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Ein vergessenes Versprechen ist für Kinder genauso schlimm wie eine Lüge. Deshalb müssen sie immer wieder richten, was die Erwachsenen vermasselt haben. So auch Julia, Peter und Niko, die sich auf ihrem Weg zum Feriencamp, nicht ganz zufällig, zu dem verwilderten Park mit der alten Villa verlaufen. In der Düsternis des Dachbodens von Casa Pipistrelli gleiten sie hinein in die Geschichten und finden schnell heraus, daß sie ein Teil davon sind. Ein geheimnisvolles Buch, ein grüner Jadestein, vier Gaukler die von zu Hause weggelaufen sind und ein Sonderling der mit seinen Bäumen spricht führen die drei in eine Welt in der sich das Unheimliche mit dem Wahrscheinlichen kaum trennbar vermischt. Über allem hängt der Fluch der alten Krähe, der Casa Pipistrelliwie ein klebriges Spinnennetz überzieht.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Peter Platsch
Du bekommst jeden Tag irgendetwas versprochen.
Von Deinen Eltern, von Deinen Freunden
in der Schule, im Verein
zum Träumen
zum Gruseln
zum Erinnern
aber nicht
zum Vergessen
Eins
Sie wispern, tuscheln, flattern aufgeregt, dann hängen sie wieder ruhig im düsteren Gebälk von Casa Pipistrelli.
„Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen“, flüstert die eine nachdenklich.
„Er wird sie wohl suchen“, raunt die andere und hängt sich etwas bequemer.
Eigentlich mögen sie die Menschen nicht besonders. Sie sind ihnen viel zu laut, sie bringen alles durcheinander und sie sind schwer zu unterscheiden – wer ist gut, wer ist böse. Aber seitdem der Fluch der Krähe die alte Villa wie ein klebriges Spinnennetz überzogen hat, ist es zu still geworden, sogar die Uhren ticken nicht mehr, als wäre die Zeit stehen geblieben.
„Er muss sie finden, bevor sich diese Gauner alles unter den Nagel reißen.“ murmelt die mit dem grauen Fell und zeigt angriffslustig ihre spitzen Zähne.
„Wenn der Verrückte wüsste, was die so alles treiben in seinem Tal.“ Beifälliges Gemurmel.
„Hätte er sein Versprechen gehalten, wäre alles anders gekommen.“
„Die Bäume würden wieder blühen und wir hätten genug Beute zum Jagen.“ seufzt verdrossen die Junge, die nahe beim Dachfenster hängt.
„Alle haben sie etwas versprochen“, schwirrt es aus der düsteren Tiefe des Gebälks ...….und?
„Menschen , große Menschen! Sie sind so leichtsinnig mit ihren Versprechen“ zischen die anderen verächtlich.
„Ein vergessenes Versprechen ist wie eine Lüge!“ Keiner wusste genau woher die Stimme kam. Sie war selten zu hören.
Nachdenkliche Stille durchdringt den einzigen bewohnten Raum von Casa Pipistrelli.
„Ich glaube er hat sie gefunden. Ich habe sie gesehen, unten am Fluss, es sind drei.“
„ Drei, was? „ knurrt die Graue wieder.
„Ein Mädchen und zwei Jungen.“
„ Alt ? “
„Es sind Kinder, gerade noch Kinder! „
Das Wasser schimmert blau, es sieht so sauber aus und man könnte es trinken, wenn es nicht so bitter nach Chlor schmecken würde. Zwei Blätter schaukeln auf den Wellen, obwohl Windstille herrscht.
Peter liegt faul auf seiner Luftmatratze am Rande des Swimmingpools und schaut gelangweilt der kleinen Katze zu, die im Wasser rudert, nein, sie zappelt und versucht in seine helfende Nähe zu gelangen.
Ihre Augen sind weit geöffnet, und obwohl das blaue Wasser sich darin spiegelt sind sie gelb vor Angst.
„Schafft sie es, oder wird sie ertrinken?“
Der Gedanke, sie könne untergehen, beunruhigt Peter kaum, aber die Langeweile weicht einer kribbeligen Anspannung.
„Vielleicht hätte ich sie doch nicht hineinschubsen sollen.“
„Was soll denn dieser Blödsinn, hol sofort das Kätzchen heraus!“ ruft Selma, die Haushälterin der Familie und kommt schnaufend durch die weit offene Terrassentür auf Peter zugelaufen. Peter dreht sich aufreizend langsam auf den Rücken, blinzelt in die Sonne.
„Was kann ich dafür, wenn die blöde Katze nicht schwimmen kann.“
„Na warte“, zischt Selma, legt sich mit einem Seufzer auf den Bauch und erreicht mit ausgestrecktem Arm gerade noch das Kätzchen, packt es am Nacken und zieht es heraus auf die sicheren Fliesen am Pool.
Das Kätzchen sieht mit dem nassen Fell noch kleiner und sehr dünn aus. Es liegt eine Zeitlang bewegungslos in der Pfütze
am Boden, nur sein magerer Bauch zuckt so schnell wie das kleine, immer noch angstvolle Herz schlägt. Dann springt es plötzlich auf, läuft eilig vom Swimmingpool und Peter weg und verkriecht sich unter einer der schicken Sonnenliegen im Garten.
„Du bist ein hartherziger Weichling!“, faucht Selma und gibt Peter eine schallende Ohrfeige. Ihre Bluse und Schürze sind vorn pitschenass, aber das ärgert sie nicht so sehr wie Peters bösartiges Verhalten.
„Du hast mich geschlagen, du hast mich geschlagen“, jammert Peter, „das werde ich meinen Eltern erzählen.“ Keine Träne füllt seine Augen, nur Trotz.
„Erzähle es nur, ich werde deinen Eltern berichten, was du gerade hier angestellt hast. Du wolltest doch das Kätzchen ertrinken sehen, oder?“
Peter bleibt still, seine Wange brennt und ohne Selma anzuschauen rennt er in das Haus hinauf in sein Zimmer.
Die Lüftung seines Computers summt aber er dreht erst einmal seine Stereoanlage auf und dumpfes Techno-Wumm-Wumm dröhnt durch das Haus.
Seine Jeans, T-Shirts, Strümpfe liegen auf dem Boden verstreut. Er schubst sie mit dem Fuß in eine Ecke neben seinem Bett.
„Selma hat heute noch nicht aufgeräumt, das werde ich Mama sagen“, zischt er durch die zusammengebissenen Zähne und wirft sich auf das kleine rote Sofa neben der Stereoanlage. Er dreht sie noch ein bisschen lauter auf. Der Bass wummert durch seine Gedanken.
