Charleston Girl - Sophie Kinsella - E-Book + Hörbuch

Charleston Girl E-Book

Sophie Kinsella

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Beschreibung

Für alle Kinsellaholics!

Lara Lington könnte etwas Ablenkung gut gebrauchen: Ihr Freund hat sie verlassen, ihr Job ist ein Katastrophengebiet und ihre Familie ein Fall für sich. Dann taucht auch noch eine junge Frau auf, die Laras Leben restlos auf den Kopf stellt: Sadie Lancaster, ein Wirbelwind mit Federboa und einer Vorliebe für Charleston. Sadie hat nur ein Problem: Sie ist der Geist von Laras Großtante und gehört eigentlich in die Zwanzigerjahre. Nun ist sie ins London der Gegenwart geraten, wo sie nach einem Mann zum Flirten und nach einer verschwundenen Perlenkette sucht. Und für beides braucht sie Laras Hilfe ...

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Seitenzahl: 675

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Twenties Girl« bei Bantam Press, London
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Sophie Kinsella Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Satz: Uhl+Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06983-4V002
www.manhattan-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Copyright

1

Mit dem Elternbelügen ist es doch so: Man muss es tun, um sie zu schützen. Es ist das Beste für sie. Ich meine, nehmen wir beispielsweise meine Eltern. Wüssten sie, wie es in Wahrheit um meine Finanzen/mein Liebesleben/meine Verdauung/meine Steuern bestellt ist, würden sie auf der Stelle tot umfallen, und der Arzt würde sagen: »Sieht so aus, als hätte ihnen jemand einen Schock versetzt«, und alles wäre meine Schuld. Daher sind sie kaum zehn Minuten in meiner Wohnung, als ich ihnen bereits folgende Lügen aufgetischt habe:

L&N Executive Recruitment wird schon bald Gewinn abwerfen. Da bin ich mir ganz sicher.

Natalie ist eine wunderbare Geschäftspartnerin, und es war eine großartige Idee, meinen Job zu schmeißen und bei ihr als Headhunterin anzuheuern.

Selbstverständlich ernähre ich mich nicht ausschließlich von Pizza, Kirschjoghurt und Wodka.

Ja, das mit den Säumniszuschlägen auf Parktickets wusste ich.

Ja, ich habe mir die Charles-Dickens-DVD angesehen, die sie mir zu Weihnachten geschenkt haben. Fand ich gut, besonders die Frau mit der Haube. Genau, Peggotty. Die meine ich.

Ich wollte nächstes Wochenende sowieso einen Rauchmelder kaufen. Was für ein Zufall, dass sie es gerade erwähnen …

Ja, es ist schön, die ganze Familie mal wiederzusehen.

Sieben Lügen. Ohne das, was ich über Mums Outfit gesagt habe. Und »das Thema« haben wir noch nicht einmal angerissen.

Als ich im schwarzen Kleid mit eilig aufgetragener Wimperntusche aus meinem Schlafzimmer komme, sehe ich, dass Mum meine überfällige Telefonrechnung auf dem Kaminsims mustert.

»Keine Sorge«, sage ich eilig. »Wird umgehend erledigt.«

»Wenn nicht«, sagt Mum, »stellen sie dir das Telefon ab, und es dauert Ewigkeiten, bis du es wieder angeschlossen kriegst, und der Handyempfang ist hier doch eher schwach. Was ist, wenn was passiert? Was machst du dann?« Ihre Stirn ist vor Sorge gerunzelt. Sie sieht aus, als sei es schon so weit, als liege nebenan im Schlafzimmer eine schreiende Frau in den Wehen und draußen vor dem Fenster steige die Flut – und wie sollen wir jetzt einen Rettungshubschrauber rufen? Wie denn?

»Äh … daran hab ich gar nicht gedacht. Mum, ich bezahle die Rechnung. Ehrlich.«

Mum hat sich schon immer Sorgen gemacht. Dann bekommt sie dieses angespannte Lächeln mit leerem, ängstlichem Blick, und man weiß, dass sie innerlich gerade irgendein apokalyptisches Szenario durchspielt. So sah sie während meiner letzten Schulfeier aus und gestand mir später, sie habe gesehen, dass der Kronleuchter an einer altersschwachen Kette hing, und sei plötzlich wie besessen von der Vorstellung gewesen, er könnte uns Mädchen auf den Kopf fallen und in tausend Stücke zersplittern.

Jetzt zupft sie an ihrem schwarzen Kostüm herum, das Schulterpolster und so absurde Metallknöpfe hat. Sie versinkt förmlich darin. Ich erinnere mich vage an dieses Kostüm, von vor zehn Jahren, als sie eine Zeitlang zu Vorstellungsgesprächen ging und ich ihr einfachste Computerkenntnisse beibringen musste, etwa wie man eine Maus bedient. Am Ende ging sie zur Kinderwohlfahrt, die zum Glück keine Kleidervorschriften kennt.

Schwarz steht in meiner Familie niemandem. Dad trägt einen Anzug aus mattschwarzem Stoff, der wie ein Sack an ihm hängt. Eigentlich sieht er ganz gut aus, mein Dad, mit feinen Zügen, eher unauffällig. Sein Haar ist braun und dünn, Mutters dagegen blond und dünn wie meins. Beide sehen tadellos aus, wenn sie entspannt sind und sich auf eigenem Terrain befinden – zum Beispiel, wenn wir alle in Cornwall auf Dads klapprigem, alten Kahn sitzen und in Fleece-Jacken Pasteten futtern. Oder wenn Mum und Dad mit ihrem Amateurorchester spielen, wo sie sich auch kennengelernt haben. Heute ist allerdings keiner von uns entspannt.

»Und bist du jetzt so weit?« Mum mustert meine Strümpfe. »Wo sind deine Schuhe, Liebes?«

Ich sinke auf das Sofa. »Muss ich denn mit?«

»Lara !«, sagt Mum tadelnd. »Sie war deine Großtante. Und sie wurde immerhin hundertfünf.«

Dass meine Großtante hundertfünf war, hat mir Mum schon ungefähr hundertfünf Mal erzählt. Vermutlich weiß sie sonst nichts über sie.

»Na und? Ich kannte sie überhaupt nicht. Keiner von uns kannte sie. Das ist so was von bescheuert. Wieso latschen wir extra nach Potters Bar, für irgendeine alte Frau, die wir nie zu Gesicht bekommen haben?« Ich ziehe meine Schultern an und fühle mich wie eine schmollende Dreijährige, nicht wie eine erwachsene Siebenundzwanzigjährige, die eine eigene Firma hat.

»Onkel Bill und die anderen gehen auch hin«, sagt Dad. »Und wenn es denen nicht zu viel ist …«

»Es ist doch ein Familientreffen!«, wirft Mum fröhlich ein.

Meine Schultern verkrampfen sich. Ich bin allergisch gegen Familientreffen. Manchmal denke ich, wir wären als Pusteblumen besser dran – keine Familie, keine Vergangenheit, freischwebend mit dem Wind, jeder mit seinem eigenen, puscheligen Fallschirm.

»Es wird bestimmt nicht lange dauern«, versucht Mum, mich zu beschwichtigen.

»Wird es wohl!« Ich starre den Teppich an. »Und alle werden mich fragen nach… danach.«

»Nein, werden sie nicht!«, sagt Mum sofort und wirft Dad einen Blick zu, auch mal was zu sagen. »Bestimmt fragt dich niemand … danach.«

Schweigen. »Das Thema« hängt in der Luft. Es ist, als wollten wir es nicht sehen. Schließlich springt Dad ein.

»Also! Da wir gerade… davon sprechen …« Er zögert. »Bist du mehr oder weniger … okay?«

Ich sehe, dass Mum auf Alarmstufe Rot ist, auch wenn sie so tut, als würde sie ihr Haar kämmen.

»Ach, weißt du«, sage ich nach einer Pause. »Mir geht’s ganz gut. Ich meine, man kann ja nicht erwarten, dass man so einfach wieder …«

»Nein, natürlich nicht!« Dad weicht sofort zurück. Dann versucht er es noch mal. »Aber du bist… guter Dinge?«

Ich nicke.

»Schön!«, sagt Mum und wirkt erleichtert. »Ich wusste, du kommst über … darüber hinweg.«

Meine Eltern sprechen den Namen »Josh« nicht mehr aus, weil ich mich jedes Mal in ein schluchzendes Häufchen Elend verwandelt habe, sobald sein Name fiel. Eine Weile nannte meine Mutter ihn nur Der, von dem wir hier nicht sprechen wollen . Inzwischen ist er nur noch »das Thema«.

»Und du hast keinen… Kontakt zu ihm?« Dad sieht überall hin, nur nicht zu mir, und Mum scheint mit ihrer Handtasche beschäftigt zu sein.

Auch das ist ein Euphemismus. Bedeuten soll es eigentlich: »Hast du ihm noch mehr manische SMS geschrieben?«

»Nein«, sage ich und laufe rot an. »Hab ich nicht, okay?«

Es ist echt unfair von ihm, wieder damit anzufangen. Im Grunde wurde die ganze Sache völlig aufgebauscht. Ich habe Josh nur hin und wieder eine SMS geschrieben. Dreimal täglich, wenn überhaupt. Fast keine. Und sie waren nicht manisch. Sie waren nur offen und ehrlich, was man im Übrigen in einer Beziehung sein sollte.

