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Fourier hat als Frühsozialist nicht nur in der Geschichte des utopischen Denkens seinen Platz. Er bot auch im 20. Jahrhundert zahlreiche Anknüpfungspunkte für emanzipatorische Entwicklungen. Die beiden Autoren führen in die unterschiedlichen Aspekte von Fouriers Denken ein, erläutern die zentralen Begriffe und die zugrunde liegenden politischen und philosophischen Fragestellungen. Sie arbeiten nicht nur Fouriers Aktualität heraus, sondern auch seine zahlreichen Fehleinschätzungen und fragwürdigen Ansätze.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Marvin Chlada
Andreas Gwisdalla
Charles Fourier
Eine Einführung in sein Denken
Alibri
2014
Marvin Chlada, geboren 1970, Sozialwissenschaftler, Arbeitsschwerpunkte: Utopieforschung, Kultur- und Wissenssoziologie.
Andreas Gwisdalla, geboren 1970, Politikwissenschaftler, Arbeitsschwerpunkte: Internationale Politische Kommunikation, Geschichte und Theorie(n) des Frühsozialismus.
Der Brief von Fourier stammt aus dem Band: Die frühen Sozialisten. Hrsg. von Firts Kool und Werner Krause, München 1972, Bd. 1, S. 201-212 (dtv dokumente). Der Band ist zuerst im Walter-Verlag, Olten 1967 erschienen. Wer damals die Übersetzung besorgt hat, ließ sich nicht ermitteln. Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung nochmals durchgesehen.
Alibri Verlag
www.alibri.de
Aschaffenburg
Mitglied in der Assoziation Linker Verlage (aLiVe)
1. Auflage 2014
Copyright 2014 by Alibri Verlag, Postfach 100 361, 63703 Aschaffenburg
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdruckes, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, der Einspeicherung in elektronische Systeme sowie der Übersetzung vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Claus Sterneck
ISBN 978-3-86569-715-8
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Charles Fourier und der Fourierismus
1.1 Biographische Skizze
1.2 Rezeption – ein Überblick
2. Systemische Grundlagen
2.1 Alles ist in Bewegung!
2.2 Der göttliche Plan
3. Die einfältige Zivilisation
4. Die Geschichtsphilosophie
4.1 Die Zivilisation als Provisorium
4.2 Die Freiheit
5. Die leidenschaftliche Anziehung
6. Die Harmonie
6.1 Die anziehende Arbeit
6.2 Die neue Liebeswelt
6.3 Die harmonische Erziehung
7. Sozietäre Theorie und Praxis
8. Zur Aktualität des Charles Fourier
Anmerkungen
Anhang
Charles Fourier: Brief an den Justizminister
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Einführung
„Utopie (nach Fourier): die einer Welt, in der es nur noch Unterschiede gäbe, so dass sich unterscheiden nicht mehr ein Sichausschließen wäre.“
Roland Barthes
Werk und Schule des Frühsozialisten Charles Fourier (1772-1837) haben weltweit Spuren hinterlassen. Zahlreiche seiner Ideen und Reformvorschläge sind von der Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung als auch von der Frauen- und Studentenbewegung aufgegriffen worden. In seinem Namen wurden Kolonien und Kommunen gegründet. Fouriers sarkastische Sozialkritik und -analysen, seine kosmischen Phantasien und erotischen Utopien lieferten den Stoff für Debatten in Zirkeln der Bohème und Kreisen der Lebensreformer. Er hat Literaten von Fjodor Dostojewski über Émile Zola bis Italo Calvino inspiriert, ebenso wie Kulturphilosophen, Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Künstler und Architekten.
Trotz dieses gewaltigen Einflusses, der sich bis in aktuelle Diskussionen (etwa um Polyamorie oder die Grundsicherung) hinein erstreckt, scheint Fourier nur mehr als skurriler „Vorläufer“ wahrgenommen und – je nach Mode, politischem Schwer- oder Standpunkt – selektiv rezipiert zu werden. Bestenfalls fungiert er als Geheimtipp im gegenkulturellen Milieu (etwa dem Postanarchismus). Im schlimmsten Fall wird er seiner „Phantastik“ beraubt, seine Andersartigkeit ausgeblendet. Dass dabei wesentliche Bestandteile fourieristischen Denkens auf der Strecke bleiben, versteht sich unseres Erachtens von selbst.
