Charlottenburg. Die jungen Ärztinnen - Lena Wildenstein - E-Book
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Charlottenburg. Die jungen Ärztinnen E-Book

Lena Wildenstein

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Beschreibung

Ein spannender Roman über drei Frauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts für die Rechte der Frauen kämpfen - und die Geschichte der ersten deutschen Frauenärztin. Für alle Leserinnen der CHARITÉ und der ÄRZTIN-Trilogie. Eine Hommage an all diejenigen, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts für die Emanzipation der Frau stritten Berlin 1907. Mit vielen Hoffnungen ist die junge Sylterin Clara in die große Stadt gekommen, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen: Sie möchte Frauenärztin werden – genauso wie ihr großes Vorbild Hermine Heusler-Edenhuizen, die ebenso wie sie aus Friesland stammt. Ihre Schwestern können diesen Wunsch nicht verstehen und versuchen, ihn ihr auszureden. Und auch in Berlin stößt Clara zunächst nur auf Widerstände: Eine Frau will Ärztin werden - unerhört! Die Professoren nehmen sie nicht ernst, weil sie eine Frau ist, lassen sie nur als Gasthörerin zu, und die männlichen Kommilitonen setzen alles daran, um sie von der Universität zu vertreiben. Glücklicherweise findet Clara schnell Verbündete in ihren Studienkolleginnen Ida und Vicki, die ihren Traum teilen. Clara aber hat noch einen besonderen Grund für ihren Berufswunsch: Sie möchte endlich herausfinden, warum in ihrer Familie so viele Frauen unfruchtbar sind … Ein großes Sittengemälde Berlins zur Kaiserzeit und während der Weimarer Republik, eine Geschichte der Frauenheilkunde und der Roman über drei starke junge Frauen, die gegen alle Widerstände für ihre eigenen und die Rechte der Frauen kämpfen. .

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Lena Wildenstein

CharlottenburgDie jungen Ärztinnen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Berlin 1907. Mit vielen Hoffnungen ist die junge Sylterin Clara in die große Stadt gekommen, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen: Sie möchte Frauenärztin werden – genauso wie ihr großes Vorbild Hermine Heusler-Edelhuizen, die ebenso wie sie aus Friesland stammt. Doch zunächst stößt Clara nur auf Widerstände – die Professoren nehmen sie nicht ernst, weil sie eine Frau ist, lassen sie nur als Gasthörerin zu, und die männlichen Kommilitonen versuchen alles, um sie von der Universität zu vertreiben. Glücklicherweise findet Clara schnell Verbündete in ihren Studienkolleginnen Ida und Vicki, die ihren Traum teilen. Clara aber hat noch einen besonderen Grund für ihren Berufswunsch: Sie möchte endlich herausfinden, warum in ihrer Familie so viele Frauen unfruchtbar sind …

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelEpilogDanksagung
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Für die Frauenärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern dieser Welt

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Prolog

Niemand konnte sie davon abhalten, bei Aiske zu bleiben, nicht einmal die großen Schwestern. Clara biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf.

»Schafft den kleinen Unhold nach draußen!«, schimpfte Greetje, während sie Aiske erneut untersuchte.

Clara fühlte, wie Femmy sie am Arm packte, aber sie hatte auf einmal Riesenkräfte.

Femmy klang wütend. »Ich krieg sie nicht hoch.«

»Ich glaube, es ist gleich so weit«, sagte Daje, die sich neben Greetje auf den Boden gehockt hatte. »Ich kann schon das Köpfchen sehen.«

»Sie verliert zu viel Blut«, keuchte Greetje. »Hol jemand Doktor Thomsen! Ich weiß nicht, wie lange sie das noch durchsteht! Los, Femmy, lauf!«

»Nein«, keuchte Aiske. »Ich will das nicht.« Sie umklammerte Claras Hand. »Du verstehst das, Schwesterchen? Sag, dass du es verstehst!«

Clara streichelte Aiske über die verschwitzten Haare. Sie wollte auch, dass Doktor Thomsen jetzt kam. Aiske war so dünn geworden, trotz ihrer Schwangerschaft, und sie blutete so schrecklich. Ganz weiß waren ihre Lippen, während sie so dalag.

Draußen toste ein Sturm über die Nordsee, dass die Scheiben klirrten. Ein Zittern durchlief sie. »Der Doktor kann dir helfen«, flüsterte sie der geliebten Schwester ins Ohr.

»Nein.« Aiske starrte ihr in die Augen. »Ich will nicht, dass mir ein Mann zwischen die Beine sieht.«

»Na, dir hat ja wohl schon mal jemand da hingeguckt, sonst würdest du nicht hier liegen«, fauchte Greetje.

Clara sah sie entsetzt an. Als sie wieder zu Aiske hinunterblickte, bemerkte sie, dass ihr Blut aus dem Mund lief.

»Jetzt kommt es!«, rief Daje. »Komm, Aiske, nun press mal!«

Doch Aiske rührte sich nicht mehr. Noch immer ruhte ihr Blick auf Clara. Noch immer waren ihre Augen so groß.

»Aiske!«, weinte Clara und streichelte ihr weiter über die Haare. Sie streichelte ihr über die Stirn und über die Wangen, weil sie nicht wusste, was sie anderes tun sollte.

Aiske öffnete den Mund und versuchte, etwas zu sagen. Clara nahm ein Taschentuch und tupfte ihr das Blut von den Lippen. »Nicht sprechen, Aiske«, sagte sie leise. »Alles wird gut. Du musst pressen, damit dein Baby herauskommt. Dann wird alles gut, das wirst du schon sehen.«

»Verdammt, warum presst sie denn nicht?« Greetje rann der Schweiß in Strömen über ihr Gesicht, und das trotz der Novemberkälte. »Hol mir jemand die Kohlenzange! Und du, du Unhold, du scherst dich jetzt raus!«

»Clara … bleibt«, wisperte Aiske. Sie fixierte Claras Gesicht.

Femmy war hinausgelaufen und kam nun mit der Kohlenzange wieder. »Hier!«, stieß sie hervor.

Aiskes Kopf fiel zur Seite. Ihre Augen waren noch immer offen. Keinen Laut gab sie mehr von sich, während Greetje das Kind mit der Zange holte. Clara streichelte sie immer weiter. Stirn und Wangen, Stirn und Wangen. Alles, was nicht von Stoff bedeckt war. Aiskes ganze liebe Haut.

Ein Schrei ertönte, Greetje hatte das Baby herausgezogen.

»Ein Junge!«, rief sie. »Aiske, du hast einen Jungen bekommen!«

Aiskes Wangen und ihre Stirn fühlten sich noch warm an, deshalb konnte Clara es nicht begreifen. Erst als Greetje schrie und Femmy noch mal Aiskes Handgelenk nahm und ebenfalls brüllte und Daje, die das Baby im Arm hielt, zu weinen begann, wusste sie, dass etwas geschehen war, was sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Sie legte sich neben die geliebte Schwester und schlang ihre Arme um sie, und erst, als ihr Körper kalt war und es draußen hell wurde, stand sie auf und weinte. Wieder wehrte sie sich dagegen, als sie jemand aus der Stube, fort von Aiske, ziehen wollte.

Von irgendwo hörte sie das Baby schreien. Ein neues Leben hatte begonnen. Und ihres, wie sie es gekannt hatte, existierte nicht mehr.

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1

Als Sylterin hätte Clara gedacht, dass sie alles über Regen wüsste. Offenbar hatte sie sich getäuscht. Das Wasser schien von allen Seiten zu kommen. Häuser, Droschken und Menschen verschwanden hinter den Wassermassen, sodass sie nur noch Geräusche hören konnte: Wie es vom Himmel rauschte, wie Hufe über das Pflaster klapperten, wie es um sie herum fluchte und schrie. Schon war ihr Rocksaum so durchtränkt, dass sie ihn nur mit Mühe anheben konnte. Eine irre Sekunde lang überlegte sie, das Treffen zu verschieben. Aber nein, sie hatte nicht den ganzen Weg quer durch Norddeutschland in klammen, eiskalten Zügen zurückgelegt, war nicht von zahlreichen Menschen angerempelt worden bei dem Versuch, am Bahnhof eine Gepäckdroschke zu ergattern, hatte nicht die Nacht auf einem Strohsack in einem ungeheizten Zimmer verbracht, nur um dann bei der erstbesten Sintflut aufzugeben. Aber einen guten Eindruck machte sie in ihren quietschnassen Schuhen, dem durchnässten Kleid und mit der aufgelösten Frisur sicher nicht.

»Denk an den guten ersten Eindruck!«, war Vatis wiederkehrende Litanei in den vergangenen Wochen vor ihrer Abfahrt gewesen. »Du magst noch so ein hervorragendes Gedächtnis haben und noch so ein gutes Zeugnis – wenn der erste Eindruck schlecht ist, kannst du nichts mehr dagegen tun.«

Etwas Riesiges rollte an ihr vorüber und begoss sie und die anderen Fußgänger von Kopf bis Fuß. Ein Automobil! Sekunden später war es wieder durch die Wasserwand geglitten.

Jetzt brach ein Tumult aus. Durch den Regenschleier sah Clara wütend verzerrte Gesichter. Einer schüttelte seine Faust. »Biste meschugge?« – »So een Blaffke!« – »Jehört jeteert, jefedert und uffjehängt!«

Clara streifte das Wasser von der Ledermappe, die ihr Abiturzeugnis enthielt. Sie hatte das Papier vor der Reise in Stofflappen und Ölpapier eingewickelt. Jetzt konnte sie nur beten, dass es trocken geblieben war.