Ich meine, man kann doch seine Gefühle für jemanden nicht einfach abstellen, nur weil der andere es tut, oder? Man kann nicht einfach sagen: »Ach, so! Du möchtest also, dass wir uns nie wieder sehen, nie wieder lieben, nie wieder miteinander sprechen oder sonst wie kommunizieren. Tolle Idee, Josh. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?«

Also schreibt man seine wahren Gefühle in eine SMS, weil man sie mitteilen möchte, und plötzlich ändert dein Exfreund seine Handynummer und erzählt alles deinen Eltern. Die Petze.

»Lara, ich weiß, du warst sehr verletzt und hattest eine schwere Zeit.« Dad räuspert sich. »Aber das geht nun schon zwei Monate so. Du musst dein Leben leben, Liebes. Dich mit anderen jungen Männern verabreden … geh raus und amüsier dich …«

Oh, mein Gott, ich ertrage nicht noch einen von Dads Vorträgen darüber, wie viele Männer einer Schönheit wie mir zu Füßen liegen. Ich meine, erstens gibt es keine Männer mehr auf dieser Welt, das weiß doch jeder. Und außerdem geht ein blasses, stupsnasiges Mädchen von eins sechzig nicht eben als »Schönheit« durch.

Okay. Ich weiß, manchmal sehe ich ganz gut aus. Ich habe ein herzförmiges Gesicht, grüne Augen und ein paar kleine Sommersprossen auf der Nase. Als i-Tüpfelchen habe ich noch diesen Schmollmund, den niemand sonst in der Familie hat. Aber eins ist mal sicher: Ich bin bestimmt kein Supermodel.

»Habt ihr das auch so gemacht, als ihr euch damals in Polzeath getrennt hattet? Ihr seid einfach losgegangen und habt euch den Nächstbesten geschnappt?« Ich kann mich nicht beherrschen, obwohl die Geschichte uralt ist. Dad seufzt und tauscht Blicke mit Mum.

»Wir hätten es ihr nie erzählen sollen«, murmelt sie und wischt sich die Stirn. »Wir hätten es für uns behalten sollen.«

»Denn wenn ihr das getan hättet«, fahre ich unerschütterlich fort, »wärt ihr nie wieder zusammengekommen, oder? Dad hätte nie gesagt, dass er der Bogen deiner Geige ist, und ihr hättet nie geheiratet.«

Dieser Spruch mit dem Bogen und der Geige ist mittlerweile eine Familienlegende. Ich habe die Geschichte schon zigmillionen Mal gehört. Dad stand bei Mum vor der Tür, total verschwitzt, weil er mit dem Fahrrad gekommen war, und sie hatte geweint, tat aber so, als sei sie erkältet, und sie vertrugen sich wieder, und Oma brachte Tee und Kekse. (Ich weiß nicht, was die Kekse damit zu tun haben, aber sie werden jedes Mal extra erwähnt).

»Lara, Liebes.« Mum seufzt. »Das war doch was ganz anderes, weil wir schon drei Jahre zusammen waren. Wir waren immerhin verlobt …«

»Ich weiß!«, gebe ich trotzig zurück. »Ich weiß, dass es was anderes war. Ich sage ja nur, dass Leute manchmal wieder zusammenfinden. Es kommt vor.«

Schweigen.

»Lara, du warst schon immer eine romantische Seele…«, setzt Dad an.

»Ich bin nicht romantisch!«, rufe ich, als wäre es eine Beleidigung. Ich starre den Teppich an, reibe mit dem Zeh am Flor herum, doch aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Mum und Dad sich gegenseitig auffordern, etwas zu sagen. Mum schüttelt den Kopf und deutet auf Dad, als wollte sie sagen: »Mach du!«

»Wenn man sich von jemandem trennt«, setzt Dad seltsam hastig wieder an, »blickt man leicht zurück und denkt, das Leben wäre perfekt, wenn man wieder zusammenkäme. Aber …« Gleich wird er mir erzählen, dass das Leben wie ein Fahrstuhl ist – mal geht’s rauf, mal runter. Ich muss ihm zuvorkommen, und zwar schnell.

»Dad. Hör zu. Bitte.« Irgendwie schaffe ich es, ruhig zu bleiben. »Du hast da was falsch verstanden. Ich will nicht wieder mit Josh zusammen sein.« Ich versuche, so zu klingen, als sei die bloße Vorstellung absurd. »Deswegen habe ich ihm doch keine SMS geschrieben. Ich wollte einen Schlussstrich ziehen. Ich meine, er hat ohne Vorwarnung, ohne ein Wort der Erklärung einfach mit mir Schluss gemacht. Keine Ahnung, warum. Es ist so … ungeklärt. Es ist, als würde man einen Agatha-Christie-Roman lesen, ohne zu erfahren, wer der Täter war!«

So. Das werden sie verstehen.

»Tja«, sagt Dad nach einer Weile. »Ich kann deine Enttäuschung verstehen …«

»Ich wollte verstehen, was in Joshs Kopf vorgegangen ist«, sage ich so überzeugend wie möglich. »Darüber sprechen. Mit ihm reden, wie zivilisierte, menschliche Wesen.«

Und wieder mit ihm zusammenkommen, wie ich im Stillen hinzufüge – ein lautloser Pfeil der Wahrheit. Weil ich weiß, dass Josh mich noch immer liebt, selbst wenn niemand sonst daran glaubt.

Aber es hat keinen Sinn, meinen Eltern so etwas zu sagen. Sie würden es nie verstehen. Wie sollten sie auch? Sie haben ja keine Ahnung, wie gut Josh und ich zusammenpassten, was für ein perfektes Paar wir waren. Sie begreifen nicht, dass er offenbar in Panik einen übereilten Entschluss gefasst hat, wie ein kleiner Junge, der Muffensausen bekommt. Vermutlich gab es gar keinen echten Grund, und wenn ich nur mit ihm reden könnte, ließe sich bestimmt alles klären und wir wären wieder zusammen.

Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich meinen Eltern weit voraus, so wie es Einstein ergangen sein muss, wenn seine Freunde sagten: »Das Universum ist flach, Albert, glaub es uns«, und insgeheim dachte er: »Ich weiß, dass es gekrümmt ist. Eines Tages werde ich es euch beweisen.«

Mum und Dad treiben sich wieder heimlich gegenseitig an. Ich sollte sie aus ihrem Elend befreien.

»Jedenfalls müsst ihr euch um mich keine Sorgen machen«, sage ich hastig. »Denn ich bin darüber hinweg. Ich meine, okay, vielleicht bin ich noch nicht ganz darüber hinweg«, räume ich ein, als ich ihre zweifelnden Mienen sehe, »aber ich habe mich damit abgefunden, dass Josh nicht reden will. Mir ist klar geworden, dass es nicht hat sein sollen. Ich habe eine Menge über mich gelernt, und … ich bin gut drauf. Echt.«

Das Lächeln ist mir ins Gesicht gemeißelt. Mir ist, als würde ich das Mantra irgendeiner durchgeknallten Sekte singen. Ich sollte ein Gewand tragen und Tamburin schlagen.

Hare, hare … ich bin drüber weg … hare, hare … ich bin gut drauf …

Dad und Mum tauschen Blicke. Ich habe keine Ahnung, ob sie mir glauben, aber wenigstens habe ich uns allen einen Ausweg aus diesem heiklen Gespräch ermöglicht.

»Das wollte ich hören!«, sagt Dad und sieht erleichtert aus. »Sehr gut, Lara! Ich wusste, du schaffst es. Und außerdem musst du dich auf deine Firma mit Natalie konzentrieren, wo sie doch so gut läuft …«

Mein Lächeln wird noch sektenartiger.

»Absolut!«

Hare, hare … meine Firma läuft gut … hare, hare … sie ist gar keine Katastrophe …

»Ich bin so froh, dass das überstanden wäre.« Mum kommt herüber und küsst meine Stirn. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen. Such dir ein paar schwarze Schuhe, hopp, hopp!«

Seufzend stehe ich auf und schleppe mich ins Schlafzimmer. Es ist ein schöner, sonniger Tag. Aber ich werde ihn bei einer unseligen Familienfeier für eine tote Hundertfünfjährige verbringen. Manchmal ist das Leben richtig scheiße.

Als wir auf den trübsinnigen, kleinen Parkplatz des Bestattungsinstitutes in Potters Bar einscheren, fällt mir ein Pulk von Menschen vor dem Seiteneingang auf. Dann sehe ich eine Fernsehkamera, und ein flauschiges Mikrofon wippt über den Köpfen.

»Was ist da los?« Ich spähe aus dem Fenster. »Hat das irgendwas mit Onkel Bill zu tun?«

»Vermutlich.« Dad nickt.

»Ich glaube, jemand dreht eine Dokumentation über ihn«, wirft Mum ein. »Trudy sagte irgendwas in der Art. Für sein Buch.«

So was kommt vor, wenn man Prominenz in der Verwandtschaft hat. Man gewöhnt sich an die Fernsehkameras. Und an Leute, die – wenn man sich vorstellt – sagen: »Lington? Irgendwie verwandt mit Lingtons Coffee, haha?«, und dann platt sind, wenn man mit »Ja« antwortet.

Mein Onkel Bill ist der Bill Lington, der im Alter von sechsundzwanzig Jahren Lingtons Coffee aus dem Nichts gestampft und zu einem weltweiten Imperium von Coffeeshops ausgebaut hat. Sein Gesicht ist auf jedem einzelnen Kaffeebecher abgebildet, wodurch er noch berühmter als die Beatles und solche Leute ist. Jeder kennt ihn. Und momentan steht er sogar noch mehr im Rampenlicht als sonst, weil letzten Monat seine Autobiografie Zwei Kleine Münzen erschienen ist und zum Bestseller wurde. Angeblich soll Pierce Brosnan ihn in der Verfilmung spielen.

