte sich um und lief in die Wüste hinein, weg vom Feuer und in die Nacht. Als das Brüllen in der Ferne einsetzte, heranraste aus den Tiefen der nächtlichen Wüste, da begann der Junge selbst zu schreien, denn so furchtbar waren die Stimmen derer, die einst der Göttin vertraut hatten und von ihr betrogen worden waren.

Jene, die jetzt, da sie tot war, ihr Schicksal teilten. Denn es waren die Schreie der verlorenen Seelen, die den Rummelplatz bewohnt hatten. Schatten ihrer selbst, die nun zerstoben in der Finsternis und dem Vergessen. Die endlich den Lohn ihrer Treue erhielten. Es war die Melodie des Gaddadavida, die in den Ohren des Jungen klang, als er floh und eine Göttin starb und ein neuer Gott geboren wurde.

Und dieser Gott, der ein Sklave und ein Priester und nun auch ein Mörder war, erhob sich vor der fassungslosen Menge am Feuer. Mit einer fließenden Bewegung pflückte er den großen Kopf des weißen Reptils aus dem Sand und streckte seinen Arm gen Himmel.

»Kinder!«, rief er, »Er hat unsere Mutter getötet! Der fremde Junge hat die Göttin Isis umgebracht.«

Für einen Moment standen die Leute regungslos und starrten auf den weißen Schlangenkopf, ohne zu begreifen, was sie da sahen. Die nächsten Worte flüsterte Adam nur, aber jeder hörte sie: »Fasst sie!«

Als hätte die Menge auf ihr Stichwort gewartet, rasten sie los, eine wütende Meute, kopflos wie der Leib der Schlange, die Gedanken voll von Schmerz und Mord und Wahnsinn.

Adam jedoch, als die letzten verschwunden waren, gab sich endlich seinem Kichern hin, und dieses steigerte sich, bis es zu einem befreienden Lachen wurde. Tränen quollen aus seinen Augen, rannen seine Wangen hinab und tropften von seinem Kinn in den Sand. Er spürte den Wind in den wenigen Strähnen dünnen Haars, die seinen unförmigen Kopf zierten, und seine Arme und sein Rücken waren jetzt von tiefen Narben und den Spuren der unzähligen Knochenbrüche übersät, welche die Göttin ihm im Laufe vieler Jahre der Sklaverei beigebracht hatte. Und er begriff, wieso die Göttin keine Spiegel in ihrem Tempel geduldet hatte, während aus seinem Lachen ein irres, geiferndes Gegacker wurde. Auch er würde fortan keine trügerischen Reflexionen mehr dulden.

Nicht jetzt, wo er die Wahrheit geschaut hatte.

Inzwischen war das blaue Glimmen in seinen Augen zu einem intensiven Leuchten geworden, zwei tanzende blaue Punkte, in denen sich der Schein des Feuers brach.

»Du hast mich getötet, Adam«, sagte der Schlangenkopf in seiner Hand.

Der Priester ließ ihn erschrocken fallen, doch dann fasste er sich wieder und sagte: »Das habe ich in der Tat. Und daher solltest auch du allmählich sterben, findest du nicht auch, du alte Hure?«

»Du nennst die Frau, bei der du lagst, eine Hure, Adam?«

»Ich nenne dich, wie es mir passt. Ich bin jetzt ein Gott, Isis, weißt du das nicht?«

Wie um es zu beweisen, zog er das blau schimmernde Amulett hervor, das er um seinen Hals trug. Das Amulett, das er ihr gestohlen hatte.

»Nein, Adam, du bist nur ein gefallener Mensch, so wie ich einst ein Mensch war, und sieh nur, wie tief ich gefallen bin.«

»Aber ich bin nicht du.«

»Nein, Adam, das bist du nicht. Ich fürchte, was ich aus dir gemacht habe, ist viel schlimmer als das.«

»Du, Hure? Du hast überhaupt nichts dazu beigetragen, was ich jetzt bin, außer deinem Tod. Und der war längst überfällig.«

»Das war er, Adam, und ich danke dir, dass du ihn mir gebracht hast, den Tod. Er kam zu mir als lang ersehnter, lieber Freund. Oder hast du etwa geglaubt, ich habe nicht bemerkt, dass du mich bestohlen hast?«

