Caroline Märklin  - Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes Glück - Charlotte von Feyerabend - E-Book
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Caroline Märklin - Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes Glück E-Book

Charlotte von Feyerabend

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Beschreibung

Reisen Sie mit einer der ersten deutschen Handelsvertreterinnen durchs 19. Jahrhundert: »Caroline Märklin – Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes Glück« ist die ebenso anrührende wie abenteuerliche historische Roman-Biografie über die Frau, deren Mut, Charme und Abenteuerlust den Aufstieg der Firma Märklin erst möglich machte.  Göppingen, 1859: Die Leute/Nachbarn sagen, Caroline Hettich hätte Glück gehabt, überhaupt noch einen Mann abzubekommen, als sie im Alter von 33 Jahren den verwitweten, 10 Jahre älteren Wilhelm Märklin heiratet. Caroline ist ein charmantes Energiebündel, das mit neuen Spielzeugideen frischen Wind in seine Blechwarenverkäufe bringt. Das 19. Jahrhundert pulsiert von neuen Ansätzen in der Pädagogik und der Industrialisierung. Eisenbahnen setzen die Welt unter Dampf und Caroline bietet als eine der ersten weiblichen Handelsreisenden der Männerwelt die Stirn. Doch überschattet eine unglückliche Liebe ihr Schicksal, die für die Firma Märklin zur entscheidenden Wende beitragen soll.  Caroline Märklin hat über Jahre die Geschicke des Familienbetriebs gelenkt, obwohl Frauen im 19. Jahrhundert als nicht geschäftsfähig galten. Mit ihrer historischen Roman-Biografie setzt Charlotte von Feyerabend einer Frau ein Denkmal, die eine Vorreiterin im Kampf für das Recht der Frauen auf einen Beruf und Selbstbestimmung war.  Entdecken Sie auch Charlotte von Feyerabends biografischen Roman über Selma Lagerlöf, die Bestseller-Autorin von »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen«, die als erste Frau überhaupt den Literaturnobelpreise erhielt.   .  

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Charlotte von Feyerabend

CarolineMärklin

Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes GlückRoman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Geschichte einer Frau, die Kinderaugen zum Leuchten brachte und ein Imperium gründete

Sie habe Glück gehabt, überhaupt noch einen Mann abzubekommen, sagen die Leute, als Caroline Hettich 1859 im Alter von 33 Jahren den Flaschner Wilhelm Märklin heiratet. In Wahrheit ist es sein Glück: Caroline ist ein charmantes Energiebündel, das mit neuen Spielzeugideen frischen Wind in seine Blechwarenverkäufe bringt. Das 19. Jahrhundert pulsiert von neuen Ansätzen im Denken und Handeln. Eisenbahnen setzen die Welt unter Dampf, und Caroline bietet als eine der ersten weiblichen Handelsreisenden der Männerwelt die Stirn. Doch eine unglückliche Liebe überschattet ihr Schicksal.

Inhaltsübersicht

Widmung

1858

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Nachwort

Anhang

Rezepte

Weitere Literatur (Auszug)

Dank

Für all die vergessenen Witwen, die weder in den Geschichtsbüchern noch in Erzählungen Einzug hielten, aber ohne deren Mut und Stärke etliche Familienunternehmen klaglos untergegangen wären.

»Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

 

Friedrich Schiller (1759–1805), Schriftsteller und Arzt

1858

Ludwigsburg

Eine tiefe Stimme tönte hinter der geschlossenen Küchentüre: »Ich weiß auch nicht, wie sie sich das vorstellt. Das kann ihr doch nicht alles egal sein, oder? Zweiunddreißig ist sie nun schon. Zweiunddreißig! Will sie nichts aus ihrem Leben machen? Einen Mann, Kinder … jünger wird sie ja auch nicht.«

Carolines rechte Hand, die die Türklinke hinunterdrücken wollte, fing an zu zittern, glitt ab. Alle gute Laune, alle Energie schien aus ihrem Körper entwichen zu sein. Wie Mehl aus einem löchrigen Sack. Nur noch eine formlose Hülle stand da und lauschte.

Töpfe klapperten, ein aromatischer Duft nach Brühe und Gemüse zog durch die Ritzen. Eine helle Frauenstimme antwortete: »Das kannst du jetzt so aber nicht sehen, sie bringt sich doch ein. Kümmert sich um die Mutter und arbeitet hin und wieder bei der Firma Dieterich1 und bei ihrer Freundin.«

»Diese Art von Arbeit schickt sich nicht. Dafür gibt es Männer. Und weißt du, bei Friederike wohnen drei Töchter. Drei! Da muss nicht auch noch Caroline … Du weißt, dass ihre Eltern früher große Stücke auf sie hielten. Wäre sie bloß als Mann auf die Welt gekommen, dann hätte sie die väterliche Firma übernommen und es gäbe sie noch heute.«

Die Frauenstimme warf ein: »Aber sie kann doch …«

Der Mann unterbrach: »Ja, ja, ich weiß … sie kann ja nichts dafür. Das hör ich jetzt seit über zehn Jahren. Seit zehn Jahren! Die Welt dreht sich weiter, wird immer schneller, wer da stehen bleibt, der … der will das ja. Der will stehen bleiben. Dabei ist sie die Begabteste von allen. Sie könnte einem Ehemann eine gute Stütze sein. Verstehst du?«

Das Klappern unterbrach. Nach einer kurzen Pause sagte die Frau: »Nein … das verstehe ich nicht. Wie soll ein gebrochenes Herz einfach so wieder ganz werden?«

Der Mann räusperte sich. »In meiner Familie sagt man immer, dass jeder seines Glückes Schmied ist, man erhitzt es so lange, bis es glüht, dann kann man es in Form bringen … So wie ich dich bereits einmal in Form gebracht habe … Und hoffentlich bald wieder.«

Ein leiser, dumpfer Laut erklang, wie er entstand, wenn ein Kochlöffel beim Umrühren gegen das dünne Blech des Topfes stieß, ein helles Lachen, herzhaftes Schmatzen, gefolgt von Geschirrklirren und leisem Platschen, als ob mit einem Schöpflöffel Flüssigkeit in Teller gegossen würde.

Aber draußen stand keiner mehr, der das hören konnte.

Und den brühegeschwängerten Lufthauch interessierte das nicht, er glitt aus den Fensterritzen und vermischte sich draußen mit dem fruchtigen Duft von Flieder. Die weißen und blauen Blüten wurden von Bienen umtanzt, die Wenn der weiße Flieder wieder blüht, sing ich dir mein schönstes Liebeslied summten. Gelb und blau getupfte Schmetterlinge gesellten sich beim Reigen um die Blumen der Liebe und der Treue dazu.

Aber auch das hörte niemand.

»Die Freiheit ist eine unveräußerliche Mitgift der Künste: und nur aus diesem Grunde nennt man sie ›freie Künste‹.«

 

Friedrich List (1789–1846 Freitod), Eisenbahnpionier und Volkswirtschaftler

Kapitel 1

Begegnung

Reisen war so viel mehr als nur eine Erfüllung von Sehnsucht. Reisen war eine Möglichkeit, der täglichen Routine zu entfliehen. Den Pflichten, den Sorgen, dem Dreck und dem Elend. Uns geht es doch gut, Mädchen, hallte die Stimme des Vaters in Carolines Kopf nach. Wir haben saubere Kleidung, immer einen Kanten Brot neben dem Teller, und ihr könnt ungezwungen aufwachsen. Mit ungezwungen meinte er, dass sie sich dreckig machen durfte, obwohl sie ein Mädchen war. Dass sie im Laden mithalf, solange es ihn gab zumindest. In der Werkstatt bedurfte es der zarten Frauenhände und ihres künstlerischen Geschicks, wenn es darum ging, Steingut anzumalen. Aber das war damals nicht Carolines Spezialität gewesen. Sie war diejenige, die ihren Vater auf immer neue Ideen brachte. Ob es dabei um die Zusammensetzung der Masse für das Steingut ging, neue Formen für Geschirr, Schalen, Vasen, Figuren oder um bei der Zusammenarbeit mit anderen Handwerkern gemeinsam schöne Dinge zu erschaffen, die nicht nur die Kunden erfreuten, sondern auch klingende Münzen eintrugen. Einmal saß sie sogar Modell für eine Figur. Ihre gerade Nase und die hohe Stirn seien elegant, dazu die langen Wimpern und die gelockten braunen Haare, die in einem Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt waren. Vater bedauerte nur, dass er nicht ihre dunklen Augen im Glanz genauso hinbekam, wie sie in echt strahlten. Sie durfte sogar zusammen mit ihrem Vater zu einer Industrieausstellung2 in Stuttgart reisen. Das würde sie nie vergessen, wie sie die riesigen Hallen bestaunt hatte mit all den Ausstellern und den Massen an Waren. Ihr Herz quoll fast über vor Freude und Bewunderung. Wie groß musste da erst ganz Deutschland sein? Oder die ganze Welt?

