Chassidismus - Susanne Talabardon - E-Book

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Susanne Talabardon

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Beschreibung

Jüdisches Denken Susanne Talabardon zeichnet die Entstehung, Entwicklung und Wirkung einer der gegenwärtig bedeutendsten jüdischen Strömungen nach, die vor allem in den USA und Israel das Profil des sehr traditionell verfassten Judentums prägt. Sie präsentiert den derzeitigen Forschungsstand zur Genese einer von der Kabbala inspirierten Bewegung.

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Susanne Talabardon

Chassidismus

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

Vorwort1. Warum es so schwierig ist, den osteuropäischen Chassidismus zu beschreiben1.1. Im Schatten der Aufklärung1.2. Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung1.3. Die zweite Generation von Historikern des Chassidismus1.4. Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus1.5. Die gegenwärtige Forschungslandschaft2. Chassid und Zaddik: Thema und Variationen in der jüdischen Tradition2.1. In der Epoche des Zweiten Tempels (4. Jh. BCE bis 1. Jh. CE)2.2. In der rabbinischen Literatur (2.–7. Jahrhundert CE)2.3. Im mittelalterlichen Aschkenas2.4. In der philosophischen und ethischen Literatur des Mittelalters2.5. In der kabbalistischen Literatur2.6. Bei den Kabbalisten von Zefat/Safed3. Die Vorgeschichte: Jitzchak Luria und die Chassidim ‚alter Schule‘3.1. Die Verbreitung der lurianischen Kabbala3.2. Die Übernahme von Riten der Gemeinschaft von Zefat3.3. Ba’alé Schem und die praktische Kabbala3.4. Der Begründer des Chassidismus als Ba’al Schem4. Die Erste Generation: Der Ba’al Schem Tov und sein Kabbalistenzirkel (bis 1760)4.1. Hagiographie mit FußnotenExkurs: Biographische Rekonstruktionen aus hagiographischen Legenden4.2. Vom Leben des Israel ben Eli’eser4.3. Der etablierte Mystiker: In MiędzybożExkurs: Konkurrierende kabbalistische Studienzirkel im Umfeld des Besch“t4.4. Die Lehre des Ba’al Schem Tov4.5. Kontrastprogramm: Schabtai Zvi (1626–1676) und seine Nachfolger4.6. Neuansätze in der Lehre des Ba’al Schem Tov5. Jakob Josef ben Zvi ha-Kohen Katz von Połonne: Der erste Theoretiker der neuen Strömung5.1. Das Leben des Jakob Josef von Połonne5.2. Kabbalistische Gesellschaftskritik: Das Konzept des Jakob Josef5.3. Der Zaddik5.4. Die Lehre vom Abstieg des Zaddik5.5. Die Einheit der Schöpfung als Ziel der Geschichte6. Die Zweite Generation: Dov Ber, der Große Maggid6.1. Das Leben des Dov Ber von Międzyrzecz6.2. Alles und Nichts: Die Lehre des Großen MaggidExkurs: Lurianische Kabbala6.3. Vom Ba’al Schem Tov zum Großen Maggid: Wandel und Kontinuität7. Die Dritte Generation: Die Schüler des Großen Maggid als Zaddikim (bis 1815)7.1. Der Chassidismus in Polen und Galizien7.2. Die chassidischen Zentren in Weißrussland und Litauen7.3. Zaddikim der dritten Generation in Wolhynien und Podolien7.4. Ausblick8. Gewichtige Gegenspieler: Der Gaon von Wilna und die Gegner des Chassidismus8.1. Der Gaon von Wilna und die frühen Mitnagg’dim8.2. Die ersten antichassidischen Sendschreiben8.3. Die Phase der aktiven Verfolgung des Chassidismus in Litauen8.4. Die Angriffe der Maskilim8.5. Die Reaktion der chassidischen Führung auf die Mitnagg’dim9. Keines Meisters Schüler: Nachman von Brazlav (1772–1810)9.1. Einzigartig wider Willen: Das Leben des Nachman von Brazlaw9.2. Zaddik ha-Dor9.3. Der Gottesdienst in Einfachheit: Nachman als Lehrer9.4. Eine letzte Landnahme: Uman10. Die Schüler der Schüler: Der Chassidismus der Höfe und Dynastien (bis ca. 1880)10.1. Der Chassidismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts10.2. Przysucha: Der Weg der polnischen Zaddikim10.3. Chabad-Lubawitsch – Die Erben des Schne’ur Salman10.4. Die „königlichen“ Höfe Podoliens und Wolhyniens10.5. Die beginnende Krise des Chassidismus11. Zwischen der Alten und der Neuen Welt. Das Ende des osteuropäischen Chassidismus (bis 1945)11.1. Die Pogrome von 1881–1884 und der Beginn der Auswanderung11.2. Die Rebbes von Ger (Góra Kalwaria)11.3. Der Erste Weltkrieg und die revolutionären Wirren in Russland11.4. Die Rebbes von Lubawitsch11.5. Schoa12. Chassidismus nach der Schoa12.1. Brooklyn: Osteuropa in der Neuen Welt12.2. Sehnsucht nach dem Moschiach: Der Sibenter Rebbe und die neue Chabad12.3. Kontrapunkt: Die Satmar-Chassidim12.4. Der Chassidismus in Israel12.5. Aus den Neuen Welten in die Alte und zurück13. Wirkungen des Chassidismus in der westlichen Welt13.1. Chassidismus in der westlichen Welt13.2. Neochassidismus: Martin Bubers Versuch zur Rettung des westeuropäischen Judentums13.3. ‚Neo-Chassidismus‘ und Hippie-Kultur13.4. Wirkungen des ChassidismusGlossarOrte in Ost(mittel)europaAbbildungsverzeichnisLiteraturverzeichnis1. Quellen2. SekundärliteraturPersonenregisterSachregister
[Zum Inhalt]

|1|Vorwort

Diese Einführung in ‚den Chassidismus‘ kommt in mancherlei Beziehung viel zu früh. Die moderne Forschung zu jener vielgestaltigen, dynamischen jüdischen Strömung steckt noch in ihren Anfängen. So sind zwar außerordentlich tragfähige und teilweise umfassende historische und religionsgeschichtliche Arbeiten zu den frühen chassidischen Meistern entstanden, zu bemerkenswerten späteren Entwicklungen existieren jedoch allenfalls Einzelstudien. Manche Region, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts bedeutende chassidische Gruppierungen beheimatete – man denke an das slowakisch-ungarische Grenzgebiet oder Bessarabien – hat bisher kaum systematische Beachtung erfahren. Einen wirklichen Überblick über die höchst verschiedenfarbigen Gemeinschaften und ihre theoretischen Konzepte, inklusive ihrer Entstehungsbedingungen oder der Wechselwirkungen zwischen ihnen, kann derzeit eigentlich niemand wissenschaftlich verantwortlich vermitteln. Das vorliegende Buch kann daher höchstens als deskriptive Momentaufnahme einer baulichen Struktur gelten, deren Konstruktionspläne noch nicht bekannt sind.