„In zwei Wochen beginnen die Sommerferien und Mama und Papa haben noch nicht gesagt, wohin wir dieses Jahr verreisen werden. Am liebsten würde ich ja wieder nach Spanien in diesen Club fliegen, da war immer etwas los. Ich weiß gar nicht mehr wo meine Eltern die ganze Zeit über waren. Sogar zur Siegerehrung, als ich den Pokal der Minichampions gewonnen hatte, kamen sie zu spät. Aber die Tennislehrerin war sehr lieb.“
Peter betrachtet den Pokal im Regal gegenüber, das Bild dahinter an der Wand zeigt ihn mit der braungebrannten Tennislehrerin. Er hat sich an ihre Hüfte gelehnt, sie hat ihren Arm um seine Schulter gelegt und der Pokal in seinen Händen erschien ihm auf einmal viel zu groß.
„Wir sollten im Sommer vielleicht doch anderswo hinfahren, Papa hat dieses Mal bestimmt mehr Zeit, um mit mir am Strand ein riesiges Sandkrokodil zu bauen.“
„Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“, ruft Selma aus der Küche, „und stell diesen Lärm bitte leiser!“
Peter spürt immer noch die Ohrfeige, er hat Selma noch nie so wütend erlebt.
„Das mit dem Kätzchen hätte ich doch nicht tun sollen.“ Widerwillig drückt er mit der großen Fußzehe auf die Off-Taste seiner Stereoanlage.
In die plötzliche Stille fragt Selma: „Soll ich dich Vokabeln abhören?“
„Nein, wir haben nur Mathe und Deutsch auf.“ Er will jetzt nicht Selma unter die Augen treten. Schlecht gelaunt setzt Peter sich an seinen Schreibtisch und holt seine Hefte aus dem Schulrucksack. „Verdammt ist der schwer.“
Er schlägt sein Hausaufgabenheft auf und schaut dabei aus dem Fenster. Das Kätzchen ist verschwunden aber sein schlechtes Gewissen bleibt.
Peter braucht sehr lange für seine Hausaufgaben, denn er schaut immer wieder aus dem Fenster in den Garten. Das Wasser im Pool glitzert golden in der untergehenden Sonne, er achtet nicht darauf, schon als Baby hat er darin geplanscht, das Kätzchen bleibt verschwunden.
Normalerweise war das Abendessen stets der Teil des Tages, an dem die ganze Familie beisammen saß, seine Eltern wissen wollten, was er tagsüber so gemacht hat, wie es in der Schule gelaufen ist, ob es Probleme gab und manchmal fragten sie auch, ob er glücklich sei. Es gab auch Schelte, wenn er seine klebrigen Finger gedankenlos über das T-Shirt strich anstatt die Servierte zu nehmen. Aber es waren doch die Stunden, an denen er seine Eltern fast für sich hatte.
In der letzten Zeit saßen sie kaum noch zum Essen beisammen. Meistens aß er mit Selma zu Abend.
Seine Mutter wirbelt ins Haus, als sie gerade ihre Teller in die Küche tragen. Ein flüchtiger Begrüßungskuss. „Hallo, mein Schatz, ihr habt ja schon gegessen?“
„Selma, für mich bitte nur etwas Salat, ich muss noch telefonieren.“
Dann verschwindet sie, mit dem Handy am Ohr, in ihrem Arbeitszimmer und er hört nur noch: ....ja, ja wenn Sie meinen, dann schau ich mir das gleich noch einmal an.“
Mama ist Rechtsanwältin und arbeitet für einen großen Konzern, dessen einzelne Firmen über die ganze Welt verstreut sind. So passiert es oft, dass das Telefon läutet, wenn alle noch oder schon schlafen.
„Mama, kuscheln wir noch auf der Couch und schauen uns die Simpsons an?“
„Ich muss nur schnell etwas durchlesen, dann komme ich zu dir, schalte doch schon mal an.“
Selma kommt aus der Küche und trocknet ihre nassen Hände an der Schürze.
„Du könntest schon deinen Schlafanzug anziehen und die Zähne putzen, bis deine Mama kommt.“
Peter hat schon eine patzige Antwort auf den Lippen aber er will Selma nicht noch weiter verärgern. Vielleicht hat sie das Kätzchen schon vergessen und wird Mama nichts erzählen.
Widerwillig, langsam steigt er die Treppe hinauf in sein Zimmer und setzt sich vor seine Playstation. Von unten hört er seine Mama immer noch telefonieren.
„Hallo, ist noch jemand auf?“
Peter springt barfuß die Treppe hinunter und wagt einen Hechtsprung in die ausgebreiteten Armen seines Vaters.
„Hi mein Großer, alles klar?“
„Na jaa“, nuschelt Peter und schlingt seine Arme um den Hals seines Vaters.
„Na, gab es Probleme?“
„Ja, heute am Pool, als ........“, beginnt Selma mit fester Stimme und legt am Esstisch zwei Gedecke für die Eltern auf.
Peter blickt mit zornig zusammengekniffenen Augen zu Selma, aber die schaut ihn ruhig an.
„Wissen Sie, unser Peter hat ...“, in diesem Augenblick kommt Peters Mama in das Esszimmer zurück. Sie hält noch das Handy in der Hand, geht auf ihren Mann zu, der Peter immer noch festhält und gibt beiden einen herzhaften Kuss.
Selma denkt, das habe auch noch bis morgen Zeit und fragt, ob Peters Eltern gemeinsam essen wollen und verschwindet wieder in die Küche.
`Uff, das war knapp´, denkt Peter und versucht, seine Eltern von Selams Ankündigung abzulenken.
„In zwei Wochen beginnen die großen Ferien, wo fahren wir denn dieses Jahr hin?“
Peters Eltern schauen sich unsicher an.
„Wir haben darüber noch gar nicht nachgedacht“, antwortet sein Vater zögernd und blickt hilfesuchend zu seiner Frau. Sie blickt auf ihr Handy.
„Das wird dieses Jahr problematisch. Ich muss unbedingt bis September den Vertrag mit der amerikanischen Firma noch hinkriegen. Ich habe Dir doch von San Antonio erzählt “.
„Ja, und ich muss die Produktionsverlagerung nach China noch dieses Jahr über die Bühne bringen.“
Beide blicken erst auf ihre Hände, dann entschuldigend zu Peter.
„Das fällt euch ja verdammt früh ein“. Peter kann seine Enttäuschung und seine Tränen nicht unterdrücken. Beleidigt rennt er die Treppe hinauf und schlägt laut seine Zimmertür hinter sich zu.
„Oh je, jetzt ist aber einer sauer, ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass schon bald Schulferien sind, was machen wir jetzt?“
„Ich muss unbedingt nach China und das für mindestens zwei Monate. Am besten ist, du fährst mit Peter zwei Wochen ans Meer.“
„Das geht nicht“, braust Peters Mutter auf. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich den Vertrag mit den Amerikanern verhandle und deshalb die nächste Zeit verfügbar sein muss, das ist genauso wichtig wie deine Chinesen.“
Peter steckt sich seine Kopfhörer in die Ohren. „Jetzt streiten sie wieder, wer den wichtigsten Job hat und vergessen dabei, dass ich auch noch da bin.“
„Alles soweit in Ordnung mein Großer? “ Peters Vater hat die Tür einen Spalt geöffnet und streckt den Kopf in das Zimmer.
