Erobere mich im Sturm - Sophie Kinsella - E-Book
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Erobere mich im Sturm E-Book

Sophie Kinsella

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Beschreibung

Ava hat Onlinedating gründlich satt. Sie möchte endlich jemanden treffen, der sie im Sturm erobert! Und während eines Schreibworkshops in Italien passiert ihr genau das: Hals über Kopf verliebt sie sich in einen unglaublich attraktiven Teilnehmer. Sie kennt nicht einmal seinen Namen – aber es ist Liebe! Zurück in London ist Avas Überraschung allerdings groß. Matt ist kein schöngeistiger Schreiner, wie sie insgeheim gehofft hatte, sondern Anzug tragender Geschäftsmann mit übergriffiger Mutter. Und auch Matt hat nicht mit Avas Faible für Flohmarktmöbel und schwer erziehbare Hunde gerechnet. Passen sie bei aller Liebe einfach nicht zusammen?

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Seitenzahl: 581

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Buch

Ava hat Onlinedating gründlich satt. Statt Männer nach gefakten Dating-Profilen zu beurteilen, möchte sie einfach jemanden treffen, bei dem es funkt, der sie im Sturm erobert. Wenn das im wahren Leben nicht möglich ist, dann vielleicht wenigstens in ihrem Roman? Den möchte sie in einem entlegenen Kloster in Italien zu Papier bringen, das anonyme Schreibkurse anbietet. Das Letzte, womit sie rechnet, ist, dort den Mann ihres Lebens zu treffen. Doch als ein attraktiver Fremder den Raum betritt, ist es um Ava geschehen. Sie kennt nicht einmal seinen Namen – aber ist das nicht egal, wenn es die große Liebe ist? Zurück in London ist Avas Überraschung allerdings groß: Matt ist kein schöngeistiger Schreiner namens Jean-Luc, wie sie insgeheim gehofft hatte, sondern Erbe eines Familienunternehmens mit übergriffiger Mutter und furchterregender moderner Kunstsammlung. Und auch Matt hat nicht mit Avas Faible für schwer erziehbare Hunde und Flohmarktmöbel gerechnet. Ihre Leben scheinen einfach nicht zueinander zu passen – und Ava muss sich fragen: Ist Liebe vielleicht doch nicht genug?

Weitere Informationen zu Sophie Kinsella sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sophie Kinsella

Erobere mich im Sturm

Roman

Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Love Your Life« bei Bantam Press, LondonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2021

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Sophie Kinsella

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBÜRO, München

Umschlagmotiv: OlhaKvitkovska/shutterstock, Saulich Elena/shutterstock, Maridav/shutterstock

MR · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22609-1V003

www.goldmann-verlag.de

***

Zum Andenken an Susan Kamil

***

EINS

Als ich gerade an der Tür klingeln will, piept mein Telefon mit einer Nachricht, und sofort fällt mir alles Mögliche ein, was passiert sein könnte.

Jemand, den ich kenne, ist gestorben.Jemand, den ich kenne, hat im Lotto gewonnen.Ich bin spät dran für eine Verabredung, die ich vergessen habe. Verdammt.Ich war Zeugin eines Verbrechens und soll detaillierte Hinweise auf etwas liefern, an das ich mich nicht erinnern kann. Verdammt.Meine Ärztin hat meine Akte nochmal durchgesehen. (Warum? Unklar.) Und sie hat etwas gefunden. »Ich möchte Sie ja nicht beunruhigen, aber …«Jemand hat mir Blumen geschickt, und mein Nachbar hat sie entgegengenommen.Ein Promi hat gerade was getweetet, das ich unbedingt wissen muss. Ooh … Und was?

Doch als ich mein Telefon nehme, sehe ich, dass die Nachricht von Seth ist, diesem Typen, mit dem ich letzte Woche ein Date hatte. Der nichts gesagt hat, den ganzen Abend lang. Nichts.

Die meisten Männer haben das gegenteilige Problem. Sie hören gar nicht auf, von sich und ihren grandiosen Errungenschaften zu reden, und wenn man dann seinen Anteil der Rechnung zahlt, fragen sie: »Und was machst du noch gleich?« Seth dagegen hat mich mit seinen eng zusammenstehenden Augen nur schweigend angestarrt, während ich mich nervös plappernd über die Kürbissuppe ausließ.

Was hat er mir zu sagen? Will er sich nochmal mit mir treffen? Urks. Bei der bloßen Vorstellung krampft sich mir der Magen zusammen, was mir etwas sagen soll. Eine meiner wichtigsten Regeln ist: Achte auf deinen Körper! Dein Körper ist klug und weise. Dein Körper weiß, was gut für dich ist.

Alles klar. Ich werde es ihm schonend beibringen. Ich bin ziemlich gut darin, Leuten etwas schonend beizubringen.

Hallo Ava. Nach eingehender Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht gewillt bin, unsere Beziehung fortzusetzen.

Oh. Hmpf. Verstehe.

Auch gut.

Augenrollend mustere ich mein Telefon. Ich weiß ja, dass er mich nicht sehen kann, aber ich bin überzeugt davon, dass sich Gefühle auch per Telefon vermitteln lassen.

(Ich habe diese Theorie noch niemandem anvertraut, weil ich feststellen musste, dass die meisten Menschen doch ziemlich engstirnig sind, sogar meine besten Freunde.)

Du magst gedacht haben, ich würde dich anschreiben, weil ich mich nochmal mit dir treffen möchte. Tut mir leid, wenn ich falsche Hoffnungen geweckt haben sollte.

Falsche Hoffnungen? Hoffnungen? Das könnte ihm so passen.

Du wirst sicher wissen wollen, warum.

Was? Nein. Will ich nicht, vielen Dank.

Ich meine, ich kann es mir vorstellen.

Nein, streich das. Kann ich nicht.

Warum sollte ich es mir auch vorstellen? Welche Frau möchte sich schon vorstellen, warum irgendwer sich nicht mit ihr treffen will? Sind wir denn hier im Fernsehen? Bei einer Dating-Show, die Mundgeruch macht einsam heißt?

(Ich rieche nicht aus dem Mund. Daran liegt es sicher nicht.)

Ich fürchte, ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der glaubt, Kürbissuppe hätte eine Seele.

Bitte?

Empört starre ich mein Handy an. Er hat mich total missverstanden. Ich habe nie behauptet, Kürbissuppe hätte eine Seele. Ich habe nur gesagt, dass ich finde, wir sollten offenen Geistes sein, was die Verwobenheit von Physischem und Spirituellem angeht. Was ich auch finde. Sollten wir.

Und als könnte er meine Gedanken lesen, winselt Harold mitfühlend und reibt seine Schnauze an meinem Bein. Siehst du? Wenn das kein Beweis dafür ist, dass alles auf der Welt zusammenhängt, weiß ich auch nicht.

Am liebsten möchte ich zurückschreiben: »Tut mir leid, wenn ich für deinen begrenzten Horizont nicht engstirnig genug bin.« Aber das würde ja voraussetzen, dass ich seine Nachrichten gelesen habe, was nicht stimmt.

Na gut, okay, es stimmt zwar, aber entscheidend ist doch, dass ich sie noch in diesem Moment aus meinem Gedächtnis lösche. Alles weg. Welcher Seth? Ein Date? Mit mir?

So nämlich.

Ich drücke auf die Klingel und schließe die Tür mit meinem eigenen Schlüssel auf. Das machen wir alle so, für den Fall, dass Nell einen Anfall hat. Der letzte liegt zwar schon eine Weile zurück, aber es kann jederzeit wieder passieren.

»Nell?«, rufe ich.

»Hi!« Sie erscheint im Flur, breit grinsend, ihre Haare pink und stachlig.

»Du bist wieder bei Pink angekommen!«, rufe ich. »Hübsch.«

Nell hat ihre Haarfarbe bestimmt hundertsechs Mal geändert, seit wir zusammen an der Uni waren, wohingegen ich an meiner nie irgendwas geändert habe. Noch immer habe ich dieselben glatten, dunkelbraunen Zotteln, die mir bis auf die Schultern fallen und sich leicht zum Pferdeschwanz binden lassen.

Nicht, dass Haare gerade mein vordringliches Thema wären. Seths Nachricht hat mich kurz abgelenkt – aber da ich jetzt im Haus bin, schnürt sich mir langsam die Kehle zu. Ich kriege so ein bleiernes Gefühl im Magen. Ich sehe Harold an, und er blickt so liebenswert fragend zu mir auf, dass mir fast die Tränen kommen. O Gott. Kann ich das wirklich tun?

Nell geht in die Hocke und hält Harold ihre Hand hin. »Bereit für deine Ferien?«

Harold betrachtet sie einen Moment lang, dann wendet er sich wieder mir zu, sieht mich mit seinen glänzend braunen Augen flehend an.

Sollte jemand glauben, Hunde könnten nicht alles verstehen, was wir sagen und tun, dann täuscht er sich, denn Harold weiß Bescheid. Er gibt sich Mühe, tapfer zu sein, aber es fällt ihm genauso schwer wie mir.

»Ich kann dich nicht mit nach Italien nehmen, Harold«, sage ich betreten. »Ich habe es dir doch erzählt. Aber es wird nicht lange dauern. Versprochen. Eine Woche. Länger nicht.«

Sein Gesicht zerknautscht auf herzzerreißende Weise, als wollte er sagen: »Warum tust du mir das an?« Leise klopft sein Schwanz auf den Boden, in hoffnungsvoller Erwartung. Als würde ich es mir plötzlich anders überlegen, meinen Flug canceln und mit ihm zum Spielen rausgehen.

