Charmegefühl - Agnes Maier - E-Book

Charmegefühl E-Book

Agnes Maier

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Beschreibung

Scham, die (Substantiv, feminin): durch das Bewusstsein, (besonders in moralischer Hinsicht) versagt zu haben, durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung Charme, der (Substantiv, maskulin): Anziehungskraft, die von jemandes gewinnendem Wesen ausgeht; Zauber Charmegefühl, das (Substantiv, Neutrum) Viele Begriffe und Redewendungen im Deutschen scheinen wie subtile Aufforderungen, sich zu schämen – etwa für die eigene Sexualität oder gar ganze Körperregionen! »Charmegefühl« beschreibt eine neuartige Sinneserfahrung, die sich angenehm trotzig diesen veralteten Sprachmustern widersetzt. In gereimten und erzählten Texten werden Normen hinterfragt, alltägliche (Sprach-)Gebräuche augenzwinkernd auseinandergenommen und gefühlte Unzulänglichkeiten zu liebenswerten Stärken skizziert. Ein buchgewordener Dudeneintrag und Anstoß zum Aufbruch in ein neues sprachliches Zeitalter – oder ganz einfach eine wortwörtliche Revolution.

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Charmegefühl

Agnes Maier

Erste Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 2021 by

Lektora GmbH

Schildern 17–19

33098 Paderborn

Tel.: 05251 6886809

Fax: 05251 6886815

www.lektora.de

Covermotiv: Lukas Pein

Covermontage: Denise Bretz, Lektora GmbH

Lektorat & Layout Inhalt: Lektora GmbH, Denise Bretz

ISBN: 978-3-95461-212-3

Vorwort

Dieses Buch ist ein Versuch.

Ich möchte mich versuchen – zuallererst tatsächlich darin, ab so circa Seite 15 besser zu reimen als schon im ersten Satz (fest versprochen!).

Aber auch ein Versuch, über das Leben und seine Tücken, über Mut, Überforderung, Unabhängigkeit, Stolz, ein bisschen Unsinn und viele Irritationen zu schreiben.

Dieses Buch ist ein Experiment. Ein sprachliches Bemühen um wortwörtliche Veränderung. So im Grunde zumindest.

Nein, ich bin keine richtige Revolutionärin. Ich bin Poetry-Slammerin, Hebamme und Mutter. Ich kann ganz passabel reimen und verspüre den Drang, diese Reime auf die Bühne zu tragen – und in Bücher mit coolen Titeln, die auf den weiblichen Körper anspielen.

Ich bin eine Frau der Sprache. Mir liegen Wörter und Worte am Herzen. Besonders, vielleicht.

Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass man nicht zwingend eine solche Affinität zu derlei Dingen haben muss wie ich, um von Sprache beeinflusst zu sein. Ich glaube viel mehr, die Art, wie wir miteinander sprechen, spielt eine große Rolle in der Gesellschaft und in unser aller Leben.

Vielleicht eine der größten überhaupt, denn Sprache ist die Basis unseres Zusammenlebens. Sie erschafft Realität und entscheidet, wie wir über Dinge denken, sie bewerten und empfinden – viel mehr, als uns meistens bewusst ist.

Das Problem dabei: Sprache verändert sich. Sie entwickelt sich weiter. Das allein ist eigentlich etwas Gutes. Leider entwickelt sie sich nicht so schnell, wie es für unsere Gesellschaft wohl gut wäre. Und so kennen und verwenden wir noch heute Wörter, Worte, Sätze und Redewendungen, die in weit zurückliegenden Zeiten entstanden sind, uns aber längst nicht mehr guttun. (Und wahrscheinlich nie jemandem gutgetan haben, aber lassen wir das.)

Die »weibliche Scham« ist ein Beispiel dafür: Eine ganze Köperregion nach dem Gefühl der Peinlichkeit, der Verlegenheit und Bloßstellung zu benennen, ist gelinde gesprochen eine Frechheit!

Schambereich, Schamlippe, Scheide: Ich hör nur schämen und noch mehr Scham und das Letzte ist eigentlich eine Halterung für ein Schwert. Hallo?

Ich finde, es wird Zeit! Zeit für eine Veränderung oder zumindest sorgfältige Reflektion.

Ich bin keine Revolutionärin. Ich kann und werde die deutsche Sprache nicht mit ein paar Versen in einem kleinen Buch ändern. Niemand kann das alleine schaffen. Denn dafür braucht es mindestens viele aufmerksame Ohren und Münder, die ihre Worte in Zukunft mit mehr Bedacht wählen, als ihnen vielleicht beigebracht wurde.