Ihnen ging es damals tatsächlich meistens recht gut, arm waren sie nicht, jedes der zwölf Geschwister hatte früher im Winter ein Paar Schuhe ohne Löcher und warme Kleidung gehabt. Sie konnten sich auf den Stadtfesten Süßigkeiten leisten und holten das Puppentheater zu sich nach Hause. Sogar eine Laterna magica hatten sie und staunten über die bunten Bilder, die auf der Wand im Wohnzimmer entlangzogen.

»Seitdem du auf der Welt bist, hat sich mehr geändert als in dem Jahrhundert zuvor, wir leben in einer magischen Zeit«, hatte der Vater immer wieder betont, aber auch das hatte mit Dreck und Elend zu tun gehabt. Mit der hungrigen Eisenbahn, die sich durch die Landschaft fraß und grauen Dampf ausspuckte, als ob die Kohle zu schwer zu verdauen wäre. Doch lagen diese Gespräche schon so lange zurück, dass ihre Erinnerung das väterliche gütige Gesicht nur geisterhaft ausspuckte.

Nachdem Caroline eine Runde durch die Stadt gelaufen war, ihr Herz sich beruhigt hatte und ihr Kopf wieder stillstand, kehrte sie zu ihrem Onkel Albert zurück. In ihrer Tasche wartete ja ein Brief darauf, von Albert gelesen zu werden, und sie sollte eine Bitte ihrer Mutter übermitteln. Albert war Mutters Lieblingsbruder und der beste Onkel, den man sich als Kind hatte wünschen können. Immer Zeit für ein Lächeln, ein paar nette Worte, und oft hatte er Murmeln oder andere Kleinigkeiten dabeigehabt und mit ihnen gespielt. Er arbeitete als Küfer, so wie sein Opa, sein Vater, sein Bruder und dessen ältester Sohn. Er strahlte solch eine Ruhe und Liebenswürdigkeit aus, dass seine Kunden gerne mit ihm Geschäfte machten, er einen guten Ruf genoss und sogar zum Stadtrat gewählt worden war. Dadurch hatte er es zu einem gewissen Wohlstand gebracht und wohnte in einem stattlichen Haus, neben dem sich direkt die Werkstatt befand. Dass ausgerechnet er hinter ihrem Rücken so über sie reden würde, hätte sie nie gedacht. Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest.

Als sie am Haus ankam, waren ihr Onkel und die Tante unterwegs, sie musste warten. Das tat sie am liebsten im Garten. Zwischen den Fliederbüschen, dem kleinen Nutzgarten mit Gemüse, Kräutern und den Apfelbäumen. Es war nur so still hier. Kinderlachen fehlte, welches an den Beeten entlangtobte und dem Stillleben Sinn einhauchte. Caroline schloss die Augen, lehnte sich auf dem harten Gartenstuhl zurück und fragte sich, wie jedes Mal, warum ihr Onkel an diesen verschnörkelten Eisenstühlen festhielt. Sie fand sie nicht einmal schön, den verdrehten Rosenranken sah man direkt an, dass diese nur unbequem in den Rücken stachen und piksten. Dinge waren einfach nur Dinge. Auch Mutters hübsche Steingutteller mit Blumenmustern konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Suppe früher doch öfters aus der Hauptzutat Wasser bestanden hatte. »Durststrecken gibt es immer«, raunte Vaters Stimme in ihrem Kopf, »die Frage ist, was machst du draus?«

Eine Biene brummte an Carolines Nase vorbei, die schwarzen Füßchen voll bepackt mit gelben Lavendelpollen. Caroline öffnete erschrocken die Augen und wischte reflexartig mit der Hand über den Nasenrücken. Bei der schnellen Bewegung fiel der Brief aus der Tasche ihres braunen Leinenkleides. Sie hob ihn auf. Er war heute frisch mit der Post eingetroffen, doch vom vielen Lesen bereits ganz verknickt. Die Briefmarken schmückten fremdartige Symbole, und auch der Poststempel war nicht zu entziffern. Ihr Bruder Carl hatte geschrieben, aus Russland. Gleich an die ganze Familie. Pragmatisch war er schon immer. Sie zog die drei eng beschriebenen Blätter aus dem Umschlag und überflog die ersten Absätze, bis sie zu einer Stelle kam, die an sie gerichtet war. Halblaut las sie:

Liebe Caroline,

jetzt haben wir uns schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie Du weißt, laufen die Geschäfte hier in Russland recht gut, aber da meine Frau ja in anderen Umständen ist, könnten wir Hilfe gebrauchen. Nicht nur mit den Kindern, damit sie eine weitere Person haben, mit der sie Deutsch reden, sondern ich würde mich ab und an über Rat und Tat bei meiner Arbeit freuen. Vor fünf Jahren wurde die Produktion in der Fabrik auf Fayencé umgestellt, und die Glasur bröckelt teilweise immer noch ab, das gleiche Problem hatte Vater damals doch auch. Und Du als Frau hattest es oft schnell verstanden, die Wünsche der Käuferinnen umzusetzen. Manchmal wusstest Du sogar, was sie wollten, bevor diese es selbst erahnten. Könntest Du es Dir vorstellen, zu mir zu kommen und hier mit uns zu leben? Neben Kost und Logis und einem Entgelt würde ich Dir freie Tage zusichern, weiß ich doch, wie begeistert Du den Erzählungen aus der Fremde gelauscht hast. Als Vater damals zum König reiste, musste er uns seine Erlebnisse immer wieder erzählen. Wir hingen gebannt an seinen Lippen, und Du fragtest ihm Löcher in den Bauch. Ich bin mir sicher, dass Du hier im Gouvernement Kaluga3 fasziniert sein wirst, in eine andere Kultur blicken zu können. Ich würde sogar behaupten, dass die russischen Frauen selbstbewusster sind wie die deutschen, sie wirken so stolz in ihren Trachten. Und General Malzow ist der fortschrittlichste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Stell Dir vor, er hat nicht nur bei seinem Vater dafür gesorgt, dass die Eisenwerke auf Eisenbahnen und Schienen umstellen, sondern er lässt die Arbeiter nur acht Stunden arbeiten, und sie bekommen Wohnungen mit drei bis vier Zimmern gestellt. Das ist noch nicht alles: Wenn mal jemand krank wird, dann bekommt er eine ärztliche Versorgung, und Brennmaterial gibt’s obendrauf. Beides kostenfrei. Das hätten wir als Kinder nicht zu träumen gewagt, oder? Du kannst Dir vorstellen, dass aus Russland nicht so viele nach den USA4 auswandern, wie …

Ein Schatten legte sich auf das Blatt, und jemand räusperte sich. Caroline zuckte zusammen, fühlte sich erwischt, als hätte sie etwas Verbotenes getan, faltete schnell die Zettel, stopfte sie in den Umschlag und verstaute sie wieder in den Tiefen ihres Kleides.