Ich habe mir geschworen, nicht zu weinen, aber mir kommen doch die Tränen, als ich in sein kluges Gesicht blicke. Mein Harold. Bester Beagle der Welt. Bester Hund der Welt. Bester Mensch der Welt.

»Harold kann es kaum erwarten, bei mir zu bleiben«, sagt Nell mit fester Stimme und schiebt uns beide ins Wohnzimmer. »Stimmt’s nicht, Harold?«

Als Antwort darauf verknautscht Harold sein Gesicht nur noch mehr und gibt ein entsetzliches Jaulen von sich.

»Dieser Hund gehört auf die Bühne«, sagt Sarika, die amüsiert von ihrem Notebook aufblickt. Sarika ist nicht wirklich ein Hunde-Mensch – sie gibt es selbst zu –, aber sie ist ein Harold-Mensch. Das bleibt nicht aus, wenn man Harold erst einmal kennengelernt hat.

Ich habe ihn vor vier Jahren in einem Tierheim entdeckt, als er noch ein Welpe war. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er sah zu mir auf, mit leuchtenden Augen, schnüffelnd und ganz aufgeregt, als wollte er sagen: »Da bist du ja! Ich wusste, dass du kommen würdest!«

Ich kann nicht behaupten, dass es einfach gewesen wäre. Ich hatte vorher nie einen Hund besessen. Als Kind hatte ich mir immer einen gewünscht, aber meine Eltern blieben bei vagen Versprechungen, und dann passierte doch nichts. Daher hatte ich keinerlei Erfahrung darin, wie man sich um einen Hund kümmert. Und Harold hatte keinerlei Erfahrung darin, wie es war, wenn sich jemand um ihn kümmerte. Denn so viel ist mal sicher – die Leute, die ihn auf der A 414 am Straßenrand ausgesetzt haben, hatten sich jedenfalls überhaupt nicht um ihn gekümmert. Bei dem bloßen Gedanken daran stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Jedenfalls gab es da einiges zu lernen. Als Harold zum ersten Mal in meine Wohnung kam, ist er kurz ausgeflippt. Ganz offensichtlich dachte er: »Wieso habe ich mich nur darauf eingelassen, mit zu dir nach Hause zu gehen?« Und ich hatte ähnliche Bedenken. Es gab einiges Geheul, auf beiden Seiten. Inzwischen kann ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Und doch – hier bin ich und habe vor, ihn eine Woche allein zu lassen.

Vielleicht sollte ich den Urlaub absagen. Ja. Das sollte ich tun.

»Ava, lass dich nicht stressen! Du bist dir doch darüber im Klaren, dass er dir nur ein schlechtes Gewissen machen will, oder?«, fragt Nell. Sie wendet sich Harold zu und mustert ihn streng. »Hör zu, Kleiner! Ich fall auf deine Nummer nicht rein. Ava kann ja wohl mal ohne dich auf Reisen gehen. Das darf sie. Also hör auf, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.«

Lange starren Harold und Nell einander in die Augen – zwei starke Charaktere stehen sich gegenüber –, schließlich gibt Harold klein bei. Er wirft mir noch einen vorwurfsvollen Blick zu, doch dann tappt er rüber zum Kaminvorleger bei Nells Stuhl und lässt sich darauf nieder.

Okay, vielleicht sage ich doch nicht alles ab.

»Fang jetzt nicht an, dich bei ihm zu entschuldigen«, erklärt mir Nell. »Und guck dir nicht eine Woche lang Videos von Harold an, statt an deinem Buch zu schreiben.«

»Tu ich nicht!«, entgegne ich trotzig.

»Wir kommen schon zurecht«, wiederholt sie. »Keine Sorge.«

Ich habe nicht sonderlich viele Lebensweisheiten zu verteilen. Aber eine davon lautet: Wenn du dir mal selbst leidtust, geh Nell besuchen. Ihr kann man nichts vormachen. Sie haut einem die eigenen dummen Gedanken um die Ohren. Ihre nüchterne Haltung durchweht einen wie ein frischer Wind.

»Hier sind seine Sachen.« Ich lasse die große Reisetasche auf den Boden fallen. »Bettchen, Wassernapf, Decke, Futter … Ach, seine ätherischen Öle!« Plötzlich fallen sie mir ein, und ich hole das Fläschchen hervor. »Ich habe ihm eine neue Mischung abgefüllt – Lavendel und Zeder. Am besten tröpfelst du ihm das Öl einfach auf sein …«

»Bettchen.« Nell schneidet mir das Wort ab. »Ava, entspann dich. »Du hast mir schon fünf E-Mails zu dem Thema geschickt. Du erinnerst dich?« Sie nimmt mir das Fläschchen aus der Hand und inspiziert es kurz, dann stellt sie es hin. »Da fällt mir ein, was ich dich schon länger fragen wollte. Wie weit bist du eigentlich mit deiner Aromatherapieausbildung?«

»Oh«, sage ich verdutzt. »Ich bin … immer noch dabei. Sozusagen.«

Sofort muss ich an all die Aromatherapie-Bücher und -Fläschchen denken, die bei mir in der Küche stehen. Ich habe einen Online-Kurs belegt und muss damit weitermachen, denn ich sehe mich definitiv immer noch als Teilzeit-Aromatherapeutin.

»Sozusagen?«, will Nell wissen.

»Hab ich gerade auf Eis gelegt. Ist im Moment leider … wegen der Arbeit und diesem Buch, an dem ich schreibe … Du weißt schon.« Ich seufze. »Das Leben steht mir im Weg.«

Meine Brötchen verdiene ich damit, Beipackzettel und Online-Texte zu schreiben, was ich inzwischen so ziemlich im Schlaf kann. Ich arbeite für eine Arzneimittelfirma namens Brakesons Inc. in Surrey. Der Job ist ganz okay, und man lässt mich größtenteils von zu Hause aus arbeiten. Aber ich versuche immer, meinen Horizont zu erweitern. Ich finde, das Leben ist zu kurz, um seinen Horizont nicht zu erweitern. Man sollte sich immer wieder sagen: »Das ist ja alles schön und gut … aber was könnte ich sonst noch machen?«

»Ein Grund mehr, dass du nach Italien fliegen und dich auf dein Buch konzentrieren solltest«, sagt Nell entschlossen. »Harold möchte, dass du das tust. Stimmt’s nicht, Harold?«

Als Antwort stößt Harold ein klägliches »Wahuuu!« aus – manchmal klingt er wie ein Wolf –, und Nell lacht. Sie krault ihm mit ihren kleinen, kräftigen Fingern den Kopf und sagt: »Dummer Hund.«

Wir sind schon seit der Uni in Manchester befreundet. Nell, Sarika, Maud und ich kennen uns aus dem Uni-Chor und sind uns bei einem Ausflug nach Bremen nähergekommen. Bis dahin hatte Sarika kaum ein Wort mit uns gesprochen. Wir wussten von ihr nur, dass sie Jura studierte und das hohe C singen konnte. Aber nach ein paar Drinks verriet sie uns, dass sie heimlich mit dem Dirigenten schlief und ihr Sexualleben langsam etwas »finster« wurde. Jetzt wollte sie ihn loswerden, aber auch im Chor bleiben, und fragte uns um Rat. Die ganze Nacht haben wir die Köpfe zusammengesteckt, deutsches Bier getrunken und darüber geredet, während wir gleichzeitig herauszufinden versuchten, was genau sie mit »finster« meinte.

(Am Ende hat Nell ihr Glas auf den Tisch geknallt und meinte: »Sag es uns endlich, okay?«)

(Es war ein bisschen eklig. Nicht wert, es zu wiederholen oder auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.)

Jedenfalls hat Sarika sich von dem Dirigenten getrennt und blieb trotzdem im Chor. Das ist jetzt vierzehn Jahre her (wo sind die geblieben?), und wir sind immer noch befreundet. Von uns vieren singt nur Sarika noch in einem Chor, aber sie war auch immer schon die Musikalischste. Außerdem ist sie ständig auf der Suche nach einem Mann, dessen Interessen mit ihren übereinstimmen, und sie meint, Londoner Chöre seien ein guter Ausgangspunkt. Neben Fahrradclubs. Jedes Jahr tritt sie einem neuen Chor bei, und alle sechs Monate wechselt sie den Fahrradclub. Bisher war ihre Ausbeute an Männern ganz gut.

Immerhin drei mögliche Kandidaten in zwei Jahren. Nicht schlecht, für London.

Wir wohnen alle nah beieinander im Norden von London, und obwohl wir sehr unterschiedliche Leben führen, stehen wir uns näher als je zuvor. In den letzten Jahren sind wir ein paarmal richtig Achterbahn gefahren. Wir haben geschrien und uns bei den Händen gehalten, sowohl buchstäblich als auch … wie sagt man?

Nicht-buchstäblich.

Metaphorisch? Bildlich gesprochen?

Na toll. Morgen fahre ich zu einem einwöchigen Schreibkurs und weiß nicht mal, was das Gegenteil von »buchstäblich« ist.

»Was ist das Gegenteil von ›buchstäblich‹?«, frage ich Sarika, aber die tippt nach wie vor konzentriert auf ihr Notebook ein. Ihr dunkles, seidiges Haar streift über die Tasten. Sarika sitzt eigentlich ständig an ihrem Notebook, selbst wenn wir uns – wie meist – bei Nell treffen.

»Keine Raucher«, murmelt Sarika, drückt eine Taste, mit starrem Blick auf ihren Bildschirm.

»Wie?« Ich ziehe die Augenrauen hoch. »Arbeitest du?«

»Neue Dating-Seite«, sagt sie abwesend.