Natürlich habe ich es von vorn bis hinten gelesen. Es geht darum, wie er sich von seinen letzten zwanzig Pence einen Kaffee gekauft hat, der so scheußlich schmeckte, dass ihm die Idee mit den Coffeeshops kam. Also hat er erst einen eröffnet, dann eine ganze Kette, und jetzt gehört ihm mehr oder weniger die ganze Welt. Sein Spitzname ist »Der Alchemist«, und die versammelte Geschäftswelt möchte natürlich wissen, was sein Erfolgsgeheimnis ist. Jedenfalls stand das so letztes Jahr in der Zeitung.

Deshalb gibt er seine »Zwei Kleine Münzen«-Seminare. Vor Monaten habe ich eines davon heimlich besucht. Um mir ein paar Tipps zu holen, wie man eine neue Firma etabliert. Zweihundert Leute saßen da und sogen jedes Wort in sich auf, und am Ende mussten wir alle zwei Münzen hochhalten und sagen: »Damit fange ich an.« Es war total abgeschmackt und peinlich, aber alle um mich herum machten einen wirklich inspirierten Eindruck. Ich persönlich habe die ganze Zeit aufmerksam zugehört und weiß immer noch nicht, wie er es gemacht hat.

Ich meine, er war erst sechsundzwanzig, als er seine erste Million machte. Sechsundzwanzig! Er hat ein Unternehmen gegründet und hatte sofort Erfolg. Ich dagegen habe vor einem halben Jahr ein Unternehmen gegründet und hatte sofort Kopfschmerzen.

»Vielleicht schreibst du eines Tages mit Natalie ein Buch über eure Firma!«, sagt Mum, als könnte sie meine Gedanken lesen.

»Ihr werdet die Welt beherrschen«, stimmt Dad freudig mit ein.

»Da, ein Eichhörnchen!« Eilig deute ich aus dem Fenster. Meine Eltern haben mich bei meinem Einstieg in die Selbständigkeit so sehr unterstützt, dass ich ihnen einfach nicht die Wahrheit sagen kann. Also wechsle ich das Thema jedes Mal, wenn sie davon anfangen.

Korrekterweise müsste ich hinzufügen, dass Mum mich nicht vom allerersten Moment an unterstützt hat. Sie erlitt nämlich erst einmal einen Nervenzusammenbruch, als ich verkündete, ich wollte meinen Job im Marketing aufgeben und mich mit meinem Ersparten als Headhunterin etablieren, obwohl ich in meinem ganzen Leben weder je Headhunterin gewesen war, noch irgendeine Ahnung davon hatte.

Sie beruhigte sich erst, als ich ihr erklärte, dass ich mich geschäftlich mit meiner besten Freundin Natalie zusammentun wollte. Und dass Natalie bereits eine erfolgreiche Headhunterin ist und anfangs das eigentliche Geschäft übernehmen wollte, während ich mich um den Schreibkram kümmerte und dabei die Kunst der Headhunterei lernte. Und dass wir bereits mehrere Verträge in Aussicht hätten und den Bankkredit in null Komma nichts zurückzahlen könnten.

Es schien ein wunderbarer Plan zu sein. Es war ein wunderbarer Plan. Bis vor einem Monat, als Natalie in Goa Urlaub machte, sich in einen Surfertypen verliebte und mir per SMS mitteilte, sie wüsste nicht genau, wann sie wiederkäme, aber alles Wissenswerte sei im Computer und ich würde schon zurechtkommen und die Brandung sei absolut grandios, da sollte ich echt mal hinfahren, dicken Kuss Natalie xxxxx.

Mit Natalie gründe ich nie wieder eine Firma. Nie, nie wieder.

»Und ist das Ding jetzt aus?« Wahllos tippt Mum auf ihr Handy ein. »Ich möchte nicht, dass es bei der Trauerfeier losgeht. «

»Lass mal sehen.« Dad biegt in eine Parklücke ein, macht den Motor aus und nimmt ihr das Handy aus der Hand. »Stell es doch stumm.«

»Nein!«, sagt Mum entsetzt. »Es soll aus sein! Wer weiß, ob die Stummschaltung auch funktioniert!«

»Dann eben so.« Dad drückt auf den Knopf an der Seite. »Alles aus.« Er gibt Mum das Handy zurück. Sie beäugt es skeptisch.

»Und was ist, wenn es sich da unten in meiner Tasche irgendwie von selbst anstellt?« Flehentlich sieht sie uns beide an. »Das ist Mary im Bootsclub passiert. Das Ding ist einfach in ihrer Handtasche losgegangen und hat geklingelt, als sie Schiedsrichterin beim Wettrennen war. Die haben gesagt, wahrscheinlich ist sie dagegen gekommen oder irgendwas …«

Ihre Stimme wird immer lauter und atemloser. Das ist der Moment, in dem meine Schwester Tonya normalerweise die Geduld verliert und ausrastet. »Stell dich nicht so blöd an, Mum! Dein Handy kann doch nicht von allein angehen!«

»Mum.« Sanft nehme ich es ihr aus der Hand. »Wie wäre es, wenn wir es im Auto lassen?«

»Ja.« Sie entspannt sich ein wenig. »Das ist eine gute Idee. Ich lege es ins Handschuhfach.«

Ich sehe Dad an, der lächelt. Arme Mum. Der ganze Blödsinn, der ihr immer durch den Kopf geht. Sie hat das Gespür für die richtigen Relationen verloren.

Auf dem Weg zum Bestattungsinstitut höre ich Onkel Bills markante Stimme, und da steht er auch schon, als wir uns durch die kleine Menge drängen, in Lederjacke, braungebrannt, mit federndem Haar. Alle Welt weiß, dass Onkel Bill von seinen Haaren besessen ist. Sie sind dick und voll und pechschwarz, und sollte irgendeine Zeitung auch nur andeuten, er würde sie färben, droht er mit einer Klage.

»Die Familie ist das Allerwichtigste«, sagt er einem Reporter in Jeans. »Die Familie ist der Fels, auf dem wir alle stehen. Wenn ich meine Termine für eine Beerdigung absagen muss, dann ist es eben so.« Ich sehe die Bewunderung, die sich in der Menge breitmacht. Ein Mädchen mit einem Lingtons-Becher in der Hand, wendet sich zur Seite und flüstert ihrer Freundin zu: »Er ist es tatsächlich!«

»Vielleicht können wir es dabei belassen…« Einer von Onkel Bills Assistenten tritt an einen Kameramann heran. »Bill muss zur Bestattung. Vielen Dank. Nur noch ein paar Autogramme …«, sagt er zu den Umstehenden.

Wir warten geduldig etwas abseits, bis Onkel Bill mit einem Filzer auf alle Kaffeebecher und Bestattungsbroschüren gekritzelt hat, wobei die Kameras ihn filmen. Dann endlich zerstreuen sich die Autogrammjäger, und Onkel Bill kommt zu uns herüber.

»Hi, Michael. Schön, dich zu sehen.« Er gibt Dad die Hand, dann dreht er sich abrupt zu einem Assistenten um. »Hast du Steve schon am Apparat?«

»Hier.« Eilig reicht der Assistent Onkel Bill ein Handy.

»Hallo, Bill!« Dad ist immer ausnehmend höflich zu Onkel Bill. »Ist schon eine Weile her. Wie geht es dir? Glückwunsch zu deinem Buch!«

»Und danke für das signierte Exemplar!«, wirft Mum fröhlich ein.

Bill nickt uns allen kurz zu, dann spricht er ins Telefon. »Steve, ich hab deine E-Mail bekommen.« Mum und Dad tauschen Blicke. So viel zum großen Wiedersehen.

»Lass uns mal nachsehen, wohin wir sollen«, raunt Mum Dad zu. »Lara, kommst du?«

»Ich bleib lieber noch einen Moment hier draußen«, sage ich spontan. »Ich komm gleich nach!«

Ich warte, bis meine Eltern verschwunden sind, dann rücke ich näher an Onkel Bill heran. Ich hatte plötzlich eine teuflische Idee. Bei diesem Seminar sagte Onkel Bill, der Schlüssel für den Erfolg eines Unternehmers sei es, jede Gelegenheit wahrzunehmen. Und schließlich bin ich Unternehmerin, oder? Und das hier ist eine Gelegenheit, oder?

Ich warte, bis es scheint, als hätte er sein Gespräch beendet, dann sage ich zögernd: »Hi, Onkel Bill. Könnte ich dich einen Moment sprechen?«

»Warte.« Er hebt die Hand und hält sein BlackBerry ans Ohr. »Hi, Paulo. Was gibt’s?«

Sein Blick schwenkt zu mir herüber, und er zwinkert, was offenbar heißt, dass ich reden soll.

»Wusstest du, dass ich inzwischen Headhunterin bin?« Ich lächle unsicher. »Ich habe mich mit einer Freundin zusammengetan. Wir nennen uns L&N Executive Recruitment. Dürfte ich dir ein bisschen über unsere Firma erzählen?«

Onkel Bill runzelt die Stirn und sieht mich einen Moment nachdenklich an, dann sagt er: »Augenblick mal, Paulo.«

Oh, wow! Er unterbricht sein Telefonat! Für mich!