Andererseits erscheint es für den deutschen Sprachraum überfällig, eine auf modernen Forschungen basierende Übersicht zur Geschichte des Chassidismus anzubieten. Trotz grundlegender Arbeiten deutscher Judaisten wie Karl Erich Grözinger oder Michael Brocke ist das Bild jener osteuropäischen Reformbewegung in der hiesigen Öffentlichkeit noch weithin geprägt von den romantischen Entwürfen Martin Bubers (1878–1965). In der Tat spielte der Religionsphilosoph eine entscheidende Rolle dabei, den Westen Europas auf den Chassidismus aufmerksam zu machen. Dass Bubers Hörer und Leser es letztlich allerdings mit einer von ihm selbst transformierten und den westlichen Bedürfnissen angepassten Form jüdischer Theosophie und Lebensweise zu tun bekamen, ahn(t)en die meisten nicht.

Auch das zweite, im deutschen Sprachraum weit verbreitete Referenzwerk, die zweibändige „Geschichte des Chassidismus“ von Simon Dubnow, entspricht in vielerlei Hinsicht nicht dem gegenwärtigen Forschungsstand. Das gilt insbesondere für dessen Grundannahme, der Chassidismus sei etwa ab dem Jahre 1815 zu einem „Zaddikismus“, einer blindwütigen, von abergläubischen Vorstellungen gespeisten Verehrung von chassidischen Heiligen degeneriert. Krisen- und Katastrophentheorien, die bis in die achtziger |2|Jahre des 20. Jahrhunderts die Forschungslandschaft prägen sollten, werden heute kaum mehr vertreten. Wer indessen derlei neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in deutscher Sprache rezipieren möchte, ist in der Regel an Essays oder Aufsätze gewiesen, die nur Teilaspekte des Gesamtbildes in neuer Perspektive vermitteln können.

Angesichts dieser Diagnose könnte man den Versuch einer umfassenden Darstellung des osteuropäischen Chassidismus (in deutscher Sprache) legitimieren. Es ist womöglich besser, etwas Vorläufiges zur Kenntnis zu nehmen, als sich mit veralteten oder nicht als wissenschaftliche Darstellung gedachten Auskünften zum Thema zufrieden zu geben.

Leider müssen wir diesen ersten Warnhinweisen weitere Einschränkungen folgen lassen. Die vorliegende Einführung hat aus der Vielzahl der Phänomene, Gruppen und Strömungen eine Auswahl treffen müssen, die sich vor allem an der vorfindlichen Forschungslage und der Bedeutung einiger Spielarten des Chassidismus für die Gegenwart orientiert. Manche Regionen, die insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert (vor der Schoa) bedeutende chassidische Dependancen aufzuweisen hatten, wie vor allem Ungarn, die Bukowina und Moldawien, finden sich im Folgenden kaum berücksichtigt. Gleiches gilt für den Chassidismus in Westeuropa nach 1945.

Etliche Probleme bereiteten auch die geographischen Bezeichnungen für Orte und Regionen in Ost- und Mittelosteuropa. Die häufig wechselnden Zugehörigkeiten bestimmter Landschaften zu polnischen, russischen oder österreichischen Herrschaftsräumen, manch kurzes nationalstaatliches Intermezzo, die zumeist multiethnische Besiedlung, die späte Herausbildung von Namen für Territorien und für deren Bewohner (man denke nur an „Ukraine“ oder „Weißrussland“), sorgen für konstante Verwirrung. Je nachdem, ob man eine polnische, russische, hebräische oder jiddische Quelle nachschlägt, differieren die Bezeichnungen für ein und dieselbe Stadt- oder Landgemeinde erheblich. Die Notlösung für die folgende Darstellung besteht darin, in der Regel die polnische Bezeichnung für einen Ort zu verwenden, ungeachtet etwaiger Herrschaftswechsel in späterer Zeit. Für die chassidischen Gruppen und deren Rebbes, die sich nach einer bestimmten (galizianischen, podolischen, wolhynischen) Lokalität benannten, wurde hingegen – so der Name etabliert ist – auf die zumeist dem Jiddischen entlehnte Bezeichnung zurückgegriffen (etwa: Lubawitscher, statt Ljubavicher). In einer Synopse am Schluss des Buches kann man sich über die verschiedenen Namensvarianten in anderen gängigen Sprachen informieren. Die wenigen in deutschem Gebrauch fest verankerten Bezeichnungen (zum Beispiel Warschau, Wilna oder Lemberg) wurden beibehalten.

|3|Noch ein wenig komplexer gestaltete sich die Suche nach praktikablen Benennungen der regionalen Schauplätze des osteuropäischen Chassidismus. Hier hat man in der Regel die Wahl zwischen historischer Korrektheit (Podolien, Wolhynien, Galizien) – wobei kaum jemand diese Landschaften heutzutage noch orten kann – oder Verständlichkeit bei gleichzeitig schwerem Anachronismus (etwa Ukraine oder Weißrussland). Eine wirklich befriedigende Lösung, so muss die Verfasserin eingestehen, wurde nicht gefunden. Der Kompromiss besteht darin, wo immer möglich die historisch korrekten Termini zu verwenden und dem Buch mehrere Landkarten beizufügen. Schwierigkeiten bereitete insbesondere das Territorium zwischen Litauen und dem südlich davon gelegenen Gebiet Podolien. Es ist für die Entwicklung des Chassidismus essentiell, hatte aber im 18. und 19. Jahrhundert keinen allgemein anerkannten Namen. Ich habe es hin und wieder als Weißrussland bezeichnet, wohl wissend, dass es nicht wirklich stimmt.

Vom Chaos bei Personennamen und den vielfältigen Transkriptionstücken will ich gar nicht erst anfangen. Auch hier häufen sich Kompromisse. Die Transkription hebräischer, jiddischer und russischer Begriffe und Bezeichnungen orientiert sich an deutschen Ausspracheregeln und erhebt nicht den Anspruch, eindeutig zu transliterieren.

Für Leser/innen, die mit der jüdischen Tradition noch nicht so vertraut sind, empfiehlt es sich, das zweite Kapitel der Darstellung zunächst zu überspringen. Es enthält eine sehr kurzgefasste Beschreibung der Entwicklung der Begriffe Chassid und Zaddik im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte.