Ein hochgewachsener Mann stand vor ihr, mit dunkelblonden, fingerlangen Haaren. Es war Wilhelm Märklin, ein oft gesehener Gast des Hauses. Seine Schwester war die erste Ehefrau von Albert gewesen, bis diese vor acht Jahren verstorben war. Traurig sahen Wilhelms Augen aus, müde. Die Haut grau, die Haltung gebeugt.

»Fräulein Hettich, es tut mir leid, wenn ich Sie störe. Ich suche Ihren Onkel.«

»Stören?«, wiederholte sie, knipste ein kurzes, verlegenes Lachen dazu an und erhob sich. »Er muss in der nächsten Stunde wiederkommen, er liefert gerade mit seinem Lehrling zusammen einige Fässer aus. Zum Bierbrauer, deshalb kann es auch länger dauern. Seine Frau ist Erledigungen machen in der Stadt, somit treffen Sie nur die Dienstboten im Haus an. Wollen Sie sich vielleicht zu mir setzen?«

Wilhelm nahm neben ihr Platz, drückte seinen Rücken durch und schob seinen Po auf dem Stuhl herum, als ob er keine bequeme Position finden könnte. »Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte er.

»Ganz gut, sie hat ja ihre Heimarbeit und ihre Evangelien. Und ihre gute Laune hat sie auch noch nicht verlernt. Wie geht es Ihren Töchtern?«

Wilhelms Gesicht verdüsterte sich wieder, sein Blick konzentrierte sich auf seine abgetragenen dunkelbraunen Lederschuhe. »Ich weiß nicht. Sie sind tapfer. Wir haben ja keine Zeit … keine Zeit, richtig zu trauern. Aber ihnen fehlt natürlich die Mutter. Dabei ist es schon fast ein halbes Jahr her.« Er stockte und redete schnell weiter: »Aber damit will ich Sie gar nicht belästigen, entschuldigen Sie bitte.«

Genau das richtige Thema getroffen, dachte Caroline und fuhr sich über ihre Schläfe, um einzelne dunkelbraune Haarsträhnen hinter ihr Ohr zu streichen, die vorwitzigerweise aus der Hochsteckfrisur geflüchtet waren. Tod und Trauer … überall, wo man hinschaute.

»Ach, das ist doch nicht schlimm, Sie sind doch ein Teil der Familie, da … da darf man auch über so etwas reden. Bringen Sie die beiden Mädchen das nächste Mal doch mit! Albert freut sich bestimmt, sie mal wiederzusehen. Ich kann mich hier auch um sie kümmern, falls Sie wollen und geschäftlich zu tun haben. Wissen Sie, etwas Abwechslung bringt bestimmt gute Laune. Sagt man das nicht so? Wie war denn Ihre Reise?«

»Gerne, danke, das ist nett. Ich bin von einem Nachbarn, dem Fuhrunternehmer Wackler, ein Stück mitgenommen worden, das macht die Reise natürlich angenehmer, als die ganze Strecke zu Fuß zu marschieren.«

»Warum nehmen Sie denn nicht den Zug?«

»Das spart man sich für besondere Gelegenheiten auf, das kostet ja jedes Mal ein paar Münzen. Aber ja, warum nicht. Dann wäre nur noch ein Drittel der Wegstrecke zu Fuß zu gehen.« Er schaute sie an und schien zu überlegen. »Am Ende des Monats ist in Göppingen das Maifest. Ich glaube, dass Albert und Wilhelmine runterkommen wollen. Falls Sie Lust hätten, sich anzuschließen? Ich lade Sie auch auf ein Hähnchen ein. Das gehört dort zum Brauch.«

Caroline lachte. »Das klingt verlockend. Aber nein, nein danke.«

In der Werkstatt klapperte die Tür, und Alberts Stimme erklang.

Wilhelm erhob sich. »Warten Sie auch auf Albert?«

»Ja, aber das hat Zeit, gehen Sie ruhig zuerst.«

»Danke, dann will ich ihn mal begrüßen. Bis bald, Fräulein Hettich. Es war schön, Sie mal wieder zu sehen. Und überlegen Sie es sich doch noch einmal, Reisen bringt auch Abwechslung, und so wie Sie vorhin selbst sagten, auch etwas gute Laune.«

Caroline erfasste die gereichte Hand und schüttelte sie. Ein Grübchen hatte sich neben Wilhelms rechtem Mundwinkel gebildet. Nett, dachte Caroline und erinnerte sich an die Hochzeit von Wilhelms Schwester und ihrem Onkel. Damals war sie gerade mal fünfzehn gewesen, hatte den ganzen Abend lang getanzt, kannte keine hübschere Braut und keine glücklicheren Menschen, auch Wilhelms Grübchen war damals zu sehen gewesen. Zu der Zeit hatte ihr Vater noch gelebt, und sie selbst war das erste Mal verliebt gewesen. In einen Ludwigsburger Gesellen. Das alles schien so weit weg und so unwirklich, als hätte sie eine erfundene Geschichte über Fremde gelesen.

 

Nachdem Caroline später Albert den Brief zum Lesen gegeben und die Bitte ihrer Mutter, die ein Holzfass benötigte, vorgebracht hatte, wollte sie das Wohnzimmer gleich verlassen und gehen. Sie schlug die Einladung zum Abendessen aus, was sie sonst nie machte. Aber in ihrem Kopf dröhnten die Worte nach: so große Stücke … ihre Eltern hatten so große Stücke auf sie gegeben. Es fühlte sich einfach falsch an, hier zu sein, hier zu sitzen, zu lächeln, dem Gespräch der Männer zu lauschen, die über Wilhelms geplante Erweiterung seiner Flaschnerei sprachen. Er hatte sich erst zwei Jahre vor dem Tod seiner Frau selbstständig gemacht, in Räume, Werkzeug, Weißblech und einen Lehrling investiert, das sollte jetzt nicht alles umsonst gewesen sein.

Als Caroline aufstand, hielt Albert sie am Arm zurück, schickte seine Frau los, ein großes Stück Käse einzupacken, und sagte: »Caroline, was meinst du?«

»Zu was? Den Flaschnereiumbauten? Ich denke, dass sich auch hier in Ludwigsburg gerade einige vergrößern. Man spürt förmlich, wie wir uns dank des Bahnhofs verändern. Seitdem die Firma Franck sich hier vor zehn Jahren angesiedelt hat, kommen immer mehr. Bald wird’s westlich von den Gleisen eng. Man muss sich anpassen, und das Drücken des Blechs ist ja fast ähnlich wie mit den Formen beim Steingut, ich würde …«

»Nein«, Albert unterbrach sie unwirsch. »Das sind Männerthemen. Ich meine, was dein Bruder vorgeschlagen hat. Denkst du über Russland nach? Dort im Haushalt mitzuhelfen? Ich weiß auch noch, wie verzückt du als Kind den Märchen und Sagen gelauscht hast und immer selbst auf Reisen gehen wolltest, Abenteuer erleben.«

»Ich denke darüber nach, ja, Onkel. Du weißt ja, ich werde auch nicht jünger.« Caroline biss sich auf die Lippe und sah, wie Albert die Augenbrauen hob. »Aber ich muss jetzt gehen.« Sie nickte dem Gast zu. »Herr Märklin, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Mein Vater pflegte stets zu sagen: ›Ohne große Träume kann man nur klein bleiben.‹«

Als sie zur Küche hinausging, spürte sie die Blicke der zwei Männer in ihrem Nacken. Einen kritischen und einen, den sie nicht einschätzen konnte. Es fühlte sich an, als würden kleine Messer in ihren Hals piksen. Caroline erschauerte.

 

Sie hatte einen Fußweg von einer Viertelstunde vor sich. Sonst genoss sie es, in der stets auf Hochglanz polierten Stadt zu flanieren. Hohe Bäume schirmten den Park des Residenzschlosses von der Straße ab. Mehrere Reihen Grün waren das. Ein Sichtschutz zu den mit Lineal gezogenen Beeten und zurechtgestutzten Pflanzen, die mit ihrem Wachstum der Gunst der Gärtner ausgeliefert waren. Vorbei an breiten Alleen, über den weit offenen Rathausplatz mit seinen stattlichen Gebäuden, an der Töchterbildungsanstalt, immer Richtung Bahnhof. Selbst wenn es dunkel wäre, könnte man den Weg finden, indem man sich an dem lauten Geschnaufe und dem klingenden Lärm orientierte, der von dort seine Kreise zog.