»Oooh! Welche denn?«, frage ich interessiert. Sarika verdient als Anwältin wesentlich mehr als wir anderen, und so kann sie sich die teuren Dating-Seiten leisten und uns dann davon berichten.

»Keine Hellseher«, sagt Sarika abwesend und drückt eine Taste, dann blickt sie auf. »Heißt Du bist es! Kostet ein kleines Vermögen. Aber dafür kriegt man auch was.«

»Keine Hellseher?«, wiederholt Nell skeptisch. »Mit wie vielen Hellsehern bist du denn in letzter Zeit ausgegangen?«

»Mit einem«, sagt Sarika und wendet sich ihr zu. »Der hat mir schon gereicht. Ich hatte euch doch von ihm erzählt. Der Typ, der meinte, er wüsste, was ich wirklich im Bett wollte. Wir kriegten Streit deswegen, und ich habe gesagt: ›Ist es mein Körper oder deiner?‹, und er meinte: ›Wir wollen uns doch beide daran erfreuen.‹«

»Ach, der«, sagt Nell, und ihre Augen leuchten auf. »Ich wusste nicht, dass er Hellseher war. Ich dachte, er war ein Arschloch. Kann man irgendwo ›Keine Arschlöcher‹ ankreuzen?«

»Würde nichts nützen«, sagt Sarika bedauernd. »Niemand hält sich für ein Arschloch.« Sie wendet sich ab und tippt wieder auf ihre Tastatur ein. »Keine Zauberer.« Sie tippt eilig. »Keine Tänzer. Was ist mit Choreographen?«

»Wieso denn keine Tänzer?«, wirft Nell ein. »Die sind doch knackig.«

»Steh ich nicht drauf«, sagt Sarika achselzuckend. »Der würde jeden Abend tanzen gehen. Wir sollten dieselben Arbeitszeiten haben. Keine Schichtarbeiter«, fügt sie noch hinzu und tippt wieder.

»Nach welchen Kriterien funktioniert diese Website?«, frage ich staunend.

»K.-o.-Kriterien«, antwortet Nell. »Die Seite sollte eigentlich nicht Du bist es! heißen, sondern Du bist raus. Und du. Und du. Und du.«

»Wenn du es so sagst, klingt es irgendwie negativ«, protestiert Sarika. »Es geht nicht darum, irgendwem zu sagen, dass er raus ist, sondern darum, möglichst präzise Angaben zu machen, damit man seine Zeit nicht mit ungeeigneten Kandidaten vergeudet. Man feilt an seiner Wunschliste, bis man die perfekte Auswahl beisammen hat.«

»Lass mich mal sehen.« Ich trete hinter das Sofa, um einen Blick über ihre Schulter zu werfen. Auf dem Bildschirm ihres Notebooks drängen sich männliche Gesichter. Die sehen alle gut aus. Den Typen mit dem Drei-Tage-Bart in der oberen rechten Ecke finde ich besonders süß. Sein Gesichtsausdruck sagt: »Nimm mich! Ich bin nett zu dir!«

»Der da gefällt mir.« Ich deute auf ihn.

»Ja, vielleicht. Okay, was kommt jetzt?« Sarika wendet sich wieder der Liste auf ihrem Handy zu. »Keine Vegetarier.«

»Was?« Schockiert starre ich sie an. »Keine Vegetarier? Was sagst du da? Sarika, wie kannst du so borniert sein? Deine Schwester ist Vegetarierin! Ich bin Vegetarierin!«

»Ich weiß«, sagt sie ausdruckslos. »Aber ich will ja auch keine romantische Beziehung mit meiner Schwester. Oder mit dir. Tut mir leid, Süße. Du weißt, wie sehr ich dein Halloumi-Crumble mag.« Liebevoll drückt sie meinen Arm. »Aber ich suche jemanden, mit dem ich ein Hühnchen grillen kann.«

Sie klickt »Filter« an, und eine Box mit vier Überschriften erscheint: Ja, bitte!, Nichts dagegen, Nicht ideal und K.-o.-Kriterien.

»K.-o.-Kriterium«, sagt Sarika mit fester Stimme und fängt an, »Vegetarier« in das Feld einzutragen. Nach zwei Buchstaben bietet die Worterkennung schon Vegetarier an, und sie klickt darauf.

»Du kannst doch nicht alle Vegetarier ausschließen«, sage ich zutiefst entsetzt. »Das ist diskriminierend. Ist das … ist das überhaupt legal?«

»Ava, entspann dich!«, erwidert Sarika. »Guck mal hier! Das macht doch Spaß! ›Filter anwenden‹.«

Als sie den Button anklickt, fangen viele Fotos auf dem Bildschirm an zu flimmern, und es erscheinen große, rote Kreuze vor den Gesichtern. Ich sehe mir den süßen Typen an – und wie befürchtet hat auch er ein rotes Kreuz vor dem Gesicht. Als hätte man ihn zum Tode verurteilt.

»Was ist los?«, frage ich ängstlich. »Was ist das?«

»Es nennt sich ›Letzte Chance‹«, erklärt Sarika. »Ich kann jeden zurückholen, indem ich ihn anklicke.«

»Hol ihn zurück!«, sage ich und deute auf meinen Favoriten. »Hol ihn zurück!«

»Ava, du weißt doch gar nichts über ihn«, sagt Sarika und rollt dabei mit den Augen.

»Er sieht nett aus!«

»Aber er ist Vegetarier«, sagt Sarika und drückt auf Fertig.

Wieder flimmern die Gesichter, und alle mit roten Kreuzen verschwinden. Die Verbliebenen schwirren über den Bildschirm, um sich dann wieder ordentlich aneinanderzureihen, wobei neue Männer die Plätze der Verschwundenen einnehmen.

»Super«, sagt Sarika zufrieden. »Langsam komme ich voran.«

Ich starre auf den Bildschirm, leicht traumatisiert von diesem mörderischen Auswahlverfahren.

»Das ist doch brutal«, sage ich. »Richtig herzlos.«

»Besser als wischen«, wirft Nell ein.

»Allerdings!« Sarika nickt. »Die gehen hier immerhin wissenschaftlich vor. Diese Website bietet über 800 mögliche Filter. Größe, Beruf, Wohnort, Gewohnheiten, politische Ansichten, Bildungsstand … Angeblich wurden die Algorithmen von der NASA entwickelt. Auf diese Weise kann man in Nullkommanichts fünfhundert Männer abarbeiten.« Sie widmet sich wieder ihrer Liste. »Okay, zum nächsten Punkt. Nicht über eins neunzig.« Sie fängt an zu tippen. »Übergröße habe ich schon ausprobiert. Das ist nichts für mich.«

Sie drückt auf Filter anwenden, drei rote Kreuze erscheinen, und schon Sekunden später blickt mich eine neue Auswahl von Männern auf dem Bildschirm an.

»Eine Frau hat so lange immer neue Filter hinzugefügt, bis nur ein einziger Mann auf dem Bildschirm übrig war. Sie hat Kontakt zu ihm aufgenommen, und die beiden sind heute noch ein Paar«, fügt Sarika hinzu und geht ihre Handy-Liste durch. »So findet man seinen Traummann.«

»Fühlt sich trotzdem irgendwie falsch an«, sage ich bestürzt. »So geht das doch nicht.«

»Nur so geht es«, widerspricht mir Sarika. »Heutzutage sucht die ganze Welt online, oder? Die ganze Welt. Millionen Menschen. Milliarden Menschen.«

»Stimmt schon«, sage ich vorsichtig.

»Die ganze Welt sucht online«, wiederholt Sarika, um es nochmal zu unterstreichen. »Es ist wie eine globale Cocktailparty, auf der alle dastehen und versuchen, deinen Blick aufzufangen. Das wird doch nie was! Man muss die Auswahl eingrenzen. Ergo …« Sie deutet auf den Bildschirm.

»ASOS online ist schlimm genug«, wirft Nell ein. »Gestern habe ich ›Weißes Hemd‹ eingegeben. Wisst ihr, wie viele mir angeboten wurden? 1.264. Ich dachte nur: Ich habe keine Zeit für diesen Quatsch. Ich nehme das Erstbeste. Was soll’s?«

»Ganz genau«, sagt Sarika. »Und dabei ging es nur um ein Hemd, nicht um einen Lebensgefährten. ›Nicht weiter als zehn Minuten vom nächsten U-Bahnhof entfernt‹«, fügt sie hinzu und tippt forsch vor sich hin. »Ich habe keine Lust mehr, immer raus in die Pampa zu fahren.«

»Du schließt Männer aus, die weiter als zehn Minuten vom nächsten U-Bahnhof wohnen?« Mir bleibt der Mund offen stehen. »Ernsthaft?«

»Man kann sich seine eigenen Filter ausdenken, und wenn denen einer gefällt, fügen sie ihn ihrer Website hinzu«, erklärt Sarika. »Mein Filter zur Häufigkeit der Haarwäsche ist schon in der engeren Auswahl.«

»Aber was ist, wenn der perfekte Mann elf Minuten weit weg von der nächsten U-Bahn wohnt?« Ich weiß, ich klinge aufgebracht, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er irgendwo in der Sonne sitzt und seinen Kaffee trinkt, in seinen Fahrradshorts, während er seine Bach-CD hört und sich nach einer Frau wie Sarika sehnt.

»Dann schummelt er eben ein bisschen«, entgegnet Sarika gelassen. »Er wird ›zehn Minuten‹ angeben. Alles gut.«

Sie begreift einfach nicht, worum es geht.