»Wir haben uns darauf spezialisiert, hochqualifizierte, motivierte Leute für leitende Positionen zu suchen«, sage ich und versuche, nicht zu haspeln. »Ich dachte, vielleicht könnte ich mit jemandem in deiner Personalabteilung sprechen und ihm mal erklären, wie wir arbeiten. Vielleicht können wir da irgendwie zusammenkommen …«

»Lara.« Onkel Bill hebt eine Hand, um mich zu unterbrechen. »Was würdest du sagen, wenn ich dich mit meiner Personalchefin zusammenbringen und ihr sagen würde: ›Das ist meine Nichte, geben Sie ihr eine Chance‹?«

Ich spüre, wie in mir die reine Freude explodiert. Ich möchte Halleluja singen. Es hat sich gelohnt, aufs Ganze zu gehen!

»Ich würde sagen: ›Vielen Dank, Onkel Bill!‹, bringe ich hervor und versuche, ruhig zu bleiben. »Ich würde alles geben, ich würde rund um die Uhr arbeiten. Ich wäre so dankbar …«

»Nein.« Er unterbricht mich. »Wärst du nicht. Du hättest keinen Respekt vor dir.«

»W-was?« Ich stutze.

»Ich sage nein.« Mit strahlend weißem Lächeln sieht er mich an. »Ich tue dir nur einen Gefallen, Lara. Wenn du es aus eigener Kraft schaffst, geht es dir viel besser. Dann hast du das Gefühl, dass du es auch verdient hast.«

»Ach so.« Ich schlucke. Meine Wangen brennen vor Verlegenheit. »Ich meine, ich will es mir ja verdienen. Ich will hart arbeiten. Ich dachte nur, vielleicht …«

»Wenn ich es mit zwei kleinen Münzen schaffen konnte, Lara, kannst du es auch.« Er sieht mir einen Moment lang in die Augen. »Glaub an dich. Glaub an deinen Traum. Hier.«

Oh, nein. Bitte nicht. Er greift in seine Tasche und hält mir zwei Zehn-Pence-Stücke hin.

»Das sind deine zwei kleinen Münzen.« Mit tiefem, ernstem Blick sieht er mich an, genauso wie er es im Fernsehen macht. »Lara, schließe die Augen. Fühl es. Glaub es. Sag: ›Damit fange ich an.‹«

»Damit fange ich an«, murre ich und winde mich. »Danke.«

Onkel Bill nickt, dann widmet er sich wieder seinem Handy. »Paulo. Entschuldige bitte.«

Mir ist ganz heiß vor Scham, als ich mich davonmache. So viel zum Wahrnehmen von Gelegenheiten. So viel zu Kontakten. Ich will nur noch diese elende Beerdigung hinter mich bringen und nach Hause.

Ich gehe ums Gebäude und durch die gläsernen Eingangstüren ins Bestattungsinstitut, wo ich mich in einem Foyer mit Polstersesseln, Taubenbildern und stickiger Luft wiederfinde. Es ist niemand da, nicht mal am Empfang.

Plötzlich höre ich hinter einer hellen Holztür ein Singen. Scheiße. Es hat schon angefangen. Ich verpasse es gerade. Eilig stoße ich die Tür auf und sehe vollbesetzte Bänke. Der Raum ist so überfüllt, dass die hinten Stehenden Platz machen müssen. So unauffällig wie möglich suche ich mir eine Lücke.

Auf der Suche nach Mum und Dad sehe ich mich um, überwältigt von den vielen Menschen. Und den Blumen. Links und rechts stehen prächtige Arrangements in Weiß und Creme. Vorn singt eine Frau Andrew Lloyd Webbers »Pie Jesu«, aber vor mir stehen so viele Leute, dass ich nichts sehen kann. Ganz in der Nähe schniefen welche, und einem Mädchen laufen die Tränen nur so übers Gesicht. Ich bin etwas bestürzt. All diese Menschen sind wegen meiner Großtante gekommen, und ich kannte sie überhaupt nicht.

Ich habe nicht mal Blumen geschickt, wie mir beschämenderweise bewusst wird. Hätte ich eine Karte schreiben sollen oder irgendwas? Oh Gott, ich hoffe, Mum und Dad haben sich darum gekümmert.

Die Musik ist so hübsch, und die Atmosphäre so emotional aufgeladen, dass ich plötzlich merke, wie meine Augen brennen. Neben mir steht eine alte Dame mit schwarzem Samthut, die mich mitfühlend ansieht.

»Haben Sie ein Taschentuch, Kindchen?«, flüstert sie.

»Nein«, muss ich zugeben, und sie klappt sofort ihre große, altmodische Handtasche auf. Ein Duft von Kampfer steigt hervor, und ich sehe mehrere Brillen, eine Schachtel Pfefferminz, ein Päckchen Haarnadeln und ein halbes Paket Verdauungskekse.

»Bei einer Beerdigung sollte man immer ein Taschentuch dabeihaben. « Sie hält mir die Packung hin.

»Danke.« Ich schlucke und nehme eins. »Das ist wirklich nett. Ich bin übrigens die Großnichte.«

Sie nickt mitfühlend. »Das ist eine schwere Zeit für Sie. Wie nimmt es die Familie auf?«

»Ach … na ja …« Ich falte das Taschentuch zusammen und überlege, was ich antworten soll. Ich kann ja nicht gut sagen: Es kümmert keinen so richtig. Onkel Bill steht sogar noch mit seinem BlackBerr y draußen vor der Tür. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein«, improvisiere ich schließlich.

»Das stimmt.« Die alte Dame nickt feierlich, als hätte ich etwas wirklich Weises gesagt und nicht etwas, das auf jeder zweiten Beileidskarte steht. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein.« Sie nimmt meine Hände. »Ich habe jederzeit ein offenes Ohr für Sie, mein Kind. Es ist mir eine Ehre, eine von Berts Verwandten kennenzulernen.«

»Danke … «, sage ich automatisch, dann stutze ich.

Bert?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Tante nicht Bert hieß. Eigentlich weiß ich es genau. Sie hieß Sadie.

»Wissen Sie, Sie sehen ihm ausgesprochen ähnlich.« Die Frau betrachtet mein Gesicht.

Scheiße. Ich bin auf der falschen Beerdigung.

»Irgendwie um die Stirn herum. Und Sie haben seine Nase. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

»Äh … hin und wieder!«, sage ich blindlings. »Ehrlich gesagt, muss ich langsam los … äh … vielen Dank für das Taschentuch …« Eilig trete ich den Rückzug zur Tür an.

»Das ist Berts Großnichte«, höre ich die alte Dame hinter mir. »Sie ist sehr mitgenommen, die Ärmste.«

Ich stürze mich förmlich auf die helle Holztür und finde mich im Foyer wieder, lande beinah auf Mum und Dad. Sie stehen bei einer mir unbekannten Frau mit wollgrauem Haar und einem Stapel Broschüren in der Hand. »Lara! Wo warst du?« Erstaunt starrt Mum die Tür an. »Was hast du da drinnen gemacht?«

»Waren Sie bei Mr. Cox’ Trauerfeier?« Die grauhaarige Frau wirkt überrascht.

»Ich hatte mich verirrt!«, sage ich trotzig. »Ich wusste nicht, wohin ich sollte! Da müssten Hinweise an den Türen sein!«

Schweigend hebt die Frau ihre Hand und deutet auf ein Plastikschild über der Tür. »Bertram Cox – 13:30 Uhr«. Verdammt. Wieso hab ich das nicht bemerkt?

»Na, egal.« Ich versuche, meine Würde zu wahren. »Gehen wir. Damit wir noch einen Platz kriegen.«

2

Damit wir noch einen Platz kriegen. Das ist ja wohl ein Witz. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts derart Deprimierendes erlebt.

Okay, ich weiß, es ist eine Beerdigung. Es soll ja keine Party werden. Aber bei Berts Beerdigung waren wenigstens viele Leute und Blumen und Musik und Emotionen. Der andere Raum hatte zumindest etwas Ausstrahlung.

Dieser Raum hat nichts. Er ist kahl und kalt, mit einem geschlossenen Sarg ganz vorn und dem Namen »Sadie Lancaster« in billigen Plastikbuchstaben auf einer Tafel. Keine Blumen, kein Duft, kein Gesang. Fahrstuhlmusik leiert aus den Lautsprechern. Und es ist so gut wie leer. Nur Mum, Dad und ich auf der einen Seite, Onkel Bill, Tante Trudy und meine Cousine Diamanté auf der anderen.

Verstohlen lasse ich den Blick zu meiner Familie hinüberschweifen. Obwohl wir verwandt sind, kommen sie mir doch eher vor, als wären sie einem Promi-Magazin entsprungen. Onkel Bill lümmelt auf seinem Plastikstuhl, als gehöre ihm der Laden, und tippt auf sein BlackBerry ein. Tante Trudy blättert in Hello, liest wahrscheinlich alles über ihre Freundinnen. Sie trägt ein enges, schwarzes Kleid, das blonde Haar ist kunstvoll um ihr Gesicht herum frisiert und ihr Dekolleté noch gebräunter und eindrucksvoller als beim letzten Mal. Tante Trudy hat Onkel Bill vor zwanzig Jahren geheiratet, und ich könnte schwören, dass sie heute jünger aussieht als auf ihren Hochzeitsfotos.