Ohne etwas von ihrem Weg wahrgenommen zu haben, kam sie kurz darauf vor den zwei Gebäuden an, die in einem rechten Winkel einen Innenhof bildeten, in dem der alte Brennofen stand. Sofort stieg ihr der erdige Geruch wieder in die Nase, die Hitze schlug ihr ins Gesicht, wurde das Steingut doch bei über tausend Grad Celsius gebrannt. Im Sommer hörte der Schweiß gar nicht mehr auf, vom Kopf bis zum Bauchnabel zu strömen. Der dumpfe Klang, wenn das fertig Gebrannte rausgeholt wurde und an die Seiten des Ofens stieß, die hellen Stimmen der Geschwister, das Lachen, die Leichtigkeit.

Ein Jahr, bis vor einem Jahr hatte das hier alles noch gelebt, geatmet, und nun?

Mit schnellem Schritt ging sie daran vorbei, heute war keine Zeit, in alten Erinnerungen zu versinken.

In ihrem Elternhaus wohnten die Mutter, ihre beiden Schwestern und Herr Stodinger, der als Arsenal-Schreiber seinen Lebensunterhalt verdiente. Als Arsenal-Schreiber musste sich der Mieter den ganzen Tag mit dem Waffenlager des Militärs beschäftigen, ein Thema, das sich unweigerlich ums Töten drehte, Caroline konnte dem nichts abgewinnen. Im Gegenteil, der Mann war ihr sogar unheimlich. Er schien immer nach Schwarzpulver zu riechen, was schwer auf seinem Gemüt lag, und seine Militärgeschichten langweilten sie schnell.

Ihre Mutter Friederike saß in der Küche am Tisch und nähte. Der Raum hatte sich seit Carolines Kindheit kaum verändert, knarrende Dielen unter ihren Füßen, Holzbalken an der Decke, der große Ofen, der dem Raum schwarze Rußspuren hinzugefügt hatte, die lange Tafel, der Geruch nach Geräuchertem, der Blick durchs Fenster auf den Hof.

»Linchen, bleibst du gar nicht bis zum Abendessen bei Albert?« Mit einem Lächeln sah Friederike auf und legte ihr Arbeitszeug in den Schoß. Falten umschmiegten die Augen, das Gesicht sah aus, als hätte jemand mit einem Modellierwerkzeug in Ton etwas grober gearbeitet.

»Nein, Mutter, ich wollte noch für Dieterich etwas vorbereiten. Ich versprach ihm, einen Entwurf fertig zu machen.«

»Dass der ausgerechnet dich um so etwas bittet. Du weißt, dass darüber geredet wird.«

»Worüber? Dass ich mein Geld nicht als Dienstmädchen, in der Fabrik oder mit Heimarbeit verdiene?«

Friederike zögerte. »Ich bin wirklich von Gott gesegnet, dass er mir so begabte Kinder schenkte. Sag, was gibt es Neues von Albert?«

In Carolines Augen sammelten sich Tränen, sie drehte sich schnell weg, griff nach der Karaffe auf dem Tisch, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Ihre Mutter erhob sich und kam zu ihr, streichelte ihre Wange, so wie sie es früher schon gemacht hatte. Nun mit einer Hand voll dicker Schwielen, so wie man sie sich nur mit langem Arbeiten verdienen konnte, aber sie fühlten sich noch immer weich und vertraut an.

Eine Träne rann aus Carolines Augenwinkel, die sie sich hastig wegwischte.

»Mein liebes Kind, keiner muss sich seiner Tränen schämen. In der Trauer liegt etwas Reinigendes. Gott spricht von ›Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten‹. Was bedrückt dich denn?«

»Nichts, Mama.« Caroline trank einen kleinen, schnellen Schluck.

»Ist es wegen deinen Brüdern? Einer in Russland, zwei in Amerika, und Sofie spricht jetzt auch schon von Chicago, wobei das doch eher von ihrem Freund ausgeht. Ich bin ja froh, dass ich noch ein paar von euch hier habe.«

»Mama!«, Carolines Stimme klang gequält. »Nein, es ist nichts. Nur so ein …«

Mit einem »Hallihallo, Schwesterherz« wurde die Türe aufgestoßen, und ihre Schwester, die nach ihrer Mutter auf den Namen Friederike getauft worden war, stürmte herein, umarmte zuerst Caroline und gab dann der Mutter einen Kuss auf den Kopf. Mit roten Wangen griff sie nach Carolines Glas und trank es auf einen Zug leer. »Wisst ihr, was es für Neuigkeiten gibt? Nächstes Jahr wird das Schillerfest gefeiert, ganz groß, mit Aufzug und Fackeln, der hundertste Geburtstag fällt mit der Beendigung der Märzrevolution vor zehn Jahren zusammen. Da knallt es in ganz Ludwigsburg, hier ist der alte Schiller ja immerhin groß geworden. Ob er in unserer Stadt wohl Streiche angestellt hat? Und ob er hier das erste Mal verliebt war?«

»Rieke«, mahnte die Mutter mit lauter Stimme.

Doch diese ließ sich nicht beirren, sprach jetzt aber ernster. »Sagte nicht schon Schiller über die Würde der Frauen:

Ehret die Frauen! Sie flechten und weben

Himmlische Rosen ins irdische Leben,

Flechten der Liebe beglückendes Band,

Und in der Grazie züchtigem Schleier

Nähren sie wachsam das ewige Feuer

Schöner Gefühle mit heiliger Hand.«

»Riekchen«, sagte die Mutter erstaunt. »Seit wann zitierst du Schiller, und woher weißt du das mit dem Fest überhaupt schon wieder?«

»Das erzählt man sich unten beim Bäcker, und der muss das ja wissen, der weiß doch alles. Und Caro …«, sie senkte die Stimme, »er hat mich gefragt.«

»Was? Der Bäcker? Was denn? Wie viele Brötchen du wolltest?«

Friederikes Stimme sprang eine Oktave höher. »Nein, Carl Sorn5. Ob ich mit ihm mal eine Ausfahrt machen will.«

»Und?«

»Na klar!«

»Schwesterlein, du bist doch viel zu schade für die Männer dieser Welt.«

»Und du zu schlau. Ich bin lieber dumm und heirate und werde Kinder haben und einen schicken Mann, der mir Blumen kauft und mit mir am Wochenende mit dem Zweispänner durch die Stadt fährt.« Ihre Stimme wurde leiser, sodass es nur die Schwester verstehen konnte. »Und mich küsst, küsst, küsst.«

Caro fasste ihre Schwester an den Händen, sagte: »Jünger werden wir wohl nicht mehr«, zog sie in die Küchenmitte, wo sie mit ihr wild durch den Raum tanzte und ein Liedchen trällerte. Die Augen der Mutter folgten ihr, durchdrangen sie. Ob sie den Schmerz sehen konnten, den sie in ihrem Inneren hütete wie einen vergrabenen Schatz? Manchmal war es genau dieser Schmerz, der sie überhaupt spüren ließ, dass sie lebte.

* * *

Die Sonne machte sich bereit, in Sinkflug zu gehen, als Caroline durch die Straßen lief. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Kreise auf den Boden. Als die Gaslichter vor wenigen Jahren errichtet worden waren, klagten die Bewohner der Häuser, dass sie aufgrund des hellen Scheins nicht in den Schlaf finden würden. Aber für abendliche Ausflüge waren sie Gold wert. Caro spielte oft ein Spiel, indem sie versuchte, von einem Lichtkreis in den nächsten zu hüpfen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keiner in der Nähe war. Als Erwachsener hüpfte man ja auf den Straßen nicht mehr. Höchstens ein Bein war gebrochen, oder da lag ein großer Haufen Pferdeäpfel und man kam aufgrund von Matsch nicht drum rum. Caroline eilte am Arsenalplatz vorbei, den lang gestreckten Gebäuden der Kasernen, die der Militärstadt genug Platz für das stehende Heer boten. Im Hintergrund erhob sich die Stadtkirche und zeigte mit ihren Türmen in Richtung Gott.