Ohne die Hilfe und die Mitwirkung etlicher Freunde und Kollegen wäre das vorliegende Buch vermutlich nichts geworden. Ich danke von ganzem Herzen meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Karl Erich Grözinger, für allerlei fachliche Unterstützung und seinen steten moralischen Beistand, Herrn Raphael Pifko für Losch’n-Hilfe und guten Rat und Herrn Dr. Felix Schnell für seine äußerst kundige Unterstützung bei der Navigation durch osteuropäische Geschichte und Geographie. Meine Studierenden in Bamberg waren dazu bereit, sich lesenderweise durch Probekapitel und hörenderweise durch eine Vorlesung über den Chassidismus zu quälen, und halfen mir, klarer zu denken, indem sie meine Ausführungen mitunter als zu kompliziert brandmarkten. Annette Strobler, der eigentliche spiritus rector meiner Professur, half mir beim Korrekturlesen – aus reiner Freundlichkeit. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt!

(Alle verbleibenden Fehler und Unzulänglichlichkeiten sind natürlich von mir selbst zu verantworten.)

[Zum Inhalt]

|5|1. Warum es so schwierig ist, den osteuropäischen Chassidismus zu beschreiben

Dan, Joseph, A Bow to Frumkian Hasidism, Modern Judaism 11, 1991, S. 175–193.

Davidowicz, Klaus, Gerschom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Mißverständnisses, Neukirchen-Vluyn 1995, besonders S. 104–143.

Elior, Rachel, The Mystical Origins of Hasidism, Oxford, Portland 2008, besonders S. 195–205.

Etkes, Immanuel, The Study of Hasidism: Past Trends and New Directions, in: Rapoport-Albert, Ada (Hg.), Hasidism Reappraised, London, Portland 2008, S. 447–464.

Grözinger, Karl Erich, Chassidismus und Philosophie – Ihre Wechselwirkung im Denken Martin Bubers, in: Licharz, Werner/Schmidt, Heinz (Hg.), Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Bd. 1: Dialogik und Dialektik, Frankfurt/M. 1989, S. 281–294.

Schatz-Uffenheimer, Rivka, Hasidism as Mysticism: Quietistic Elements in Eighteenth Century Hasidic Thought, Princeton, Jerusalem 1993, S. 15–51.

Der Chassidismus, der im Ostmitteleuropa des 18. Jahrhunderts seine historischen Wurzeln hat, gehört heute zu den einflussreichsten jüdischen Strömungen. Die Zahl derjenigen, die sich zu einer seiner zahlreichen Gruppierungen zählen, steigt beständig. Die Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und das gleichzeitige Beharrungsvermögen, die diesen haredischen (‚orthodoxen‘) Zweig des Judentums kennzeichnen, erstaunen so manchen Beobachter. Seit dem erstmaligen Auftreten seiner ungewöhnlichen sozialen Struktur und seiner auffälligen spirituellen Ausdrucksformen fragen sich sowohl Sympathisanten als auch Gegner, Zeitzeugen und Wissenschaftler, weshalb sich der osteuropäische Chassidismus so geschwind verbreitete und warum er bei weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung Podoliens, Wolhyniens, Galiziens und Kleinpolens derartige Erfolge verzeichnete.

1.1.Im Schatten der Aufklärung

Die ersten, die sich dem Phänomen Chassidismus gewissermaßen als Außenbeobachter widmeten und eine westeuropäisch geprägte Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen suchten, waren Maskilim – von der jüdischen Aufklärung (השכלה/Haskala) geprägte Intellektuelle |6|wie Josef Perl (1773–1839) oder Isaak Ber Levinsohn (1788–1860). Josef Perl und Isaak LevinsohnFür diese Männer, die sich dem Kampf um die moderne Bildung und Emanzipation der osteuropäischen Juden verschrieben hatten, stellte sich der Chassidismus als Rückfall in äußerste Rückständigkeit und als ein Paradebeispiel für denjenigen Obskurantismus dar, den man unbedingt bekämpfen wollte. In Denkschriften an die christliche Obrigkeit – wie Perls „Uiber das Wesen der Sekte der Chassidim. Aus ihren eigenen Schriften gezogen“ (1816) – und in zahlreichen Satiren und Parodien (vgl. die דברי צדיקים/Divré Zaddiqim; „Worte der Gerechten“, die Perl gemeinsam mit Levinsohn verfasste) attackierten sie die sich weiter ausbreitende Bewegung.

Heinrich GraetzEine ähnliche Haltung eignete auch dem großen Historiker Heinrich Graetz (1817–1891), der in seiner berühmten „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (11 Bände, 1853–1875) „das neue Chaßidäertum“ (Bd. 11, S. 95) geradezu als Trotzreaktion der ‚Altfrommen‘ gegen das vernünftige Denken Moses Mendelssohns (1729–1786) deutete.

Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch noch heute auf dunkeln Wegen fort. Nur wenige Umstände, die zu ihrer Entstehung und Fortpflanzung beigetragen haben, sind bekannt. Ihre ersten Begründer waren Israel aus Miedziboz (geb. 1698, starb 1. Juni 1759) und Beer aus Mizricz (geb. um 1700, starb 1772). Der erstere erhielt von seinen Verehrern und Gegnern in gleicher Weise den Beinamen […] Baal-Schem oder Baal Schemtob und in der damals beliebten Abkürzung Bescht. So unschön wie der Name Bescht, war das Wesen des Stifters und der Orden, den er ins Leben gerufen hat. (Graetz, ibid., S. 96; Hervorhebungen im Original)

Simon DubnowEtwas differenzierter, aber dennoch von der aufklärerischen Gegnerschaft zu „Wunderglauben“ und „Phantasmen“ (Bd. 1, S. 23) bestimmt, beschrieb Simon Dubnow (1860–1941) in seiner „Geschichte des Chassidismus“ (Berlin 1931) das nämliche Phänomen. Das zweibändige Werk, während seines Berliner Exils vollendet, wird noch heute viel rezipiert. Es ist die erste Arbeit, die tatsächlich auf umfangreichem Quellenstudium fußt. Andererseits sah sich der Historiker Dubnow, der damaligen Interpretation von Wissenschaft folgend, in einer Doppelrolle als „Forscher und Richter“ (S. 12), was den Wert seiner Darstellung zuweilen beeinträchtigt. So nahm er den osteuropäischen Chassidismus als eine nach einigen hoffnungsfrohen Ansätzen degenerierte Unternehmung wahr. Während er den charismatischen Führungsgestalten (צדיקים/Zaddikim) der ersten Generationen noch kreative und innovative Ansätze zugestand, betrachtete er die Strömung ab etwa 1815 wegen des „Zaddikismus“, dem alle positiven Ansätze absorbierenden Kult um den Zaddik, als im Niedergang begriffen.