»Sarika, jetzt hör doch mal!«, sage ich frustriert. »Was ist denn, wenn dein Traummann ein eins fünfundneunzig großer Vegetarier ist, der zwanzig Minuten hinter Crouch End wohnt … und du schließt ihn aus? Das ist doch verrückt!«

»Ganz ruhig, Ava«, sagt Sarika beschwichtigend. »Irgendwelche K.-o.-Kriterien muss es doch geben.«

»Nein, muss es nicht«, entgegne ich unnachgiebig. »Ich habe keine K.-o.-Kriterien. Ich wünsche mir einen guten Mann, mehr nicht. Ein anständiges, zivilisiertes menschliches Wesen. Es ist mir egal, wie er aussieht, was er arbeitet, wo er wohnt …«

»Was ist, wenn er keine Hunde mag?«, fragt Sarika und zieht die Augenbrauen hoch.

Da weiß ich kurz nicht weiter.

Es wäre einfach undenkbar, dass er keine Hunde mag, denn nur sehr seltsame, armselige Menschen mögen keine Hunde.

»Okay«, räume ich ein. »Das ist mein einziges K.-o.-Kriterium. Er muss Hunde mögen. Aber das ist auch wirklich das einzige. Definitiv.«

»Was ist mit Golf?«, wirft Nell hinterhältigerweise ein.

Verdammt. Golf ist meine Achillesferse. Ich muss zugeben, dass ich eine irrationale Verachtung für dieses Spiel hege. Und die Outfits. Und die Leute, die es spielen.

Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich früher in der Nähe des hochnäsigsten Golfclubs der Welt gewohnt habe. Es gab da einen öffentlichen Fußweg über das Gelände, aber wenn man nur mal versucht hat, dort entlangzuspazieren, kamen von allen Seiten wütende Leute im Partnerlook armwedelnd angerannt und meinten, man sollte leise sein oder weggehen, und wie blöd man eigentlich sein kann.

Ich war nicht die Einzige, die das ein bisschen stressig fand. Die Gemeinde sah sich gezwungen, ein ernstes Wörtchen mit dem Golfclub zu reden. Offenbar haben sie daraufhin ein neues Beschilderungssystem eingeführt, und seitdem ist alles gut. Aber da waren wir schon weggezogen, und mein Entschluss stand fest, dass ich gegen Golf allergisch bin.

Das werde ich jetzt allerdings nicht zugeben, denn ich sehe mich nicht gern als einen Menschen mit Vorurteilen.

»Ich habe kein Problem mit Golf«, sage ich und hebe mein Kinn. »Und außerdem ist das nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass zwei übereinstimmende Listen von Attributen nichts mit Liebe zu tun haben. Algorithmen haben nichts mit Liebe zu tun.«

»Algorithmen sind die einzige Möglichkeit«, sagt Sarika mit Blick auf den Bildschirm. »Mmh, der gefällt mir …«

»Okay, wo ist der Algorithmus, der mir sagt, wie ein Mann riecht?«, entgegne ich leidenschaftlicher als beabsichtigt. »Wo ist der Algorithmus, der mir sagt, wie er lacht oder wie er einem Hund den Kopf krault? Das ist mir wichtig. Nicht all diese irrelevanten Details. Ich könnte mich in einen Wissenschaftler oder einen Bauern verlieben. Er könnte eins fünfzig oder zwei Meter zehn sein. Solange die Chemie stimmt. Die Chemie.«

»Oh, die Chemie«, sagt Sarika und tauscht einen Blick mit Nell.

»Ja, die Chemie!«, erwidere ich trotzig. »Das ist entscheidend! Liebe ist … ist …« Ich suche nach Worten. »Liebe ist die unbeschreibliche, geheimnisvolle Verbindung, die sich zwischen zwei Menschen einstellt, wenn sie sich aufeinander einlassen und es sich richtig anfühlt und … sie es einfach wissen.«

»Ava.« Sarika betrachtet mich wohlwollend. »Du bist echt lieb.«

»Sie übt schon mal für ihren Romantik-Schreibkurs«, meint Nell. »Du bist dir aber schon darüber im Klaren, dass Lizzy Bennett endlos viele K.-o.-Kriterien hatte, oder, Ava? ›Keine arroganten Schnösel. Keine blöden Betbrüder‹.« Nell nickt Sarika zu. »Setz das rein.«

»›Keine blöden Betbrüder‹.« Sarika tut, als würde sie tippen, und grinst mich über ihr Notebook hinweg an. »Soll ich schreiben: ›Nur Besitzer von Herrenhäusern‹?«

»Sehr witzig.« Ich sinke neben ihr auf das Sofa, und Sarika nimmt versöhnlich meine Hand.

»Ava. Schätzchen. Wir sind einfach nur verschieden. Wir wollen nicht dasselbe. Ich möchte meine Zeit nicht verschwenden, wohingegen du … dir die richtige Chemie wünschst.«

»Ava wünscht sich ein Wunder«, sagt Nell.

»Kein Wunder.« Ich verziehe leicht das Gesicht, weil meine Freundinnen immer meinen, ich sei zu romantisch und hätte immer eine rosarote Brille auf, wobei das gar nicht stimmt. »Was ich mir wünsche, ist …« Ich weiß nicht weiter. Meine Gedanken purzeln durcheinander.

»Was wünschst du dir?«, fragt Nell aufrichtig interessiert. Ich hole tief Luft.

»Ich wünsche mir einen Mann, der mich ansieht … und ich sehe ihn an … und es ist alles da. Wir müssen gar nichts sagen. Es ist einfach gut.«

Ich schweige vielsagend. Es muss doch möglich sein. Liebe muss möglich sein – wozu sind wir denn sonst hier?

»Das wünsche ich mir auch.« Sarika nickt. »Aber im Umkreis von weniger als zehn Minuten zum nächsten U-Bahnhof.«

Nell prustet vor Lachen, und ich lächle widerwillig.

»Ich habe heute Abend ein Date«, verrate ich. »Deshalb kann ich auch nicht bleiben.«

»Ein Date?« Abrupt blickt Sarika auf. »Und das erzählst du uns erst jetzt?«

»Ich dachte, du willst deine Sachen für Italien packen«, sagt Nell fast vorwurfsvoll.

»Will ich ja auch. Nach meinem Date.«

»Spannend!« Sarikas Augen glitzern mich an. »Woher kennst du ihn, von einem Ball?«

»Nein, von einem literarischen Salon«, sagt Nell. »Er hat geholfen, als ihr Wagenrad feststeckte.«

»Er hat ihr mit Tinte und Feder eine Nachricht geschrieben und sie ihr heimlich zugesteckt«, kichert Sarika.

»Haha.« Ich blicke zur Zimmerdecke auf. »Online natürlich. Aber ich habe keine künstlichen K.-o.-Kriterien aufgestellt. Ich bin meinem Instinkt gefolgt.«

»Deinem Instinkt?«, sagt Nell. »Soll heißen …?«

»Seine Augen«, sage ich stolz. »Er hat so einen ganz besonderen Ausdruck in den Augen.«

Seit dem katastrophalen Date mit Seth habe ich eine neue Theorie: Es liegt alles in den Augen. Die von Seth mochte ich von Anfang an nicht. Das hätte mir was sagen sollen. Also war ich online und habe nach einem Mann mit hübschen Augen gesucht … und ich habe einen gefunden! Ich bin richtig aufgeregt. Immer wieder betrachte ich sein Foto und spüre eine echte Verbindung zu ihm.

»Aus den Augen kann man viel lesen«, räumt Sarika ein. »Lass mal sehen!«

Ich suche das Foto und betrachte es einen Moment lang liebevoll, bevor ich es erst Sarika und dann Nell zeige. »Er heißt Stuart«, erkläre ich ihnen. »Er macht in IT.«

»Nette Augen«, sagt Nell. »Muss ich schon zugeben.«

Nett? Mehr fällt ihr dazu nicht ein? Diese Augen sind ein Traum! Aus ihnen spricht nicht nur Wärme, sondern auch Intelligenz und Humor, selbst auf so einem kleinen Handyfoto. Noch nie habe ich so ausdrucksvolle Augen gesehen, und ich habe schon viele Dating-Profile durchforstet …

»Harold!«, kreischt Sarika plötzlich, und ich fahre vor Schreck zusammen. »Das ist mein Chicken Wrap! Böser Hund!«

Während wir uns unterhalten haben, ist Harold heimlich rüber auf Sarikas Seite vom Sofa geschlichen und hat sich den Wrap aus ihrer Tasche geschnappt, noch im Plastik. Jetzt geht sein Blick zwischen ihr und mir und Nell hin und her, als wollte er sagen: »Und was wollt ihr dagegen unternehmen?«

»Harold!«, schimpfe ich. »Aus!« Ich mache einen Schritt auf ihn zu, aber er weicht einen Schritt zurück. »Aus!«, wiederhole ich ohne große Überzeugungskraft.

Mit klugen Augen sieht Harold sich um, als würde er seine Lage einschätzen.

»Aus.« Ich gebe mir Mühe, bestimmend zu klingen. »Aus.«

»Aus!«, brüllt Nell mit ihrer tiefen Stimme.

Langsam beuge ich mich zu Harold herab, während er mich im Blick behält, Zentimeter für Zentimeter, bis ich blitzschnell zugreife. Aber ich bin zu langsam. Eigentlich bin ich immer zu langsam für Harold. Er rennt los und schliddert in die Ecke hinterm Fernseher, wo ihn keiner kriegen kann, dann fängt er an, wie wild an dem Wrap herumzukauen, wobei er immer wieder innehält, um uns drei mit triumphierender Miene zu betrachten.