Ein zentrales Thema der Theorie Fouriers bildet das „Zwiespältige“ bzw. der „Übergang“ oder, wie Roland Barthes treffend formuliert hat, die „Zugabe“, d. h. jene „offene Stelle“ in der Klassifizierung, das Achtel an Irrtumswahrscheinlichkeit, in die all das einfließt, was einer Klassifizierung gemeinhin zu entziehen sich sucht. O-Ton Charles Fourier: „So fordert die Natur, dass man in den Übergangszeiten von den allgemeinen Gesetzen abweicht, und stellt an das Ende jeder Pflanzen- oder Tiergruppe Übergangsarten, die, zweideutig gemischt, Bastarde genannt werden, wie die Quitte, die Nektarine, der Aal, die Fledermaus, Arten sind, die von den allgemeinen Gesetzen abweichen und als Verbindungsglieder dienen. Die Modernen scheiterten überall beim Studium der Natur, weil sie die Lehre von den Ausnahmen oder Übergängen, die Lehre des Zweideutigen, missachteten.“ Als Theorie des Übergangs oszillieren sämtliche Analysen und Entdeckungen Fouriers im Spannungsfeld der von ihm kritisierten „Zivilisation“ und der ersehnten „Harmonie“. Dass Fourier in seinen Darstellungen häufig zwischen Universalisierung und Simplifizierung, Publikumswirksamkeit und Tabubruch pendelt, wundert daher nicht. In seiner Theorie sind mathematisches und wissenschaftliches Selbstverständnis immerfort durchdrungen von einem sowohl kritischen, als auch schöpferischen und phantastischen Entdeckergeist. Empirie und Phantasie zu trennen ist Fouriers Sache bewusst nicht.
Die erotischen Vorstellungen kollektiven Glücks in der Harmonie hat Fourier bis zuletzt weitgehend alleine und zurückgezogen entwickelt, woran weder die Gründung einer Zeitschrift und Schule noch seine späte Popularität etwas zu ändern vermochten. Mit den meisten seiner als hochgradig lästig empfundenen Anhänger überwarf er sich recht schnell. War bereits das Verhältnis zwischen Meister und Schülern gestört, so folgte nach dem Tod Fouriers ein Gezanke um das theoretische und praktische Erbe in den Reihen der sich weiter spaltenden Anhängerschaft.
In Kapitel 1 werden wir einen Blick auf Fouriers Lebensweg und die Geschichte seiner Schule werfen, sodann eine kurze und fragmentarische Darstellung der weiteren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Fourierismus skizzieren.
Kapitel 2 ist den systemischen Grundlagen von Fouriers Werk gewidmet. Erläutert wird zum einen die Theorie der Bewegungsgesetze und der allgemeinen Bestimmungen, zum anderen steht Fouriers bis dato nur selten gewürdigter Gottesbegriff zur Debatte. Nicht vergessen werden darf: Fourier folgt – davon ist er felsenfest überzeugt – einem göttlichen Plan. „Es ist die Aufgabe“, so Fourier „das universelle System der Natur zu studieren, ein Problem, das Gott allen Gestirnen zu lösen gab. Deren Bewohner können erst dann in einen glücklicheren Zustand übergehen, wenn sie es gelöst haben.“
Thema des Kapitels 3 ist Fouriers vernichtende Analyse und Kritik der Zivilisation. Weder dem kapitalistischen Handelssystem noch der bürgerlichen Familie, weder der Aufklärung noch der Philosophie überhaupt konnte Fourier etwas abgewinnen.
Um den Nachweis zu führen, dass die ihm verhasste Zivilisation nur eine von weiteren Perioden der Menschheitsgeschichte darstellt, entwarf Fourier ein komplexes Schema historischer Entwicklungsstufen. Dieses geschichtsphilosophische Modell und der daran gebundene Freiheitsbegriff werden in Kapitel 4 vorgestellt.
Von August Bebel bis René Schérer hat verdienstvolle Fourierforschung nachdrücklich die grundlegende Bedeutung betont, die der „Trieblehre“ resp. der „Theorie leidenschaftlicher Anziehung“ im Rahmen des Gesamtwerks Fouriers zukommt. Daniel Guérin und Herbert Marcuse erblicken in Fourier einen Vorläufer Freuds, der wesentliche Einsichten der Psychoanalyse vorweggenommen hat. Roland Barthes und Pierre Klossowski haben auf die Verwandtschaft zwischen Fourier und dem Denken des Marquis de Sade aufmerksam gemacht. Nicolaus Sombart feiert ihn als den bis heute „unübertroffene(n) Theoretiker“ der sexuellen Emanzipation. Wohl schießt aber Jean Sevier weit übers Ziel hinaus, wenn er das von Fourier entdeckte Gesetz der Attraktion allein mit der Wiederkehr des Verdrängten und den regressiven Phantasien von der „Großen Mutter“ identifiziert. Der vieldiskutierte sozialpsychologische Teil von Fouriers sozietärer Theorie ist Gegenstand von Kapitel 5.