|7|1.2.Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung

Ein kollektiver Hang zum Obskurantismus konnte jedoch die Verbreitung des osteuropäischen Chassidismus nicht befriedigend erklären. Die Doyens seiner wissenschaftlichen Erforschung wie Simon Dubnow, Benzion Dinur (1884–1973) oder Raphael Mahler (1899–1977) interpretierten daher die Entstehung und den Erfolg des Chassidismus als ein Krisenphänomen. Dubnow erblickte im sozial-ökonomischen Niedergang der jüdischen Gemeinden innerhalb der polnischen Adelsrepublik im Gefolge der Chmielnicki-Massaker 1648/49 eine wesentliche Ursache für den Erfolg der chassidischen ‚Erweckung‘:

Der Chassidismus stellt als Ganzes betrachtet eine der bedeutendsten und originellsten Erscheinungen nicht allein in der Geschichte des Judentums, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Religionen überhaupt dar. […] Mit den Mitteln mächtiger seelischer Beeinflussung gelang es dem Chassidismus, den Typus eines Gläubigen zu schaffen, der die Innigkeit des Gefühls höher als die Werkheiligkeit, die Gottseligkeit und religiöse Inbrunst höher als Spekulation und Thorastudium stellte. […] Zugleich bot aber der Chassidismus ein Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte […]. Zwar dachte der Chassidismus nicht im entferntesten daran und konnte auch nicht daran denken, die Entrechtung und Knechtung der Juden zu beseitigen, gleichwohl erreichte er kraft der von ihm ausgehenden psychischen Einwirkung, daß seine Anhänger für das Joch der Sklaverei und des Galuth [des Exils] weniger empfindlich wurden. (Dubnow, Geschichte, Bd. 1, S. 67–68; Hervorhebung im Original)

Benzion DinurDer Zionist Benzion Dinur betrachtete den (vermeintlichen) Niedergang des polnischen Judentums hingegen eher als eine politische Führungskrise mit sozialen Auswirkungen. Das Scheitern der messianischen Hoffnungen, die sich auf Schabtai Zvi (1626–1676) gestützt hatten, sowie der Untergang der überregionalen jüdischen Selbstverwaltung (ועד ארבעת ארצות/Wa’ad Arba’at Arazot; Vier-Länder-Kongress) im Jahre 1764/65 hätten das Vertrauen in die Führungsschicht nachhaltig erschüttert. Der Chassidismus präsentierte sich ihm als eine Strömung, welche die messianischen Energien der jüdischen Bevölkerung und deren Erwartungen an die eigene Elite in neue Bahnen lenkte.

Raphael MahlerAuch der (marxistisch geprägte) Raphael Mahler beschrieb jene osteuropäische Reformströmung als ursprünglich sozial orientierte Opposition, die den jüdischen Massen die Möglichkeit zum Widerstand gegen die verbreitete ökonomische Unterdrückung eröffnete. Erst nachdem sich die neue chassidische Führung mit ihren einstigen Gegnern (Mitnagg’dim), der traditionell-rabbinischen Elite, zusammengetan habe, um mit ihnen gemeinsam die Haskala zu |8|bekämpfen, habe der Chassidismus seine sozial-revolutionäre Ausprägung verloren (vgl. Hasidism and the Jewish Enlightenment).

1.3.Die zweite Generation von Historikern des Chassidismus

Die von Dubnow, Dinur und Mahler gebotene monokausale Erklärung für die Entstehung einer derart tiefgreifenden Reformströmung als Resultat einer sozial-ökonomisch bzw. politisch konnotierten Krise wurde durch eine zweite Generation von Gelehrten, die sich dem osteuropäischen Chassidismus widmeten, heftig kritisiert. Zu jenen Wissenschaftlern gehören an erster Stelle Jacob Katz, Jeschajahu Schachar (1935–1977), Schmu’el Ettinger und Israel Halperin (1910–1971).

Jacob KatzJacob Katz (1904–1998) beschrieb in seiner einflussreichen Studie „Tradition and Crisis“ (erstmals im Jahre 1958 auf Hebräisch veröffentlicht) Chassidismus und Haskala als wesentliche Wendepunkte der traditionellen jüdischen Gesellschaft. Die Auffassung, der Chassidismus ließe sich auf einen wirtschaftlichen Niedergang oder auf die Unzufriedenheit der unterdrückten jüdischen Bevölkerungsmehrheit mit ihren Lebensumständen – also wesentlich auf äußere Umstände – zurückführen, könne einen so weit reichenden innerjüdischen Umbruch nicht erklären. Katz diagnostizierte eine Erosion traditioneller Strukturen im Innern des polnisch-litauischen Judentums, die er als eine Schwächung der Bindung des Individuums an kommunale Institutionen und deren Repräsentanten beschrieb. Allerdings, so müsse einschränkend festgehalten werden, könne ein Verlust an innerem Zusammenhalt zwar den Erfolg des Chassidismus in bestimmten Regionen Ost- und Ostmitteleuropas verstehen helfen, nicht aber die Entstehung des Chassidismus als solchem.

Wir sehen uns daher zu dem Schluß gezwungen, daß die neue Bewegung des Chassidismus in der Tat dank bestimmter sozialer Umstände entstehen und auf der Grundlage früherer religiöser Veränderungen und Prozesse wachsen und gedeihen konnte, was ihre Inhalte und Werte, ihr Erscheinungsbild und ihre historische Entwicklung betrifft, jedoch etwas Neues darstellte. Alle vorherigen Entwicklungen sollten allenfalls als konstituierende oder stimulierende Elemente der Bewegung verstanden werden. […] Die chassidische Bewegung läßt sich am besten mittels eines Vergleichs mit ähnlichen geschichtlichen Erscheinungen verstehen, insbesondere mit den Ausbrüchen charismatischer Religiosität, deren Kraft und Autorität auf das Bewußtsein einer unmittelbaren Berührung mit der Sphäre des Göttlichen zurückgehen. (Katz, Tradition, S. 231)

|9|Für Katz präsentierte sich der osteuropäische Chassidismus als eine spirituelle Revolution, die auf einem „Ausbruch“ an charismatischen Führungspersönlichkeiten basierte. Diese, die Zaddikim, hätten den bisher marginalisierten jüdischen Massen einen institutionellen Rahmen geboten, durch den sie Anteil an der spirituellen Nähe des Charismatikers zum Ewigen erlangten. Infolge dieser neuen Konstellation sei es insofern zu einer „doppelten Revolution“ gekommen, als dass die neuen religiösen Erfahrungen zu tiefgreifenden Änderungen der Sozialstruktur geführt hätten (S. 242–245).