„Nein, ich möchte, dass wir alle zusammen in den Urlaub fahren“, quengelt Peter und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
„Ok, ok ich lasse mir etwas einfallen. Gute Nacht, Mama kommt auch gleich.“
Peter verkriecht sich immer noch unter seiner Bettdecke, als sich seine Mama auf das Bett setzt und versucht, ihn unter der Decke zu kitzeln. Aber ihm ist es gar nicht nach einer zärtlichen Rauferei oder Kissenschlacht zumute.
„Ich will, dass wir alle in Urlaub fahren“, klingt es dumpf aus der Zudecke.
„Für einen Gutenachtkuss lasse ich mir etwas einfallen.“
Peter schlägt die Zudecke zurück, schlingt die Arme um seine Mama und beide fallen lachend ins Bett.
„Versprochen?“
„Versprochen!“
„Lass die Tür auf“, ruft ihr Peter nach, als sie sein Zimmer verlässt.
Bevor er einschläft, hört er seine Eltern wieder streiten:
„......ich rede mit meinem Chef ...keine Chance ....vielleicht Ende der Ferien ....die paar Tage ....alle oder keiner...., das ist eine gute Idee....“
Als Selma ihn weckt, ist Peter noch richtig müde. Er hat die ganze Nacht nur vom Meer, hohen Wellen, Sandkrokodilen, die nach ihm schnappten und von einem großen düsteren Haus geträumt.
„Beeile dich“, ruft seine Mutter, die in der Küche auf und ab läuft, in der einen Hand das Handy und in der anderen eine Tasse Kaffee. Sein Vater hat schon gefrühstückt und das Haus verlassen.
Selma schenkt ihm, wie immer eine Tasse Kakao ein und legt ihm zwei Marmeladentoasts auf den Frühstücksteller. Sie gibt ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und er weiß, dass sie noch nichts über den gestrigen Vorfall den Eltern erzählt hat.
Trotzdem isst er stumm und missmutig seine Toaste, murmelt ein “Tschüss“ zu Selma und folgt seiner Mutter zum Auto.
Kurz bevor sie die Schule erreicht haben, stupst ihn seine Mama an.
„Dein Vater hatte gestern Abend noch eine tolle Idee, was du in deinen Ferien machen könntest. Da wird von einem Club ein Sommercamp für Schüler angeboten, mit Sport, Abenteuerausflügen, ach und einem Haufen anderer toller Sachen.“
Sie merkt nicht, dass Peters Augen sich mit Tränen füllen.
„Und du lernst jede Menge Jungen und Mädchen kennen. Vielleicht findest du auch einen Freund, du bist sowieso viel zu viel alleine.
So, wir sind schon da. Ich verspreche dir, nächstes Jahr fahren wir gemeinsam in Urlaub, wohin du willst.
Tschüss, mein Schatz, lerne etwas und sei brav.“
Peter steigt aus dem Auto, der Rucksack ist viel schwerer als sonst. Er will nicht winken, vergräbt beide Hände tief in den Hosentaschen, blickt auf den bunt gepflasterten Weg, der quer über den Schulhof führt. Immer diese tollen Sprüche. Er spürt, wie ihn die Augen vor Wut und Enttäuschung brennen.
Hoffentlich spricht mich keiner von diesen “Knallköpfen“ an denkt er, läuft in Richtung Toilette, dort ist um diese Zeit niemand und schließt sich ein.
Er wischt sich die Tränen aus den Augen und überlegt, ob er ins Sekretariat gehen soll, um zu melden, dass er wegen Bauchschmerzen nicht am Unterricht teilnehmen kann.
Selma kann nicht Autofahren und seine Eltern haben ja keine Zeit um ihn abzuholen. So entscheidet sich Peter, doch in das Klassenzimmer zu gehen.
Die erste Stunde Französisch. Die Lehrerin wartet schon und teilt Blätter für eine Ex aus. Bis auf die zwei Einser-Mädchen protestiert der Rest der Klasse.
Als sie Elsa schlachten rennt Julia in die Scheune, steigt die Leiter hinauf zum Heuboden und wirft sich in das getrocknete Gras. Hier oben im Heu eingegraben kann sie weinen, ihren Schmerz, die ihr zugefügten Ungerechtigkeiten, hilflose Wut, mit Tränen aufweichen.
Heute ist so ein Tag, der sie mit Traurigkeit und Wut erfüllt.
Julia liebt Elsa seitdem sie klein, weiß, so nackig auf die Welt kam. Elsa war das kleinste der sieben Ferkel und sie kam
nie rechtzeitig, noch besaß sie die notwendige Rücksichtslosigkeit, wenn sich ihre Geschwister hungrig um die Zitzen am Mutterbauch drängten.
In der hintersten Ecke eines wackeligen Regals in der Speisekammer hatte Julia damals die mit Teddybären bemalte Nuckelflasche ihres jüngsten Bruders gefunden. Wenn die Kühe gemolken wurden, holte sie sich aus dem großen glänzenden Edelstahlbehälter ein Fläschchen voll warmer, frischer Milch. Elsa hatte sich sehr schnell an den schon porösen Schnuller gewöhnt, leerte schmatzend das Fläschchen und kuschelte sich danach zu einem Mittagsschläfchen in Julias knallrote Schürze.
Bald war Elsa das rosigste, kräftigste und schlaueste Schweinchen in der Umgebung. Es begleitete Julia überall hin und folgte ihr auf ‘s Wort.
Obwohl ihr Vater schon Unterstellplätze für private Reitpferde in die stabilere der beiden Scheunen eingebaut hat und auch alle Boxen belegt sind, die zweiundvierzig braun weiß gefleckten Milchkühe die meiste Milch in der Region ihren tief hängenden Eutern sammeln und Herrmann, der kräftige Bulle mit dem glänzenden hellbraunen Fell bei der letzten Landwirtschaftsschau prämiert wurde, reicht das Geld, das sie mit all dem verdienen, gerade für das tägliche Leben. Besondere Wünsche können zurzeit nicht erfüllt werden. Nach der Übernahme des Bauernhofes von seinem Vater hatte Julias Papa eine Menge Geld für die Modernisierung des Hofes von der Bank geliehen.
Julias Zimmer mit den warmen Holzdielen liegt direkt über der guten Stube und so hat sie letzte Nacht durch die Holzdecke hindurch ihre Eltern streiten hören.
„Das kannst du Julia nicht antun und Elsa verkaufen oder einfach schlachten.“, hört sie ihre Mutter sagen.
„Elsa ist das letzte Jungschwein, im Moment ist der Kilopreis so hoch wie nie und wir brauchen das Geld!“ Vater Heinrichs Stimme klingt zornig.