Als sie vor der Asperger Straße 3 stand, las sie wie immer die großen goldenen Buchstaben, die die Schrift Neubertsche Buchhandlung bildeten, und betrachtete die großen Fenster, hinter denen unzählige Bücher, Schreibwaren und Postkarten lagen, dazwischen befanden sich eine Steingutvase mitsamt blau-gelbem Blütenstrauß und nett hindrapiert Gartenwerkzeuge in Miniaturgröße. Der Frühling lockte ja nicht nur die knospenden Blüten hervor, sondern auch die Gärtner mitsamt Ausstattung. Caroline lächelte, diese Idee kam von ihr. Die Firma Dieterich, C. F., Lampen- und Lackierwarenfabrik, für die sie ab und zu arbeitete, fabrizierte Küchengeräte, Gartengeräte, Stallgerätschaften und Werkzeug in Kinderhändegröße. Das war natürlich nur eine kleine Nische ihrer Produktion, das Gros waren Lampen und Lackierwaren. Das Mitgestalten von Auslagen, sodass die Kunden stehen blieben und im besten Fall das Geschäft betraten und etwas kauften, machte Caro großen Spaß. Sie legte den Kopf in den Nacken, schaute an der ersten Etage vorbei, in der sich die Buchhandlung weiter ausdehnte, und sah, dass noch eins drüber, in der zweiten Etage, hinter den zugezogenen Vorhängen, alles hell erleuchtet war. Schnell trat sie neben dem Buchladen durch das schwere Holztor, die Treppen im Treppenhaus hinauf und klopfte an die Tür.

Zögerlich wurde diese geöffnet, und ein verwundertes Gesicht blickte ihr entgegen.

»So spät?« Die Frau6 hatte große hellblaue Augen, schokoladenbraune Haare, die in einzelnen Strähnen wirr um ihren Kopf hingen.

»Darf ich?« Caroline schob die Tür weiter auf, trat an der Frau vorbei ins Innere und fragte mit ernster Stimme: »Fräulein Caroline, wie geht es Ihnen?«

Die andere antwortete in feierlichem Ton: »Ganz gut, besten Dank. Und Ihnen, Fräulein Caroline?«

Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck von beiden, und sie lachten herzhaft. Nachdem sie vor Jahren herausgefunden hatten, dass sie auf den gleichen Vornamen hörten, ließen sie ihre Begrüßung stets nach einem ähnlichen Muster ablaufen. Sie umarmten sich, Caro hängte ihren Mantel an die Garderobe, und sie traten ins Wohnzimmer, wo ein gemütlicher gekachelter Kamin vor sich hin bollerte. Davor standen ein Lehnstuhl, ein kleines Tischchen, auf dem sich ein Stapel Bücher gerade noch so aufrecht halten konnte, und überall tanzten die Flammen von kleinen und großen Kerzen und Petroleumlampen, die damit das ganze Zimmer in Bewegung brachten und interessante Schattenspiele warfen. Somit auch auf ein Ölgemälde, das an der Wand hing und eine Kopie von Der Sonntagsspaziergang des Künstlers Carl Spitzweg zeigte. Eine beschauliche Darstellung von einem Weizenfeld unter einem wolkig blauen Himmel und einer hintereinander spazieren gehenden, wohlbekleideten Familie, was nur so von Bürgertum und Ironie strotzte.

»Hat dein Dienstmädchen heute frei?« Caroline zog einen Stuhl näher an den Kamin, schnappte sich das oberste Buch vom Stapel, schaute auf den Titel, auf dem der Name des Autors Theodor Storm stand, klappte es auf und las:

»Da hab ich den ganzen Tag dekretiert;

Und es hätte mich fast wie so manchen verführt:

Ich spürte das kleine dumme Vergnügen,

Was abzumachen, was fertigzukriegen.«

Mit einem Grinsen legte sie es neben den Bücherberg und schlug das nächste auf, was den Titel Emigrantengeschichten7. Erzählungen aus dem amerikanischen Leben von Theodor Griesinger trug. Sie las:

»Die nachfolgenden Erzählungen sind vielleicht nicht gerade so passiert, wie sie hier niedergeschrieben wurden; aber sie beruhen auf Tatsachen und hätten können so passieren. Wenigstens kann man die Charaktere, die drin vorkommen, dutzendweise in Amerika finden. Somit hoffe ich, werden diese Emigrantengeschichten nicht bloß zur Unterhaltung dienen, sondern auch hie und da einen darüber belehren, wie es in Amerika zugeht, und besonders wie sich die Deutschen in diesem Lande benehmen und befinden.«

Carolines Augen huschten über die nächsten Seiten, bis sie ihre Freundin fragend anschaute. »Das erste Kapitel heißt Der reiche Vetter in Amerika und handelt von einem Robert Keller aus Holzmaden bei Stuttgart. Das ist nicht zufälligerweise ein Verwandter von dir?«

Ihre Freundin Lina, wie sie von Caroline genannt wurde, schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihr. »Nein, ich bin zu alt, um nach Amerika auszuwandern. Aber es ist schon sehr abenteuerlich, was unsere Landsleute da erleben. Und Buchhandlungen könnten sie mit Sicherheit dort auch vertragen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Je älter ich werde, desto mehr Wärme brauche ich. Und Ruhe. Liebe Freundin, ich habe mich entschieden.«

»Nein!«

»Doch.«

»Ha, ich finde das echt gut.« Caroline trat zum Fenster und schaute raus. Die Fußgänger schoben sich aus den hellen Klecksen ins Dunkle, vom Dunklen ins Helle, als ob sie eine eigene Version von Schach oder Dame spielen würden. »Ist es jetzt der geworden mit dem passenden Namen?«

Lina nickte und lachte. »Herr Ungeheuer wird demnächst als Gehilfe anfangen. Dann habe ich endlich wieder mehr Zeit. Ungeheuer viel Zeit.«

»Als ob du dann mehr Zeit hättest! Für was? Um noch mehr Bücher zu lesen? Du verkriechst dich dann nur noch mehr in deiner Höhle. Entweder im Buchladen oder hier.«

»Ja, ja, ich befürchte das«, Lina seufzte. »Aber weißt du, nächstes Jahr ist Schillerfest, und ich will dazu passend eine Neuauflage von Postkarten machen, das dauert alles seine Zeit, und dann muss ich schauen, welchen Beitrag wir zum Fest leisten können. Eigentlich mag ich ja Feste, aber am liebsten als Gast, der einfach nur kommt, guckt, isst, tanzt und dann wieder geht. Komm, schau mal.« Lina zog einen Stapel Blätter vom Tisch und breitete sie vor ihren Stühlen auf dem Boden aus. Es waren einige Bleistiftzeichnungen, die ein Gesicht zeigten, Bücher, Häuser, Straßenzüge sowie einige Zitate wie: Die Liebe ist der Liebe Preis oder Des Menschen Wille, das ist sein Glück.