Diamantés platinblondes Haar reicht ihr bis zum Hintern, und sie trägt einen Minirock mit Totenkopfmuster. Sehr geschmackvoll für eine Trauerfeier. Sie hat ihren iPod drin, tippt auf ihr Handy ein und sieht immer wieder schmollend auf ihre Uhr. Diamanté ist siebzehn und hat zwei Autos und ihr eigenes Mode-Label namens Tutus & Pearls, das Onkel Bill für sie gegründet hat. (Ich habe es mir mal im Internet angesehen. Die Kleider kosten alle vierhundert Pfund, und jeder, der eins kauft, landet namentlich auf einer speziellen Liste mit »Diamantés Besten Freunden«. Die Hälfte davon sind Promikinder. Es ist wie Facebook, nur mit Klamotten.)

»Hey, Mum«, sage ich. »Wieso sind hier keine Blumen?«

»Oh.« Sofort macht Mum ein ängstliches Gesicht. »Ich hatte mit Trudy über Blumen gesprochen, und sie hat gesagt, sie wollte sich drum kümmern. Trudy?«, ruft sie hinüber. »Was ist mit den Blumen passiert?«

»Also!« Trudy klappt ihr Hello zu und fährt herum, wie zu einem kleinen Plausch. »Ich weiß, wir haben darüber gesprochen. Aber weißt du eigentlich, was das alles kostet?« Sie deutet in die Runde. »Und wir sitzen hier nur … wie lange? Zwanzig Minuten? Da muss man realistisch sein, Pippa. Blumen wären rausgeschmissenes Geld.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagt Mum zögernd.

»Ich meine, ich missgönne der alten Dame ihre Feier ja nicht.« Tante Trudy beugt sich zu uns vor, spricht leise. »Aber man muss sich doch fragen: ›Was hat sie je für uns getan?‹ Ich meine, ich kannte sie gar nicht. Du?«

»Na ja, das war etwas schwierig.« Mum macht ein gequältes Gesicht. »Sie hatte einen Schlaganfall und war die meiste Zeit verwirrt …«

»Genau !« Trudy nickt. »Sie hat nichts mehr mitbekommen. Wozu also? Wir sind nur wegen Bill hier.« Liebevoll sieht Trudy zu ihm hinüber. »Er hat ein viel zu weiches Herz. Oft genug sage ich zu den Leuten …«

»Schwachsinn !« Diamanté reißt sich die Stöpsel aus den Ohren und starrt ihre Mutter verächtlich an. »Wir sind nur hier, damit Dad seine Show abziehen kann. Er wollte erst herkommen, als der Produzent gesagt hat, eine Beerdigung würde ihm ›unbezahlbare Sympathien‹ einbringen. Ich habe sie belauscht.«

»Diamanté!«, ruft Tante Trudy ärgerlich.

»Es stimmt! Er ist der größte Heuchler auf der Welt, genau wie du. Und ich sollte jetzt eigentlich längst bei Hannah sein.« Diamantés Wangen blähen sich verdrossen. »Ihr Dad gibt eine Riesenparty für seinen neuen Film, und ich bin nicht dabei. Nur damit es so aussieht, als hätte Dad was mit Familie und Mitgefühl am Hut. Das ist so was von unfair!«

»Diamanté!«, sagt Trudy scharf. »Wie du dich vielleicht erinnern wirst, hat dein Vater dir und Hannah den Trip nach Barbados spendiert. Und diese Brust-OP, von der du dauernd redest … was meinst du wohl, wer die bezahlt?«

Diamanté atmet scharf ein, als wäre sie zu Tode gekränkt. »Das ist so was von unfair! Es ist schließlich für einen wohltätigen Zweck.«

Interessiert beuge ich mich vor. »Wie kann eine Brust-OP einem wohltätigen Zweck dienen?«

»Ich gebe hinterher ein Zeitschrifteninterview und spende das Honorar«, sagt sie stolz. »Also, das halbe Honorar wahrscheinlich. « Ich sehe Mum an. Sie ist sprachlos vor Entsetzen. Fast muss ich losprusten.

»Hallo?« Wir blicken alle auf und sehen eine Frau mit grauen Hosen und weißem Priesterkragen, die den Gang entlangkommt.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagt sie und spreizt die Hände. »Ich hoffe, Sie mussten nicht allzu lange warten.« Sie hat kurzes, scheckiges Haar, eine Brille mit dunklem Rand und eine tiefe, fast maskuline Stimme. »Mein Beileid für Ihren Verlust.« Sie wirft einen Blick auf den kahlen Sarg. »Ich weiß nicht, ob Sie entsprechend informiert wurden, aber üblicherweise stellt man Fotos der Verblichenen auf …«

Untereinander tauschen wir leere, peinlich berührte Blicke. Dann schnalzt Tante Trudy plötzlich mit der Zunge.

»Ich hab ein Foto! Das Pflegeheim hat es geschickt.«

Sie wühlt in ihrer Tasche herum und holt einen braunen Umschlag hervor, aus dem sie ein zerknittertes Polaroid holt. Als sie es weiterreicht, werfe ich einen Blick darauf. Es zeigt eine faltige, alte Dame, zusammengesunken auf einem Stuhl, in einer unförmigen, blasslila Strickjacke. Ihr Gesicht ist von Millionen Falten durchzogen. Das weiße Haar sieht aus wie Zuckerwatte. Ihre Augen sind trübe, als könne sie die Welt nicht sehen.

Das also war meine Großtante Sadie. Und ich habe sie nie kennengelernt.

Argwöhnisch betrachtet die Pastorin das Foto, dann pinnt sie es an eine große Tafel, auf der es total traurig und eher etwas peinlich aussieht, so ganz allein.

»Möchte einer von Ihnen etwas über die Verstorbene sagen?«

Stumm schütteln wir die Köpfe.

»Ich verstehe. Oftmals ist es für die nächsten Verwandten einfach zu schmerzhaft.« Die Pastorin zückt Notizbuch und Bleistift aus ihrer Tasche. »In diesem Fall möchte ich in Ihrem Namen sprechen. Wenn Sie mir nur ein paar Details nennen würden. Ereignisse aus ihrem Leben. Erzählen Sie mir alles über Sadie, was wir besonders hervorheben sollten.«

»Wir kannten sie kaum«, sagt Dad zu unserer Entschuldigung. »Sie war sehr alt.«

»Hundertfünf«, wirft Mum ein. »Sie war hundertfünf.«

»War sie einmal verheiratet?«, fragte die Pastorin.

»Äh …« Dad runzelt die Stirn. »Gab es da einen Mann, Bill?«

»Keine Ahnung. Ja, ich glaub schon. Weiß aber nicht, wie er hieß.« Onkel Bill hat nicht einmal von seinem BlackBerry aufgeblickt. »Könnten wir jetzt weitermachen?«

»Natürlich.« Das mitfühlende Lächeln der Pastorin ist gefroren. »Nun, vielleicht nur eine kleine Anekdote von Ihrem letzten Besuch bei ihr … irgendein Hobby …«

Wieder herrscht betretenes Schweigen.

»Auf dem Foto trägt sie eine Strickjacke«, meint Mum schließlich. »Vielleicht hat sie sie selbst gestrickt. Vielleicht mochte sie Stricken.«

»Haben Sie sie denn nie besucht?« Die Pastorin muss sich offensichtlich zwingen, höflich zu bleiben.

»Selbstverständlich haben wir das!«, sagt Mum gekränkt. »Wir haben kurz bei ihr reingeschaut …« Sie überlegt. »1982 war das, glaube ich. Lara war noch ein Baby.«

»1982?« Die Pastorin ist entrüstet.

»Sie hat uns nicht erkannt«, wirft Dad eilig ein. »Sie war gar nicht richtig da.«

»Was ist mit ihrem früheren Leben?« Aus der Stimme der Pastorin spricht Empörung. »Nichts Erwähnenswertes? Geschichten aus ihrer Jugend?«

»Meine Fresse, Sie geben wohl nie auf, oder?« Diamanté reißt an ihren Ohrstöpseln. »Merken Sie nicht, dass wir nur hier sind, weil wir müssen? Sie hat nichts Besonderes gemacht. Sie hat nichts erreicht. Sie war ein Niemand! Nur irgendein steinalter Niemand.«

»Diamanté!«, sagt Tante Trudy mit mildem Tadel. »Das ist nicht sehr nett.«

»Aber es stimmt doch, oder? Ich meine, sieh dich um!« Verächtlich deutet sie auf den leeren Raum. »Wenn nur sechs Leute zu meiner Beerdigung kämen, würde ich mich erschießen.«

»Junges Fräulein.« Die Pastorin tritt ein paar Schritte vor, ganz rot vor Zorn. »Kein Mensch auf Gottes Erde ist ein Niemand .«

»Wenn Sie es sagen«, gibt Diamanté barsch zurück, und ich sehe, wie die Pastorin ihren Mund aufmacht, um noch etwas zu erwidern.

»Diamanté.« Onkel Bill hebt seine Hand. »Es reicht. Selbstverständlich bedauere ich zutiefst, Sadie nie besucht zu haben, die bestimmt ein ganz besonderer Mensch war, und da spreche ich sicher für uns alle.« Er ist dermaßen charmant, dass ich sehe, wie sich die aufgestellten Nackenhaare der Pastorin glätten. »Nun aber möchten wir sie gern mit Würde auf ihre Reise schicken. Sie haben sicher einen vollen Terminkalender, genau wie wir.« Er tippt auf seine Uhr.

»In der Tat«, sagt die Pastorin nach einer Pause. »Ich bereite mich kurz vor. Stellen Sie bitte in der Zwischenzeit Ihre Handys aus.« Mit einem letzten, missbilligenden Blick in die Runde geht sie hinaus, und Tante Trudy dreht sich augenblicklich auf ihrem Sitz um.