„Julia ist alt genug um es zu verstehen“. Seine Stimme hat nun einen zärtlichen Unterton.
Meistens hat Julia ihre Eltern durch den Holzboden lachen gehört. Manchmal haben sie auch gemeinsam musiziert, Gitarre und Zither gespielt. Aber in der letzten Zeit ist das immer weniger und ruhiger geworden. Ihre Eltern haben Sorgen.
Dass Elsa nicht für alle Zeiten im Hof, im Garten, zwischen den Boxen, sogar im Haus grunzend, schnüffelnd, vor Aufregung quiekend herumwühlen würde, war Julia schon oft in den Sinn gekommen. Aber ausgerechnet zwei Wochen vor den großen Ferien; das ist nicht fair.
Julia ballt mit traurigem Zorn ihre Fäuste und kriecht noch tiefer in das Heu.
Mit geschlossenen Augen vernimmt sie ein leises Rascheln und spürt wie jemand an ihren nackten Füßen kitzelt. Erschrocken reißt sie die Augen auf, schaut an ihren braunen Beinen entlang und sieht Babu.
Babu hat ein graues, lila schimmerndes Fell und blaue Augen. Er spürt immer, wenn einer in der Familie leidet. Als Opa letztes Weihnachten mit einem Hexenschuss nicht mehr aufrecht laufen konnte, sprang Babu zu ihm auf das Sofa, zwängte sich zwischen Lehne und Opas Rücken und wärmte die Stelle an der Opa die meisten Schmerzen hatte.
Schnurrend setzt der Kater eine Pfote vor die andere, bis er sich ganz nahe vor Julias Gesicht nach drei Umdrehungen, ins Heu einrollt. Er reibt seinen Kopf sanft an Julias Wange und legt ihn dann vorsichtig in die Kuhle unterhalb von Julias Hals.
Beide liegen ganz still. Irgendwann fühlt Julia ihrer beider gleichmäßigen Atem.
Babus Schnurrhaare kitzeln Julia am Kinn. „Du verstehst mich“, flüstert Julia; eine letzte Träne rollt ihr über die Wange.
„Juuliaa!“ Ihre Mutter kennt das Nest, in das Julia sich stets flüchtet, wenn sie alleine sein will. „Komm herunter, es ist vorbei!“
Babu hebt den Kopf und verschwindet im Heu. Julia wischt sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts die Nase, sie wäre am liebsten mit Babu eingeschlafen.
„Ich komme gleich, “ antwortet sie trotzig.
„Nix gleich, wir müssen noch die Wäsche von der Leine nehmen und Hausaufgaben hast du bestimmt auch noch nicht gemacht, oder?“
„Vor den Ferien haben wir nicht mehr viel auf.“ Julia fährt sich mit ihren braunen, kräftigen Händen durch das kurzgeschnittene, wuschelige, blonde Haar und klopft sich das Heu von den Shorts.
Als sie die Leiter hinuntersteigt und von den letzten vier Sprossen auf den staubigen Scheunenboden springt, hört sie ihre Mutter seufzen. „Ach, ihr habt ja bald Ferien.“
„Dieses Jahr fahren wir doch ans Meer, alle meine Freundinnen verreisen mit Ihren Eltern in den großen Ferien.“
„Vor lauter Arbeit habe ich gar nicht mehr daran gedacht, Papa bestimmt auch nicht.“
Enttäuscht schiebt Julia ihre Unterlippe vor und würde am liebsten wieder hinauf in die noch warme Kuhle im Heu steigen.
„Nicht gleich wieder traurig sein.“ Zärtlich drückt die Mama Julia an ihren weichen Bauch. „Wir werden das heute beim Abendessen mit Papa und deinen Geschwistern besprechen. Komm, lass uns die Wäsche abnehmen. Ich glaube, heute Abend zieht von Westen ein kräftiges Sommergewitter auf.“
Die Luft ist schon schwül, als sie aus der Scheune hinaus und hinüber zur Wiese gehen, wo die Wäsche an den zwischen den Obstbäumen gespannten Leinen flattert.
Julia schiebt ihre kleine Hand in die raue Hand ihrer Mama und sagt leise: „Ich möchte so gerne ans Meer.“
Vielleicht ist es der aufkommende Wind, der die Träne in Mamas Augen glitzern lässt.
Heute Abend wird Julias Lieblingsgericht gekocht. Julia isst am liebsten Nudeln, am allerliebsten Spaghetti und am aller, allerliebsten Spaghetti mit Tomatensoße und viel Parmesan-Käse.
Nur ihr kleiner Bruder Leo freute sich auch darauf. Ihre große Schwester Elisabeth, Mama und Papa essen lieber Fleischgerichte. Aber die Familie hatte die Vereinbarung getroffen, dass jede Woche ein anderes Familienmitglied den Speiseplan für die nächste Woche zusammenstellen darf, dem sich die anderen unterordnen müssen. So gibt es nie Streit über das, was auf dem Teller liegt.
Mama hat aus dem letzten Italienurlaub vor drei Jahren die langen, schlanken Spaghettigabeln mitgebracht, und Julia bekommt jedes Mal Sehnsucht nach dem Meer, wenn sie die Spaghetti damit aufrollt.
Julia trägt die tiefen Teller zu dem langen Esstisch, an dem bequem zehn Personen Platz finden, verteilt sie auf die Plätze, an denen die fünf Familienmitglieder immer zum Abendessen sitzen. Auf jedem Teller sind unterschiedliche Nudeln gemalt. Den mit den Spaghetti darauf stellt sie auf ihren Platz. Leo ist schon auf seinen Stuhl geklettert. Er sitzt auf einem dicken Kissen, sodass sein kleines, rundes Kinn gerade an den Tellerrand stößt. Mit seinem Lego-Auto fährt er geräuschvoll zwischen seinem Teller, der Gabel, dem Glas und Serviette hin und her.“ Dann wechselt er sein Motorbrummen in einen quietschenden Bremston, dass Julia beinahe der letzte Teller vor Schreck aus der Hand gefallen wäre und ruft mit verstellter Papa-Stimme: „Kinder wir sind da, ist das nicht ein schöner Platz, direkt am Meer! Alle aussteigen, wir müssen jetzt…..“ In diesem Augenblick kommt Vater in die gemütliche Wohnküche und fragt lachend: „Wo sollen wir aussteigen, Leo?“
„Auf dem Campingplatz am Meer, Papa.“
„Ach ja...“ hilfesuchend schaut er zu seiner Frau, die am Herd gerade die Tomatensoße aus dem Kochtopf in eine Schüssel gießt und sich verzweifelt auf die Unterlippe beißt.
„Ist deine Schwester schon zu Hause?“
„Nein, sie muss heute Überstunden machen und kommt später“, wirft Julia ein.
„Dann lasst uns schon mit dem Abendessen anfangen und wenn Katrin kommt, werden wir darüber reden, was wir dieses Jahr in den Ferien unternehmen werden“.