Caroline schürzte ihre Lippen und betrachtete sie der Reihe nach. »Ganz nett. Und Lina, hast du am Ende des Monats Zeit?«

»Nett? Nett hört sich so nach … nett an. Das ist mir zu wenig. Ich schlage mir hier nicht die Abende um die Ohren, um ein nett zu hören. Das muss atemberaubend sein, ein sofortiger Kaufimpuls soll einsetzen, und die ganze Stadt mitsamt den Nachbarstädten soll über meine Postkarten reden!«

Caroline stupste sie in die Seite. Obwohl ihre Freundin fünfzehn Jahre älter war, versprühte sie oft einen jugendlicheren Elan als sie selbst. Manchmal hatte Caro das Gefühl, dass ihr Kopf in einem Steingutpott steckte, der ihr die Sinne dämpfte. Aber sie konnte sich schütteln, wie sie wollte, er klebte fest. Lina war das lebendige Gegenteil von gedämpft, sie hatte nach dem Tod ihres Mannes vor über zwei Jahren die Geschäfte selbst in die Hände genommen, nachdem sie ihr Herzblut und ihre Leidenschaft für Literatur und Kunst während ihrer Ehe so weit entwickelt hatte, dass sie das alles nicht hatte verkaufen und loslassen können. Es kam nicht selten vor, dass sie mit einem Buch auf dem Schoß und heruntergebrannten Kerzen am nächsten Morgen aufwachte. Eigentlich sollte das Dienstmädchen nie freibekommen, alleine, um das Haus zu retten. Oft genug beklagte sich ihre Freundin dennoch, dass sie es als Frau schwer hatte: Bei Vertragsverhandlungen wurde sie nicht ernst genommen, musste sich ständig rechtfertigen, ihre Zähne und Krallen ausfahren, und das unter einem Deckmantel von unterwürfiger Freundlichkeit, so wie es die Männerwelt von Frauen einforderte. Das Unterwürfige zumindest. Von einem Gehilfen versprach sie sich etwas Erleichterung im Alltagsgeschäft, irgendwann war sie es müde geworden, Tag für Tag die gleichen Kämpfe auszufechten.

»Und, hast du jetzt am Ende des Monats Zeit? In Göppingen ist das Maienfest, und ich überlege, dort hinzufahren, mit Onkel Albert und seiner Frau.«

»Nach Göppingen? Mhm, kam nicht Rosina Dorothea Knoer aus Göppingen? Ihr Kochbuch verkaufte sich recht gut. Ihr Spätzlerezept ist auch wirklich zu lecker.«

»Lina!«

»Ach, ähm … ich kann dir das noch nicht sagen, da gehen doch sicherlich gleich ein paar Tage drauf, oder? Du weißt, dass ich hier unabkömmlich bin.«

»Unabkömmlich? Du meinst, deine Bücher fangen an zu weinen, weil du ihnen kein Schlaflied singst?«

Lina schmiss ein besticktes Zierkissen nach Caroline, doch duckte sich diese weg, und das Kissen fegte von einem anderen Tisch einen Stapel Bücher hinunter, der polternd zu Boden fiel.

»Steckt da noch mehr dahinter?« Lina hob das Heruntergefallene auf und drohte ihrer Freundin mit dem Kissen.

»Wie meinst du das? Und ja, ich nehme gerne eine Tasse Tee.«

»Frech wie immer. Liebste Caro, dein Reisen war in den letzten Jahren doch recht eingeschränkt, und das Göppinger Stadtfest soll sehr nett sein. Nett. Aber?«

Während Lina ihr aus einer Teekanne etwas in eine weiße Steinguttasse füllte, die noch aus der Hettischen Fabrik stammte und blaue Blumen auf eierschalfarbenem weißem Untergrund zeigte, zuckte Caroline mit den Schultern. »Ach weißt du, Carl hat geschrieben. Ob ich nach Russland ziehen will, um auf seine Kinder aufzupassen und ihm bei der Fabrikarbeit zur Hand zu gehen. So ganz dezent im Hintergrund.«

Während ihre Freundin die Augen verdrehte, fuhr sie fort: »Und Onkel Albert sieht mich wohl als Verschwendung an das weibliche Geschlecht an … als Mann hätte ich doch das Unternehmen von Vater übernehmen und retten können. Carl hatte es immerhin zehn Jahre versucht. Aber du weißt ja, dass wir nie mehr als zwei bis drei Angestellte hatten. Wir konnten so gar nicht groß werden. Auch dass Mutter nicht weitermachen wollte, das übersieht er total. Außerdem fehlte uns das Geld, trotz der ganzen Auszeichnungen bei den Messen, wir mussten erst mal die Restschulden nach Vaters Tod tilgen. Dabei hätten wir die Konkurrenz aus Schramberg an den Hörnern packen können, unsere Qualität war so viel besser …« Caroline seufzte schwer.

»Mach dich doch damit nicht immer so verrückt, nicht alle Pläne im Leben gehen nun einmal so auf, wie man es sich wünscht. Nach vorne schauen! So. Warum reist du also nach Göppingen?«

»Bei Albert war heute der Herr Märklin, und der hat mich mit den anderen eingeladen.«

»Märklin? Das ist doch Alberts Schwager von seiner ersten Frau, oder? Ist sie nicht so jung gestorben?«

»Ja, mit fünfunddreißig. Schrecklich war das. Erst zwei Totgeburten, und dann stirbt sie auch noch selbst. Sie war so eine liebe, nette Person. Ich bewundere meinen Onkel, wie er seinen Humor bewahren kann, bei der ganzen Trauer in seinem Haus. Er hatte ziemlich lange bis zu seiner zweiten Ehe gewartet, über fünf Jahre, und dann lebt das dritte Kind nur einen Tag. Das war hart. Ich glaube, dass diese Trauer um die Toten ihn und seinen Schwager auch so verbindet. Märklin blieben von seinen zehn Kindern auch nur zwei. Und dann auch noch seine Frau.«

Lina räusperte sich. »Der Märklin, der ist Flaschner, nicht wahr?«

Caroline nickte. »Und ich will auch mal hier raus, ich brauche Zeit zum Nachdenken. Etwas Abstand.«

Lina legte ihren Kopf schräg. »Wenn du nach Russland ziehst, dann hilft mir hier ja gar keiner mehr mit den Schaufenstern, dem Aufräumen, Auspacken, der Buchhaltung, und wer trinkt dann meinen Tee aus? Der ist so teuer und selten, was mach ich denn dann mit dem ganzen Geld, was ich spare? … Ich bin jetzt schon dagegen.«

Die Freundinnen umarmten sich, und Lina flüsterte. »Ich finde es gut, wenn sich bei dir etwas verändert. Du bist eine so tolle Frau und hast so viele Ideen. Oder willst du dir einen Mann aus der Kaserne angeln? Deine Schwester hat da doch einen netten Kavalier gefunden, oder nicht?«

Die Augen von Caroline füllten sich mit Tränen. »Nein. Bestimmt nicht. Von Männern bin ich genug enttäuscht worden.«

»Caro, Liebes. Das war einer. Ein einziger. Und nicht alle sind so. Glaube mir.«

»Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstandes und der Civilisation nach allen ihren Verzweigungen.«

 

Friedrich List

Kapitel 2

In Bewegung

Ein paar Monate später, Juni 1858,Zwischen Ludwigsburg und Göppingen

Jedes Mal, wenn der Zug über die Gleise ratterte und dabei ins Schaukeln geriet, jubelte es aus der Sitzgruppe hinter ihnen. Drei Mädchen mit hellen Kleidern und niedlichen, mit Bändern verzierten Hütchen hielten sich an den Händen und lachten, bis die Gesichter nur noch aus einem einzigen Sonnenschein bestanden. Zuweilen zwickten sie sich gegenseitig in die Seiten oder klatschten vor Begeisterung. Im geschlossenen Abteil saßen so viele Menschen, dass sogar der Lärm sich manchmal hoch über die Köpfe erhob, um sich eine Auszeit zu gönnen. Eine Reihe hinter ihnen gackerte ein Huhn, das von einer Bäuerin auf dem schürzenbekleideten Schoß festgehalten wurde, in einer anderen Reihe grunzte ein Schwein, und neben ihnen stapelten sich drei Koffer neben einem einzelnen Mann, die wohl nicht mehr in den Gepäckwagen gepasst hatten. Caroline tippte auf einen Handelsreisenden, der mit Musterkoffern unterwegs war, denn sonst sah man selten Männer mit so viel Gepäck. Es war so ein Gedränge und ein Lärm, wie es Caroline sonst nur von Märkten kannte, wenn es eine Theatervorführung gab. Sie schaute aus dem Zugfenster und versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Die Landschaft zog vorbei, so schnell, dass der Blick Mühe hatte, den Bewegungen zu folgen. Kaum hatten die Augen einen Baum erfasst, lag er schon hinter ihnen, es blieb keine Zeit, Einzelheiten, wie den Wuchs der Äste oder Details wie einen Vogel im Nest wahrzunehmen. Und doch konnte sie den Blick nicht abwenden. Es war fast ein Gefühl von Fliegen, was sie dabei empfand. So oft kam sie nicht in den Genuss dieses schnellen Reisens. Warum auch, ihr Leben fand in Ludwigsburg statt. Was das für ein Unterschied zu früher war, als man in einer Kutsche gesessen hatte und von einem müden Gaul gezogen worden war. Jetzt konnte man nicht einfach am Wegesrand anhalten, um mit einem Bauern über die Ernte oder Neuigkeiten aus der Gegend zu reden. Der Zug riss einen fort von den Düften und dem Spüren der Umgebung, es blieb nur noch das Schauen.