»Blöder Köter«, sagt Nell.

»Ich hätte den Wrap nicht in meiner Tasche lassen sollen«, sagt Sarika kopfschüttelnd. »Harold, hör auf, das Plastik zu fressen, du Dussel!«

»Harold?« Eine vertraute Stimme weht aus dem Flur herein. »Ja, wo ist denn der feine Hund?«

Im nächsten Moment steht Maud in der Tür, mit zwei von ihren Kindern an der Hand, Romy und Arthur. »Verzeiht, dass ich zu spät komme«, flötet sie auf ihre theatralische Art. »Ein Albtraum vor der Schule! Harold habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen«, fügt sie hinzu und strahlt ihn an. »Freut er sich denn schon auf seinen kleinen Urlaub?«

»Er ist kein feiner Hund«, sagt Sarika unheilverkündend. »Er ist ein böser, böser Hund.«

»Was hat er gemacht?«, fragt Arthur mit leuchtenden Augen.

Harold genießt in Arthurs Grundschulklasse Legendenstatus. Einmal hat Arthur ihn mit in den Unterricht genommen. Harold hat prompt den Schulteddy geklaut und ist damit raus auf den Pausenhof geflüchtet, wo er von drei Lehrern umzingelt werden musste.

»Er hat meinen Chicken Wrap geklaut«, sagt Sarika, und beide Kinder lachen schallend.

»Harold klaut immer alles«, verkündet Romy, die vier ist. »Harold klaut alles Essen. Harold, hier!« Sie hält ihm die Hand hin, und Harold hebt den Kopf, als wollte er sagen: »Später«, dann kaut er weiter.

»Moment mal, wo ist Bertie?«, fragt Maud, als wäre es ihr eben erst aufgefallen. »Arthur, wo ist Bertie?«

Arthur wirkt ratlos, als sei ihm gar nicht klar gewesen, dass er einen Bruder namens Bertie hat, und Maud schnalzt mit der Zunge. »Na, irgendwo wird er schon sein«, sagt sie vage.

Mauds größtes Problem dürfte sein, dass sie drei Kinder hat, aber nur zwei Hände. Ihr Ex – Damon – ist Rechtsanwalt. Er arbeitet wahnsinnig viel und ist ziemlich großzügig, wenn es ums Geld geht, aber nicht, wenn es ums Erscheinen geht. (Sie meint, so laufen die Kinder wenigstens nicht Gefahr, unter Helikoptereltern zu leiden.)

»Sarika«, sagt sie jetzt. »Du kommst nicht zufällig am Donnerstag so gegen fünf durch Muswell Hill, oder? Ich bräuchte dringend jemanden, der Arthur vom Spielen abholt, und da dachte ich, ob du wohl …«

Mit klimpernden Wimpern sieht sie Sarika an, und ich grinse in mich hinein. Maud bittet einen ständig um irgendwelche Gefallen. Können wir auf ihre Kinder aufpassen/ihre Einkäufe mitbringen/den Zugfahrplan raussuchen/ihr sagen, wie hoch der Reifendruck bei ihrem Auto sein sollte? Das ist nicht erst so, seit sie alleinerziehende Mutter ist – es war schon immer so. Ich weiß noch, wie ich Maud beim Chor kennengelernt habe. Dieses traumhaft schöne Mädchen mit den hellbraunen Augen kam zu mir, und ihre ersten Worte an mich waren: »Du könntest mir nicht zufällig einen Liter Milch kaufen, oder?«

Natürlich habe ich Ja gesagt. Es ist fast unmöglich, sich Maud zu widersetzen. Das ist ihre Superheldenkraft. Aber man kann es schaffen, sich ihrer zu erwehren, und es blieb uns auch nichts anderes übrig. Wenn wir Mauds Wünschen immer entsprechen wollten, wären wir ihre Vollzeit-Sklaven. Also haben wir uns auf eine Rate von eins zu zehn geeinigt.

»Nein, Maud«, sagt Sarika wie aus der Pistole geschossen. »Ich kann nicht. Ich muss arbeiten. Du erinnerst dich?«

»Na klar«, sagt Maud ohne jeden Groll. »Ich hab nur überlegt, ob du vielleicht den Nachmittag frei hast. Ava …«

»Italien«, sage ich.

»Na klar.« Maud nickt heftig. »Unmöglich. Das sehe ich ein.«

Sie ist immer so charmant, dass man Ja sagen möchte. Im Grunde sollte sie unser Land lenken, denn sie könnte jeden zu allem überreden. Stattdessen lenkt sie das absurd komplizierte Sozialleben ihrer Kinder und betreibt nebenher eine Möbelrestaurationswerkstatt, die – wie sie sagt – in den kommenden Monaten ganz sicher Gewinn machen wird.

»Na gut, egal«, sagt sie. »Soll ich uns Tee kochen?«

»Mich hast du nicht gefragt«, meldet sich Nell leicht gereizt zu Wort. »Lass mich nicht außen vor, Maud!«

Als ich mich umwende, sehe ich Nell lächeln – wenn auch auf ihre nellische Art. Nell hat so ein entschlossenes Lächeln. Ein kraftvolles Lächeln. Es sagt einem: »Vorerst werde ich dir keine reinhauen, aber in den kommenden fünf Minuten kann ich für nichts garantieren.«

»Lass mich nicht außen vor«, wiederholt sie. Und sie meint es irgendwie lustig – aber dann auch wieder nicht. Ich gebe mir Mühe, keinen Blick auf ihren Gehstock in der Ecke zu werfen, weil sie gerade eine gute Phase hat, und nur sie das Thema ansprechen darf. Das haben wir in den letzten Jahren schmerzlich lernen müssen.

»Nell!« Maud macht ein bestürztes Gesicht. »Tut mir leeeeid! Wie konnte ich nur? Wärst du so nett, Arthur für mich abzuholen?«

»Nein!«, fährt Nell sie an. »Vergiss es. Mach deinen Scheiß doch selbst.«

Sarika schnaubt vor Lachen, und ich muss unwillkürlich grinsen.

»Na klar«, entgegnet Maud genauso ernst. »Verstehe ich total. Übrigens, Nell, meine Süße, was ich dir noch sagen wollte, da steht ein unangenehmer Mensch bei deinem Auto und schreibt dir gerade einen Zettel. Soll ich mal mit ihm reden?«

Abrupt blickt Sarika auf und sieht mich an. Harold spürt den abrupten Stimmungswechsel und gibt ein unheilvolles Jaulen von sich.

Nell runzelt die Stirn. »Sieht der Mann aus wie ein Miesmacher?«

»Ja. Graue Hose. Schnäuzer. So einer eben.«

»Das ist dieser Vollidiot John Sweetman«, sagt Nell. »Ist vor einem Monat eingezogen. Der hat es auf mich abgesehen. Er will den Parkplatz zum Ausladen seiner Einkäufe. Er weiß, dass ich einen Behindertenausweis habe, aber …« Sie zuckt mit den Schultern.

»Das kann ja wohlnicht wahr sein!«, sagt Sarika, klappt ihr Notebook zu und steht auf. »Leute gibt’s!«

»Du bleibst hier, Nell«, sage ich. »Wir kümmern uns darum.«

»Ihr müsst nicht meine Kämpfe für mich ausfechten«, erwidert Nell mürrisch.

»Nicht für dich. Mit dir.« Ich klopfe ihr auf die Schulter und folge den anderen raus zu Nells Auto, alle gleichermaßen zielstrebig und entschlossen.

»Hallo, guten Abend! Gibt es ein Problem?«, begrüßt Maud den Mann bereits auf ihre mitunter etwas hochnäsige Art, und ich sehe, wie er sie staunend mustert.

Sie ist aber auch eine echte Erscheinung. Eins achtzig groß auf ihren hohen Absätzen, mit wallend roten Haaren, wehendem Kleid, zwei ebenso hübschen rothaarigen Kindern an ihrer Seite und einem dritten, das vom Dach eines dort geparkten Autos auf ihre Schultern klettert. (Da war Bertie also.)

»Spiderman!«, kreischt er und klettert wieder auf das Autodach zurück.

»Gibt es ein Problem?«, wiederholt Maud. »Meiner Ansicht nach parkt meine Freundin hier absolut zu Recht, und ihr grundlos einen Zettel ans Auto zu klemmen, grenzt vermutlich schon an …«

»… Nötigung«, stimmt Sarika streng mit ein. Sie hat ihr Telefon gezückt und fotografiert den Mann. »Nötigung in mehreren Fällen. Wie viele von diesen Zetteln haben Sie meiner Klientin schon geschrieben?«

Bei dem Wort »Klientin« kriegt der Mann große Augen, aber er lässt sich nicht beirren.

»Das hier ist ein Behindertenparkplatz«, sagt er gereizt. »Nur für Behinderte.«

»Genau.« Nell tritt vor. »Wie Sie sehen können, klemmt hinter der Windschutzscheibe mein Behindertenausweis. Sie hingegen haben keinen Behindertenausweis.«

»Entscheidend dürfte sein, dass dieser Parkplatz direkt vor meiner Wohnung liegt«, sagt er gereizt und deutet auf das Fenster hinter Nells Auto. »Wenn keine akut behinderten Menschen diesen Platz beanspruchen, sollte es mir erlaubt sein, darauf zu parken. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand.«

»Sie hat einen Behindertenausweis!«, ruft Sarika.