Endlich erreichte sie die Luisenstraße. Als sie vor dem Tor stand, hinter dem das Anatomische Institut lag, spürte sie ihr Herz schneller klopfen. Das Blut pochte ihr in den Ohren. »Hic locus est ubi mors gaudet succurrere vitae«, las sie die goldenen Lettern über dem Säulenaufgang des Gebäudes. Hier ist der Ort, an dem sich der Tod freut, dem Leben zu dienen.

Der Satz erinnerte sie an einen Schreckensroman, den sie kürzlich gelesen hatte, und sie unterdrückte ein Schaudern. Dann strich sie sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, raffte ihren klitschnassen Rock und schritt die Stufen empor.

»Ich habe einen Termin bei Professor Hebemeyer«, sagte sie zu dem Pförtner. »Anatomie.«

 

Vicki lief durch die Pfützen, dass das Wasser um sie in die Höhe spritzte. Über die größeren Lachen versuchte sie hinwegzuspringen, aber in diesem strömenden Grau sah man ja gar nicht richtig, und so hüpfte sie knöcheltief in eine hinein. Ihr schönes helles Reformkleid! Zum Glück sog es sich nicht so voll wie die schweren Korsettkleider, die sie noch bis vor Kurzem getragen hatte. Aber fleckig war es nun bestimmt. Sie musste sich sputen, nachher wollte sie ja in Charlottenburg sein, schließlich hatten sie den ersten Mittwoch im Monat. Und überhaupt, warum verflog die Zeit immer so? Vor dem Eingang des Anatomischen Instituts sah sie ein blondes Mädchen, dem der Regen ordentlich zugesetzt hatte. Sie wirkte geradezu verzweifelt, wie sie da mit ihrem nutzlosen Regenschirm die Stufen des Säulenaufgangs hinaufging, mit einer Aktenmappe, die sie krampfhaft von ihren durchnässten Kleidern fernhielt. Na, hoffentlich dauerte ihr Gespräch mit dem Pförtner nicht allzu lang, denn jetzt war sie, Vicki, dran! Mit einer Bewegung aus den Knien, so wie sie es beim Tanzen gelernt hatte, hechtete sie zum Eingang des Instituts, in dem sie einmal wirken würde – denn davon würde sie nichts abhalten, keine missbilligenden Charlottenburg-Blicke, keine Geldsorgen und keine verfliegende Zeit.

»Professor Hebemeyer, Anatomie«, rief sie dem Pförtner zu.

Dieser blickte zwischen ihr und der Blonden hin und her. »Na jut, dit wären denn schon drei, die den Professor heute ankieken wollen«, brummte der Pförtner und kritzelte etwas auf ein Stück Papier. »Erster Stock links, meine Damen.«

»Kopfrechnen ist wohl nicht so seine Stärke«, kicherte Vicki, während sie mehrere Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauflief. Sie bemerkte, dass die Blonde Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Kein Wunder bei den vollgesogenen Klamotten. Pfützen liefen von ihrer Kleidung hinab, und sie trat vorsichtig auf, um in dem Wasser nicht auszurutschen. »Na, dit kleene Einmaleins war auch meine Stärke am Anfang nich.«

»Welches war denn Ihre Stärke?«, fragte die Blonde. Sie sprach einen norddeutschen Dialekt mit spitzem S.

»Oh, die Liste ist lang, und ich erzähle Ihnen später alles darüber, aber zunächst einmal wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn wir nicht erst dann beim Professor einträfen, wenn Ärzte ein Mittel für die schmerzfreie Geburt erfunden haben, was wohl nicht in hundert Jahren passieren wird, denn … Was ist los? Haben Sie einen Geist gesehen?«

Die Blonde hatte ihre Augen aufgerissen. »Ich habe … man sieht … alles!«, flüsterte sie erschrocken.

Vicki folgte dem ausgestreckten Finger der Blonden und bemerkte in der Tat, dass ihre Brüste sich unter dem nassen Kleid abzeichneten. »Anatomie-Experte, der Hebemeyer, richtig?« Sie zuckte mit den Schultern. »Na, dann hat er dit wohl alles schon mal gesehen.«

Endlich waren sie oben. Eine Vorzimmerdame geleitete sie in ein Büro, und Vickis Herz pochte nun doch schneller. Der Mann, der da zwischen zwei Skeletten hinter einem mit Papierstapeln beladenen Holztisch saß, hatte die Macht, über Vickis nächste Jahre zu bestimmen. Gleichzeitig dachte sie nun aber auch, dass der Pförtner wohl doch eins und eins zusammenrechnen konnte. Denn auf einem der drei Stühle, die jemand vor dem Tisch aufgestellt hatte, saß ein Mädchen in ihrem Alter, drehte bei ihrem Eintritt den Kopf zu ihnen und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.

 

Ida konnte es nicht fassen. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie war nach Berlin gereist mit der fürchterlichen Angst, die einzige weibliche Studierende unter lauter Männern zu sein, und nun kamen diese zwei jungen Damen herein. Oder wollten sie Schwestern werden? Nein, dann müssten sie nicht mit dem Professor sprechen. Aber, oh, wie die zwei aussahen! Die eine wirkte so wenig damenhaft wie ihr Hund Schlomo zu Hause in Hamburg. Sie hatte dunkle Locken, die sich aus einer pitschnassen Frisur ringelten. Sie trug eines dieser Reformkleider, die sie auch in Hamburg schon gesehen hatte und durch das man … Ida spürte, wie sich ihre Wangen dunkelrot färbten. Durch das man wirklich … alles sah! Sie wandte den Blick rasch zur anderen, die nur minimal respektabler wirkte, nass geregnet, wie sie ebenfalls war.

Die Blonde machte einen Knicks. »Guten Tag, Herr Professor. Mein Name ist Clara Madsen. Ich freue mich, dass Sie mich heute empfangen konnten.«

Die Dunkelgelockte ging mit ihrer Hand dazwischen. »Viktoria von Dutzenberg. Ebenfalls sehr erfreut.«

O nein, dachte Ida. Das wird nicht gut gehen. Nun wünschte sie doch, dass sie allein mit dem Professor sprechen könnte. Diese beiden jungen Damen hier waren wahrlich keine vorzeigbaren Vertreter ihres Geschlechts, obwohl sie sehr interessant aussahen, vor allem die im Reformkleid. Interessanter als alles, was Ida in letzter Zeit gesehen hatte, und dazu zählte auch ein ungewöhnlich gut aussehender Student, der ihr den Weg in Professor Hebemeyers Büro gezeigt hatte. Ob sie wohl alle drei Freundinnen werden konnten? Ida konnte Freundinnen gebrauchen. Vor allem nach dem, was in den vergangenen Monaten passiert war. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. An alles, aber nicht an das.

 

Clara spürte, wie der Professor sie musterte. Sie wurde ein bisschen rot, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Sie war auf die Minute pünktlich eingetroffen, ihre Abiturnoten waren die besten ihres Jahrgangs auf dem Mädchengymnasium gewesen, und sie erinnerte sich an alle Ratschläge, die Aiske ihr in Bezug auf ihre Schüchternheit gegeben hatte: Rücken gerade! Dem Gegenüber in die Augen blicken! Feste Stimme! Nun wanderte der Blick des Professors zu den anderen beiden Mädchen.

»Mich würde interessieren, warum Sie sich für befähigt halten, Vorlesungen in Medizin zu hören? Fräulein Rosenstein, vielleicht fangen Sie einmal an.«

Das Mädchen, das vor ihnen eingetroffen war, räusperte sich. »Mein Vater ist Doktor Isaac Rosenstein, Chirurg am Universitätskrankenhaus Eppendorf zu Hamburg.« Sie machte eine Pause, aber Professor Hebemeyer gab nicht zu erkennen, ob er den Kollegen kannte. »Mein Vater unterhält auch eine Privatpraxis im Grindelviertel. Ich helfe ihm dort seit einigen Jahren. Er bestätigte mir, dass ich geschickt mit den Patienten sei. Und ich lerne schnell.«

Der Professor blickte so regungslos wie die Skelette, die ihn rechts und links umstanden. Das linke Skelett war ein bisschen kleiner, bemerkte Clara. Seine Wirbelsäule war stark verdreht.

»Und das befähigt Sie nun, nach Meinung Ihres Herrn Papas, Medizin zu studieren?« Er hob eine Hand, als Ida den Mund öffnete. »Wobei wir noch gar nicht von einem Studium sprechen wollen. Einstweilen geht es darum, ob ich es Ihnen erlaube, als Gasthörerin meinen Vorlesungen in Anatomie zu lauschen. Gut, nun möchte ich die anderen beiden Damen hören. Warum sprechen Sie bei mir vor?«

Clara dachte fieberhaft nach. Auf alles war sie vorbereitet gewesen: darauf, ihr Abiturzeugnis herzeigen zu dürfen, Fragen zu ihrer Gesundheit zu beantworten, ja selbst auf fachliche Fragen war sie eingestellt. Und nun sollte sie über den Grund ihres Hierseins sprechen. Aber nein, sie würde diesem unsympathischen Mann nichts von Aiske verraten. Aiske war ihr Heiligstes, und zugleich war Aiske der Mensch, der jeden Tag aufs Neue das Karussell in ihrem Kopf anschob: Was, wenn es in Westerland einen weiblichen Arzt gegeben hätte, eine Frau, der Aiske eine Untersuchung gestattet hätte? Würde sie dann noch leben? Würden sie jetzt gemeinsam über den Strand laufen, sich mit Meerwasser bespritzen und lachen? Würden sie gemeinsam mit dem kleinen Mads spielen, Aiske und sie?