Schmu’el EttingerSchmu’el Ettinger (1919–1988) betonte in seinen zahlreichen Essays zum Thema (vgl. On the History of the Jews in Poland and Russia. Collected Essays, Jerusalem 1994) hingegen eher die Kontinuität und Kooperation zwischen den Zaddikim und dem kommunalen Establishment. Er vermochte in den Aktionen der chassidischen Führungspersönlichkeiten und ihrer Anhänger weder einen revolutionären Bruch, noch eine subversive, die traditionelle Gesellschaft unterminierende Absicht zu erkennen.

1.4.Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus

Die Zurückweisung monokausaler Erklärungsmuster für die Entstehung und den Erfolg des osteuropäischen Chassidismus lenkte die Aufmerksamkeit auf die spirituellen und theologischen Eigenheiten dieser komplexen jüdischen Strömung. Diese waren offensichtlich stärker in Betracht zu ziehen, als es in der frühen Phase ihrer Erforschung nötig schien.

Wie schon aus den Erklärungsansätzen des Jacob Katz ersichtlich, verschiebt sich die Perspektive erheblich, sobald man die Entstehung des Chassidismus unter religionsgeschichtlichen oder theologischen Prämissen beobachtet.

Martin Buber und Gershom ScholemDie ersten maßgeblichen wissenschaftlichen Versuche, den osteuropäischen Chassidismus primär unter dem Blickwinkel seines spirituellen Profils zu beschreiben, mündeten in eine heftige Auseinandersetzung zwischen Martin Buber (1878–1965) und Gershom Scholem (1897–1982) um die bestimmenden Charakteristika jener Bewegung. Buber meinte, vor allem in seinen theoretischen Schriften zum Thema, einen deutlichen Bruch zwischen der von ihm als „gnostisch“ apostrophierten Kabbala und dem Chassidismus wahrnehmen zu können. Scholem hingegen definierte die osteuropäische Bewegung als ebendies: als letzte Phase der des Öfteren gnostische Züge aufweisenden jüdischen Mystik. An jenen beiden einflussreichen Denkern lässt sich nachgerade idealtypisch |10|beobachten, wie methodische Zugangsweisen und inhaltliche Prämissen das Ergebnis einer Untersuchung präjudizieren.

Buber näherte sich dem Chassidismus als „rezipierender Erbe“ (Grözinger, Chassidismus, S. 281), indem er sich gewissermaßen selbst in diese Geschichte hineinschrieb – Scholem sollte dies als „Neochassidismus“ kritisieren. Scholem hingegen untersuchte jene osteuropäische Strömung mit den kritischen Methoden eines Religionshistorikers und unterstellte der Position seines Kontrahenten Buber einen (wissenschaftlichen) Anspruch, den jener gar nicht erhoben hatte.

Die Kontroverse, welche Bubers letzte Lebensjahre überschattete, ist forschungsgeschichtlich längst zugunsten Gershom Scholems entschieden. Insofern Martin Buber jedoch, vor allem für ein deutschsprachiges und mehrheitlich nichtjüdisches Publikum, noch immer als eine Art autoritativer Interpret des Chassidismus gilt, erscheinen einige Bemerkungen zu jenem Konflikt angezeigt.

Martin BuberMartin Buber verbrachte seine frühen Jahre bei seinem Großvater Salomon Buber (1827–1906), dem berühmten Erforscher des rabbinischen Midrasch und Sammler von chassidischen Traditionen. Als Kind besuchte er mehrfach die kleine Stadt Sadagóra. Die prunkvolle Residenz der dortigen Zaddikim und das fürstliche Gepräge ihrer Bewohner befremdete ihn (vgl. Mein Weg, S. 183). Seine spätere Faszination für den Chassidismus dürfte Buber wesentlich westeuropäischen Impulsen verdanken, die er als Student in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin empfing: Sie könnte mit der im deutschen säkularen Judentum entstandenen Sehnsucht nach ‚authentischem Judentum‘ zu tun haben, wie sie zur Jahrhundertwende deutlich wahrnehmbar war. Seine ‚Entdeckung‘ des Chassidismus stützt sich denn auch nicht auf Begegnungen mit ‚real existierenden‘ Anhängern der Strömung, sondern auf romantisierende Darstellungen wie die von Jitzchok Leib Perez (Ch’sidish, 1908; Folkstimlikhe geshikhten, 1909) oder Micha Josef Berdiczewsky (Die Seele der Chassidim, 1899), die im Chassidismus eine Rebellion gegen das traditionelle Establishment sahen.

So erstaunt es nicht, dass Buber insbesondere die Erzählungen über die Zaddikim für die maßgebliche Quelle hielt, die das Wesen jener inspirierenden Strömung zum Ausdruck brachte. Zahlreiche seiner Werke zum Chassidismus sind daher ebendies: Nacherzählungen und Adaptionen von Legenden, wie er sie auswählte und durch das „Sieb“ seines Herzens rinnen ließ (Buber, Antwort, S. 632).

Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen den Ringen. Ich sage noch einmal die alte Geschichte, und |11|wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde. (Buber, Legende des Baalschem, S. II)

Für Buber enthielten jene Erzählungen die Essenz des Chassidismus. Die umfangreichen und schwergewichtigen theoretischen Abhandlungen der Zaddikim waren seiner Ansicht nach zu sehr der Tradition verhaftet und spiegelten das wirklich Neue jener Strömung nicht:

Weil dem so ist, weil der Chassidismus in erster Reihe nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens bedeutet, ist unsere Hauptquelle zu seiner Erkenntnis seine Legende, und erst nach ihr kommt seine theoretische Literatur. Diese ist der Kommentar, jene der Text, wiewohl ein in äußerster Korruptheit überlieferter, in seiner Reinheit unwiederherstellbarer. Es ist töricht einzuwenden, die Legende übermittle uns nicht die Wirklichkeit des chassidischen Lebens. Natürlich ist die Legende keine Chronik, aber sie ist wahrer als die Chronik für den, der sie zu lesen versteht. (Buber, Die chassidische Botschaft, S. 35)

Gershom ScholemScholem, dem der religionsphilosophische und autobiographische Zugriff Bubers natürlich nicht entgangen war, sah sich trotzdem genötigt, den älteren Kollegen zu attackieren – eben weil dessen begeistertes Publikum annahm, er präsentiere ihm den authentischen Chassidismus. Der Religionshistoriker Scholem widersprach dem „Zaddik von Heppenheim“ (Scholem über Buber) methodisch und inhaltlich. Die Legende sei keinesfalls der theoretischen Literatur vorzuziehen, schon allein deswegen nicht, weil der von Buber so genannte „Kommentar“ den Erzählungen zeitlich deutlich voraufgeht (Scholem, Martin Bubers Deutung des Chassidismus, S. 177).