»Sie wollen behindert sein?« Da lacht er Nell nur höhnisch aus. »Eine junge, kerngesunde Frau wie Sie? Wären Sie denn so freundlich, mir Ihr Gebrechen zu verraten?«

Ich sehe, wie er sie mustert, und für einen Moment betrachte ich sie mit seinen Augen. Ihre kräftige, stämmige Erscheinung, ihr ausgeprägtes Kinn, ihre sechs Ohrringe, ihre pinken Haare, ihre drei Tattoos.

Ich weiß, dass Nell lieber tot umfallen würde, als sich von diesem Mann bemitleiden zu lassen. Einen Moment lang sagt sie gar nichts. Dann – mit abgrundtiefem Widerwillen und einem Gesichtsausdruck wie Blitz und Donner – sagt sie:

»Ich habe … ein chronisches Leiden. Aber das geht Sie einen feuchten Kehricht an.«

»Meine Freundin ist im Besitz eines behördlich ausgestellten Behindertenausweises«, sagt Maud mit gefährlich blitzenden Augen. »Mehr müssen Sie nicht wissen.«

»Behörden können sich täuschen«, beharrt John Sweetman. »Oder getäuscht werden.«

»Getäuscht?« Vor Zorn wird Mauds Stimme immer lauter. »Getäuscht? Wollen Sie ernstlich behaupten …?«

Doch Nell hebt eine Hand, um sie zu bremsen.

»Spar dir deine Kräfte, Maudie«, sagt sie etwas müde, dann wendet sie sich John Sweetman zu. »Zieh Leine!«

»Antrag einstimmig angenommen«, sagt Maud forsch.

»Zweistimmig«, füge ich hinzu.

»Dreistimmig«, merkt Sarika an, die immer noch eins draufsetzen muss.

»Spiderman!«, kreischt Bertie oben auf dem Geländewagen, springt ab und landet auf John Sweetmans Schultern. Der gibt einen gequälten Schrei von sich, und ich schlage die Hand vor den Mund.

»Bertie!«, schimpft Maud. »Du sollst doch nicht auf den Mann springen und ihn unverschämt nennen!«

»Unverschämt!«, kreischt Bertie sofort und trommelt auf John Sweetman ein. »Unverschämt!«

»Diese Kinder heutzutage …«, sagt Maud und rollt mit den Augen. »Was soll man machen?«

»Nehmen Sie ihn runter von mir!« John Sweetman klingt etwas erstickt und ziemlich wütend. »Aua! Mein Bein!«

»Harold!«, quiekt Romy begeistert, und ich merke, dass der Hund rausgekommen ist, um mitzumachen. Er hat John Sweetmans Hosenbein zwischen den Zähnen und knurrt bedrohlich, und wenn es so weitergeht, werden wir wohl eine graue Flanellhose bezahlen müssen.

»Komm her!« Ich greife mir Harolds Halsband und reiße ihn zurück, während Maud den kleinen Bertie auf den Arm nimmt. Sobald wir die Wohnungstür hinter uns geschlossen haben, stehen wir da und sehen uns an.

»Penner«, sagt Nell, was sie immer sagt.

»Weiter im Text«, sagt Sarika, denn bei ihr geht es immer nur darum, nach vorn zu blicken und hart zu bleiben.

»Was trinken?«, fragt Maud, was sie immer vorschlägt. Und dann bin ich an der Reihe, alle zum Gruppenkuscheln zu animieren.

»Alles wird gut«, sage ich ins kuschlig warme Dunkel hinein, als sich unsere Köpfe berühren und sich unser Atem mischt. Der Rest der Welt ist ausgeschlossen. Es gibt nur uns vier. Unseren kleinen Trupp.

Schließlich lösen wir uns voneinander, und Nell klopft mir tröstend auf den Rücken.

»Alles wird gut«, sagt sie. »Wie immer. Ava, geh zu deinem heißen Date. Flieg nach Italien. Schreib dein Buch. Du solltest diesem unartigen Hund keineneinzigen Gedanken widmen.«

ZWEI

Heißes Date. Was für ein Witz. Was für ein Witz.

Am erniedrigendsten ist, dass ich immer noch daran denken muss. Da sitze ich hier bei meinem teuren Schreibkurs in Italien. Unsere Leiterin Farida erklärt uns gerade, wie die Woche aussehen wird, und ich halte meinen Stift pflichtbewusst in der Hand, habe mein Notizbuch aufgeschlagen. Doch statt richtig zuzuhören, kann ich nicht aufhören, an gestern Abend zu denken.

Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmt. Er war anders als erwartet – was sie, um ehrlich zu sein, immer sind. Alle Online-Dates. Sie gehen anders, als man es sich vorgestellt hat, oder ihre Haare sind länger, oder ihr Akzent klingt nicht so wie gedacht. Oder sie riechen einfach komisch.

Dieser Typ roch komisch und trank sein Bier komisch und redete komisch. Außerdem hatte er eine Menge über Kryptowährungen zu sagen, was … nun ja. Nur eine gewisse Zeit lang interessant ist. (Zehn Sekunden.) Und je klarer mir wurde, dass er nicht der Richtige war, desto dümmer kam ich mir vor, denn was sagte das über meine Instinkte aus? Was war mit dem Ausdruck in seinen Augen?

Immer wieder suchte ich in seinen Augen nach der Lebendigkeit, dem Charme und der Intelligenz, die ich auf seinem Profilfoto gesehen hatte. Vergeblich. Es muss ihm wohl aufgefallen sein, denn er lachte verlegen und sagte:

»Habe ich Rasierschaum an der Augenbraue oder was?«

Ich lachte mit und schüttelte den Kopf. Und eigentlich wollte ich das Thema wechseln, dachte dann aber: »Scheiß drauf, warum nicht ehrlich sein?« Also sagte ich:

»Es ist irgendwie merkwürdig. Deine Augen sehen überhaupt nicht so aus wie auf der Website. Wahrscheinlich liegt es am Licht oder so.«

Und da kam die Wahrheit heraus. Leicht verschlagen sagte er:

»Ich hatte in letzter Zeit Probleme mit den Augen. Die waren oft entzündet. So klebrig, weißt du? Das eine war so grünlich gelb.« Er deutete auf sein linkes Auge. »Ganz schlimm. Ich musste andauernd antibiotische Salbe draufschmieren.«

»Aha«, sagte ich und gab mir Mühe, nicht würgen zu müssen. »Du Armer.«

»Okay, ich geb’s zu«, fuhr er fort. »Für das Profilbild habe ich nicht meine eigenen Augen genommen.«

»Du hast … was?«, sagte ich, konnte nicht ganz folgen.

»Ich habe mit Photoshop die Augen von jemand anderem reingesetzt«, sagte er nüchtern.

Fassungslos zückte ich mein Telefon und rief sein Profilfoto auf – und da war es auch für mich nicht mehr zu übersehen. Die Augen meines Gegenübers waren trüb und blau und ausdruckslos. Die Augen auf dem Bildschirm hatten Lachfältchen und waren charmant und aufmerksam.

»Wessen Augen sind es denn?«, wollte ich wissen und deutete mit dem Finger darauf. Achselzuckend sagte er:

»Brad Pitts.«

Brad Pitts?

Er hat mich mit Brad Pitts Augen zu einem Date gelockt?

Ich war so wütend und kam mir dermaßen blöd vor, dass ich kaum ein Wort herausbringen konnte. Er schien jedoch gar nicht zu merken, dass irgendwas nicht stimmte. Allen Ernstes schlug er vor, noch irgendwo was zu essen. Wie dreist! Als ich ging, hätte ich ihm fast an den Kopf geknallt: »Meine Brüste sind übrigens die von Lady Gaga!«Aber das wäre vielleicht falsch rübergekommen.

Im Grunde sollte ich mich bei der Website beschweren, habe aber keine Lust. Ich habe überhaupt keine Lust mehr dazu. Ich brauche eine Pause von Männern. Ja. Genau das werde ich mir gönnen. Meine Instinkte brauchen auch mal Urlaub.

»Das Wichtigste wird natürlich sein, dass Sie sich konzentrieren.« Faridas Stimme dringt in meine Gedanken. »Ablenkung ist der Feind der Produktivität, wie Sie sicher alle wissen.«

Ich blicke auf und merke, dass Farida mich forschend betrachtet. Mist! Sie weiß, dass ich nicht zuhöre. Ich fange an zu zittern, als säße ich in der vierten Klasse im Erdkundeunterricht und wäre dabei erwischt worden, wie ich Zettelchen weitergebe. Alle anderen hören zu. Alle anderen sind konzentriert. Komm schon, Ava. Benimm dich wie eine Erwachsene.

Ich sehe mich in dem hohen Raum um, in dem wir sitzen. Das Seminar findet in einem alten Kloster in Apulien statt. Wir sind zu acht und sitzen auf abgenutzten Holzstühlen, alle in den schlichten Leinen-Kurtas, die man uns am Morgen gegeben hat. Das ist eine der Regeln in diesem Kloster: Man darf keine eigene Kleidung tragen. Und auch nicht seinen eigenen Namen benutzen. Und auch kein Handy. Man muss es am Anfang der Woche abgeben und kriegt es nur für eine halbe Stunde am Abend zurück oder für einen Notfall. Aber es gibt ohnehin kein WLAN. Zumindest nicht für Gäste.

Bei unserer Ankunft servierte man das Mittagessen auf den Zimmern, damit wir uns nicht vor dem Nachmittag kennenlernten. Die Zimmer sind alte Mönchszellen mit weiß getünchten Wänden, an denen überall Gemälde der Madonna hängen. (Wenn man mich fragt, wurden die Wände außerdem durchgebrochen. Ich glaube kaum, dass die Mönche damals genug Platz hatten für Doppelbetten, Schreibtische und handbestickte Ottomanen.)