In diesem Sinne ist dieses Buch ein Versuch.

Ein Versuch, Aspekte meines Lebens niederzuschreiben und damit ein paar Mundwinkel zu erreichen.

Ein Versuch, auszudrücken, was ich denke, und Menschen zum Mit-mir-Mitdenken anzuregen.

Ein Versuch der Aufarbeitung, des Mutigseins, der Ehrlichkeit und Direktheit.

Ein Versuch, sich etwas zu trauen; laut zu sein und sich für viele Dinge nicht mehr zu schämen.

Festgefahrene Stereotype engen uns ein, setzen uns unter Druck und hemmen uns dabei, den eigenen, individuellen Weg durchs Leben zu wählen. Ich finde, kein Mensch sollte sich schämen müssen – weder für seine Art, zu leben, noch für seine Sexualität, sein Geschlecht oder den eigenen Körper.

Letztlich (und damit ist auch tatsächlich das letzte Kapitel dieses Buches gemeint) ist dieses Buch ein Versuch, mit kleinen augenzwinkernden Texten die Scham zu wandeln. Denn das Wunderbare an Sprache ist, dass es Wörter gibt, die ähnlich klingen, aber anders geschrieben werden und etwas ganz anderes bedeuten.

Hier ist mein Versuch: die »Scham« in »Charme« zu verwandeln.

(Und ich stelle mir jetzt vor, dass Sie an dieser Stelle, bei diesem Gedanken vielleicht nur ganz kurz ein wenig schmunzeln mussten. Denn das wäre dann ein bisschen das, was ich vorhin gemeint habe: die Macht der Sprache.)

Leben

Vor einigen Jahren sind wir umgezogen. In eine neue Wohnung, nicht weit von unserer alten. Ich habe meine Kisten gepackt, unsere Habseligkeiten ins Auto geladen, ein paar Dinge weggeworfen, andere behalten und mit meinem Smartphone in der Tasche 3 km weiter alles wieder ausgepackt.

Smartphones sind sehr smart heutzutage. Und ich nehme an, meins ist da keine Ausnahme. Es weiß unendlich viele Dinge von mir, kennt Zahlen und Daten, viele Fakten aus meinem Leben – zu viele vermutlich. Es kennt auch die Adresse meiner Eltern und die der alten Wohnung, in der meine Tochter und ich alleine gelebt haben. Aber eine Sache kennt mein smartes Phone nicht: die Adresse unserer neuen Wohnung. Ich habe sie ihm nie mitgeteilt und irgendwie hat es bei aller Smartheit nie kapiert, dass wir umgezogen sind. Warum auch immer. Alles, was es weiß, ist, dass ich mich plötzlich sehr viel in einer anderen Gegend als »Zuhause« aufhalte. In einer Siedlung, in der auch andere Menschen wohnen – unter anderem wohl ein Mann, der Simon Gössl1 heißt.

Und nun bekomme ich, wenn ich unterwegs bin, von der iPhone-Karten-App seit Jahren die Info, wie weit ich es hätte und welche Route ich nehmen müsste, würde ich nach Hause fahren. Nur dass die iPhone-Karten-App nicht weiß, dass diese Adresse mein Zuhause ist. Die iPhone-Karten-App denkt, dass ich zu Simon Gössl fahr. Und ich weiß nicht, ob mein Handy denkt, dass ich eine Affäre mit diesem Simon habe oder ob es nicht durch irgendeinen smarten Algorithmus langsam mal merken müsste, dass ich eigentlich dort wohne. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu selten zu Hause.

Und immer sagt mein Handy »15 Minuten bis Simon Gössl«, obwohl ich diesen Menschen noch nie persönlich getroffen habe. (Wer kennt heutzutage schon die eigenen Nachbarn?)

Aber seitdem frage ich mich ab und an, wer er wohl ist und wie sein Leben so läuft. Und stelle es mir herrlich unaufgeregt vor. Ich stelle mir vor, er wäre der gewöhnlichste Mensch der Welt und wie mein Leben wohl laufen würde, wäre ich ein bisschen mehr wie er. Und dann schreibe ich Gedichte darüber, über alternative Realitäten und Grammatik und den verheißungsvollen Konjunktiv – der so schön wäre, wenn es ihn nur geben würde.