»Du freust dich darüber?«

»Das tue ich, Adam. Ich werde nun endlich über den Daath schreiten, und auf der anderen Seite werde ich meine wahren Kinder wiedersehen – die, welche ich aus Gier nach dem ewigen Leben verlassen habe. Und wenn sie mir vergeben haben, werden wir niemals wieder einsam sein, in jenem schwarzen Nichts, das nach dem Leben kommt. Du jedoch, Adam …«

»Was ist mit mir?«

»Dir mangelt es an Weitblick und Erfahrung gleichermaßen.«

»Das sagt die Richtige.«

»Die Illusionen des Paradieses, sie sind trügerisch …«

»Ich habe sie gemeistert«, unterbrach sie Adam unwirsch. »Ich habe Dinge verwandelt, von dem einen in etwas anderes. Ich habe Tauben aus Äpfeln fliegen lassen, und es war ganz leicht, ich musste es bloß wünschen. Ich werde einen neuen Garten Eden bauen, und einen eigenen Tempel haben. Ich werde darin leben und sie werden mir huldigen. Mir!«

»Oh, Adam. Mein liebes, einfältiges Kind! Du hast nichts davon getan, du glaubst nur, dass es so ist. Deine Magie, und meine – das war alles nur Lug und Trug. Spiegelbilder eines Spiegelbilds, Traumgespinste.«

»Wie dem auch sei …«

»Hör mir zu, Adam, ein letztes Mal. Bitte, um unserer alten Liebe willen.«

»Sprich«, sagte Adam ungeduldig.

»Du musst sie freilassen. Hebe die Schleier von ihren Augen. Du darfst keine Opfer mehr von ihnen verlangen, und ihnen keine Ambrosia mehr zu trinken geben.«

»Warum sollte ich das tun? Ambrosia ist gut, sie kräftigt Körper und Geist. Und sie fließt im Überfluss aus dem Quell bei deinem …, ich meine … meinem Tempel.«

»Du Narr! Es wird keine Ambrosia mehr fließen. Denn ich war es, die sie hat fließen lassen. Ich war es, die euch stets benebelt hat. Und das war falsch, so falsch! Erst jetzt, im Tode, habe ich den wahren Zweck der Magie begriffen. Es geht nicht darum, sie zu beherrschen – das ist falsch, pervers. Wider dem Lauf der Natur!«

»Was du nicht sagst«, sagte Adam gelangweilt. »Und doch hast du dich nie gegen ein einziges Opfer gesträubt, soweit ich weiß. Tausende hast du in deiner Gier verschlungen. Und ich werde noch Abertausende mehr verschlingen.«

»Nein, Adam, nein! Gib ihnen Ziele, lass sie träumen! Das ist der Zweck der Magie. Und dann lass’ sie selbst entscheiden, ob sie dir folgen wollen, oder ihren eigenen Träumen. Ob sie im Paradies leben wollen oder in der …«

Adam holte aus, dann warf er den Kopf in weitem Bogen in die Flammen, wo er prasselnd niederging, dass die Funken nur so stoben.

»Genug von dem Geschwafel«, murmelte er, dann bückte er sich nach dem Schlangenleib, der bereits zu verwesen begonnen hatte. Er packte das nasse, glitschige Fleisch, schleppte es zum Feuer und warf den weißen Körper ebenfalls hinein.

Und so begann die Herrschaft von Adam, dem ersten und letzten der neuen Götter der Berge.

TEIL XXVI

ILLUSIONEN

9

Morrow schlug die Augen auf und klammerte sich an den Hals des Jungen. »Mommy«, murmelte sie, »Daddy, sind wir schon da? Es gab ein … ein Barbecue. David war hier.«

Aber der Junge war nicht ihr Daddy, und auch nicht ihre Mommy, und das große Barbecue hatte Morrow glücklicherweise ebenfalls verpasst. Der Junge blickte in ihre trüben Augen, während er weiterrannte, den Pfad hinauf zum Zeltlager. Dichte Nebelschwaden sah er in den Augen des Mädchens, das einst seine Freundin gewesen war, und ein Lächeln, das von fernen Wundern kündete. Von Morrow selbst war nichts mehr in diesen Augen.

Der Junge griff in seine Tasche und förderte die zerbröselten Reste der Nuss zutage, welche die weise Ariadne ihnen gegeben hatte. Mit seinen kräftigen Fingern zerrieb er die Nussreste und stopfte den Brei in Morrows geöffneten Mund.

---ENDE DER LESEPROBE---