Wenn man indessen jene theologischen Abhandlungen, die Homilien und Kommentare der Zaddikim, einer Darstellung des Chassidismus zugrunde lege, gelange man notwendig zu einem völlig anderen Eindruck vom Wesen jener Bewegung:

Offensichtlich betrachtete Buber diese Quellen als viel zu abhängig von der älteren kabbalistischen Literatur, um als echt chassidisch angesehen werden zu können. Und diese Abhängigkeit springt in der Tat in die Augen. Viele von ihnen, darunter einige der berühmtesten chassidischen Bücher, sind vollständig in der Sprache der Kabbala geschrieben, und es ist ein tiefliegendes Problem der Forschung, genau zu bestimmen, worin eigentlich ihre Ideen von denen ihrer Vorgänger abweichen. (Scholem, Deutung, S. 178–179)

Folgerichtig sollte Scholem den osteuropäischen Chassidismus als „letztes Stadium“ der jüdischen Mystik beschreiben (Mystik, S. 356). Dem sich für Buber aus der Legende ergebenden zentralen Neuansatz, wonach der Hiatus zwischen der materialen Existenz im Diesseits und einer Sehnsucht nach einem transzendenten Jenseits |12|in eine umfassende Heiligung des Lebens hinein aufgehoben wird, konnte Scholem nur radikal widersprechen. Es sei eben gerade nicht die physische Wirklichkeit, auf die sich das Interesse der chassidischen Autoren richtete, sondern – wie ehedem – die Transzendenz, in die hinein sich die materiale Wirklichkeit letztlich auflöst.

In manchen Punkten waren die beiden jedoch einer Meinung: Sie deuteten die chassidische Reform vor dem Hintergrund des gescheiterten Sabbatianismus als einen Versuch, jedweden akuten Messianismus zu unterdrücken (Buber) bzw. messianische Konzepte zu „neutralisieren“ (Scholem). Des Weiteren stimmten sie darin überein, dass ein wesentliches revolutionierendes Element des Chassidismus in seiner Gemeinschaftsbildung zu sehen ist. In den Worten Scholems:

Was dem Chassidismus seine besondere Formung gegeben hat, war vor allem die Begründung einer religiösen Gemeinschaft […] In dem Moment, in dem der Mystiker aus seiner einsamen Erfahrung die Anregung und Berufung schöpfte, dieser Erfahrung im Leben seiner Gemeinde Dauer zu schaffen und zu dieser Gemeinde nun nicht in seinen Begriffen, sondern in den ihren zu sprechen unternahm, war der neue Ausgangspunkt gegeben, um den sich mystische Bewegung als soziales Phänomen kristallisieren konnte. […] Diese ganze Entwicklung findet ihren vornehmsten Ausdruck in der Geschlossenheit der individuellen chassidischen Heiligenfigur, die etwas durchaus Neues ist. Die Lehre ist hier ganz in Persönlichkeit verwandelt, und was dadurch an Rationalität verlorenging, wurde an Wirkungskraft gewonnen. (Scholem, Mystik, S. 375.377; Hervorhebungen im Original)

Jeschajahu Tishby und Joseph WeissDie durch Buber und Scholem aufgeworfene Frage nach dem spirituellen proprium des Chassidismus beschäftigte auch die nächste Generation der Forscher – repräsentiert durch die Scholem-Schüler Jeschajahu Tishby (1908–1992), Joseph Weiss (1918–1969), Rivka Schatz-Uffenheimer (1927–1992) oder Joseph Dan (geb. 1935). Die Versuche – insbesondere Tishbys und Weiss’ – griffen den Ansatz Scholems auf, das Spezifische jener osteuropäischen Strömung in vergleichender Abgrenzung von ihren Vorläufern, wie der lurianischen Kabbala oder der Bewegung um Schabtai Zvi zu formulieren. Für Scholem und Weiss vollzog sich die Herausbildung chassidischer Positionen vor allem in der Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sabbatianismus, wobei insbesondere dessen akut-messianische Prägung „neutralisiert“ (Scholem) worden sei. Jeschajahu Tishby, der den Chassidismus in eine enge Verbindung mit dem Denken des Kabbalisten Mosche Chajim Luzzato (1707–1746) brachte, konnte dieser These nicht viel abgewinnen.

Joseph Weiss und Rivka Schatz-UffenheimerInsbesondere im Werk der beiden Scholem-Schüler Weiß und Schatz-Uffenheimer zeichnete sich ein Trend ab, der die nachfolgenden |13|Forschungsanstrengungen prägen sollte: Beide wandten sich der Analyse einzelner chassidischer Meister, wie Dov Ber von Międzyrzecz (Weiss, Uffenheimer) oder Nachman von Brazlaw (Weiss), zu. Sie wollten durch eine methodische Untersuchung von deren Texten überhaupt erst die Voraussetzung für eine synthetisierende Darstellung der Gesamtströmung gewinnen. Darüber hinaus leisteten sie insofern Pionierarbeit, als dass sie ihren Blick auch auf spätere Exponenten des Chassidismus, wie Mordechai Josef Leiner von Iżbica (1800–1854), richteten. Nach den großen Überblicksdarstellungen wie derjenigen des Simon Dubnow hatten sich die Gelehrten nämlich Jahrzehnte lang vor allem mit den Gründungsvätern der Strömung befasst und deren weitere Entwicklung aus den Augen verloren.

Gedalja Nigal und Joseph DanAuf das Konto dieser Generation von Wissenschaftler/innen gehen zudem die ersten kritischen Editionen bedeutender chassidischer Werke. Dazu gehören, wiederum, Rivka Schatz-Uffenheimer mit ihrer Ausgabe des Hauptwerks des Dov Ber (מגיד דבריו ליעקב/Maggid Devaraw le-Ja’aqov) oder Gedalja Nigal (geb. 1927), der sowohl den נועם אלימלך /No’am Elimelekh des Elimelech von Leżajsk als auch zahlreiche bedeutende Sammlungen von chassidischen Erzählungen edierte. Die nach dem heftigen Streit zwischen Buber und Scholem gewissermaßen in Turbulenzen geratene Legendenliteratur erfuhr durch Gedalja Nigal (הסיפרת החסידית/Ha-Śipporet ha-chassidit, Jerusalem 1981) und Josef Dan ihre erste wissenschaftliche Würdigung. Insbesondere Dans Werke zur chassidischen ‚Novelle‘ (הנובילה החסידית/Ha-Novela ha-Chassidit, Jerusalem 1966) und zur Erzählung (הסיפור החסידי/Ha-Śippur ha-Chassidi, Jerusalem 1975) legten die Basis künftiger Forschung zum Thema.