Nach dem Mittagessen saß ich auf meiner schlichten Tagesdecke, versuchte, mich auf meine Geschichte zu konzentrieren, und sah mir nur gelegentlich ein paar Fotos von Harold auf meinem Notebook an. Dann führte man uns einzeln in diesen Raum und bat uns zu schweigen. So sitze ich nun also in einer Gruppe wildfremder Menschen, mit denen ich noch kein einziges Wort gewechselt habe, nur das eine oder andere scheue Lächeln. Fünf weitere Frauen und zwei Männer. Alle sind älter als ich, bis auf einen dürren Typen, der so Mitte zwanzig sein dürfte, und ein Mädchen, das aussieht, als ginge es noch aufs College.

Es ist alles ziemlich intensiv. Ziemlich seltsam. Obwohl ich der Fairness halber zugeben muss, dass ich das schon vorher wusste. Ich hatte einen ganzen Haufen Erfahrungsberichte im Netz gelesen, bevor ich diesen Kurs gebucht habe, und neunzig Prozent bezeichneten ihn als »intensiv«. Andere Begriffe, die auftauchten, waren »exzentrisch«, »eindringlich«, »herausfordernd« und »haufenweise Spinner«. Aber auch »grandios« und »lebensverändernd«.

Ich möchte glauben, dass »grandios« und »lebensverändernd« zutreffen.

»Lassen Sie mich Ihnen nun die Philosophie dieses Schreibkurses erklären«, sagt Farida und macht eine Pause.

Sie macht oft Pausen, als müsste sie ihre Worte immer noch einmal überdenken. Sie ist Mitte fünfzig, halb Inderin, halb Italienerin. Das weiß ich, weil ich ihr Buch über ihre doppelte Herkunft gelesen habe, mit dem Titel Ich und ich. Zumindest habe ich es halb gelesen. (Es ist ziemlich dick.) Sie hat glatte, dunkle Haare und eine ruhige Art und trägt die gleiche Art von Kurta wie wir anderen, nur dass sie ihr erheblich besser steht. Ich wette, ihre hat sie sich maßschneidern lassen.

»In dieser Woche geht es nicht darum, wie Sie aussehen«, fährt sie fort. »Oder wer Sie sind. Oder auch nur, wie Sie heißen. Es geht ausschließlich ums Schreiben. Lösen Sie sich von Ihrem Ich, und Ihre Schriften werden leuchten.«

Ich werfe einen Blick auf die dünne, dunkelhaarige Frau, die neben mir sitzt. Sie schreibt Lösen Sie sich von Ihrem Ich, und Ihre Schriften werden leuchten in ihr Notizbuch.

Sollte ich mir das auch notieren? Nein. Das kann ich mir merken.

»Ich leite schon seit vielen Jahren Schreibseminare«, fährt Farida fort. »Anfangs hatte ich keine dieser Regeln. Meine Schüler stellten sich der Runde vor, sagten, wie sie hießen, wer sie waren und welche Erfahrung sie hatten. Aber was passierte dann? Die Gespräche nahmen kein Ende. Man plauderte über Veröffentlichungen, Kinder, Arbeit, Urlaub, Zeitgeschehen … aber keiner schrieb etwas!« Sie klatscht in die Hände. »Keiner schrieb etwas! Sie sind hier, um zu schreiben. Wenn Sie einen Gedanken haben, den Sie mitteilen möchten, nutzen Sie ihn für Ihren Text. Wenn Sie einen Witz kennen, den Sie reißen möchten, nutzen Sie ihn für Ihren Text.«

Sie ist echt inspirierend. Wenn auch ein bisschen einschüchternd. Der dürre, knochige Junge hat seine Hand gehoben, und ich bewundere ihn für seinen Mut. Ich würde mich jedenfalls jetzt noch nicht melden.

»Wollen Sie damit sagen, dass wir hier auf einem Schweigeseminar sind? Dürfen wir nicht miteinander reden?«

Faridas Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln.

»Sie dürfen reden. Wir werden alle reden. Nur werden wir nicht über uns selbst reden. Wir werden uns von der Anstrengung des Smalltalks befreien.« Sie mustert uns streng. »Smalltalk mindert die Kreativität. Soziale Medien ersticken das Denken. Selbst die morgendliche Auswahl der Kleidung ist eine unnötige Ablenkung. Und so werden wir den ganzen Unsinn für eine Woche sein lassen. Stattdessen werden wir Bigtalk halten. Charaktere. Plot. Gut und Böse. Die richtige Lebensweise.«

Sie nimmt einen Korb, geht herum und verteilt leere Namensschildchen und Stifte.

»Ihre erste Aufgabe wird darin bestehen, sich einen neuen Namen für diese Woche zu überlegen. Befreien Sie sich von Ihrem alten Ich. Werden Sie ein neues Ich. Ein kreatives Ich.«

Als ich mein Namensschild nehme, kann ich es kaum erwarten, ein neues, kreatives Ich zu werden. Außerdem hat sie recht mit der Kleidung. Ich wusste vorher schon von den langen Leinenhemden, also habe ich nicht viel eingepackt. Ich brauchte nur Sonnencreme, Hut, Bikini und mein Laptop, um an meinem Buch zu schreiben.

Oder mein Buch zumindest durchzuplanen. Es ist eine romantische Geschichte, die im viktorianischen England spielt, und ich stecke ein bisschen fest. Ich bin so weit gekommen, dass mein Held – Chester – auf einem Heuwagen dem güldenen Sonnenschein entgegenfährt und ruft: »Wenn wir uns wiedersehen, Ada, wirst du wissen, dass ich ein Mann bin, der zu seinem Wort steht!«, aber ich weiß nicht, was er als Nächstes tut, und er kann ja schlecht zweihundert Seiten auf diesem Heuwagen sitzen bleiben.

Nell findet, er sollte bei einem Arbeitsunfall in einer Fabrik ums Leben kommen und dazu beitragen, die archaischen Arbeitsgesetze der damaligen Zeit zu ändern. Aber das schien mir doch etwas zu düster. Und dann meinte sie: »Könnte er vielleicht verstümmelt werden?«, und ich fragte: »Wie meinst du das?«, was ein Fehler war, denn jetzt googelt sie ständig schreckliche Unfälle und schickt mir Links mit Überschriften wie »Und wenn er einen Fuß verlieren würde?«

Aber ich möchte einfach nicht darüber schreiben, wie Chester von einem Mähdrescher verstümmelt wird. Und ebenso wenig möchte ich den bösen Großgrundbesitzer Mauds altem Chemielehrer nachempfinden. Das Problem mit Freunden ist, dass sie zwar hilfsbereit sind, aber fast schon zu hilfsbereit. Alle haben ihre eigenen Ideen und bringen einen nur durcheinander. Deshalb denke ich, dass mir diese Woche eine große Hilfe sein wird.

Ich frage mich, was Harold wohl treiben mag.

Nein. Lass das.

Ich blinzle mich ins Jetzt zurück, als ich merke, dass die Frau neben mir sich ihr Namensschildchen ansteckt. Sie nennt sich »Metapher«. O Gott. Schnell, ich muss mir einen Namen überlegen. Ich nenne mich … wie nur? Was Literarisches? So was wie »Sonett«? Oder »Parenthese«? Oder was Dynamisches wie »Hyperbel«?

Komm schon. Ist doch egal, wie ich mich nenne. Eilig schreibe ich »Aria« und stecke mir das Schild an meine Kurta.

Da merke ich, dass Aria fast genau mein richtiger Name ist.

Na, gut. Merkt ja keiner.

»Sehr schön.« Faridas Augen leuchten uns an. »Nun wollen wir einander unser schreibendes Ich vorstellen.«

Wir laufen herum, und jeder spricht seinen »Namen« laut aus. Wir heißen Anfängerin, Austen, Bücherwurm, Metapher, Aria, Schreiberin, Autor-in-spe und Captain James T. Kirk vom Sternenkreuzer Enterprise – der knochige Typ. Er erklärt uns, dass er zwar eine Graphic Novel schreibt, keine Liebesgeschichte, aber sein Drehbuchschreiber-Freund hat ihm erzählt, dass dieser Kurs gut ist, und schließlich kann man überall was lernen, oder? Dann fängt er an, uns einen Vortrag über das Marvel-Universum zu halten, doch Farida bringt ihn sanft zum Schweigen und schlägt vor, dass wir ihn am besten kurz »Kirk« nennen.

Schreiberin mag ich jetzt schon. Sie ist braun gebrannt, mit kurzen, grau melierten Haaren und schelmischem Lächeln. Anfängerin hat seidenweiße Haare und muss mindestens achtzig sein. Autor-in-spe ist der Mann mit den grauen Haaren und dem Bierbauch, und Austen ist die Studentin. Bücherwurm scheint so um die vierzig zu sein und hat mich schon einmal freundlich angelächelt. Da meldet sich Metapher zu Wort.

»Sie meinten, wir sollen nicht von uns selbst erzählen«, sagt sie ein wenig schnippisch. »Aber in unseren Texten geben wir doch so einiges von uns preis.« Sie klingt, als wollte sie Farida bei einem Irrtum erwischen und damit beweisen, wie clever sie ist. Doch Farida lächelt nur freundlich.

»Selbstverständlich werden Sie Ihre Seelen preisgeben«, sagt sie. »Aber wir sind hier bei einem Schreibkurs über Liebesromane. Die Kunst der Fiktion besteht darin, unsere Realität darzustellen, als wäre sie irreal.« Sie spricht zu allen im Raum. »Seien Sie kunstvoll. Verstellen Sie sich.«

Das ist ein guter Tipp. Vielleicht ändere ich den Namen meiner Heldin Ada, damit sie nicht so sehr nach Ava klingt. Victorienne. Gibt es diesen Namen?