»Es gibt auf Sylt nur einen Arzt«, hörte sie sich sagen. »Menschen leiden, weil sie nicht richtig versorgt werden können. Das möchte ich gern ändern. Darum bitte ich Sie, mich Anatomie hören zu lassen. Und alle anderen medizinischen Vorlesungen auch.«

»Mein liebes Kind«, antwortete der Professor. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass meine Kollegen einem weiblichen Publikum ebenso aufgeschlossen gegenüberstehen wie ich. Die müssen Sie dann schon selbst fragen.«

»Wir müssen jeden einzelnen Professor und Dozenten um Erlaubnis bitten?«, entfuhr es dem Mädchen im Reformkleid.

Der Professor bedachte sie mit einem Blick, den er im Seziersaal wohl für ein besonders krankes Organ reservierte. »Das waren meine Worte«, antwortete er. »Haben Sie vor, die Vorlesungen des Öfteren mit derlei Verständnisfragen zu unterbrechen, Fräulein …?«

»Dutzenberg.«

»Richtig. Den Grund Ihres Hierseins würde ich gern hören.«

»Ich möchte Ärztin werden, weil ich weiß, dass ich gut darin sein werde«, sprudelte die Angesprochene hervor. »Mein besonderes Interesse gilt der Forschung. Ich möchte ein Mittel entwickeln, das es den Frauen erlaubt, eine Geburt ohne Schmerzen zu überstehen.«

Clara fühlte eine Welle der Wärme in sich aufsteigen. Es war etwas, das sie schon lang nicht mehr gespürt hatte, ein Aiske-Gefühl. Diese Viktoria hat auch einem geliebten Menschen bei einer Geburt zur Seite gestanden, dachte sie.

Der Professor hob seine Brauen gen Haaransatz. »Na, das sind allerdings hochfliegende Pläne, Kindchen. Aber gut, zu viel Idealismus ist in der Medizin sicherlich besser als zu wenig.«

»Das heißt, wir sind angenommen?«, rutschte es Viktoria heraus.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Kennen Sie die Untersuchung meines Kollegen Theodor Bischoff?«

Alle drei mussten verneinen.

Die professoralen Augenbrauen rutschten noch höher. »Das sollten Sie aber. Ohne eine gute wissenschaftliche Vorbereitung geht es nicht, Frolleinchen. Nun also, mein Kollege hat männliche und weibliche Gehirne untersucht und miteinander verglichen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die geistige Befähigung des Weibes geringer als die des Mannes ist. Sie drei machen ja einen recht aufgeweckten Eindruck, und es wäre ohne Zweifel hübsch, Sie im Hörsaal zu sehen, zumal – wenn ich Ihnen dieses Kompliment machen darf – Sie alle drei von sehr angenehmem Äußeren sind.« Sein Blick weilte sekundenlang auf Viktorias Reformkleid, und in diesem Moment kam es Clara so vor, als starrten die Skelette auch. »Aber genau darin liegt das Problem«, fuhr er fort. »Ich kann mich nicht für das Betragen meiner Studenten verbürgen. Dem Anblick von drei Grazien kann sich nicht jeder verschließen, und sei er noch so fest im Glauben und Willen.«

»Aber«, traute sich Clara über ihr Herzklopfen hinweg zu sprechen. »Hängt das Verhalten der Studenten nicht von unserem eigenen Betragen ab? Wirkung und Gegenwirkung, ich meine …«

»Erzählen Sie mir bitte nichts über Physik, Kindchen.« Der Professor strich sich über seinen Bart. »Um es kurz zu machen: Auch ich sehe mich außerstande, Vorträge über das Becken der Frau vor gut aussehenden Damen wie Ihnen zu halten.«

»Warum haben Sie uns dann überhaupt vorgeladen?«, platzte Viktoria heraus.

»Nun, ich wollte mir selbst ein Bild machen. Für den Fall, dass Sie ein bisschen hässlicher gewesen wären und damit auch gefahrloser für meine Studenten.« Er lächelte. »Wenn Ihnen das ein Trost ist, meine Damen: Hässlich sind Sie auf keinen Fall.«

 

»Es lag an mir«, sagte Viktoria, als sie wieder unten auf dem Vorplatz standen. »So bin ich immer. Ich will zu viel und ich bin zu ungeduldig, und dann mache ich alles kaputt.«

»Nein, es lag nicht an Ihnen.« Clara konnte kaum sprechen vor Wut. »Dieser Professor hat doch nie ernsthaft vorgehabt, uns zuzulassen.«

»Meinen Sie wirklich?« Ida riss wieder die Augen auf.

»Natürlich meine ich das wirklich!«, sagte Clara. »Der wollte doch nur seine Macht ausspielen!«

Viktoria grinste, wobei sie eine Zahnlücke hinter ihrem linken Eckzahn entblößte. Sie sah ein bisschen wie der Strandräuber auf dem Buch aus, aus dem Aiske ihr früher vorgelesen hatte, und jetzt wusste Clara auf einmal, dass sie diese Viktoria sehr mochte. »Der wollte mal schöne, junge Frauen sehen. Na, die sieht er nun nie wieder!«

Dann wurden sie alle drei sehr ernst. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte Ida, als sie wieder in den strömenden Regen hinaustraten. Von irgendwo schlug eine Uhr die zweite Nachmittagsstunde.

»O weh!«, rief Viktoria über das Rauschen des Regens. »Ich muss los! Wollen wir das weitere Vorgehen nachher bei einer Molle besprechen?«

»Molle?«, echote Ida verständnislos.

Aber Viktoria hörte sie schon gar nicht mehr. »Halb acht im Lachenden Boten!«, rief sie. »Nicht weit von hier!« Und während sie sich in den Guss stürzte, wirkte sie ganz leicht in ihrem Reformkleid: »Das ist da, wo man die guten Nachrichten überbringt!«

Was denn für gute Nachrichten?, überlegte Clara.

»Aber wir dürfen doch gar nicht in Destillen gehen!«, klagte Ida. »Also, meine Eltern wären entsetzt!«

Clara hob die Schultern und blickte gen Himmel, von dem es unentwegt weiterströmte. »Ich glaube, das Fräulein von Dutzenberg hat einen Scherz gemacht.«

»Nicht wahr, sie war ein bisschen merkwürdig, oder? Und was ist überhaupt eine Molle? Oh, ich kann dieses Berlinerisch nicht verstehen!«

Wie die Wolken über den Himmel stürmten! Grau und schwarz sauste es über sie hinweg.

»Eine Molle ist ein Bier«, sagte Clara, während sie schon spürte, dass sich eine Idee in ihrem Kopf formte. Sie hatte das Wort mal von einem Berliner Badegast gehört. Der Badegast hatte später eine Husumerin geheiratet und war noch einmal nach Westerland zurückgekehrt. Husum, natürlich! Fast musste sie lachen. Sie sah das Mädchen neben sich an, das noch immer indigniert wirkte. »Fräulein Rosenstein«, lächelte sie. »Ich hab’s!«

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2

»Hermine Edenhuizen? Nie gehört.« Ida und Vicki – sie hatten beschlossen, sich beim Vornamen zu nennen und Du zu sagen – schüttelten unisono den Kopf.

»Wirklich nicht?« Clara blickte von einer zur anderen. Ein Nachtwächter zündete mit seinem Stab die Gaslaterne hinter ihnen an. In ihrem warmen Schein sahen die beiden ganz anders aus als noch vor wenigen Stunden. Vicki wirkte jetzt regelrecht damenhaft. Sie hatte sich die Haare ordentlich frisiert, und ihr Kleid war trocken und sauber. Der Regen hatte aufgehört.

Sie hatten sich vor dem Lachenden Boten getroffen, doch trotz ihrer kessen Ankündigung wollte Vicki nicht hinein. Gläserklirren und lautes Lachen drangen nach draußen auf die Straße. Hinter den farbigen Scheiben konnte sie die Schatten der Trinker erkennen.

»Sie ist die erste preußische Frauenärztin«, erklärte Clara. »Und ihr habt wirklich noch nie von ihr gehört?«

»Meine Kenntnis von Berühmtheiten beschränkt sich auf diejenigen, die man auf Zelluloid gebannt hat«, entgegnete Vicki.

»Du gehst in Lichtspielhäuser?«, fragte Ida erstaunt. »Also, meine Eltern …«

»Sie ist Friesin wie ich«, unterbrach Clara hastig, die Idas Erziehung jetzt kannte. »Wir sind uns bei einer Versammlung in Husum begegnet. Ich habe damals all meinen Mut gefasst, bin zu ihr hin und habe ihr gestanden, dass ich dereinst auch Ärztin werden möchte, und sie hat mir versprochen, mir zu helfen, sollten Professoren und Dozenten mir die Gasthörerschaft verweigern.« Dass Hermine Edenhuizen und sie das gleiche Schicksal teilten und dass nur ein Zufall sie darauf gebracht hatte, erwähnte sie nicht.

»Wie will deine Landsmännin denn ein solches Wunder vollbringen?« Vicki rückte so aus dem Schein der Gaslaterne, dass ihr Gesicht im Dunkeln war.