1.5.Die gegenwärtige Forschungslandschaft

Der deutlich sichtbare Graben zwischen historischer und religionswissenschaftlicher Betrachtung des osteuropäischen Chassidismus hat sich trotz einiger Interferenzen und beiderseitiger Annäherungsbemühungen noch immer nicht geschlossen. Die einstmaligen Antagonismen zwischen beiden Forschungsfeldern sind jedoch überwunden.

Moshe Rosman und Gershon D. HundertDie bislang jüngste Phase der historischen Rückfrage nach den Ursachen des Chassidismus wurde wesentlich inspiriert durch das Ende des Kalten Krieges, da es westlichen Forschern möglich wurde, in vormals unerreichbare Archive der osteuropäischen Welt zu gelangen. Autoren wie Moshe Rosman (geb. 1949) oder Gershon D. Hundert (geb. 1946) konnten aufgrund der veränderten |14|Quellenlage zeigen, dass der sozial-ökonomische Niedergang der jüdischen Gemeinschaft nach den Chmielnicki-Massakern zur Zeit der Entstehung des Chassidismus längst überwunden war. Zudem verwarfen sie den Ansatz, die Protagonisten jener Strömung als Volkshelden zu zeichnen, die etwa aus den Reihen der verachteten jüdischen Massen emporgewachsen wären. Die Zaddikim gehörten vielmehr – wie ihre Gegner – der traditionell gebildeten gesellschaftlichen Elite an. Die sozial-romantischen Krisentheorien der ersten Forschergeneration können somit als widerlegt gelten.

Bereits die ersten wissenschaftlichen Darstellungen des Chassidismus konzentrierten sich zumeist auf dessen frühe Entwicklung; es dominierte die Auseinandersetzung mit dessen Gründungsfiguren wie dem Ba’al Schem Tov oder Dov Ber von Międzyrzecz. Umfassende historiographische oder religionsphänomenologische Werke – wie beispielsweise dasjenige Dubnows – waren die Ausnahme. In der gegenwärtigen Forschungslandschaft hat sich dieser Trend noch verstärkt. Sowohl im eher ‚historisch‘ arbeitenden, als auch im ‚religionswissenschaftlich‘ ausgerichteten Lager (deren Grenzen derzeit nicht mehr so strikt gezogen werden wie ehedem) versucht man sich durch Fall- und Regionalstudien sukzessive eine valide Basis für eine irgendwann einmal neu zu beginnende Gesamtdarstellung des überaus vielfältigen Phänomens zu erarbeiten. Einblicke in den gesamten Stand der Dinge lassen sich derzeit am ehesten durch Sammelbände zum Thema, wie dem von Ada Rapoport-Albert edierten ‚Hasidism Reappraised‘ gewinnen.

Gegenwärtige ForschungsfelderDie Erforschung des osteuropäischen Chassidismus hat sich vor allem in Israel, den USA und Großbritannien zu einem der innovativsten Bereiche der jüdischen (Religions-)Geschichte entwickelt. Vom sich rapide vergrößernden Kreis von interessanten Forschungsfeldern seien exemplarisch die folgenden genannt, die derzeit auch einem breiteren Publikum zugänglich sind:

|15|Historischer Kontext; Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Dynner, Men of Silk;

Hundert, Jews in Poland;

Rosman, Founder of Hasidism.

Wichtige Quellen in Übersetzung

Dan, Teachings (Anthologie);

Grözinger, Geschichten;

Green, Fire (Anthologie);

Green, Language;

Green, Menahem Mendel;

Lamm, Religious Thought (umfassende Anthologie);

Mark, Scroll of Secrets.

Einführungen und (umfangreiche) Lexikonartikel

Assaf, Hasidism;

Elior, Mystical Origins;

Idel, Hasidism.

Literaturgeschichte (chassidische Genres, Druckgeschichte)

Gries, Book;

Bartal, Imprint;

Nigal, Hasidic Tale;

Rapoport-Albert, Hagiography.

Chassidismus und konkurrierende Strömungen

Etkes, Gaon;

Nadler, Faith;

Wilensky, Polemics;

Wodziński, Haskalah and Hasidism.

Früher Chassidismus

Etkes, Ba’al Schem Tov;

Schatz-Uffenheimer, Hasidism [Dov Ber]; Dresner, The Zaddik [Jakob Josef].

Spirituelle Praxis

Jacobs, Everyday Life;

Jacobs, Hasidic Prayer;

Wertheim, Law and Custom.

[Zum Inhalt]

|17|2. Chassid und Zaddik: Thema und Variationen in der jüdischen Tradition

Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Teil 2: Vom Exil zu den Makkabäern, ATD Grundrisse zum Alten Testament, Bd. 8/2, Göttingen ²1992.

Becker, Michael, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, WUNT144, Tübingen 2002.

Grözinger, Karl Erich, Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik, Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt/M., New York 2005.

Marcus, Ivan G., Piety and Society: The Jewish Pietists of Medieval Germany, Leiden 1981.

Schäfer, Peter, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: Hengel, Martin/Heckel, Ulrich (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT58, Tübingen 1991, S. 125–175.

Schwartz, Seth, Imperialism and Jewish Society 200 B.C.E. to 640 C.E., Princeton, Oxford 2001.

Tishby, Isaiah, The Righteous and the Wicked, in: ders., Wisdom of the Zohar. An Anthology of Texts, Bd. 3, London, Washington 1994, S. 1407–1497.

Der osteuropäische Chassidismus, eine jüdische Erweckungs- bzw. Reformströmung, die sich ab dem späten 18. Jahrhundert in Podolien und Wolhynien zu entfalten begann, entwickelte eine besondere Struktur von Führung (Zaddikim) und Anhängern (Chassidim). Die Verwendung der Begriffe Zaddik und Chassid lässt bereits auf einige Spezifika dieser Bewegung schließen. Daher sollen zunächst die Wandlungen und Konstanten jener Termini im Laufe der jüdischen Traditionsgeschichte vorgestellt werden.