»Die hat ja Nerven, uns ein schlechtes Gewissen einzureden! Wir müssen ja wohl nicht hier sein, oder?«

Die Tür geht auf, und alle sehen hinüber – aber es ist nicht die Pastorin, sondern Tonya. Ich wusste gar nicht, dass sie kommt. Dieser Tag verschlechtert sich gerade um etwa hundert Prozent.

»Hab ich es verpasst?« Ihre schneidende Stimme erfüllt den Raum, während sie den Gang entlanggeht. »Ich konnte mich gerade noch vom Krabbelturnen wegschleichen, bevor die Zwillinge ausrasten. Ehrlich, dieses Aupair-Mädchen ist noch schlimmer als das letzte, und das will was heißen.«

Sie trägt schwarze Hosen und eine schwarze Strickjacke mit Leopardenbesatz, und ihr dickes Haar mit den Strähnchen ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Tonya war früher Bürochefin bei Shell und hat den lieben langen Tag Leute herumkommandiert. Jetzt ist sie Vollzeit-Mutter von Zwillingen, Lorcan und Declan, und kommandiert stattdessen ihre armen Aupair-Mädchen herum.

»Wie geht es den Jungs?«, fragt Mum, aber Tonya hört es nicht. Sie ist völlig auf Onkel Bill fixiert.

»Onkel Bill, ich hab dein Buch gelesen! Es war fantastisch! Es hat mein Leben verändert. Ich habe allen davon erzählt. Und das Foto ist großartig, auch wenn es dir kein bisschen gerecht wird.«

»Danke, Schätzchen.« Bill lächelt sie mit seinem gewohnten »Ja-ich-weiß-dass-ich-toll-bin«-Blick an, doch sie scheint es nicht zu merken.

»Ist das Buch nicht fantastisch?« Sie sucht unsere Zustimmung. »Ist Onkel Bill nicht ein Genie? Mit absolut nichts anzufangen! Nur zwei Münzen und ein großer Traum! Es ist inspirierend für die ganze Menschheit!«

Sie ist eine solche Schleimerin. Ich könnte kotzen. Mum und Dad geht es offenbar genauso, da keiner von beiden antwortet. Auch Onkel Bill schenkt ihr keine Aufmerksamkeit, so dass sie widerwillig auf dem Absatz herumfährt.

»Und wie geht es dir so, Lara? Hab dich ja kaum gesehen in letzter Zeit! Du versteckst dich wohl!« Sie nimmt mich genüsslich ins Visier, und ich weiche unwillkürlich auf meinem Stuhl zurück. Oh-oh. Ich kenne diesen Blick.

Meine Schwester Tonya hat drei Gesichtsausdrücke:

Leer und einfältig.

Laut, mit aufgesetztem Lachen, wie in »Onkel Bill, du bist einsame Spitze!«

Selbstgefälligkeit, maskiert als Mitgefühl, wenn sie sich am Unglück anderer labt. Sie ist süchtig nach Reality-TV und Büchern mit traurigen, verwahrlosten Kindern auf dem Cover und Titeln wie Bitte, Oma, schlag mich nicht mit dem Bügeleisen!

»Ich hab dich nicht mehr gesehen, seit du von Josh getrennt bist. Wie schade. Es sah aus, als wärt ihr zwei wie geschaffen füreinander! « Traurig neigt Tonya ihren Kopf. »Sah es nicht aus, als wären Sie wie geschaffen füreinander, Mum?«

»Nun, es hat nicht funktioniert.« Ich gebe mir Mühe, nüchtern zu klingen. »Also, jedenfalls …«

»Was ist schiefgelaufen?« Rehäugig sieht sie mich an, mit diesem unechten Mitgefühl, das sie vorschiebt, wenn jemand anderem etwas zustößt und sie sich wirklich, wirklich amüsiert.

»Kommt vor.« Ich zucke mit den Achseln.

»Aber doch nicht einfach so, oder? Es gibt immer einen Grund.« Tonya lässt nicht locker. »Hat er denn nichts gesagt?«

»Tonya«, wirft Dad sanft ein. »Ist das jetzt der rechte Augenblick? «

»Dad, ich will Lara doch nur helfen«, sagt Tonya gekränkt. »Es ist immer das Beste, solche Sachen auszusprechen! Oder hatte er eine andere?« Ihr Blick schwenkt zu mir zurück.

»Ich glaube nicht.«

»Lief es ganz okay?«

»Ja.«

»Wieso dann?« Sie verschränkt die Arme, wirkt verwundert, beinah vorwurfsvoll. »Wieso?«

Ich weiß nicht, wieso!, möchte ich schreien. Glaubst du, ich hätte mich das nicht schon Milliarden Mal gefragt?

»Es ist eben einfach so passiert!« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich habe eingesehen, dass es nicht sein sollte, und ich bin darüber hinweg und gut drauf. Ich bin richtig glücklich.«

»Du siehst nicht glücklich aus«, bemerkt Diamanté von der anderen Seite des Ganges her. »Oder, Mum?«

Tante Trudy mustert mich einen Augenblick.

»Nein«, sagt sie schließlich mit Entschiedenheit. »Sie sieht nicht glücklich aus.«

»Bin ich aber!« Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen steigen. »Ich verberge es nur! Ich bin wirklich, wirklich, wirklich glücklich.«

Oh Gott, ich hasse meine Verwandten!

»Tonya, Liebes, setz dich«, sagt Mum taktvoll. »Wie war das Internat, das ihr euch angesehen habt … ?«

Angestrengt blinzelnd nehme ich mein Handy hervor und tue so, als würde ich meine SMS checken, damit mich niemand weiter belästigt. Dann, bevor ich es verhindern kann, scrollt mein Finger zu den Fotos.

Nicht ansehen, sage ich mir. Nicht ansehen.

Doch meine Finger wollen nicht gehorchen. Der Drang ist unwiderstehlich. Ich muss einen kurzen Blick darauf werfen, um das hier durchzustehen … Meine Finger tasten herum, auf der Suche nach meinem Lieblingsfoto. Josh und ich, zusammen an einem verschneiten Berghang, Arm in Arm, braungebrannt. Joshs blondes Haar lockt sich über der Skibrille, die er in die Stirn geschoben hat. Er lächelt mich mit diesem perfekten Grübchen in seiner Wange an, diesem Grübchen, in das ich immer meinen Finger gesteckt habe wie ein Baby den Finger in Knetgummi.

Wir sind uns auf einer Guy-Fawkes-Party zum ersten Mal begegnet, an einem Feuer in einem Garten in Clapham. Ein Mädchen, das ich von der Uni kannte, hatte mich eingeladen. Josh verteilte Wunderkerzen an alle. Er zündete mir eine an und fragte mich, wie ich heiße, und schrieb »Lara« mit seiner Wunderkerze in die Dunkelheit, und ich lachte und fragte ihn nach seinem Namen. Wir schrieben gegenseitig unsere Namen in die Luft, bis die Wunderkerzen verglüht waren. Dann rückten wir näher ans Feuer und tranken Glühwein und erzählten von den Feuerwerkspartys unserer Kindheit. Alles, was wir sagten, war auf der gleichen Wellenlänge. Wir lachten über dieselben Dinge. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so gelassen war. Oder so ein süßes Lächeln hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er mit einer anderen zusammen ist. Ich kann es einfach nicht …

»Alles in Ordnung, Lara?« Dad sieht zu mir herüber.

»Ja!«, sage ich fröhlich und stelle das Handy ab, bevor er das Foto sehen kann. Als Orgelmusik einsetzt, sinke ich auf meinem Stuhl zurück und tauche in mein Elend ab. Ich hätte heute nicht hierherkommen sollen. Ich hätte eine Ausrede finden sollen. Ich hasse meine Familie, und ich hasse Beerdigungen, und es gibt hier nicht mal einen ordentlichen Kaffee und …

»Wo ist meine Kette?« Die ferne Stimme einer jungen Frau dringt in meine Gedanken.

Ich sehe mich um, will wissen, wer das ist, doch hinter mir sitzt niemand. Wer war das?

»Wo ist meine Kette?«, höre ich die leise Stimme wieder. Sie ist hoch und herrisch und klingt vornehm. Kommt sie aus dem Handy? Habe ich es nicht richtig ausgemacht? Ich hole es aus der Tasche – doch das Display ist schwarz.

Komisch.

»Wo ist meine Kette?« Jetzt klingt die Stimme, als wäre sie direkt in meinem Ohr. Ich zucke zusammen und sehe mich erschrocken um.

Was noch komischer ist: Niemand sonst scheint etwas bemerkt zu haben.

»Mum.« Ich beuge mich vor. »Hast du gerade eben was gehört? So was wie eine … Stimme?«

»Eine Stimme?« Mum sieht mich fragend an. »Nein, Liebes. Was für eine Stimme denn?«

»Es war eine Frauenstimme, gerade eben…« Ich stutze, als ich den altbekannten Ausdruck von Angst in Mums Miene entdecke. Fast sehe ich, was sie denkt, in einer Sprechblase: Ach du lieber Gott, jetzt hört meine Tochter schon Stimmen in ihrem Kopf.

»Da habe ich mich wohl verhört«, sage ich eilig und stecke mein Handy ein, als eben die Pastorin eintritt.