Albert saß neben ihr und unterhielt sich mit seiner Frau Wilhelmine, die Caro gegenüberhockte. »Weißt du noch, was damals in den Zeitungen stand? Dass die Lok explodieren würde und die Menschen wegen der Geschwindigkeit verrückt werden könnten. Unser menschliches Gehirn wäre von dieser Weise zu reisen zu verwirrt. Behauptete zumindest ein Gutachten des Obermedizinalkollegiums8. Dabei ist ein Pferd im Galopp auch nicht so viel langsamer.«

Wilhelmine beugte sich vor und nahm seine Hand. »Stand nicht auch in der Zeitung, dass die Schienen auf dem sandigen Untergrund des Bahndamms verrutschen würden?«

Ihr Mann lächelte. »Oder dass der Lärm und der Dampf die Pferde auf den Chausseen durchgehen ließen. Es ist ja gut, wenn man mit einer gesunden Portion Skepsis auf Neuerungen schaut, aber das war abstrus, findest du nicht?«

»Mhm. Es dachten ja auch einige genau andersherum. Das war doch der Namensvetter von dir, auch ein List, der das alles befeuert hat. Die Lust am Reisen liegt euch wohl im Blut.«

»Na ja, das ist jetzt schon stark übertrieben, meine Liebe. Mit Friedrich List kann ich nicht mithalten. Ich glaube, dass keiner aus der stark verzweigten Verwandtschaft das überhaupt nur ansatzweise schafft. Seitdem er sich nach seiner Rückkehr aus Amerika in Augsburg niedergelassen hatte, sah man auch wenig von ihm. Und wir waren ja nur sehr entfernt verwandt.«9

Seine Frau fragte: »Ist er nicht mit Robert und Clara Schumann befreundet?«

»Ja, so heißt es, auch Heinrich Heine soll bei ihm ein und aus gegangen sein.«

»Siehst du, da passt er ja gar nicht zu uns. Soll man nicht lieber unter seinesgleichen bleiben?«

»Mein Liebes, er ist doch schon seit zehn Jahren tot. Uns bleibt nur seinesgleichen übrig, wir haben da gar keine Wahl!«

Während Wilhelmine verlegen schwieg, drehte Caroline ihren Kopf. »Seinesgleichen? Wir sind doch alle seinesgleich. So als Mensch unter Menschen. Und was Friedrich List da geschaffen hat, bewundere ich sehr. Mutter übrigens auch. In einem Zeitungsbericht stand, dass er schon vor dreißig Jahren das Streckennetz in ganz Deutschland ausbauen wollte. Er schien in seinem Kopf bereits ganz klare Vorstellungen gehabt zu haben, wie und wo sich diese Strecken verzweigen sollten. Er war unserer Zeit um einiges voraus.«

Albert zog die Augenbrauen hoch und sagte nach einer kleinen Pause: »Ja, du hast recht. Es ist immens wichtig, in die Zukunft zu blicken. Ohne Menschen wie ihn würden wir noch auf Pferdekarren sitzen und von den Dampfmaschinen und Eisenbahnen so weit weg sein wie der heilige Georg vom Bett der jungfräulichen Prinzessin.«

Seine Frau lachte. »Dass du immer auf eurem armen Schutzheiligen so rumreiten musst.«

»Ich bitte dich, Liebes, warum sollte er nicht die Prinzessin zur Frau nehmen, die er vor einem Drachen gerettet hatte? Das leuchtete mir schon als junger Bub nicht ein.«

Caro lachte mit, ihr Onkel hatte das Talent, Vergnügtheit zu versprühen, wie es auch ihre Mutter konnte.

Mit einem Stirnrunzeln fuhr Albert fort: »Na ja, eigentlich kann ja jeder so, wie er will. Manche ein bisschen mehr, andere ein bisschen weniger. Doch soll man auf die Bibel hören, die im Alten Testament sagt: ›Darum sieh, es kommen Tage, da werde ich ihm Küfer senden und die werden es umfüllen, und seine Gefässe werden sie leeren, und ihre Krüge werden sie zerschlagen.‹ Wie ihr seht, haben wir schon ziemlich lange einen ganz guten Ruf.«

»Hm«, machte Wilhelmine. »Und Küfer sind nicht nur gottgeschickt, sondern stets in Bewegung. Wie steht es eigentlich um Otto, wann macht der seinen Meister?« Ihr Blick huschte zu Caroline. »Er lässt dich grüßen und fragt, wie es dir geht.«

»Ja?«, mehr fiel Caroline dazu nicht ein, und sie drehte sich wieder so, dass sie aus dem Fenster schaute. Otto arbeitete als Küfer für Albert. Wenn sie auf dem Hof war, kam er oft raus und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, vorausgesetzt, sie war nicht schneller und vor der Unterhaltung geflüchtet. Sie hob das Kinn und kniff die Augen zusammen. Wie alt musste sie noch werden, um endlich Ruhe vor den Heiratsvermittlungsversuchen zu haben? Ihr Blick schweifte über die Linie am Horizont, die nie stillstand. Berge, Täler, Felder, Hügel, ein Rauf und Runter. Es erinnerte sie an die Laterna magica. Das Staunen, als sie zum allerersten Mal diesen Zauberapparat gesehen hatte. Ein topfgroßes Gerät, mit einem langen, runden Zylinder vorne dran, der aussah wie ein Elefantenrüssel, und einem zweiten Zylinder obendrauf, wie ein Schornstein, dazu noch viele bunte, handbemalte Glasstreifen, die vorne in den Blechkörper gesteckt wurden und somit große runde Bilder an die Wand warfen. Wenn der Vater einen Hebel bewegte, fraß ein Esel Stroh, eine Eisenbahn fuhr in den Bahnhof ein, oder über eine Weltkugel bewegte sich ein Schiff, und da der Hausherr die Grimmsche Märchensammlung mochte, eilten zudem fantastische Figuren und unheimliche Hexen durch den Raum.

Caroline hätte große Lust, solche Landschaften an die Wände zu malen. Häusergroß, kirchenhoch … Aber das Malen erlernen, das richtige Malen mit Ölfarben und auf Leinwand, das durften ja nur die Töchter aus besseren Kreisen, denen es erlaubt war, Muße zu haben, um damit später ihre Männer unterhalten zu können. Somit blieben ihr Kreidestriche auf der Straße und eine Schachtel voller Buntstifte von der Firma Staedtler10, die auf so spannende Namen wie Azurblau oder Meergrün getauft waren. Sie hatte lange bitten und betteln müssen, bis man ihr als Kind diese Erwachsenensache zum Geburtstag geschenkt hatte. Aber es hatte sich gelohnt, wie sich im väterlichen Betrieb und heute bei ihrer Arbeit für Dieterich zeigte. Als Kind besaß sie eine Puppe aus Pappmaschee mit geschnitztem Holzkopf und kleinere aus Papier, mit denen konnte sie immerhin die Geschichten nachspielen. Geschichten, die von der Laterna magica oder auf dem Rummel beim Theater erzählt wurden. Damals war ein Konzert mit den Werken von Brahms oder Wagner eine seltene Sensation. Das malte auch Bilder in den Kopf. Und die Melodien wurden noch wochenlang in den Straßen der Stadt gepfiffen. Meistens blieb es jedoch bei Marschmusik, was auf den Paradeplätzen gespielt wurde, und Blasmusik bei den Volksfesten. Das war eher in die Beine gegangen.