Simon

Auf meinem Heimweg von 15 Terminen

und die Energie beinah aufgebraucht,

spuckt mein Handy nach 15 Gesprächen

eine letzte Verkehrsinfo aus: »15 Minuten bis Simon Gössl«.

Und ich weiß nicht, wer Simon Gössl ist.

Aber vielleicht wohnt er zwei Türen weiter

und lebt ein besseres Leben als ich.

Und ich weiß nicht, wieso mein Smartphone denkt,

dass ich zu Simon Gössl fahr,

aber vielleicht ist es einfach smarter als ich

und kennt Simon Gössls Potential.

Und während ein Hollywoodspielfilm

meinen müden Geist betüdelt

und während ich von meinem Leben gebeutelt

auf meiner Couch vegetier,

erwisch ich mich,

wie ich plötzlich über Simon Gössl sinnier.

Denn zwei Türen weiter in meinem Konjunktiv-Leben

wär ich gerade dabei, eine Party zu geben.

Mit Freund*innen, die meinen Kühlschrank plündern

und sich in meinem Urlaub um meine Pflanzen kümmern.

Was auch immer das für Leute wären …

Im Hier und Jetzt und meinem richtigen Leben

sind meine Pflanzen hingegen

immer schon eher kross gewesen – oder aus Plastik.

Müde, wie ich es jeden Tag bin.

Zu müde, um eine Party zu schmeißen

und nicht nur im Auftrag der Kunst zu verreisen.

Und mein Konjunktiv-Ich läge auf Bali am Strand,

während mein Ich-Ich mit einem Stück Brot in der Hand

das bekommt,

was einem Urlaub in seiner Welt

noch irgendwie am Nächsten kommt.

Also:

Montag früh, nach 24 Stunden Dienst;

Frühstück in der Badewanne

mit Kaffee aus der Thermoskanne und zweimal schon fast elendig ertrunken,

weil vor Müdigkeit beinah

in der Wanne versunken.

(Ich wünschte wirklich, das wär ein Witz.)

Es schwimmen dann immer

so kleine Brotkrumen im Wasser,

die so gatschig werden

und dann in meinem Bauchnabel versinken.

Und das würd ich ja dann eigentlich ekelhaft finden,

wenn ich nicht die Aufnahmefähigkeit einer Kassette

mit raushängender Tonspur hätte.

Aber Simon

sitzt um die Zeit schon

mit einer Tschick

bei seiner ersten Kaffeepause

in einem Büro, in dem es sich ab 9 Uhr schon schickt,

den Leuten zum Gruß eine schöne Jause ´

zu wünschen.

»Mahlzeit, Mahlzeit …«

Hat noch nicht mal so lang gearbeitet,

wie es zur Jause noch Stunden sind,

aber »Mahlzeit!«,

weil einen schönen Tag wünscht er dir nicht!

Das wär zu lang

und hätte zu wenig mit Essen zu tun.

Und das wär vielleicht selbst meinem Konjunktiv-Wesen

schon nach der ersten Woche zu viel gewesen.

Aber Simon Gössl hat so ein geregeltes Leben,

hat seine Work-Life-Love-Balance so richtig im Griff,

das Schiff seines Lebens

im sicheren Hafen,

während ich versuche, montags

beim Frühstück in der Badewanne

nicht einzuschlafen –

und versehentlich zu sterben.

Oh, Simon!

Du Nemesis meines Lebens,

du Konjunktiv in meiner Welt voller Ausrufezeichen!

Bist du die Fragen, die ich nie wagen

würde, mir zu stellen –

was wäre gewesen und was wäre, wenn …?

Wenn ich ein anderes Leben zu leben begonnen hätte

oder vor zehn Jahren anders abgebogen wär,

oder wenn ich zum Beispiel Henriette geheißen hätte,

dann wär mein Leben auf eine andere Art schwer

gewesen.

Wer weiß.

(Weil Kinder zum Beispiel gemein sind.

Und Henriette zu lustig klingt,

um keine blöden Witze darüber zu reißen.)

Und weil es doch immer heißt,

dass ein Schmetterlingsflügelschlag

eine ganze Welt verändern kann.

Und wenn das stimmt

und vielleicht gerade eine Raupe weiter

an ihrem Seidengespinst spinnt,

dann ändert sich womöglich morgen ein Leben

und wo anders bliebe nichts mehr, wie es war,

und im Haus neben

meinem lebte ein Mann,

dem ich ein bisschen ähnlich sein könnte.