»Nun, sie hat ja auch in Berlin studiert und kennt einen Teil des Lehrpersonals. Wenn sie mit ihrem Wort für uns einsteht, dann ist unser Weg frei.«

»Nicht in Anatomie bei dem Hebemeyer.« Ida sah sie aus ihren großen braunen Augen an. »Der will uns nicht dabeihaben, das hat er klargemacht, und ehrlich gesagt fürchte ich mich auch ein bisschen vor dem!«

»Pfff«, machte Vicki. »Wenn du jetzt schon mit dem Fürchten anfängst. Aber du hast recht, das olle Bartgesicht will uns prima Mädels nicht.«

»Es gibt einen weiteren Dozenten für Anatomie«, sagte Clara. »Wir hätten den Hebemeyer also vielleicht nicht nötig.« Ihr war ein bisschen schwindelig, und sie fühlte sich auf seltsame Weise glücklich. »Ich habe Frau Doktor Edenhuizen vorhin jedenfalls gleich telegrafiert, und stellt euch vor, sie hat mir zurückgedrahtet, und jetzt haben wir ein Ferngespräch vereinbart.«

»Ein Ferngespräch«, bemerkte Ida, »ist kolossal teuer, aber ich könnte …«

»Natürlich ist es teuer«, sagte Clara hastig. Sie spürte, dass sie nun doch wieder verlegen wurde. »Darum wollte ich euch fragen, ob wir uns die Kosten wohl teilen wollen. Das heißt, wenn es nicht …«

»Kriegst das hier.« Vicki warf eine Münze in die Luft und fing sie mit der Zunge wieder auf.

»Eine Mark?« Clara beugte sich vor. »Nein, so viel wird es nun auch wieder nicht kosten.«

»Du möchtest der Frau Doktorin von mir erzählen«, lispelte Vicki. »Das braucht seine Zeit.«

Clara lachte.

»Du kannst das Gespräch bei meiner Tante führen.« Ida nahm die Münze von Vickis Zunge und stopfte sie in deren Rocktasche zurück. »Außerdem kannst du dein ganzes aufregendes Leben darlegen, wenn du es möchtest. Meine Tante ist fast taub.«

»Wozu hat deine Tante ein Fernsprechgerät, wenn sie taub ist? Oh, die Rätsel des Weibes!« Vicki warf theatralisch die Arme in die Luft.

»Mein kürzlich verstorbener Onkel«, setzte Ida an, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Lachenden Boten, und eine Menge betrunkener Männer quoll heraus.

»Lasst uns das Gespräch morgen fortsetzen«, sagte Clara, die einem Mann auswich, der die Arme um sie schlingen wollte. »Ida, ich bin dir sehr dankbar für dein Angebot. Dürfen wir um zehn Uhr bei dir sein?« Sie wandte sich zu Vicki um, die entsetzt abwehrte.

»Zehn Uhr morgens? Wie soll ich das so früh schaffen? Habt ihr Mädchen noch nie etwas von Schönheitsschlaf gehört?«

Clara wollte einwenden, dass die Vorlesungen, sollte es ihnen gelingen, sicherlich noch früher anfingen, aber in dem Moment dröhnte es von der Nikolaikirche acht Uhr.

Vicki wandte sich um, und da erst sah Clara Vickis Augen. Sie wirkten rot und verquollen. Kein Zweifel möglich: Vicki hatte geweint.

»So spät schon?«, rief Vicki. »Dann sage ich euch rasch Gute Nacht!« Und mit diesen Worten sprang sie wieder aus dem Laternenschein, fort von den betrunkenen Männern, und im nächsten Moment hatte sie die Dunkelheit verschluckt.

»Sie ist wirklich ein bisschen merkwürdig, diese Vicki«, sagte Ida. Ihre Stimme wurde schrill. »Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen, mein Herr? Wenn Sie Ihre Belästigungen nicht auf der Stelle beenden, werde ich einen Gendarmen rufen!«

Clara schob den Mann, der Ida zu küssen versuchte, unsanft beiseite. »Also, ich hab sie gern.«

»Wo sie wohl hinwollte, so ganz plötzlich?« Ida schüttelte sich.

»Das werden wir bestimmt noch herausfinden«, sagte Clara. »Ich schätze, wir drei werden uns jetzt des Öfteren sehen.«

 

Natürlich war Vicki dann doch am nächsten Morgen um zehn Uhr da. »Kann mir so ein Ferngespräch ja nicht entgehen lassen«, erklärte sie Clara, während sie die Treppe zu Idas Tante hinaufstiegen. Jemand musste frisch gewischt haben, die Stufen schimmerten feucht, und es roch nach Lysol.

Ida öffnete ihnen mit hochroten Wangen. »Oh, ich freue mich so, Clara, dass du das für uns tun willst! Und meine Tante freut sich auch schon, euch kennenzulernen! Nicht wahr, Tantchen?«, brüllte sie mit einem Blick über ihre Schulter. »Du freust dich, meine neuen Freundinnen kennenzulernen?«

Die Tante kam in den Flur geschlurft, aber als sie Vicki bemerkte, stockte sie. »Aber das Meydele trägt ja noch ihr Nachthemd!«, rief sie so laut, dass Clara befürchtete, jetzt würden gleich die Nachbarn anklopfen.

»Nein, Tantchen!«, schrie Ida zurück. »Das trägt man jetzt so!«

»Und die will jetzt meinen Apparat benutzen?«, kreischte die Tante. »So ein Schlamassel!«

»Das andere Meydele, Tantchen!« Ida deutete auf Clara. »Dieses Meydele da!«

Clara knickste und rief: »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Frau Mehring!«

Die Tante presste ein Hörrohr an ihr Ohr. »Was sagt sie?«

»Dass sie sich freut, dich kennenzulernen, Tantchen!«, donnerte Ida.

»Ja, ich freue mich auch!«, schrie die Tante. Und mit einem Blick auf Vicki: »Aber das andere Meydele, das ist mir nicht ganz koscher!«

Clara spürte, wie ein irres Kichern in ihr aufstieg. Die Nerven, jetzt gingen also die Nerven mit ihr durch. Sie versuchte, Vickis Blick auszuweichen, während die Tante sie in einen Raum führte, in dem ein Schreibtisch und ein riesiger Sessel standen. Das Bild des Kaisers hing goldumrahmt hinter dem Schreibtisch, und vor den grünseiden schimmernden Tapeten standen mehrere Vitrinenschränke, die mit Büchern in allen Farben und Größen gefüllt waren. Auf dem Schreibtisch selbst thronte der letzte Stolz von Herrn Geheimrat Wilhelm Mehring, Idas jüngst verstorbenem Onkel, wie sie erklärte: ein Fernsprechapparat.

Clara beäugte das gute Stück neugierig. Es war ein Holzkasten, auf dem jemand zwei Gabeln aus Messing angebracht hatte. Auf den Gabeln ruhte eine Vorrichtung, die aus zwei runden metallischen Enden bestand. Das eine Ende musste wohl zum Hineinsprechen da sein, denn unter der runden Platte war ein kleiner Trichter angebracht. Nun, dann diente das andere Ende zum Hören.

»Hast du den schon mal benutzt?«, fragte sie Ida.

»Natürlich. Damit rufe ich doch meine Verwandten in Hamburg an.«

»Die haben auch so ein Gerät in ihrer Stube?« Vicki schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Meine Güte, seid ihr Krösus oder was?«

»Was sagt das Meydele?«, schrie die Tante.

»Mein Vater hat eine Privatpraxis«, erklärte Ida, ohne ihre Tante zu beachten. »Da braucht er einen Fernsprecher. Es rufen manchmal reiche Patienten aus Frankfurt, Berlin, Dresden oder München an. Also, jetzt alle mal Ruhe, bitte. Clara, bist du bereit?«

Wieder klopfte Clara das Herz stark in der Brust. Sie nickte.

»Also dann.« Ida nahm die Vorrichtung mit den metallischen Enden und dem kleinen Trichter von der Gabel. »Dann setz dich neben mich. Oh, hallo, Fräulein? Ich hätte gern Köln!«

Bange Minuten vergingen. Dann ertönte ein Tuten. Ida reichte ihr die Vorrichtung, die unvermutet schwer war, sodass Clara alle Kraft in ihrer rechten Hand aufbringen musste, um sie nicht fallen zu lassen. Im selben Moment hörte sie eine Frauenstimme und die geliebte friesische Mundart, die darin mitschwang. Die Stimme klang energischer, als sie sie in Erinnerung hatte.

»Guten Tag, Frau Doktor Edenhuizen«, sagte Clara. Sie lauschte, während sie gleichzeitig Vicki, Ida und Frau Geheimrat Mehring ansah, die ein Hörrohr in ihre Richtung hielt, um ja alles mitzubekommen. »Erst einmal bedanke ich mich recht herzlich für Ihre Zeit. Ja, also, der Fall ist so …«

 

Das Jahr 1907 machte munter weiter mit seinem Wetterirrsinn. Während Clara, Vicki und Ida auf den Ausgang der Gespräche zwischen Doktor Edenhuizen und den Berliner Dozenten warteten, regnete es so ausdauernd, dass Vicki erwog, im Badekostüm umherzugehen. Claras Vermieter warf vom Fenster seiner Wohnstube eine Angel aus. Ein besonders geschäftstüchtiger Spree-Anwohner pries seine Dienste als Fährmann am Brandenburger Tor an. Der Rest Berlins ließ sich Schwimmhäute wachsen, das zumindest behauptete die Bäckerin, bei der Clara morgens ihr Butterbrot kaufte. Wetter war das alles beherrschende Thema. Zeitungsjungen, die wadentief durch das Schmutzwasser der Straßen rund um die Linden staksten, schrien täglich die neuesten Katastrophen heraus: »Dauerregen und Überschwemmungen in Südspanien! Provinz Malaga mehrere Hundert Tote! Sintflutartige Regenfälle in Schottland und England! Verheerende Schäden! Dammbruch im Tessin! Schwere Überschwemmungen in Schlesien! Zahl der Toten nimmt zu!«

»Die Welt ist aus den Fugen«, befand Claras Vermieter einmal von seinem Platz auf dem Fensterbrett der Wohnstube, während er sein Angelgarn entwirrte – ein Eindruck, den er noch durch die Ereignisse in Hamburg bestätigt fand. Dort forderte der Allgemeine Deutsche Frauenverein auf seiner Jahrestagung, dass Frauen nicht mehr als zehn Stunden pro Tag in den Fabriken arbeiten sollten.