„Hallo ihr Lieben!“ Katrin wirbelt in die Stube und lässt sich mit einem Schnaufer auf ihren Stuhl fallen. “Gut, dass ihr schon angefangen habt, ich habe überhaupt keinen Hunger, der Chef hat uns Pizza spendiert.“
Mama und Papa werfen sich einen fragenden Blick zu. „Du!“
Papa holt tief Luft. „Also.....jetzt habt ihr ja bald Ferien und wir hatten ja geplant, ans Meer zu fahren. Aber.....dieses Jahr......“
Julias helle Augen werden immer dunkler.
„... dieses Jahr wird es wohl nicht klappen, weil Mama und ich den Hof nicht alleine lassen können. Dies ist nun der erste Sommer, seitdem eure Großeltern nicht mehr bei uns sind, und wir müssen uns erst einmal daran gewöhnen, dass sie uns nicht mehr mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir haben den Hof modernisiert, der neue Kuhstall, der Bulldog, das hat alles viel Geld gekostet und gehört immer noch der Bank. Wir werden diese Jahr wohl nicht in den Urlaub fahren können.“
In die plötzliche Stille - es ist nur noch das Klappern der Gabeln auf den Tellern zu hören, platzt Julia: „Alle fahren weg, nur wir nicht!“
„Also, ich habe damit kein Problem, bei uns in der Firma ist die Hölle los. Wir haben einen großen Auftrag bekommen und mein Chef hat schon Urlaubssperre für die nächsten drei Monate angekündigt. Der Sommer ist dann eh schon vorüber“, versucht Katrin den Eltern zu helfen. „Aber ich will ans Meer“, quengelt Leo und knallt mit seinem Lego-Auto gegen den Spaghettitopf .
Julia ist der Appetit vergangen, sie stochert mit ihrer Gabel traurig in den Spaghetti herum.
„Darf ich aufstehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schiebt sie ihren Stuhl zurück und verlässt schluchzend die Stube.
Sonst ist das Abendessen immer der Moment des Tages, an dem die ganze Familie beisammen sitzt, gemeinsam die für die Familie wichtigen Angelegenheiten bespricht, Julia und Leo von der Schule erzählen, Katrin die neuesten Computer-Anwendungen erklärt und über den Tratsch in der Gemeinde gelacht wird. Es ist immer lustig, obwohl auch manchmal über ernste Themen wie Glauben und aktuelle Weltpolitik diskutiert wird. Der Abend vergeht dann so schnell, dass Mama und Papa noch einen liebevollen Gutenachtkuss bekommen und die Kinder in ihren Zimmern verschwinden.
Heute trottet sogar Leo, der Oberschmuser der Familie, mit gesenktem Kopf in sein Zimmer. Als der Reihe nach die Leselampen ausgehen, ist von niemandem das übliche „Gute Na..acht“ zu hören.
Bedrückt sitzen die Eltern in der Stube. „Ach du meine Güte, da müssen wir uns `was einfallen lassen. Ich habe wegen der vielen Arbeit überhaupt nicht mehr an die Schulferien gedacht“, stöhnt Papa mit belegter Stimme. „Als die Großeltern noch lebten, war das alles viel einfacher.“
Mama schaut gedankenversunken auf die halb leer gegessenen Teller. Der Tisch wird immer gemeinsam abgeräumt.
„Weißt du, vor ein paar Tagen hat uns jemand einen Prospekt in den Briefkasten gelegt, in dem sie ein Sommer-Camp für Schüler anbieten. Das wäre doch `was für Julia, sie ist doch so sportlich und ein bisschen Nachhilfeunterricht in Mathe - das ist auch in diesem Paket enthalten - würde ihr für das neue Schuljahr gut tun. Es liegt irgendwo in den italienischen Alpen und ich glaube, es ist nicht einmal so teuer.“
„Das ist eine gute Idee, da werde ich mir morgen gleich deren Website anschauen. Aber was machen wir mit Leo?“
„Leo ist noch zu klein für so ein Camp, das Beste ist, wir bringen ihn für ein paar Tage zu Tante Ingeborg nach München. Da gibt es große Freibäder, den Tierpark und Onkel Volker, der ist doch jetzt in Pension, freut sich bestimmt, mit Leo auf die Spielplätze mit angegliedertem Biergarten zu gehen“.
„Du bist genial mein Schatz!“ Julias Papa umarmt seine Frau, gibt ihr einen Kuss auf den lächelnden Mund und dann räumen beide frohgelaunt den Tisch ab.
„Julia, Frühstück ist fertig. Trödle nicht so lange im Bad herum, sonst verpasst du noch den Schulbus.“
Die grau grünen Augen, die schon morgens lustig funkeln, sind heute dunkel vor Trotz. Sogar der kleine goldene Punkt, der immer auf ihren Pupillen tanzt, ist verschwunden, als Julia sich an den Frühstückstisch setzt.
„Papa und ich haben uns gestern Abend noch lange unterhalten und ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die dir gefallen wird.“
Der goldene Punkt glimmt wieder auf. Mit einem Hoffnungsschimmer in den fragenden Augen schaut Julia ihre Mama an.
„Was hältst Du davon, diesen Sommer deine Ferien in einem Schüler-Camp zu verbringen?“
„Alleine, ohne euch, ohne Leo und Katrin?“
Enttäuschung klingt aus Julias Stimme, aber auch Neugier blitzt in ihren Augen.
„Du bist da nicht alleine, da werden viele Mädchen und Jungen in deinem Alter sein und es wird eine Menge angeboten – Sport, Musizieren, bestimmt werden sie eine Theatergruppe bilden............“
„Vielleicht kann ich auch reiten!“
„Die haben bestimmt eine Website. Wenn du von der Schule zurückkommst, kannst du alles genau anschauen. So, jetzt beeile dich, sonst fährt der Bus ohne dich ab.“
Als Julia nach Hause kommt, sitzt ihr Papa am Küchentisch vor seinem Laptop, mit einer Tasse Kaffee in der Hand.
„Nun mein Schatz, wie war es in der Schule?“
„Mmmm, wir haben in Mathe eine Ex geschrieben und ich war überhaupt nicht vorbereitet, das ist gemein, so kurz vor den Ferien, aber ich glaube, das ändert nichts an meiner Vier für das Zeugnis .... und wenn schon“, fügt sie trotzig hinzu.
„Mama hat ja schon mit dir über unseren Vorschlag gesprochen, ich habe hier das Programm. Da wird wirklich viel geboten, unter anderem auch Nachhilfeunterricht in Mathe, das passt doch, oder?“
„Ich habe doch Ferien!“
„Aber eine Vier, vielleicht sogar eine Fünf im Zeugnis.“
„Kann ich wenigstens dort reiten?“
„Hier, schau dir die Website an, Reiten, Tennis, Klettern, Kanufahren - volles Programm. Also, langweilig wird es dort bestimmt nicht.“
Papa schiebt ihr den Laptop über den Tisch.