Albert seufzte: »Vor lauter Dampf könnte man meinen, draußen nebelt einer die Landschaft ein. Caroline, erzähl mal, was verkauft sich denn bei Dieterich gerade besonders gut? Also was für Dinge aus Blech?«

Caroline schob ihre Unterlippe vor, was sie immer machte, wenn sie nachdachte. »Meinst du, welche Lampenformen gerade gekauft werden? Seit der württembergischen Gewerbe-Ausstellung in Cannstatt vor zwei Jahren hat die Firma ziemlich expandiert. Ich persönlich mag den Bereich Kinderspielzeug gerne, da würde ich behaupten, dass sich die Gartengeräte gerade sehr gut verkaufen. Warum fragst du?«

»Weil es mich interessiert, das kannst du mir gleich näher beschreiben … Wie lange willst du denn dort noch arbeiten?«

Caroline stockte kurz und antwortete: »Ich weiß nicht, aber Arbeit gibt es dort ja genug, ich habe zuletzt Entwürfe für …«

Der Rest des Satzes ging in einem lautstarken Pfeifen des Zuges unter, das alle anderen Geräusche verschlang und den vorbeiwankenden Ein- und Zweispännern zeigte, wer der König der Straßen war. Eine hügelige Ebene eröffnete sich vor ihnen, wie ein ausgebreitetes grünes Tischtuch, auf dem die Fils eine tiefe blaue Furche geschnitten hatte. Schon früher war diese Strecke als west-östlicher Handelsweg genutzt worden, der vom Filstal bis zur Schwäbischen Alb führte, heute erledigte das in schnellerer Form die Ostbahn.

Mehrere Berge erhoben sich. Albert drängte Caro etwas zur Seite und spielte Reiseführer: »Meine Damen, ich darf Sie mit den Herren dieses Landes bekannt machen. Die Drei-Kaiser-Berge. Hinten links, das ist der Hohenstaufen, daneben der Hohenrechberg und der Stuifen. Und die kleinere Erhebung hier vorne dran, das ist das Hörnle. Der Hohenstaufen, das ist quasi der Haushügel Göppingens. Wie der Name bereits verrät, hat das was mit dem wohlgeborenen Geschlecht der Staufer zu tun, und es soll dort sogar mal eine Burg gegeben haben. Aber seht, wir sind gleich da!« Er zückte seine Taschenuhr, klappte den Deckel auf und nickte anerkennend. »Tatsächlich. Von Stuttgart bis Göppingen sind es eine Stunde und achtundzwanzig Minuten.«

* * *

Das längliche, lichtdurchflutete Bahnhofsgebäude war imposant anzusehen und stach mit seiner reinweißen Farbe hervor. Das zweigeschossige Bauwerk stand auf acht hohen Torbogen, die wie Pforten in andere Welten wirkten. Das Erdgeschoss war so hoch gebaut, als ob die Lok selbst persönlich bis zum Ticketschalter vorfahren müsste. Der erste Stock war nicht weniger prächtig, in der Länge passten zehn hohe Fenster hinein, und auf der Breitseite waren es drei.

Die Fahrgäste rauschten wie ein Schwarm Fische in die Halle, füllten sie mit ihren Körpern und Lärm aus. Die drei Ludwigsburger bahnten sich ihren Weg und traten ins Freie, blickten auf eingezäunte Bepflanzungen von Büschen, kleinen Bäumen, roten Blumenstauden, auf Kutschen und Damen mit Schirmchen, die sie vor der Sonne schützen sollten. Allerdings schien diese nur sehr schwach, vermutlich sollten die bunt bespannten Schirme einfach spazieren geführt werden.

»Da seid ihr ja!« Wilhelm Märklin kam auf sie zu und begrüßte sie freudig. Er zog seinen hohen Hut vor den Damen, schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter und nahm sich gleich zwei der Gepäckstücke. Er hatte eine Arbeitshose an mit Hosenträgern, die sich über ein hellblaues Hemd spannten. Darüber trug er einen dunklen langen Mantel, der elegant wirkte. Es hatte zeitlich wohl nicht gereicht, sich komplett umzuziehen. Caroline grinste, das kannte sie nur zu gut. Ihr Vater hatte es früher auch immer sehr eilig gehabt, zum Leidwesen der Mutter, die es nicht gerne sah, wenn der Sonntagsstaat mit Arbeitskleidung gemischt wurde.

Wilhelm führte sie fröhlich plaudernd die Straßen entlang. Es ging über eine Brücke, die den Blick auf einen kleinen Fluss, den Mühlkanal, freigab. Rechts und links waren die Häuser bis ans Wasser gebaut. Einfache Fachwerkhäuser, die hier am Rande des Gerberviertels standen. In einigen der geöffneten Fensterrahmen hing die Bettwäsche zum Auslüften. Kinder spielten im Nass, ließen kleine Boote aus Birkenrinde schwimmen. Es roch säuerlich und streng, und doch wirkte der Ort verwunschen und malerisch. Auf der anderen Seite des Wasserlaufs marschierten sie am ersten Haus der Stadt vorbei, dem Hotel zu den Aposteln, das sogar Platz für eine Konzert- und Theaterbühne hatte, wie Wilhelm betonte. Die Straßen wurden breiter, waren wie mit einem Zollstock gezogen, die Häuser elegant und die Einkaufsstraßen belebt. Bis jetzt hatte Caroline gedacht, dass ganz Göppingen vor allem aus krummen Bauernhäusern und Viehställen bestehen würde, aber das hier mutete richtig modern an. Sie kamen zu einem großen rechteckigen Platz, der laut eines Straßenschildes Schlüsselgraben11 hieß, und dessen Ränder von verschiedenen Gebäuden gesäumt wurden: eine Bäckerei und Mostschenke, das Hotel Krone, neben dem sich eine einfache Scheuer befand, Handwerkerhäuser wie ein Schreiner und ein paar noblere Gebäude mit hübschen weißen Fronten. Es herrschte ein munteres Treiben, die Straßen und Vorplätze wurden gefegt, mit Zweigen und Schleifen die Fassaden der Häuser geschmückt, die Stadt putzte sich heraus.

Vor einem Eckhaus blieb Wilhelm stehen. »Ich hoffe, ihr habt ausreichend Appetit mitgebracht, tretet ein.« Er öffnete schwungvoll die Haustür, und ein warmer Bratenduft mit einer Note Honig erinnerte Caroline daran, dass sie sogar sehr hungrig war.

Wilhelms Töchter begrüßten sie freundlich mit einem Knicks, eilten dann ins Esszimmer, um die letzten Gläser und Töpfe auf den Tisch zu stellen. Die ältere Tochter Rosine war zwölf und hatte wie ihre vier Jahre jüngere Schwester Sophie die dunklen Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, beide trugen über ihren weiten dunklen Kleidern helle Schürzen. Während Sophie die Ankömmlinge unverhohlen musterte, um sich kurz darauf auf den Schoß von Wilhelmine zu setzen, betrachtete Rosine sie mit einem skeptischen Gesichtsausdruck. Caroline fühlte sich wie eine Milchkuh auf dem Markt, die leider nicht den Erwartungen entsprach. Zu grau und zu wenig Milch. Beim Essen war das Mädchen schweigsam, während sich Albert und Wilhelm über die neuesten Zeitungsmeldungen unterhielten. Vor allem die Tatsache, dass ein Kapitän Johnson den wichtigsten Fluss im Südwesten Nordamerikas, den Colorado, erforscht und festgestellt hatte, dass er mit einem Tiefgang von drei Fuß bis zur Einmündung des Virgin River mit einem Dampfschiff befahrbar war, regte sie zu langen Diskussionen über die fortschreitende Industrialisierung an.