»Was machen die Weiber dann mit der ganzen Freizeit?« Der Vermieter spuckte seine Zigarette in die Fluten unter ihm und gab sich gleich selbst die Antwort. »Unsere Moneten verprassen, was sonst?«

»Hier in Berlin rauscht alles so rasant den Bach runter, dass das Olympische Schwimmteam schon der Stadtverwaltung geschrieben hat«, witzelte Vicki mit hochgezogenem Rock, während sie den Ratten in der überfluteten Friedrichstraße auswich. »Die wollten Ratschläge, wie man für ein solches Tempo am besten trainiert.«

Und dann, eines Oktobermorgens, als Clara vor lauter Regen schon Wasser zu atmen glaubte, klingelte es an der Tür, und ein Telegrammbote brachte die lang ersehnte Nachricht für sie.

 

»Lass mich das Reden übernehmen, wenn wir gleich da sind«, forderte Vicki. »Du bist zu schüchtern dafür.«

Sie waren auf dem Weg zum Prenzlauer Berg, wo sie sich ein Zimmer ansehen wollten, das im Berliner Tageblatt inseriert gewesen war. Jetzt, da sie mithilfe von Frau Doktor Edenhuizens Unterstützung Vorlesungen in Anatomie, Knochen- und Bänderlehre, Histologie, Physik, Chemie, Botanik und Zoologie hören durften, waren sie sicher, im gesamten Wintersemester Medizin studieren zu dürfen. Und wenn ihre Arbeiten gut genug ausfielen, dann vielleicht auch darüber hinaus. Clara wollte sich nun eine richtige Bleibe suchen. Das Zimmer, in dem sie in ihren ersten Berliner Wochen gewohnt hatte, sah vor lauter Schimmel schon viel zu lebendig aus. Vicki, die über ihre bisherige Bleibe geschwiegen hatte – wie auch über den Rest ihres augenscheinlich sehr geschäftigen Lebens –, hatte eingewilligt, mit ihr zusammenzuziehen. So wollten sie beide ein paar wertvolle Mark sparen, und zusammen lernen konnten sie auf diese Weise auch. Ida war bei ihrer schwerhörigen Tante glücklich, da sie dort nichts zahlen musste, und würde in Tiergarten wohnen bleiben.

»Oh, mit Witwen schaffe ich es gerade noch zu reden, ohne rot zu werden.« Clara rutschte unruhig hin und her. Das Polster der Droschke, mit der sie in den Nordosten Berlins zockelten, war nass und roch nach Hund. Aber sie hatte auf dieser Extra-Ausgabe bestanden, denn es war sicher gut, wenn die Wirtin sie für anständige junge Damen und nicht für Wassernixen hielt.

»Kommt vielleicht auf das Thema an, oder? Ich will mit ihr den Preis verhandeln.«

»Tu das nicht, Vicki!« Clara fuhr zu ihr herum. »Wirklich, wir können von Glück sagen, wenn wir nicht schon wieder an der Haustür abgewiesen werden, weil wir Studentinnen sind! Oder wenn keine Tiere aus der Tapete krabbeln wie in diesem schrecklichen Loch in Wedding! Oder wenn uns der alleinstehende Wirt nicht ’sein Schlafzimmer zeigen’ will! Bitte! Ich möchte, dass es dieses Mal klappt! Und ich habe ein gutes Gefühl!«

»Bei zwanzig Mark Miete im Monat? Ja, da hätte ich auch ein gutes Gefühl – wenn ich denn so viel Geld besäße.«

»Ich habe in all den Inseraten nichts Billigeres gesehen.«

»Das Zimmer ist auf dem Prenzlauer Berg.« Vicki verzog den Mund. »Jott wee dee!«

»Mir soll es recht sein, solange ich nicht die Dinge tun muss, die ich um ein Haar in Moabit hätte tun müssen.«

»Du meinst die Sache mit dem Alten? Das stimmt, der war widerlich. Aber du hättest keine Angst vor dem Fatzke haben müssen, den hätten wir im Ernstfall ruck, zuck erledigt. Nämlich so!« Vicki machte eine Boxbewegung und fegte dabei Claras Hut vom Kopf. »Verzeihung. Lass uns trotzdem versuchen, den Preis zu drücken. Du magst von deinem Vater die zehn Mark für die Miete ja problemlos kriegen. Aber bei mir ist der Fall anders gelagert.«

»Wie ist denn bei dir der Fall gelagert?« Clara beugte sich vor, um ihren Hut vom Droschkenboden aufzuheben. Die Stäbe ihres Korsetts drückten ihr in den Magen, und sie ächzte leise. Ida hatte recht, Vicki konnte manchmal wirklich seltsam sein.

»Das sage ich dir, wenn es so weit ist.«

Clara drehte sich zu ihr um. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Tatsächlich wusste sie so gut wie gar nichts über die Kommilitonin.

»Was ist denn mit deinen Eltern?«, versuchte sie es noch einmal. »Du hast noch nie von ihnen erzählt.«

»Dann wird es wohl einen Grund dafür geben.« Vicki blickte aus dem Fenster. So war es oft mit ihr in den vergangenen Wochen gewesen. In einem Moment brachte sie mit ihren Witzen alle zum Lachen. Im nächsten war sie verschlossen, ja fast böse. Dann wieder konnte sie schrecklich reumütig sein. Clara war sicher, dass Vicki etwas Schreckliches erlebt hatte, aber sie konnte sie nicht bewegen, darüber zu sprechen. Jedenfalls noch nicht.

Hinter dem Regenschleier rumpelten sie an einer Reihe hässlich aussehender Mietskasernen vorbei. Und endlich waren sie da.

Das Treppenhaus stank nach Kohl. Eine Frauenstimme schimpfte hinter einer verschlossenen Tür, und von irgendwo schrie ein Kind. Dritter Stock links, so hatte es im Inserat gestanden. Vicki klopfte energisch. Die Tür flog auf.

Zuerst konnte Clara das Geräusch nicht zuordnen. Es klang, als würden noch Hunderte weitere Besucher anklopfen. Dann brach ein ohrenbetäubender Lärm los. Aus allen Winkeln der Wohnung schallte es: »Kuckuck! Kuckuck!« Clara zog den Kopf ein. Das Spektakel dauerte nicht länger als vielleicht eine Minute, während der sie versuchte, von den Lippen der Frau zu lesen, die vor ihnen stand. Dann verstummte die Kuckucks-Kakofonie, und das Klopfen begann erneut.

»Juten Tach, na, denn hamse dit ooch schon jehört. Keene Angst, ick tu Se nüscht! Kommse rinn, könnse rauskieken!«

Clara wandte sich verstohlen zu Vicki um. Das Unfassbare war geschehen: Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Tick, tick, tick, klopfte es von allen Seiten.

Das seien die Kuckucksuhren von ihrem verstorbenen Ehemann, fuhr die Frau munter fort, während sie sie in die Stube führte. Sie hätten ja so gern Urlaub in den Schweizer Alpen gemacht, na ja, einmal bloß, zu mehr habe das Geld nicht gereicht, aber dann habe ihr Otto eine Kuckucksuhr gekauft, ja, und dann habe er angefangen, die nachzubauen, es sei doch sein größtes Vergnügen in den letzten Jahren seines Lebens gewesen, und jetzt habe sie manchmal das Gefühl, als sei der Otto durch die Uhren noch immer bei ihr.

Vicki holte tief Luft, während sie die Wände musterte. Da hingen Kuckucksuhren, die so klein waren, dass man die Vögel darin kaum erkennen konnte, Kuckucksuhren, bei denen der Kaiser als Kuckuck fungierte, und Kuckucksuhren in Form einer Kirche, komplett mit gekreuzigtem Kuckucks-Jesus.

»Wie viele Ottos haben Sie denn da hängen?«, fragte Vicki.

»Jenuch, um nie zu verjessen, dass meen Otto een janz Fleißija war. So, un wat machen de Damen nu hier? Uff Arbeitssuche?« Und an Vicki gewandt: »Du bist ne Berliner Göre, dit ha ick schon jesehen!«

»Wir sind Studentinnen«, erklärte Clara.

»Studentinnen? Na, ick wunder mir über jarnüscht mehr! Wat wollense denn studieren? Könnense übrijens ooch Ella zu mir sajen.«

»Medizin«, erklärte Clara.

Ella verschüttete vor Schreck den Tee, den sie gerade einschenken wollte. »Auweia«, machte sie. »Ick gloob, mir laust der Affe! Dit is mir doch noch nich unterjekommen. Na, ran an de Buletten, sach ick immer. Bevor de Männeken dit allet alleene kriejen.«

Vicki lächelte verzückt. »Genau das ist auch meine Losung. Können wir jetzt vielleicht das Zimmer sehen?«

Das Zimmer war heller, als Clara befürchtet hatte. Zwei Betten standen darin, getrennt von einem Schreibtisch mit einem Stuhl. Das Fenster führte auf einen Hinterhof, durch den ein paar Jungen einen Ball jagten.

»Könnten wir hier vielleicht noch einen zweiten Stuhl dazustellen?«, erkundigte sich Clara.

»Wenn ick hier Wasser rinnlasse, könnse hier ooch schwimmen.«

»Danke, das tun wir schon seit zwei Monaten, wenn wir auf die Straße gehen«, lachte Vicki.

»Na jut, denn is dit abjemacht. Könnse jleich einziehen. Ick freu mir auf Sie!«

»Ich dachte, du wolltest verhandeln?«, neckte Clara, als sie wieder unten auf der Straße standen.