„Schau dir bitte die Termine auf der letzten Seite an, das Beste, nach meiner Meinung wäre die zweite, dritte und vierte Augustwoche. Ich werde dich auch zu dem Sammelpunkt bringen, wo dann alle mit dem Camp-Bus abgeholt werden. Nächstes Jahr fahren wir wieder gemeinsam in den Urlaub, versprochen!“, ruft ihr Papa Julia hinterher, als sie mit dem Prospekt aus der Küche verschwindet und die Treppe hinauf in ihr Zimmer springt.
„Und....?“ Julias Mama schaut ihren Mann fragend an, als sie ihre Einkaufstasche auf den Küchentisch wuchtet.
„Ich denke, Julia findet unseren Vorschlag gar nicht so schlecht und die drei Wochen weg von Mamas Rockzipfel werden sie noch selbstständiger machen.“
Die Spielsaison ist fast zu Ende. Niko hat bei den letzten Punktspielen immer durchspielen dürfen. Anfangs saß er oft auf der Reservebank und wurde beim Durchwechseln nur für kurze Zeit auf den Platz geschickt. Als er aber dann ein Spiel gegen ihren Angstgegner mit gezielten Pässen und einigen Dreier-Würfen noch im letzten Viertel kippte und zum knappen Sieg führte, war er endlich als der Playmaker vom Trainer und der Mannschaft, bis auf Siegfried, anerkannt worden. Mit diesem Erfolgsgefühl ist er von Spiel zu Spiel besser geworden.
Heute war das vorletzte Training vor den großen Ferien. Der Trainer hat zehn Minuten früher aufgehört und in der Umkleidekabine Prospekte für ein Basketballcamp an alle Spieler verteilt.
„Falls ihr noch nicht wisst, was ihr in den Ferien so macht, wäre das ein Vorschlag. Die haben da einiges zu bieten, nicht nur Basketball. Andererseits könnt ihr euch in den zwei Wochen wirklich verbessern, denn ihr werdet dort von echten Profis aus der amerikanischen Basketball-Liga betreut.“
„Da kann ja unser neuer Playmaker endlich `mal was lernen“, feixt Siegfried und grinst wie ein Frettchen.
Niko schluckt seine bissige Antwort hinunter, denn seit er die Nummer Eins auf der Position als Spielmacher geworden ist und Siegfried nun öfters auf der Reservebank sitzen muss, mögen sie sich noch weniger als zuvor. Siegfried, der bestimmt einen Kopf größer ist aber mehr Fett als Muskeln an seinem weichen Körper hat, lässt keine Gelegenheit aus, Niko zu provozieren oder während des Trainings zu foulen.
Die fröhliche Stimmung in der Umkleidekabine ist verflogen, alle anderen kramen stumm in ihren Sporttaschen herum oder beeilen sich mit einem Tschüss die Halle zu verlassen.
Auch Niko stopft das verschwitzte T-Shirt eilig in seine Tasche, ruft “Ciao!“ in der Hoffnung, dass sein Vater am Halleneingang schon auf ihn im Auto wartet.
Als er vor die Tür tritt, ist weit und breit kein Auto zu sehen. Gewöhnlich fährt er immer mit dem Fahrrad zum Training, doch dieses Mal hat ihm sein Vater angeboten ihn mitzunehmen, da er zu einer Gemeinderatssitzung fuhr und die Sporthalle sich auf dem Weg dorthin befindet.
„Ich hole dich auch rechtzeitig wieder ab, wir können uns dann auf der Fahrt unterhalten, oder? Wir haben doch so wenig Zeit füreinander.“
„Ich habe es geahnt, dass er wieder zu spät kommt“, murmelt Niko in dem Moment als Siegfried neben ihm auftaucht.
„Hat dich dein Mamilein versetzt, der Kleine fürchtet sich wohl im Dunklen nach Hause zu laufen.“
„Lass mich in Ruhe!“, fährt ihn Niko an. Aus den Augenwinkeln sieht er wie Siegfrieds Freund an seiner Sporttasche, die er neben den Eingang auf den Boden gestellt hat, als er nach seinem Vater Ausschau hielt, zu schaffen macht. Wütend dreht er sich um. „Gib meine Tasche her!“
Er macht einen Schritt zu seiner Tasche hin und fällt über Siegfrieds ausgestrecktem Fuß.
„Das ist die verkehrte Richtung“, grinst Siegfried über ihn gebeugt.
„Jetzt langt es!“, zischt Niko wütend durch seine zusammengepressten Zähne, springt auf und landet, aus der Drehung heraus, seine geballte Faust direkt auf Siegfrieds kurzer, dicker Nase.
Die Nase zwischen beiden Händen haltend läuft Siegfried jammernd hin und her.
„Das wirst du büßen, das wirst du büßen.......“
Erstaunt über seinen mutigen Wutausbruch wartet Niko mit klopfendem Herzen, dass nun die beiden über ihn herfallen werden. Doch Siegfried, der im Halleneingangslicht seine Hände betrachtet, ruft mit weinerlicher Stimme:
„Meine Nase blutet, du hast mir bestimmt mein Nasenbein gebrochen. Das werde ich meinen Eltern sagen, die gehen zum Rechtsanwalt, wir werden dich verklagen.“
Zu seinem Freund gewandt: „Nimm meine Tasche, du musst mein Fahrrad schieben, ich bin verletzt.“
Bevor sie im Halbdunkel den schwach beleuchteten Fahrradständer erreichen, dreht er sich noch einmal um. „Das gibt Rache!“
Seine Stimme klingt jetzt so gehässig, dass Niko ein flaues Gefühl im Magen spürt und er zitternd seine Fäuste sinken lässt.
„Was war das denn?“ Nikos Vater springt über das niedrige Mäuerchen, welches den Parkplatz vom Kiesweg zur Sporthalle trennt.
„Sorry, ich habe mich etwas verspätet, die Sitzung hat doch länger gedauert. Hast du mit dem Jungen Zoff gehabt?“
„Ach Papa, warum bist du nie pünktlich wie versprochen.“ Niko kann ein leichtes Zittern seiner Stimme nicht unterdrücken.