»Bitte erheben Sie sich«, beginnt sie. »So lasset uns verneigen. Lieber Gott, wir vertrauen dir die Seele unserer Schwester Sadie an …«

Ich habe keine Vorurteile, aber diese Pastorin hat die monotonste Stimme seit Erfindung der Menschheit. Es geht erst seit fünf Minuten so, aber schon jetzt gebe ich mir keine Mühe mehr, ihr zuzuhören. Es ist wie beim Schulappell. Dein Hirn wird taub. Ich lehne mich zurück, blicke zur Decke auf und klinke mich aus. Gerade lasse ich meine Augenlider zufallen, als ich diese Stimme wieder höre, direkt in meinem Ohr.

»Wo ist meine Kette?«

Das lässt mich zusammenfahren. Ich drehe meinen Kopf von links nach rechts, aber wieder ist da nichts. Was ist los mit mir?

»Lara!«, wispert meine Mutter besorgt. »Alles okay?«

»Ich hab nur Kopfschmerzen«, zische ich zurück. »Vielleicht setz ich mich lieber ans Fenster. Frische Luft hilft.«

Möglichst leise stehe ich auf und gehe zu einem Stuhl im hinteren Teil des Raumes. Die Pastorin merkt es kaum. Sie ist viel zu sehr in ihren Sermon vertieft.

»Dieses Ende des Lebens ist der Beginn des Lebens … denn wie wir auf die Erde kamen, so kehren wir dorthin zurück …«

»Wo ist meine Kette? Ich brauche sie!«

Scharf fahre ich herum, wende meinen Kopf hin und her, in der Hoffnung, die Stimme diesmal ausfindig zu machen. Und dann plötzlich sehe ich etwas. Eine Hand.

Eine schlanke, manikürte Hand auf der Stuhllehne direkt vor mir.

Ungläubig starre ich sie an. Die Hand gehört zu einem langen, sehnigen Arm. Der wiederum zu einer jungen Frau gehört, die etwa in meinem Alter ist. Die sich auf einem Stuhl vor meiner Nase fläzt und ungeduldig mit den Fingern trommelt. Sie hat dunkles Haar, zu einem Bob geschnitten, und trägt ein ärmelloses, hellgrünes Seidenkleid. Ich sehe ein blasses, energisches Kinn.

Ich bin so überrascht, dass ich nur glotzen kann.

Wer zum Teufel ist das?

Sie schwingt sich von ihrem Stuhl, als könnte sie nicht stillsitzen, und fängt an, auf und ab zu laufen. Ihr Kleid ist gerade geschnitten und reicht bis zum Knie, mit einem Saum aus schmalen Falten, die beim Gehen rascheln.

»Ich brauche sie!«, fleht sie. »Wo ist sie? Wo ist sie?«

Ihre Stimme klingt etwas eckig und abgehackt, wie in alten Schwarzweißfilmen. Aufgeregt sehe ich zu meiner Familie hinüber, aber niemand sonst hat sie bemerkt. Keiner hat auch nur ihre Stimme gehört. Alle sitzen nur still da.

Plötzlich fährt das Mädchen herum, als hätte es meinen Blick gespürt, und starrt mich an. Ihre Augen schimmern so dunkel, dass ich nicht sagen kann, welche Farbe sie haben, doch weiten sie sich ungläubig, als ich ihren Blick erwidere.

Okay, langsam kriege ich Panik. Ich habe eine Halluzination. Eine ausgewachsene, laufende, sprechende Halluzination. Und sie kommt auf mich zu.

»Du kannst mich sehen.« Sie zeigt mit dem Finger auf mich, und ich weiche entsetzt auf meinem Stuhl zurück. »Du kannst mich sehen!«

Eilig schüttle ich den Kopf. »Kann ich nicht.«

»Und du kannst mich hören!«

»Nein, kann ich nicht!«

Ich merke, dass sich Mum vorne stirnrunzelnd zu mir umsieht. Ich huste und deute auf meine Brust. Als ich mich umdrehe, ist das Mädchen weg. Verschwunden.

Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich werde verrückt. Ich meine, ich weiß, dass ich in letzter Zeit viel Stress hatte, aber eine echte Halluzination …

»Wer bist du?« Fast fahre ich vor Schreck aus der Haut, als sich die Stimme des Mädchens in meine Gedanken bohrt. Plötzlich kommt sie den Gang entlang, mir entgegen.

»Wer bist du?«, will sie wissen. »Wo bin ich? Wer sind diese Leute?«

Antworte niemals einer Halluzination, sage ich mir. Es wird sie nur ermutigen. Ich wende mich ab, und versuche, mich auf die Pastorin zu konzentrieren.

»Wer bist du?« Plötzlich erscheint das Mädchen direkt vor mir. »Bist du real?« Sie hebt eine Hand, als wollte sie mir an die Schulter stoßen, und ich weiche zurück, doch ihre Hand geht direkt durch mich hindurch und kommt auf der anderen Seite wieder heraus. Ich stöhne vor Schreck. Verdutzt starrt das Mädchen erst seine Hand an, dann mich.

»Was bist du?«, ruft sie. »Bist du ein Traum?«

»Ich?«, entfährt es mir leicht pikiert. »Natürlich bin ich kein Traum! Du bist der Traum!«

»Ich bin kein Traum!« Sie klingt nicht minder pikiert.

»Was bist du dann?«, rutscht es mir zu laut heraus.

Ich bereue es augenblicklich, da Mum und Dad zu mir herübersehen. Wenn ich ihnen sagen würde, dass ich mit einer Halluzination spreche, würden sie ausflippen. Ich säße schon morgen in der Klapse.

Das Mädchen schiebt sein Kinn vor. »Ich bin Sadie. Sadie Lancaster.«

Sadie … ?

Nein. Niemals.

Ich kann mich nicht rühren. Mein Blick zuckt wirr von dem Mädchen vor mir … zu der grauen, alten Frau mit den Zuckerwattehaaren auf dem Polaroid … und wieder zurück zu dem Mädchen. Ich halluziniere meine tote Großtante?

Die Halluzination sieht auch ziemlich mitgenommen aus. Sie dreht sich um, als wäre ihr das alles vorher gar nicht aufgefallen. Ein paar schwindelerregende Sekunden lang taucht sie überall im Raum auf und gleich wieder ab, sieht sich jede Ecke an, jedes Fenster, wie ein Insekt, das in einem leeren Aquarium herumsummt.

Ich hatte noch nie eine unsichtbare Freundin. Ich habe nie Drogen genommen. Was ist bloß los? Ich sage mir, ich sollte das Mädchen ignorieren, es ausblenden, der Pastorin zuhören. Aber es nützt nichts. Ich kann mich einfach nicht abwenden.

»Was ist das hier?« Als sie ihren Sarg sieht, kneift sie argwöhnisch die Augen zusammen. »Was ist das?«

Oh Gott.

»Das ist… nichts«, sage ich eilig. »Rein gar nichts! Es ist nur … ich meine … ich würde an deiner Stelle lieber nicht so genau hinsehen …«

Zu spät. Schon steht sie am Sarg und starrt ihn an. Ich sehe, wie sie den Namen »Sadie Lancaster« auf dem Plastikschild liest. Ich sehe, wie ihr Gesicht vor Schreck zusammenzuckt. Ein paar Momente später wendet sie sich der Pastorin zu, die noch immer vor sich hin salbadert:

»Sadie fand Erfüllung in der Ehe, was für uns alle eine Inspiration sein sollte …«

Das Mädchen bringt sein Gesicht ganz nah an das der Pastorin und betrachtet sie verächtlich.

»Dumme Trine!«, sagt sie schneidend.

»Sie war eine Frau, die ein stolzes Alter erreichte«, fährt die Pastorin fort, ohne irgendwas zu merken. »Ich betrachte dieses Bild …« Mit barmherzigem Lächeln deutet sie auf das Foto. »… und ich sehe eine Frau, die trotz ihrer Gebrechlichkeit ein schönes Leben hatte. Die Trost in kleinen Dingen fand. Dem Stricken zum Beispiel.«

»Stricken?«, wiederholt das Mädchen ungläubig.

»So denn …« Offensichtlich kommt die Pastorin zum Ende ihrer Rede. »Verneigen wir uns in Schweigen, bevor wir Abschied nehmen.« Sie tritt vom Podium, und Orgelmusik erklingt.

»Was passiert jetzt?« Das Mädchen sieht sich um, ist plötzlich hellwach. Im nächsten Moment steht sie neben mir. »Was passiert jetzt? Sag es mir! Sag es mir!«

»Na ja, der Sarg kommt hinter den Vorhang«, raune ich ihr zu. »Und dann… äh …« Meine Stimme erstirbt. Wie soll ich es taktvoll sagen? »Wir sind hier in einem Krematorium, was bedeutet, dass …« Ich fuchtele verlegen herum.

Das Gesicht des Mädchens wird vor Schreck ganz bleich, und mit einigem Unbehagen sehe ich, wie sie langsam einen seltsam blassen, durchscheinenden Zustand annimmt. Fast sieht es aus, als würde sie ohnmächtig, nur schlimmer. Einen Moment lang kann ich beinahe durch sie hindurchsehen. Dann kommt sie wieder, als hätte sie einen Entschluss gefasst.

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich brauche meine Kette. Ich brauche sie.«

»Tut mir leid«, sage ich hilflos. »Da kann ich nichts machen.«

»Du musst die Feuerbestattung verhindern!« Abrupt blickt sie auf, die Augen schwarz und funkelnd.