»Bei so ’ner Guten?« Vicki schüttelte den Kopf. »Hab ich nicht übers Herz gebracht. Also, diese Kuckucksuhren! Kann es nicht erwarten, Idas Gesicht zu sehen, wenn wir ihr das erzählen!«

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3

Es geschah in der ersten Anatomie-Vorlesung. Die Stunde in Physik war glattgegangen – auch wenn Clara nun ahnte, wie es sich anfühlte, ein Exotikum im Zoologischen Garten zu sein. Die männlichen Studenten starrten sie an, als wären sie Kreaturen aus Afrika.

Clara, Vicki und Ida saßen nebeneinander im obersten Rang des Hörsaals, der wie ein steiles Amphitheater gebaut war. Von hier oben hatten sie einen guten Blick auf die Tafel und die Exponate – und weniger exotisch fühlten sie sich auch.

Der Dozent hatte ein Skelett vor seinem Pult aufstellen lassen und ließ keine wertvolle Zeit verstreichen. »Wir wollen uns heute mit dem Becken beschäftigen«, verkündete er. »Kann mir jemand sagen, ob die inneren Organe im weiblichen Becken mit denen des männlichen Beckens übereinstimmen?«

Der Hörsaal vibrierte vor Gelächter. Alles blickte zu ihnen nach oben. Clara wollte am liebsten unter dem Pult verschwinden. Vicki hatte die Fäuste geballt, und Ida war puterrot.

»Vielleicht möchte eine der Damen die Frage beantworten?«, erkundigte sich der Dozent. »Sicherlich sind Sie Expertinnen auf diesem Gebiet.«

Wieder schoss eine Lachsalve durch den Raum.

Vicki sprang auf, dass ihr Klappsitz gegen die Rückenlehne donnerte. »Sowohl das männliche als auch das weibliche Becken enthalten ein Rektum, eine Harnblase und einen Harnleiter«, rief sie. »Der Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Becken besteht lediglich darin, dass Frauen Eileiter, Eierstöcke und einen Uterus haben und – Männer eben nicht.«

Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen. Einige Studenten begannen, miteinander zu tuscheln. Vicki setzte sich wieder. Clara bemerkte, dass ihre Wangen flammend rot waren und ihre Hände zitterten.

»So, da fehlt uns Männern wohl etwas, richtig, Fräulein?« Die Stimme des Dozenten triefte vor Ironie. Wieder lachten die Studenten.

»Keine Ahnung«, sagte Vicki wütend. »Ich hab nicht nachgesehen.«

Jetzt wurde der Dozent doch ernst. »Erste Verwarnung, mein Fräulein. Sie sind hier nur zur Probe. Sollten Sie weiter so patzig antworten, dann ist dieses kleine Experiment schneller zu Ende, als die Intelligenteren unter meinen Studenten denken können.«

Clara sah, dass Vicki etwas antworten wollte, aber sie drückte ihr fest die Hand auf den Arm. »Wir wollen uns nicht provozieren lassen«, raunte sie.

»Keine weitere Bemerkung mehr, Fräulein?«

Vicki schüttelte den Kopf und ballte wieder die Fäuste.

»Gut, dann können wir wohl die Unkenntnis der Damen an dieser Stelle beenden. Im männlichen Becken befinden sich die Prostata, die Bläschendrüse und der Samenleiter. Tempus fugit, meine Herren, beeilen wir uns. Ich setze die Vorlesung nun auf Lateinisch fort.«

Als es klingelte, war die Tafel bedeckt mit weißen Kreidezeichnungen und Begriffen. Clara blickte auf ihr Heft hinunter, um den Blicken der männlichen Studenten zu entgehen.

»Aber du hast ja überhaupt nichts aufgeschrieben!«, bemerkte Vicki, die ihre eigenen Heftseiten bis an den Rand vollgekritzelt hatte. Zeichnungen von Organen und Knochen und weit geschwungene Buchstaben flossen auf Vickis Heft ineinander, und an den Rand hatte sie den Professor, auf einem Wasserklosett sitzend, gemalt.

Clara schüttelte den Kopf.

»Aber wie willst du dir den ganzen Stoff merken?«

Clara wurde ein bisschen rot. Wie sollte sie sagen, dass sie ein Gedächtnis hatte, das sich alles so merkte, ob sie es wollte oder nicht?

»Wird das jetzt jedes Mal so gehen, wenn wir Anatomie hören?« Ida erlöste sie von einer Antwort. »Das ertrage ich nämlich nicht.«

»Natürlich erträgst du das«, entgegnete Vicki barsch. »Bis hierhin sind wir gekommen, und jetzt gehen wir weiter. Hab dich nicht so!«

»Famose Robe übrigens!« Einer der Studenten war vor ihnen stehen geblieben und musterte Vickis Reformkleid. »Wusste gar nicht, dass die Damen ihre Modenschauen jetzt auch im Hörsaal abhalten dürfen.« Seine Stimme war merkwürdig hoch.

»Und ich wusste nicht, dass Dummköpfe im Hörsaal erlaubt sind«, schnaubte Vicki.

Der Student lachte, wobei sich der Schmiss auf seiner Wange verzog. »Kleiner Wildfang, was? Na, auf die Anordnung in Ihrem Becken würde ich ja mal allzu gern ein Auge werfen!«

»Ich denke, Sie haben uns jetzt Ihre schlechte Erziehung zur Genüge bewiesen«, sagte Clara. »Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.«

Der Student wich einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen, während er Clara musterte. »Vorsicht, Fräulein«, sagte er mit seiner hellen Stimme. »Sie habe ich jetzt auf dem Kieker. Wenn Sie glauben, dass Ihr Leben hier einfach sein wird, dann haben Sie sich geirrt.«

»Er hat dir gedroht«, flüsterte Ida mit aufgerissenen Augen, als der Student weitergegangen war. »Er hat dir ganz offen gedroht! Was willst du jetzt machen?«

»Dem kleinen Sopran beim nächsten Mal zurückdrohen«, sagte Vicki. »Respekt, Clara, das hast du gut gemacht!«

Aber Clara war sich da nicht sicher. Sie hätte den Studenten einfach nicht beachten dürfen. Überhaupt wunderte sie sich, was in sie gefahren war. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, Widerworte zu geben! Aber sie war so wütend gewesen! Was hätte sie da sonst tun sollen?

Als sie auf den Gang hinaustraten, hatten sich die Studenten im Spalier aufgestellt. Sie applaudierten, als sie Clara, Vicki und Ida sahen. Einer schrie: »Nicht so zögerlich, meine Damen!« Sie hatten keine Wahl, es gab nur diesen Flur als Fluchtweg.

Die Männer schienen sich in ein vielarmiges Ungeheuer zu verwandeln, während sie versuchten, zwischen ihnen hindurchzugehen. Clara spürte ihre Hände an ihrem Ellbogen, ihrer Schulter, ja sogar an ihrem Gesäß. Als sie endlich ins Freie traten, zitterten sie, und Ida weinte.

»Lass die Blaffkes das nicht sehen!« Vicki wollte Ida in eine Toilette schieben, aber das Schild zeigte, dass nur Herren sie benutzen durften. »Wo zum Teufel sind denn die Toiletten für die Damen?«, fluchte Vicki.

»Gibt es hier nicht«, sagte Clara. »Wir sind in dem Teil, zu dem nur die Hochschullehrer und Medizinstudenten Zutritt haben. Lasst uns zum Schwesterntrakt der Charité hinübergehen.«

Natürlich kamen sie zu spät zur nächsten Vorlesung, Botanik. Der Weg vom Schwesterntrakt zurück zum Hörsaal war einfach zu lang gewesen, und Clara und Ida in ihren Korsettkleidern konnten auch nicht so schnell laufen wie Vicki, die überhaupt in ganz hervorragender Konstitution zu sein schien.

»Machst du Leibesertüchtigungen?«, keuchte Clara, während sie versuchte, mit ihr Schritt zu halten.

»Ich war im Turnverband, und das kann ich sogar beweisen.« Vicki nahm einen kleinen Anlauf, streckte die Arme in die Höhe und schlug ein Rad.

»Vicki, verdammt!«, zischte Clara. »Wenn das jetzt jemand gesehen hätte!« Sie öffnete die Tür, und wieder drehten sich alle zu ihnen um. Einige stießen sich an und lachten. Nur der Student mit dem Schmiss nicht. Er starrte sie feindselig an.

»Haben also auch unsere zarten Rosen den Weg in die Botanik gefunden«, scherzte der Professor.

Sie schoben sich zurück auf die Plätze, die sie zuvor mit ihren Visitenkarten gekennzeichnet hatten, und klappten ihre Pulte herunter. Die Geräusche hallten im Raum.

Aus der Reihe unter ihnen fiepte die Stimme vom Schmissgesicht. »Oh, oh, jetzt habe ich mir das Kleid eingeklemmt!« Seine Sitznachbarn lachten.

»Wollten Sie etwas anmerken, meine Damen?«, dröhnte der Dozent. »Dass Sie sich dessen bewusst sind: Ich habe Sie nur probeweise zugelassen! Das nächste Mal seien Sie pünktlich, wenn ich bitten darf!«

 

»Fragst du dich manchmal, wozu wir das alles durchstehen?«, wollte Vicki am Abend wissen, als sie in ihren Betten lagen. »Wozu wir immer kämpfen und all das? Wozu wir überhaupt Ärztinnen werden wollen?«

Die Mondsichel schimmerte im Fensterrechteck. Die Kuckucksuhren tickten laut.