„Es tut mir leid, aber ich musste unbedingt noch mit den Herren vom Bauausschuss wegen unserer Einfahrt sprechen.“
Seit Nikos Mama ihre Karriere an erste Stelle gesetzt hat, lebt er mit seinem Papa alleine in ihrem neu gebauten Haus. Als sie damals gemeinsam ihr Heim planten, durfte er sein Zimmer, sein Reich selbst entwerfen. Vor allem akzeptierten seine Eltern seinen Wunsch, in der Nähe seiner Großeltern zu wohnen. Die Einzugsparty war ein Riesenfest. Er durfte sogar mit einem fast vollen Glas Prosecco auf ihrer aller Glück anstoßen. Als es leer getrunken war, hat er wie aufgedreht, die ganze Gesellschaft unterhalten, Witze aus der Schule erzählt, die Funktionen seines neuen I-Phones erklärt und Papas Haevy-Metall-CD`s aufgelegt, bis er dann glücklich, müde auf der Couch, seinen Kopf in Mamas Schoß, eingeschlafen war. Nächte darauf, als er aufwachte um schlaftrunken auf die Toilette zu schleichen, hörte er seine Eltern durch die halboffene Schlafzimmer Tür zärtlich flüstern. Es wäre doch jetzt Zeit, dass er ein Schwesterchen oder Brüderchen bekommen sollte. Sonst würde der Abstand zu groß und sein Papa meinte lachend, dass Mamas biologische Uhr auch schon ticken würde. Ein Schwesterchen oder Brüderchen wäre ja recht lustig, das mit der biologischen Uhr hatte er nicht so richtig verstanden, aber er wollte eigentlich einen Hund. Den hatten ihm seine Eltern versprochen, wenn sie einmal in einem Haus wohnen würden.
Eines Tages, es war Samstagmorgen. Sie hatten alle lange geschlafen und saßen mit dem fröhlichen, entspannten Gefühl, nicht in die Firma, oder Schule gehen zu müssen, am Frühstückstisch. Da hörten sie den Briefkastendeckel klappern. Mama setzte die Kaffeetasse ab, schob den Stuhl zurück, und ging eilig aus dem Esszimmer, als hätte sie auf den Briefträger gewartet.
Mit roten Wangen und ziemlich angespannt kam sie zurück. Es war der Tag, der alles in Nikos Leben veränderte.
Sie öffnete den braunen Umschlag mit dem Frühstücksmesser, las aufgeregt die zwei Seiten, legte sie auf den Tisch, holte tief Luft und sagte mit einem unsicheren Seufzer: „Sie haben mich genommen.“
Es war das Entwicklungsprojekt in Indien, wofür sie sich als Biologin beworben hatte und jetzt sollte sie sogar die Leitung übernehmen.
„Für wie lange?“, fragte Papa mit belegter Stimme.
„Mindestens ein Jahr. Das ist eine einmalige Gelegenheit, ein Sprungbrett für eine internationale Karriere. Ich werde alle vier Wochen nach Hause kommen, ihr könnt mich besuchen, das Jahr ist so schnell vorüber. “
Inzwischen waren fast drei Jahre vergangen, und Niko hatte seine Mutter das letzte Mal vor vier Monaten gesehen, als sie für ein paar Tage nach München in ihr Institut kam und nur wenige Stunden Zeit hatte, ihn und Papa zu besuchen. Anscheinend hat sie dort ihren Traumjob gefunden, der sie vollkommen ausfüllt, sodass in ihrer jetzigen Welt nur wenig Platz für ihren Mann und Niko ist.
Er träumt oft, stets den gleichen Traum. Sieht seine Mama in- mitten ihrer indischen Familie wunderschön in einen blau- bunten Sari gekleidet. Sie hat ihren Arm liebevoll um die Schulter eines schwarzhaarigen braunen Jungen gelegt, der ihn mit seinen dunklen Augen feindselig anschaut. Er geht auf den Jungen zu und je näher er ihm kommt, verschwimmt sein hübsches Gesicht und die fleischige Gestalt mit dem bösen Grinsen von Siegfried lässt ihn dann mit einem flauen Gefühl im Bauch aufwachen. Niko braucht dann immer Zeit, um sich wieder zurechtzufinden. Manchmal trottet er, noch nicht ganz wach, in das Elternschlafzimmer, kuschelt sich an seinen Papa, der ihn brummelnd in den Arm nimmt, bis sein gleichmäßiger Atem ihn wieder einschlafen lässt.
„Nimm deine Tasche und steige ein. Es wird spät. Ich habe Hunger, wir können uns Spaghetti mit Tomatensoße und Gambas kochen oder wollen wir uns eine Pizza von unserem Italiener mitnehmen?“
„Lieber Spaghetti. “ Niko hat zwar nach dem Streit mit Siegfried keinen Hunger mehr, aber die Aussicht, mit seinem Vater reden zu können während sie kochen, lässt die Wut, die Angst, langsam verblassen.
Niko wirft seine Sporttasche auf den Rücksitz, plumpst erleichtert in den Beifahrersitz und dreht das Radio auf.
„Surfi`USA...“grölen beide und grinsen sich an.
“Mensch Niko, da war ich so alt wie du jetzt.“
„Ich mag die Songs von den Beach Boys auch.“
„Apropos surfen, wahrscheinlich werden wir diesen Sommer nicht gemeinsam in Urlaub fahren können.“
Niko dreht das Radio leiser. „Warum nicht, ich habe mich so darauf gefreut. Ich dachte sogar, dass Mama mitfährt.“
„Mama wird während des Monsuns in Indien bleiben und ich kann dieses Jahr nur eine Woche Urlaub nehmen. In dieser Woche möchte ich endlich unsere Einfahrt fertig pflastern. Aber ich habe am Rathaus in dem Schaukasten eures Basketball-Clubs ein Plakat gesehen, auf dem in den Sommerferien ein Basketballcamp angeboten wird. Du würdest dort mit Spielern aus der NBA trainieren. Das würde dir doch Spaß machen, oder?“
„Das hat uns unser Trainer auch schon erzählt, ich will aber mit euch in Urlaub fahren.“
Die eben noch so fröhliche Stimmung kippt in beleidigtes, nachdenkliches Schweigen.
Zu Hause angekommen, räumt Papa das restliche Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und Niko läuft mit seiner Sporttasche in den Keller hinunter, um sein verschwitztes Trikot in die Waschmaschine zu stopfen. Als er es herauszieht, fällt klappernd ein Handy auf den Boden.
Es ist eingeschaltet. „Das hat mir dieser Siegfried oder sein Freund in die Tasche geschmuggelt“, zischt Niko und will es schon wütend in die Kiste mit den verbrauchten Batterien werfen, steckt es aber dann doch in seine Hosentasche und geht wieder hinauf in die Küche, wo sein Papa die Gambas in der Pfanne mit dem heißen Olivenöl rot werden lässt.
In diesem Moment klingelt das Handy.
„Hast du einen neuen Klingelton?“ Belustigt schaut sein Papa von dem Topf mit der Tomatensoße hoch.
Niko drückt die grüne Taste und meldet sich mit „Hallo?“
„Du Ratte hast mein Handy geklaut!“
Erschreckt drückt Niko die Auflegtaste. Das Handy läutet wieder.
„Meine Eltern haben es schon als gestohlen bei der Polizei gemeldet, du wirst ganz schön Probleme bekommen“, lacht Siegfried hämisch.
„Du hast es mir heimlich in die Tasche geschmuggelt“, schreit Niko und wirft es auf die Couch, als hätte er eine ekelige tote Maus in der Hand.