Ich schreibe »Victorienne« in mein Notizbuch, als Farida eben weiterspricht.

»Heute wollen wir uns mit den Grundlagen des Erzählens beschäftigen«, sagt sie. »Ich möchte, dass jeder von Ihnen sagt, was für Sie eine Erzählung ist. In nur einem Satz. Austen fängt an.«

»Oh.« Austen wird knallrot. »Das ist … also … wenn man das Ende wissen will.«

»Danke.« Farida lächelt. »Autor-in-spe?«

»Ach, du Schande!«, sagt Autor-in-spe lachend. »Na, da haben Sie mich jetzt aber kalt erwischt! Äh … Anfang, Mitte, Ende.«

»Danke«, sagt Farida wieder und will eben fortfahren, als es an der großen Holztür klopft. Diese öffnet sich, und Nadia, die uns als »Kursplanerin« vorgestellt wurde, winkt Farida zu sich. Die beiden flüstern kurz miteinander, während wir anderen unsichere Blicke tauschen, dann wendet Farida sich uns wieder zu.

»Wie Sie wissen, finden im Kloster diese Woche drei verschiedene Kurse statt«, beginnt sie. »Schreiben, Meditation und Asiatische Kampfkunst. Leider ist der Leiter des Kampfkunstkurses krank geworden, und ein Ersatz war nicht zu finden. Den Teilnehmern wurde angeboten, stattdessen einen der anderen Kurse zu belegen – und drei von ihnen haben sich entschieden, bei unserem Schreibkurs mitzumachen. Heißen wir sie willkommen!«

Gespannt sehen wir die Tür aufgehen. Zwei Männer und eine Frau treten ein – und mir stockt der Atem. Dieser größere, dunkelhaarige Typ. Wow.

Lächelnd blickt er in die Runde, und ich merke, wie mir das Herz aufgeht. Okay. Offenbar wollen meine Instinkte doch keinen Urlaub machen. Sie hüpfen auf und ab und holen noch das Notfall-Instinkte-Team hinzu, und alle rufen: »Guck mal! Guck mal!«

Denn er ist hinreißend. Ich habe sechsunddreißig Online-Dates hinter mir – und kein einziges Mal war ich dermaßen elektrisiert.

Er dürfte so etwa Ende dreißig sein. Er ist gut gebaut – man sieht es sogar durch den Stoff seiner Kurta. Gewellte, schwarze Haare, leicht unrasiert, ausgeprägtes Kinn, dunkelbraune Augen und fließende, entspannte Bewegungen, als er sich einen Platz sucht. Etwas unsicher lächelt er seine Nachbarn an, als er sich auf einen Stuhl setzt. Dann nimmt er von Farida Stift und Namensschild entgegen und betrachtet beides nachdenklich. Er ist der mit Abstand bestaussehende Mensch im Raum, aber er scheint es gar nicht wahrzunehmen.

Ich merke, dass ich ihn unverhohlen mit meinen Blicken verschlinge. Aber das ist okay, denn als Autor darf man ruhig aufmerksam sein. Falls jemand fragt, sage ich, dass ich mir im Stillen Notizen für eine Figur aus meinem Buch mache und nur deshalb seine Oberschenkel anstarre.

Wie mir auffällt, scheint Kirk ein Auge auf die Frau geworfen zu haben, die neu hinzugekommen ist, und ich mustere sie kurz. Sie ist auch ganz attraktiv, mit rotblonden Haaren und weißen Zähnen und wunderhübsch gebräunten Armen. Der zweite Mann ist unglaublich aufgepumpt, mit mächtigem Bizeps – tatsächlich ist unsere Gruppe mit einem Mal im Schnitt um fünfzig Prozent ansehnlicher geworden. Was vielleicht etwas über den Unterschied zwischen Kampfkunst und Schreibkunst aussagt.

Die Stimmung im Raum hat sich enorm entspannt, während wir zusehen, wie die Neuen sich ihre Namen überlegen. Das Mädchen entscheidet sich für »Lyrik«, der Supermuskelmann nennt sich »Schwarzgurt« und der Dunkelhaarige »Dutch«.

»So hieß der Hund, den ich als kleiner Junge hatte«, sagt er, als er sich uns vorstellt – und ich schmelze dahin. Seine Stimme klingt gut. Sie ist tief und voll und kräftig und aufrichtig, aber auch edel und humorvoll, mit einem leicht traurigen Unterton wegen etwas Vergangenem, doch spricht aus ihr auch die Hoffnung auf künftige Lichtblicke und ein überaus scharfer Verstand. Und okay, ich weiß, ich habe ihn erst zehn Worte sagen hören. Aber das genügt. Ich bin mir sicher. Ich spüre es. Ich weiß einfach, dass er ein großes Herz hat und Integrität und Ehrgefühl besitzt. Er würde seinem Gesicht niemals per Photoshop Brad Pitts Augen verpassen.

Außerdem hatte er als kleiner Junge einen Hund. Einen Hund, einen Hund! Mir wird ganz schwindlig vor Hoffnung. Wenn er Single wäre … wenn er doch nur Single wäre … und hetero … und Single …

»Wir wollen in diesem Kurs möglichst keine Details aus unserem Leben verraten«, sagt Farida mit sanftem Lächeln, und Dutch schnalzt mit der Zunge.

»Stimmt. Das hatten Sie gesagt. Tut mir leid. Schon hab ich’s versaut.«

Da kommt mir ein neuer, schrecklicher Gedanke. Wenn wir nicht von uns selbst erzählen dürfen, wie soll ich dann rausfinden, ob er Single ist?

Er muss es sein. Er strahlt es aus. Außerdem: Wenn er vergeben ist, wo steckt dann seine Partnerin?

»Nachdem sich nun alle vorgestellt haben«, sagt Farida gerade, »sollten wir mit unserer Diskussion fortfahren. Vielleicht könnten Sie – Dutch – uns sagen, was für Sie eine ›Geschichte‹ ausmacht.« Dutch verzieht das Gesicht.

»›Eine Geschichte‹«, wiederholt er, ganz offensichtlich, um Zeit zu schinden.

»Eine Geschichte.« Farida nickt. »Wir sind hier, um Geschichten zu erschaffen. Das ist unsere Aufgabe in diesem Kurs.«

»Hm. Okay. Eine Geschichte.« Dutch reibt sich den Nacken. »Okay«, sagt er schließlich. »Allerdings war ich hergekommen, um zu lernen, wie man seinen Gegner mit einem gezielten Tritt zu Fall bringt. Nicht das hier.«

»Natürlich«, sagt Farida verständnisvoll. »Versuchen Sie es trotzdem mal.«

»Ich bin kein Schriftsteller«, sagt Dutch schließlich. »Ich kann keine Geschichten erzählen. Nicht so wie Sie. Ich besitze weder Ihre Fähigkeiten noch Ihr Talent. Auch wenn ich es gern lernen würde.« Als er sich umsieht, treffen sich unsere Blicke, und mein Magen zieht sich zusammen.

»Das kriegst du bestimmt hin«, sage ich heiser, bevor ich es verhindern kann.

Sofort verfluche ich mich dafür, dass ich so uncool und übereifrig rüberkomme, doch Dutch scheint es zu gefallen.

»Danke.« Er kneift die Augen zusammen, um mein Namensschild zu entziffern. »Aria. Hübscher Name. Danke.«

DREI

Während der Pause spazieren wir im Hof herum und trinken selbst gemachte Limonade. Ich nippe an meinem Glas, dann lasse ich meinen Blick zu Dutch hinüberschweifen, ganz lässig.

Superlässig.

Als wäre ich kein bisschen interessiert.

»Hi!«, sage ich. »Mochtest du die Schreibübung?«

Eben sollten wir uns alle den ersten Satz eines Buches überlegen und ihn für Farida aufschreiben. Am Donnerstag wollen wir darüber reden. Meiner ist ziemlich dramatisch und lautet: Blut tropfte von Emilys Busen, als sie die Liebe ihres Lebens sah.

Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit mir. Ich finde den Satz ausgesprochen fesselnd. Wieso tropft Blut von Emilys Busen? Das will doch jeder Leser dringend wissen. (Das Problem ist nur, dass ich selbst nicht sicher bin. Bis Donnerstag muss ich mir was überlegt haben.)

»Ich bin richtiggehend erstarrt«, sagt Dutch bedrückt. »Hab kein Wort geschrieben. Mein Hirn …« Er schlägt sich mit der Faust an die Stirn. »Will einfach nicht. Ich war bei so was noch nie besonders gut. Gib mir eine praktische Aufgabe. Oder Zahlen. Ich kann gut mit Zahlen. Aber schreiben …« Er bekommt so einen gequälten Ausdruck im Gesicht.

»Macht doch nichts«, sage ich aufmunternd. »Das kommt schon noch.«

»Aber ich finde es interessant«, fährt er fort, als wäre er entschlossen, positiv zu denken. »Mir hat gefallen, was alle anderen geschrieben haben. Interessanter Haufen.« Er breitet die Arme aus, um alle miteinzubeziehen, die auf dem Hof herumspazieren. »Es ist mal was ganz anderes. Hin und wieder tut es gut, aus seiner Komfortzone herauszutreten. Um was Neues zu probieren.«

»Ist dieser Innenhof nicht hübsch?«, höre ich Schreiberin hinter mir sagen.

»Oh, er ist einfach fabelhaft