»Was?« Ich starre sie an. »Das kann ich nicht!«

»Natürlich kannst du es! Sag ihnen, sie sollen aufhören!« Als ich mich abwende, um sie auszublenden, erscheint sie auf der anderen Seite. »Steh auf! Sag was!«

Ihre Stimme klingt schneidend und beharrlich wie die eines kleinen Mädchens. In Panik ziehe ich den Kopf ein, um ihr auszuweichen.

»Halt die Bestattung an! Stopp sie! Ich muss meine Kette haben!« Sie ist einen Fingerbreit vor meinem Gesicht. Ihre Fäuste trommeln auf meine Brust ein. Ich kann sie nicht spüren, zucke aber dennoch zurück. Verzweifelt stehe ich auf und ziehe eine Sitzreihe weiter, wobei ich klappernd einen Stuhl umwerfe.

»Lara, ist bei dir alles in Ordnung?« Erschrocken blickt Mum herüber.

»Alles gut«, bringe ich hervor, während ich auf einen anderen Stuhl sinke und versuche, das Geschrei in meinem Ohr zu ignorieren.

»Ich lass den Wagen schon mal kommen«, sagt Onkel Bill eben zu Tante Trudy. »In fünf Minuten müssten wir hier fertig sein.«

»Halt! Halt-halt-halt!« Die Stimme der jungen Frau wird zu durchdringendem Kreischen, wie eine Rückkopplung in meinem Ohr. Ich werde schizophren. Jetzt weiß ich, wieso Leute Präsidenten ermorden. Ich kann die Stimme unmöglich ignorieren. Die Frau ist wie eine Furie. Ich halte es nicht mehr aus. Ich halte meinen Kopf, versuche, das Geschrei zu überhören, aber es nützt nichts. »Halt! Halt! Du musst etwas tun …«

»Okay! Okay! Aber… hör auf zu schreien!« In meiner Verzweiflung stehe ich auf. »Moment!«, rufe ich. »Augenblick! Wir müssen die Bestattung anhalten! ALLES STOPP!«

Zu meiner Erleichterung hört das Mädchen auf zu kreischen.

Der Nachteil ist, dass meine gesamte Familie mich anstarrt, als hätte ich den Verstand verloren. Die Pastorin drückt einen Knopf in einem hölzernen Schaltkasten, und die Orgelmusik verstummt.

»Die Bestattung anhalten?«, sagt Mum schließlich.

Ich nicke schweigend. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich momentan wohl nicht ganz im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.

»Aber warum?«

»Ich … ähm …« Ich räuspere mich. »Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Dass sie von uns geht.«

»Lara.« Dad seufzt. »Ich weiß, dass du momentan unter Druck stehst, aber wirklich …« Er wendet sich der Pastorin zu. »Ich bitte um Verzeihung. Meine Tochter fühlt sich in letzter Zeit nicht gut.« Liebeskummer, hängt er lautlos an.

»Das hat nichts damit zu tun!«, protestiere ich gekränkt, aber keiner hört auf mich.

»Ah. Verstehe.« Die Pastorin nickt verständnisvoll. »Lara, wir bringen die Bestattung zu einem würdigen Ende«, sagt sie wie zu einer Dreijährigen. »Und dann trinken wir beide vielleicht ein Tässchen Tee und unterhalten uns ein bisschen. Was meinen Sie?«

Sie drückt wieder auf den Knopf, und die Orgelmusik setzt ein. Im nächsten Moment macht sich der Sarg auf seinem Sockel knarrend auf den Weg und verschwindet hinter dem Vorhang. Hinter mir höre ich ein scharfes Keuchen, dann …

»Neeeein!«, heult es gequält. »Neeein! Halt! Ihr müsst das Ganze stoppen!«

Zu meinem Entsetzen springt das Mädchen auf den Sockel und will den Sarg zurückschieben. Aber ihre Arme funktionieren nicht. Sie greifen ins Leere.

»Bitte!« Sie blickt auf und fleht mich verzweifelt an. »Das dürfen sie nicht!«

Langsam kriege ich echt Panik. Ich weiß nicht, wieso ich das alles halluziniere, oder was es zu bedeuten hat. Aber es fühlt sich sehr real an. Ihre Qualen scheinen echt zu sein. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und zusehen.

»Nein!«, rufe ich. »Halt!«

»Lara …«, sagt Mum.

»Es ist mein Ernst! Ich habe einen triftigen Grund, wieso dieser Sarg nicht … verbrannt werden darf. Wir müssen das Ganze unterbrechen! Sofort!« Ich laufe den Gang entlang. »Drücken Sie den Knopf, oder ich tue es selbst!«

Sprachlos drückt die Pastorin auf den Knopf, und der Sarg bleibt stehen.

»Liebes, vielleicht solltest du lieber draußen warten.«

»Sie spielt sich auf, wie üblich!«, sagt Tonya ungeduldig. »Ein ›triftiger Grund‹. Ich meine, was um alles in der Welt sollte das sein? Machen Sie einfach weiter!«, fährt sie die Pastorin herrisch an, die sich leicht aufplustert.

»Lara.« Sie ignoriert Tonya und wendet sich mir zu. »Haben Sie tatsächlich einen guten Grund, die Bestattung Ihrer Großtante zu verhindern?«

»Ja!«

»Und dieser Grund ist … ?« Sie wartet.

Oh, mein Gott. Was soll ich sagen? Weil eine Halluzination es mir befohlen hat?

»Es ist, weil … äh …«

»Sag, ich bin ermordet worden!« Erschrocken blicke ich auf und sehe das Mädchen direkt vor meiner Nase. »Sag es! Dann müssen sie die Bestattung verschieben. Sag es!« Sie steht neben mir und schreit in mein Ohr. »Sag es! Sag-es-sag-es-sages …!«

»Ich glaube, meine Tante wurde ermordet!«, platze ich in meiner Verzweiflung heraus.

Ich habe schon bei einigen Gelegenheiten gesehen, dass mich meine Familie anstarrt, wie vom Blitz getroffen. Nichts jedoch hat je eine solche Reaktion hervorgerufen. Alle haben sich auf ihren Plätzen umgedreht, mit offenen Mündern, ungläubig, wie ein Stillleben. Fast muss ich lachen.

»Ermordet?«, sagt die Pastorin schließlich.

»Ja«, sage ich frei heraus. »Ich habe berechtigten Grund zu der Annahme, dass hier etwas faul ist. Wir müssen den Leichnam also für die Beweisaufnahme sichern.«

Langsam kommt die Pastorin auf mich zu, kneift die Augen zusammen, als wollte sie einschätzen, ob ich ihre Zeit vergeude. Allerdings weiß sie nicht, dass Tonya und ich früher immer versucht haben, uns gegenseitig niederzustarren, und ich immer gewonnen habe. Ich erwidere ihren Blick mit der gleichen ernsten Das-ist-kein-Spaß-Miene.

»Ermordet … wie?«, sagt sie.

»Das möchte ich lieber mit den Beamten besprechen«, gebe ich zurück, als wäre ich in einer Episode von CSI: Gottesacker.

»Sie wollen, dass ich die Polizei rufe?« Jetzt sieht sie ehrlich schockiert aus.

Oh mein Gott! Selbstverständlich will ich nicht, dass sie die verdammte Polizei ruft. Aber ich kann jetzt keinen Rückzieher machen, Ich muss überzeugend wirken.

»Ja«, sage ich nach kurzer Pause. »Ja, ich glaube, das wäre wohl das Beste.«

»Sie können sie doch nicht ernst nehmen!«, bricht es aus Tonya hervor. »Sie will sich ganz offensichtlich nur wichtigmachen !«

Ich merke, dass die Pastorin von Tonya langsam genervt ist, was für mich ganz nützlich werden könnte.

»Meine Liebe«, sagt sie knapp. »Diese Entscheidung liegt nicht bei Ihnen. Einer solchen Anschuldigung muss nachgegangen werden. Und Ihre Schwester hat ganz recht. Der Leichnam müsste für die Gerichtsmedizin verwahrt werden.«

Mir scheint, die Pastorin findet Geschmack an der Idee. Wahrscheinlich sieht sie sonntagabends immer Fernsehkrimis. Jedenfalls kommt sie näher zu mir heran und sagt ganz leise: »Wer – glauben Sie – hat Ihre Großtante ermordet?«

»Dazu möchte ich in diesem Moment lieber nichts sagen«, flüstere ich düster. »Es ist kompliziert.« Ich werfe Tonya einen bedeutsamen Blick zu. »Wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Was?« Tonyas Gesicht läuft knallrot an. »Du beschuldigst doch wohl nicht mich!«

»Ich sage überhaupt nichts.« Ich gebe mich unergründlich. »Außer zur Polizei.«

»Das ist doch Schwachsinn. Bringen wir es nun zu Ende oder nicht?« Onkel Bill klappt sein BlackBerry zu. »Denn – so oder so – mein Wagen ist da, und wir haben der alten Dame jetzt schon genug Zeit gewidmet.«

»Mehr als genug!«, stimmt Tante Trudy mit ein. »Komm, Diamanté, das Ganze ist doch eine Farce!« Mit eckigen Bewegungen sammelt sie ihre Promi-Magazine ein.

»Lara, ich habe keine Ahnung, was du hier abziehst.« Onkel Bill sieht Dad im Vorübergehen finster an. »Sie braucht Hilfe, deine Tochter. Die ist doch nicht ganz richtig im Kopf.«

»Lara, Kindchen.« Mum steht auf und kommt herüber, runzelt sorgenvoll die Stirn. »Du kanntest deine Großtante Sadie doch gar nicht.«