In Kapitel 6 werfen wir einen Blick auf die utopischen Dimensionen des Arbeits- und Liebesleben in der Harmonie. Roland Barthes hat Fouriers Utopie zusammenfassend als „riesige Party“ charakterisiert. Allerdings: Auch wenn Fourier das bunte Treiben in der Harmonie detailliert und prachtvoll auszumalen und zu schildern wusste, so offenbart er seinen Lesern letztlich nicht alles – noch schien ihm die Zeit dafür nicht gekommen: „Ist die Harmonie einmal hergestellt, so muss es eine der ersten Maßnahmen sein, einen Kongress von Sprachwissenschaftlern und Naturforschern einzuberufen, um eine einheitliche Sprache zu schaffen, die auf der Analogie mit den Schreien der Tiere und anderen Bezeugungen der Natur beruhen muss. Diese Arbeit wird mindestens ein Jahrhundert dauern; und um sie zu vollenden, muss man einen untrüglichen Kompass haben, den bekannt zu machen die Zeit noch nicht da ist.“
Da Fourier beim Aufbau der neuen Gesellschaft all seine Hoffnungen in die Kinder setzt, werden wir gleichsam die Praxis „harmonischer Erziehung“ beleuchten, die den Leidenschaften und Neigungen des Nachwuchs freien Lauf lassen soll.
Bis zu seinem Tod drängte Fourier auf die praktische Verwirklichung seines Projekts. In Kapitel 7 folgen wir exemplarisch den fehlgeschlagenen Versuchen einer Umsetzung seiner Pläne sowie dem Dilemma sozietärer Theorie und Praxis zwischen Eigensinn und Kompromiss.
Allem Scheitern zum Trotz warnte Rolf Schwendter u. a. in einem amüsanten Lied davor, Fourier vorschnell als toten Hund zu behandeln und ungeprüft links liegen zu lassen: „Charles Fourier, den seh ich noch nicht / in unserer Theorie aufgehoben. / Der ihn an Dialektik mit Hegel verglich: / so tot schien Fred Engels ihn zu loben.“ Dem wollen wir beipflichten. Schwendter hat Fourier in seiner wegweisenden Studie Zur Geschichte der Zukunft den „futurologischen Sozialisten“ zugeordnet und gezeigt, dass dieser vom Feminismus über Esperanto, Zwölftonmusik, Theaterfestivals, Miss-Wahlen und das Frühstücksmüsli bis hin zur Gay-Liberation eine Vielzahl von Aspekten sozialer und kultureller Neuerungen sowie politischer Entwicklungen detailliert antizipierte. Hier gilt es unseres Erachtens anzusetzen. Im abschließenden Kapitel 8 werden wir daher kurz auf Aktualität und Perspektiven des Fourierismus für eine prospektive Sozialwissenschaft eingehen.
Darüber hinaus findet sich im Anhang ein Brief von Fourier, den er 1803 an den Justizminister (Citoyen gran juge) Claude-Ambroise Régnier (1746-1814) schrieb. Erreicht hat der Brief seinen Adressaten freilich nicht. Stattdessen ist er in einer Polizeiakte gelandet. Erst 1874 wurde das Dokument in den Archives Nationales (Paris) aufgefunden. In diesem Brief entwickelt Fourier (der sich zu dieser Zeit noch mit zwei „r“ schreibt – Fourrier) wenige Jahre vor der Publikation seiner ersten großen Schrift anschaulich den Kern seiner Theorie und präsentiert einen Abriss seiner Entdeckungen und Forschungen.
1. Charles Fourier und der Fourierismus
1.1 Biographische Skizze
Das nachrevolutionäre Frankreich will nicht zur Ruhe kommen. Einem Regierungssystem folgt das nächste. Zwar hat das Bürgertum und mit ihm ein erstarkter Handelsgeist über den wenig organisierten Vierten Stand obsiegt. Dennoch lebt die Mehrzahl der Franzosen weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen. Folgen wir dem Sozialwissenschaftler Karl Mannheim, dann hat die Idee der Freiheit vor der „concomitant idea of equality“ kapituliert und damit ihre „ideological elements“ offenbart. Von „Brüderlichkeit“ kann keine Rede sein. Was herrscht, sind Konkurrenzdenken, Ausbeutung und Korruption. In diesem sozialen Klima reift der am 7. April 1772 in Besançon als Sohn eines gutsituierten Tuchhändlers geborene François Marie Charles Fourier zu einem kompromisslosen Gegner der bürgerlichen Gesellschaft heran, die er fortan sarkastisch „Zivilisation“ nennen wird. Entsprechend grimmig soll er gewesen sein. Glauben wir den Aussagen seiner Weggefährten, so konnte Fourier sich zeitlebens niemals zu einem Lachen durchringen.
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