»Nein, das tue ich nicht«, antwortete Clara. »Trotz allem. Und du?«

Vicki atmete leise. Sie war ungewohnt schweigsam gewesen an diesem ersten Mittwoch im Dezember – so wie auch am ersten Oktober- und Novembermittwoch. Und sie hatte an allen drei Nachmittagen nicht die Vorlesungen besucht.

»Es ist wegen dem, was du heute Nachmittag erlebt hast, oder?«, flüsterte Clara.

Vicki schnäuzte sich. »So ein Mist auch, ich glaube, ich bekomme eine Erkältung.«

Clara setzte sich auf.

»Lass es, Clara.« Vickis Stimme hörte sich rau an. »Ich will nicht, dass du mich tröstest. Es ist ja auch wieder gut jetzt. Lass uns von etwas anderem sprechen. Weißt du schon, welches Fachgebiet du später einmal wählen wirst?«

Clara nahm ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor und reichte es Vicki. Die tat, als würde sie die ausgestreckte Hand nicht bemerken, aber vielleicht sah sie sie ja wirklich nicht. Die Mondsichel war hinter einer Wolke verschwunden. Ganz dunkel war es jetzt. Vickis Atem wurde wieder ruhiger.

»Frauenheilkunde«, antwortete Clara.

»So wie deine Mentorin, Doktor Edenhuizen?«

Clara zögerte. Sollte sie Vicki die Wahrheit sagen? Aber nein, Vicki erzählte ihr ja auch nichts. Sie waren vielleicht Freundinnen, aber keine besonders engen, dazu wusste sie immer noch zu wenig über sie. Wie konnte sie ihr von der Nacht erzählen, in der Aiske gestorben war? Wie von den Monaten, in denen sie nicht mehr hatte aufstehen wollen, wie sie ein ganzes Jahr in der Schule verloren hatte? Und wie dann der Vater eines Tages die richtigen Worte gefunden hatte: »Dann werd Ärztin, Clara. Mach, dass so etwas nie wieder bei uns passiert …«

Sie sehnte sich nach zu Hause, nach dem Vater und nach dem kleinen Mads. Nach den salzigen Winden und danach, wieder ihre Sprache zu hören. Nach Aiske, aber nach Aiske sehnte sie sich immer, und sie würde sie nie wiedersehen, nicht auf Sylt und auch sonst nirgends.

»Jetzt weinst du auch«, sagte Vicki leise, und da musste Clara laut aufschluchzen.

»Eine unübersichtliche Sache, dieses Leben«, raunte Vicki, und an ihrer Stimme hörte Clara, dass sich die Freundin schon wieder zusammengerissen hatte. »Aber das mit der Frauenheilkunde hört sich gut an, vor allem Geburtshilfe. Es hat nur einen Nachteil.«

»Welchen?«

»Wenn du erfolgreich bist, endest du immer mit doppelt so vielen Patienten.«

Jetzt musste Clara lachen und weinen zugleich.

»Wollen wir nächsten Sonntag auf dem Kreuzberg eine Rodelpartie machen?«, fragte Vicki. »Ich weiß, wo ich einen Schlitten auftreiben kann!«

Der Mond leuchtete wieder ins Zimmer. Clara blickte zu Vicki hinüber, wie sie da aufrecht im Bett saß und sich ihren Zopf flocht. Ihre Augen funkelten im Halbdunkel, man konnte nicht anders als mitfunkeln. Sie lächelte. »Das wäre sehr schön.«

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4

Westerland musste geschrumpft sein. Clara konnte es nicht glauben, wie klein das Dorf ihr plötzlich erschien. Verglichen mit den kaiserlichen Bauten in Berlin sahen die reetgedeckten Häuser wie Puppenhäuser aus, und durch die Straßen passte jeweils nur eine Kutsche. Und oh, wie eng die väterliche Stube mit ihren überquellenden Bücherborden aussah! Clara zog den Kopf ein, als sie über die Schwelle trat.

»Froh, wieder zu Hause zu sein, Clärchen?« Der Vater hob seine Hand, als wollte er ihr über das Haar streichen, besann sich aber wieder. Ein paar Herzschläge lang schwebte die Vaterhand in der Luft zwischen ihnen beiden. Seine Finger waren tintenfleckig. Ein Stoß Hefte türmte sich auf dem Tisch.

»Der Fortschritt ist zu uns herübergeschwappt.« Der Vater lächelte, als er ihren Blick bemerkte. »Meine Schüler benutzen für ihre Hausaufgaben keine Schiefertafeln mehr!«

Clara erwiderte sein Lächeln.. »Wie geht es dem kleinen Mads?«, fragte sie.

»Deine Schwestern kümmern sich um ihn, als wäre er das einzige Wesen auf der Erde. Du weißt, dass er jetzt bei Greetje lebt?«

Clara nickte. Greetje hatte es ihr in einem Brief erklärt: Sie fand, dass sie als die älteste Schwester den Jungen zu sich nehmen solle, und auch ihr Mann sehe ihn jetzt als den ihren an.

»Ist Greetje …?«, begann sie.

Der Vater schüttelte den Kopf. »Sie hat es aufgegeben. Sie meint, sie wäre jetzt wohl zu alt zum Kinderkriegen.«

»Greetje ist 28!«, entrüstete sich Clara.

»Du weißt, was sie denken.« Der Vater wich ihrem Blick aus.

O ja, das wusste Clara. Sie sah zum Fenster. Die See war dunkel geworden, aber dort, wo der Mond auf die Eisschollen schien, funkelte es hell. Der Wind klirrte gegen die Scheiben. Clara fasste sich an den Hals. Sie hatte Mühe zu atmen, so stickig war es hier drin. »Ich mache einen Spaziergang«, sagte sie.

»Um diese Stunde? Es ist doch schon ganz dunkel.«

»Ich muss«, sagte sie, und als ihre Blicke sich kreuzten, sah sie, dass der Vater sie verstand.

 

Aiskes Grab hatte eine Schneehaube. Clara blickte in den Himmel, und die Flocken vermischten sich mit ihren Tränen. Nicht traurig sein, ermahnte sie sich. Aiske hatte Schneeflocken geliebt.

»Du ahnst gar nicht, wie groß Berlin ist«, sagte Clara zum Boden vor ihren Füßen. Und auf einmal sprudelte alles aus ihr heraus. Sie erzählte Aiske von Vicki und Ida, von den männlichen Studenten und von der Kuckuckswitwe. Und davon, wie schön es war, dass sie ihren Kopf endlich so mit Wissen vollstopfen konnte, wie sie es immer schon wollte.

Sie lauschte in das Flockenwirbeln. In der Ferne rauschte das Meer.

»Greetje kümmert sich jetzt um deinen kleinen Mads«, flüsterte sie. »Aber das weißt du wahrscheinlich schon.«

Täuschte sie sich, oder hörte sie Schritte im Schnee knirschen? Sie blickte auf, doch der Friedhof wirkte verlassen. Ein paar Gräber weiter lichterte es, aber das war nur die Kerze, die der alte Jensen für seinen Sohn angezündet hatte. Auf dem Meer verschwunden, wie so viele andere Söhne von Sylt.

»Die Frauen in unserer Familie sind verflucht, meint Greetje«, flüsterte Clara in die Flocken. »Sie sagt, dass sie entweder im Kindbett sterben oder unfruchtbar sind. Aber ich werde alles darüber lernen, und ich werde machen, dass es wieder gut wird. Dass Frauen nicht mehr sterben müssen, wenn sie ein Kind gebären, und dass sie Kinder bekommen können, wenn sie wollen. Nicht wahr, du glaubst auch, dass ich das schaffen kann?«

Das Eis war in ihren Wimpern gefroren. Rasch rieb Clara es fort.

»Ich denke jeden Tag an dich, Aiske«, wisperte sie weinend. »Ich vermisse dich so sehr.«

Keine Schritte mehr. Es war still geworden auf dem Friedhof. Clara kniete sich auf den Boden nieder. Ganz nass wurde ihr Rock.

Sie schrak zusammen, als die Silhouette zwischen den Bäumen hervortrat.

»Komm nach Hause, Kleine«, sagte der Vater und streckte die Hand aus. »Das Leben wartet. Der kleine Mads ist da.«

 

»Ha!«, jubelte Mads, als er Clara sah, und seine Augen leuchteten auf. Er hopste einmal in die Luft, dass seine Hose rutschte, dort, wo der Hosenträger sich gelöst hatte, dann rannte er auf sie zu. Seine Mäusezähnchen waren noch weiter nach vorn gerutscht. Er sah aus wie ein kleines, schelmisches Tier.

»Gur Dai!«, grüßte Clara und lachte. Mads warf sich mit aller Macht in ihre Arme, und sie kippte zu Boden. Mads kicherte. »Umgefallen!«, stellte er fest. Aber schon sprang er wieder auf. »Kannst du mich killi, Tante Clara?«

»Ob ich dich kitzeln kann?« Clara stemmte sich in die Höhe. »Na, darauf kannst du wetten, kleiner Mann!«

Entzückt schrie Mads und stob davon, während Clara mit ausgestreckten Händen hinter ihm herlief.

»Hast du für deine Schwestern vielleicht auch einen Gruß übrig?« Plötzlich stand Greetje vor ihr. Im Schein der Petroleumleuchte erkannte Clara, dass auch Femmy und Daje eingetroffen waren sowie ihre Männer. Daje deckte den Tisch.