„Ist das wohl gar nicht dein Handy
?“ Fragend schaut ihn sein Vater an.
Wie aus einer geschüttelten Cola-Flasche sprudeln die Worte, als Niko seine Leidensgeschichte mit Siegfried erzählt. „Deshalb will ich auch nicht in das Basketballcamp, weil er bestimmt dort hingeht“, endet er mit trotziger Stimme.
Sein Vater geht vor ihm in die Hocke und schaut ihm ernst in die traurigen Augen.
„Hast du Angst vor ihm?“
„Ja.“ Beschämt schaut Niko zu Boden.
„Okay, dann bringen wir ihm jetzt das Handy zurück.“
Siegfrieds Vater öffnet die Tür. Ein großer, fleischiger Mann
füllt den Rahmen: „Sie wünschen?“
Nikos Papa stellt sich vor, erklärt ihm den Vorfall und will ihm das Handy reichen.
„Mein Sohn lügt nicht“, unterbricht ihn barsch Siegfrieds Vater, „wir werden die Angelegenheit unserem Rechtsanwalt übergeben“ und schließt unhöflich die Tür.
„Ach du lieber Gott, was sind denn das für Eltern“, schneidet Nikos Papa eine Grimasse mit hochgezogenen Augenbrauen und drückt noch einmal den Klingelknopf.
„Sind das schon wieder diese Leute“, hören sie eine keifende Frauenstimme, bevor die Tür wieder von Siegfrieds Vater geöffnet wird. Der Geruch von Schweinebraten dringt ihnen aus dem Flur entgegen.
„Ich habe ihnen doch gesagt das regelt mein Rechtsanwalt. Übrigens hier meine Karte.“
Nikos Papa hat sich nun so in die Haustüre gestellt, dass sie nicht mehr geschlossen werden kann. Mit einem Blick auf das Klingelschild versucht er es noch einmal mit ruhiger Stimme.
„Herr Schmidthuber, wir haben auch eine Rechtsschutzversicherung, aber wir können doch über das Problem, das anscheinend unsere beiden Söhne haben, wie vernünftige Menschen reden. Hier ist das unversehrte Handy ihres Sohnes zurück und ich bitte Sie mit Siegfried zu reden, wie ich das auch mit Niko tun werde. Die beiden sollten sich die nächste Zeit aus dem Wege gehen. Nach den großen Ferien werden wir uns gemeinsam mit dem Trainer zusammensetzen und“….
„Das Abendessen ist fertig“! ertönt wieder die strenge Stimme durch die offene Küchentür. Herr Schmidthuber holt mit rotem Kopf tief Luft. Aber bevor er antworteten kann drückt ihm Nikos Papa das Handy in die Hand, bedankt sich und wünscht einen guten Appetit.
Niko, der die ganze Zeit seitlich hinter seinem Papa gestanden hat, stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie sich durch den warmen Sommerabend auf den Nachhauseweg machen.
„Das war cool“, drückt Niko Papas Hand. Der dicke Kloß in seinem Bauch ist schon viel kleiner geworden.
„Warten wir `mal ab, ob dich dein Freund Siegfried vorerst in Ruhe lässt. Versuche, so wenig wie möglich in seine Nähe zu kommen. Auf jeden Fall sind nun unsere Spaghetti pappig und die Gambas trocken, komm wir gehen doch zum Italiener. Dort können wir uns in Ruhe darüber unterhalten, was du in den Ferien unternehmen wirst.“
Das Restaurant ist voll besetzt, wie immer an solchen warmen Sommerabenden. Im Garten finden sie noch zwei Plätze an einem großen Tisch.
Niko darf sogar einen kräftigen Schluck von Papas Bier trinken, das er wie die meisten Italiener zur Pizza bestellt.
„Da du ja nicht in das Basketballcamp willst, schlage ich dir vor, dieses Jahr in ein anderes Feriencamp zu gehen. Eventuell ein fremdsprachliches...übrigens... was wirst du denn für eine Englischnote im Zeugnis bekommen?“
„Wahrscheinlich eine Vier“, antwortet Niko kleinlaut und noch leiser, „vielleicht eine Fünf .“
Die schlechte Note scheint Nikos Papa gar nicht so wichtig. Für ihn ist sie im Moment ein gutes Argument Niko zu überzeugen, dieses Jahr die Ferien in einem Camp zu verbringen.
„Entschuldigung, wenn ich mich einmische“, wendet sich ein Gast neben Nikos Papa an die beiden. Er hat eine heisere Stimme mit fremdländischem Akzent.
„Ich habe mitbekommen, dass sie über ein Feriencamp diskutieren. Unser , äh ..“ Er scheint nach dem richtigen Wort zu suchen. „Ja, Sohn, äh, Enkelsohn hat letztes Jahr seine Ferien in einem Camp verbracht und war voll begeistert. Vor allem hat es ihm, was seine Note in Englisch betrifft, sehr gut getan. Ich kann Ihnen gerne die Adresse geben. Sie finden sie auch unter www.campo-estivo....
„Vielen Dank, das klingt nach Italien, das schauen wir uns an.“
„Sie haben recht, das Camp befindet sich in einem abgelegenen Tal in den Bergen nördlich von Milano, schwer zu finden und sehr abenteuerlich. Du wirst dort bestimmt interessante Dinge erleben, Niko.“
Als ihn Niko über den Tisch hinweg anschaut, hat der Fremde sich zurückgelehnt, sodass sein Gesicht in dem schummerigen Licht der Kerzen, die auf den Tischen im warmen Abendwind flackerten, kaum zu erkennen ist. Die weiße Hand, die langsam das Weinglas auf dem Tisch dreht, ist knöchrig. Obwohl sie nicht zu der Stimme passt, muss der Mann sehr alt sein, denkt Niko, und ein kribbeliges Gefühl steigt in ihm hoch.
Er spürt, dass der Mann ihn betrachtet. Für einen kurzen Moment sieht er das Aufglühen seiner Augen, oder spiegelt sich nur das Streichholz, mit dem die Dame am Nebentisch ihre Zigarette anzündet?
Schnell wendet sich Niko zu seinem Vater hin, der sich gerade die Web-Adresse auf eine Papierserviette notiert.
„Ich weiß nicht …,“ nörgelt Niko und langt über seinen Teller nach den Arm seines Vaters.
„Ich finde den Tipp super“, bemerkt sein Vater und fährt mit dem Kugelschreiber die Buchstaben auf der Serviette noch einmal nach. Als Niko ihn leicht am Unterarm rüttelt blickt er hoch.
„Wir schauen uns das `mal auf deren Website an, danach kannst du dich immer noch entscheiden“, beruhigt er Niko mit gedämpfter Stimme und blickt ihn dabei auffordernd an.
„Wir sollten uns aber erst einmal bei dem Herrn für den Tipp bedanken.“