»Gur Dai, Schwester!« Clara beugte sich vor, um Greetje zu herzen, aber die Schwester wich zurück. »Was ist denn mit deinem Kleid passiert? Du bist ja ganz schlammig! Und dein Rocksaum ist voller Eisklumpen! So kannst du Mads nicht anfassen! Oh, und wer weiß, was du für Krankheiten aus der Stadt mitgebracht hast!«

Das Glücksgefühl, das eben noch in Clara geblubbert hatte, verschwand. »Es ist kein Schmutz von der Stadt, ich war eben …«

»Lasst Clara doch erst einmal ankommen«, sagte der Vater. »Femmy, magst du deiner Schwester heißes Wasser aufsetzen, damit sie sich waschen kann?«

»Wie, und wir müssen wieder alles alleine machen?«, murrte Femmy. »Ist sich die Studentin jetzt zu fein dafür?«

Clara hatte es gewusst. So war es immer gewesen mit den großen Schwestern, nur Aiske hatte sie verteidigt. Kuckucksei, so hatte Greetje sie einmal genannt. Ist anders als wir Madsens. Trägt nicht einmal einen friesischen Namen, hat dieses unheimliche Gedächtnis, will vielleicht etwas Besseres sein. Nachzügler, Naseweis, Neunmalklug, das waren die Namen, die die Schwestern ihr gegeben hatten. Sie sei der Grund, warum sie keine Mutter mehr hätten. Besser, sie wäre gar nicht erst geboren.

»Na, los, beweg dich«, sagte Greetje. »Hast du nicht gehört, was der Vater gesagt hat? Wasch dich erst mal!«

»Killi machen!«, schrie Mads aus der Küche.

»Tante Clara kann nicht!«, schrie Greetje zurück.

 

»Du darfst es deinen Schwestern nicht übel nehmen, dass sie manchmal so einen Ton am Leib haben«, sagte der Vater später, als sie sich umgezogen hatte und in der Küche Kartoffeln schälte. »Greetje ist nun schon seit neun Jahren verheiratet, ohne dass es bei ihr geklappt hätte. Femmy seit sieben Jahren, Daje seit sechs …«

»Ist nicht schlimm, Vater.« Clara schälte, ohne aufzublicken. »Zumindest, wenn ich den kleinen Mads bei mir in der Küche habe, während ich hier schnippel. Dann ist es wenigstens lustig. Schickst du ihn mir?«

»Tut mir leid, Greetje hat ihn ins Bett gebracht, während du dich gewaschen hast.«

»Na, dann werde ich ihm schnell eine gute Nacht wünschen.« Clara wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Nein, das wirst du nicht tun.« Wie aus dem Nichts war Greetje vor ihr aufgetaucht. »Du hast ihn schon genug aufgeregt heute Abend. »Wenn du da bist, ist der arme Junge nicht mehr er selbst.«

Das Schweigen lastete wie eine Schneedecke auf ihnen, während sie aßen. Clara konnte es kaum ertragen. Das Feuer im Kachelofen knackte und brannte, aber sie fror.

Auch die Männer der Schwestern schwiegen: Greetjes Mann Blaik, der tagelang Netze flicken konnte, ohne ein einziges Wort zu sprechen, Fiete, der Fischer, und Keno, der als Dampschiffkapitän manchmal bis nach Norwegen hinauffuhr und nur redete, wenn er seiner Mannschaft Anweisungen gab. Niemand fragte Clara nach ihrer Zeit in Berlin. Und vielleicht, dachte sie, würden sie es auch gar nicht verstehen, selbst wenn ich es ihnen sagte. Es war nicht mehr nur so, als schliefen sie in getrennten Betten, sie und die Schwestern. Clara fühlte sich, als käme sie aus einer anderen Welt.

»Ich habe euch allen etwas mitgebracht.« Sie lächelte in die Runde. »Aber«, sie schluckte, als sie in die versteinerten Gesichter sah, »das bekommt ihr erst, wenn wir Bescherung feiern. Also morgen. Zu Weihnachten. Freut sich denn der kleine Mads schon darauf?«

»Warum verrätst du es denn jetzt schon mit den Geschenken?«, murrte Femmy. »Dann ist es doch gar keine Überraschung mehr.«

»Könnt ihr sie einmal in Ruhe lassen!«, explodierte der Vater.

Angewidert schob Greetje ihren Teller zurück. »Nun verteidige du sie noch.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Clara holte tief Luft. »Unfruchtbarkeit ist heilbar«, sagte sie, so fest sie konnte. »Man muss nur erst feststellen, woran es liegt. Uterine Katarrhe könnten die Ursache sein oder Entzündungen, die nicht richtig erkannt wurden.«

Die Schwestern starrten sie an, als hätte sie eine Bombe gezündet. »Ich weiß, das mag überraschend klingen oder auch verwirrend.« Clara blickte von einer zur anderen. »Aber wir müssen nicht unser Leben damit verbringen, darüber nachzugrübeln, warum wir nicht schwanger werden. Oder es als gottgegeben hinnehmen! Wir können etwas dagegen tun!«

»Wir?«, fragte Femmy, die als Erste ihre Sprache wiederfand.

Greetje ballte ihre Fäuste. »Wie kannst du es wagen«, zischte sie.

»Ja, wir«, sagte Clara fest. »Es betrifft uns ja alle gleichermaßen. Auch ich möchte eines Tages einmal Kinder haben.«

»Fragt sich, wer mit dir einmal Kinder haben möchte«, gab Greetje zurück.

»Einige Mediziner sind bereits dabei, neue Wege zu erforschen.« Clara beschloss, auf Greetjes Provokation nicht einzugehen. »Eine Möglichkeit wäre etwa extrakorporale Befruchtung.«

»Könntest du das für uns Dumme übersetzen, für die der Vater kein Geld übrig hat, auf dass sie in der Großstadt studieren können?«, fragte Daje.

Wie auf eine geheime Verabredung hin erhoben sich Blaik, Fiete und Keno. »Auch ’n Pfeifchen draußen rauchen, Vattern?«, fragte Fiete, und der Vater nickte und stand ebenfalls auf.

»Außerkörperlich«, sagte Clara, während die Männer hinausschlurften. »Eine Befruchtung, die außerhalb des Körpers stattfindet. Der Experimentalbiologe Jacques Loeb hat vor einigen Jahren bewiesen, dass unbefruchtete Seeigeleier, wenn man sie in eine Lösung mit höherem Salzgehalt als Seewasser legt, zu lebensfähigen Embryonen herangezüchtet werden können. Und in Wien ist es Embryologen gelungen, aus dem Eileiter eines Angorakaninchens zwei Embryonen auszuspülen und in die Eileiter eines artfremden Kaninchens einzupflanzen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das Verfahren auch auf Menschen anwenden lässt! Wir, die wir Mühe haben, schwanger zu werden, könnten …«

»Oh, ich bin sicher, dass Westerland sich gründlich amüsieren würde. ’Habt ihr schon gehört, die Madsen-Schwestern züchten sich jetzt ihre Kinder mithilfe von Seeigeln und Kaninchen?’ Famos, wir wären der Sylter Frankenstein!« Femmy zerschnitt ihren Hering in so kleine Teile, dass das Tier nicht mehr als solches erkennbar war. »Ich habe mit Doktor Thomsen gesprochen«, sagte sie bestimmt.

»Was hast du?«, fragten Greetje und Daje im Chor.

»Ich weiß, wir haben uns geschworen, dass niemals ein anderer Mann als unsere Angetrauten uns ins Allerheiligste blicken dürfen, aber«, sie sah Clara trotzig in die Augen, »es gibt ja nun mal keine weiblichen Ärzte, was soll ich tun?«

Es gibt weibliche Ärzte, wollte Clara sagen. Vielleicht nur eine Handvoll, aber es gibt sie. Und ich werde eine von ihnen sein. Aber sie wollte sich nicht mehr streiten. Sie konnte es nicht mehr. »Was hat Doktor Thomsen gesagt?«

»Er hat mir vorgeschlagen, ein Instrument in meine …« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »In meine Gebärmutter einzuführen, um sie wieder in die richtige Stellung zu bringen.«

Clara krümmte sich unwillkürlich. Die Vorstellung tat ihr körperlich weh.

Greetje fasste sich als Erste. »Du hast das freundliche Angebot hoffentlich abgelehnt.«

»Natürlich habe ich das. Will ich im Kindbett sterben, nur weil ich endlich fruchtbar bin?«

»Wenn man die richtigen Vorkehrungen trifft …«, begann Clara.

»Jetzt hör endlich auf!«, schrie Greetje. »Das ist doch die Höhe! Wo warst du denn damals mit deinen richtigen Vorkehrungen, als Aiske starb?«

Clara fühlte den Kloß in ihrer Kehle anschwellen. Nicht weinen, dachte sie und ballte die Fäuste, genau wie Vicki es in den Vorlesungen immer tat. »Wenn sich Hebamme und Arzt die Hände gründlich desinfizieren, bevor sie die Geburt begleiten, können keine Keime in die Frau eindringen«, erklärte sie, so ruhig sie konnte. »Der französische Chemiker Louis Pasteur und der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis konnten nachweisen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen mangelnden hygienischen Zuständen und Kindbettfieber. Wir Frauen sollten immer auf Sauberkeit bestehen!«

»Sagt die, die in dreckigen Kleidern mit meinem Sohn spielen wollte!«

Einen Moment lang veränderte sich die Stimmung im Raum. Femmy und Daje sahen Greetje an, und Clara spürte, wie sich ihr Ärger nun gegen die Älteste richtete. Doch Greetje gelang ein Ablenkungsmanöver. »Weißt du was?«, wandte sie sich an Clara, und obwohl ihre Stimme so sanft klang, wusste Clara, dass sie nichts Freundliches sagen würde. »Warum mache ich es nicht einfach wie Sara und schicke meinen Mann zu meiner Magd?«

»Welche Sara?«, stammelte Clara.

»Tja, da kennst du all diese Namen von Ärzten aus Ungarn und Frankreich, aber was in der Bibel steht, interessiert dich wohl nicht!«