Nahezu jede Epoche der Geschichte des Volkes Israel entwickelte eigene Vorstellungen davon, welchen Anforderungen ein Mensch in seinen Beziehungen zu Gott und zu seinen Mitmenschen genügen sollte. Mit Ausnahme des osteuropäischen Chassidismus (!) bezeichnete man denjenigen, der den allgemeinen Normen entsprach, als Zaddik (צדיק; in etwa: Gerechter) und stellte ihm den Frevler (רשע/Raschà) gegenüber. Wer sich indessen einer besonderen Nähe zu Gott rühmen konnte oder sein Verhalten besonderen Standards unterwarf, konnte als Chassid (חסיד; in etwa: Frommer) betrachtet werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass vor allem die Konzeption des herausragend Frommen starken Veränderungen unterworfen war.

|18|2.1.In der Epoche des Zweiten Tempels (4. Jh. BCE bis 1. Jh. CE)

Chassidim in der Zeit des Zweiten TempelsIn der Zeit der Makkabäer bzw. Hasmonäer (2. Jh. BCE) traten erstmalig jüdische Traditionalisten in Erscheinung, die sich als „Chassidim“ titulierten. Im Ersten Makkabäerbuch (1 Makk 2,42; 7,13) erscheinen sie als eine Gruppe von Gelehrten, die sich dem militanten Widerstand gegen die Hellenisierungspolitik des seleukidischen Königs Antiochos IV. Epiphanes (um 215–164BCE) angeschlossen hatten (vgl. 2 Makk 14,6). Später bemühten sich diese Chassidim jedoch um einen friedlichen Ausgleich zwischen den Hasmonäern und den „Hellenisten“ – den jüdischen Parteigängern der griechischen Herrscher. Im Jahre 153BCE gelang es den Makkabäern, die seleukidische Herrschaft über Judäa faktisch zu beenden. Sinnfällig gestalteten sie ihren Machtanspruch durch die Übernahme des Hohenpriesteramtes. Nun aber zerfiel die Koalition der Chassidim endgültig, da viele unter ihnen die Hasmonäer nicht als legitime Nachfolger im höchsten priesterlichen Amt ansahen. Aus den Kreisen jener frühen Chassidim könnten die ältesten Apokalypsen der jüdischen Literaturgeschichte stammen (vgl. Albertz, S. 598–605.664–676). Dazu rechnet man die ältesten Schichten des Danielbuches und der Henochliteratur. Wesentliches Merkmal jener frühen chassidischen Gruppierungen dürfte die leidenschaftliche Hingabe an die Gebote der Tora (vgl. Dan 1,8; 2 Makk 5,27) gewesen sein.

2.2.In der rabbinischen Literatur (2.–7. Jahrhundert CE)

Chassidim in der rabbinischen LiteraturWie in der Hebräischen Bibel, so begegnet auch im Korpus der rabbinischen Texte der generische Gebrauch des Begriffs Chassid als eines Menschen, der die üblichen Standards bei der Erfüllung der Gebote deutlich übertrifft. Verschiedenen Einzelpersonen wie Chaniná ben Dosá, Samuel dem Kleinen (tSota XIII,3 [4]) oder Mar Zutra (bNed 7b) wird jener Ehrentitel zuerkannt.

Daneben ist jedoch von einer Gruppierung die Rede, die als „frühere Chassidim“ (Chassidim Rischonim/חסידים ראשונים) bezeichnet wird. Verschiedentlich berichten rabbinische Quellen von den besonderen Gewohnheiten dieser Frommen. Vor jedem Gebet sollen sie eine Stunde lang ihre Gedanken auf den Ewigen ausgerichtet haben. Selbst unter Lebensgefahr seien sie nicht bereit gewesen, ein einmal begonnenes Gebet abzubrechen (mBer V,1 mit bBer 32b; tBer III,20). Besonderen Wert hätten sie auf eine unbedingte Würdigung des Schabbat (bSchab 121b und 150b) und auf persönliche |19|Reinheit und Buße (bKer VI,3 mit tKer IV,4; tNed I,1 mit bNed 10a) gelegt. Auch in der Ausübung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten (tPe’a III,8 [13]; bBQ30a; bMen 40b) hätten sie überragende Sorgfalt walten lassen.

Aus all diesen Angaben wird jedoch nicht klar, ob es sich bei jenen Frommen um verschiedene Einzelpersonen, eine informell strukturierte Gruppierung oder gar (was jedoch eher unwahrscheinlich ist) um eine regelrechte Strömung gehandelt haben könnte.

Eine weitere Facette der Verwendung des Begriffes zeigt sich in der Kombination der Chassidim mit den sogenannten ‚Männern der Tat‘ (אנשי מעשה/Ansché Ma’assé). So bietet die Mischna zum Abschluss des Traktats Sota (mSota IX, 15) einen ebenso kurzen wie merkwürdigen ‚historischen‘ Abriss von Tätigkeiten, Personen oder Ereignissen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhörten oder verschwanden. In diesem Kontext findet sich die folgende Aussage:

Von dem [Zeitpunkt] an, da Rabbi Chaniná ben Dośá gestorben war, verschwanden die ‚Männer der Tat‘ [Ansché Ma’assé]. Von dem [Zeitpunkt] an, als Rabbi Josse Qatnutá gestorben war, verschwanden die Chassidim. Warum wurde sein Name Qatnutá genannt? Weil er der Kleinste [qatnuta] der Chassidim war. (mSota IX,15; vgl. jSota IX,15.24c)

Noch an einer weiteren Stelle der Mischna werden die ‚Männer der Tat‘ mit den Chassidim verknüpft: Beide Gruppen sollen zu Zeiten des Zweiten Tempels den berühmten Fackeltanz an Sukkot, zum Fest der „Freude des Wasserschöpfens“ angeführt haben (mSukka V,4 mit tSukka IV,2). Unter den Gelehrten herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei den ‚Männern der Tat‘ um charismatische Retter und Heiler handelt, wie es ja auch aus den mit Chaniná verknüpften Traditionen (z.B. mBer V,5; bJev 121b oder bTa’an 24b–25a) deutlich wird. Wie allerdings die Chassidim im Kontext der ‚Männer der Tat‘ zu deuten sind, erscheint weit weniger klar.

In der Forschung wird von einigen Gelehrten die Auffassung vertreten, dass zwischen den Charismatikern und den Chassidim (‚frommen Wohltätern‘) deutliche Unterschiede auszumachen sind. Andere hingegen sind der Meinung, dass es sich bei den verwendeten Begriffen nahezu um Synonyme handelt. Manche wollen sogar eine spätantike chassidische Bewegung rekonstruieren, die sich durch galiläische Herkunft, Armut, die Überordnung des Tuns über das Lernen sowie die Berücksichtigung von Frauen ausgezeichnet hätte (vgl. die Diskussion dazu bei Becker, S. 368–373). Letztere Annahme befrachtet die wenigen Quellen vermutlich über Gebühr.

|20|Zuweilen werden auch (tTa’an II,13 [11]; bTa’an 23b) enge Beziehungen zwischen Regenmachern und den Chassidim hergestellt. So bleibt zu konstatieren, dass die rabbinischen Meister den Begriff Chassidim in verschiedenen Zusammenhängen verwendet haben: Neben der generischen Bezeichnung für herausragend Fromme, wie sie aus der Bibel herüberreicht, kann er für die klarer umrissene Gruppe der ‚Chassidim Rischonim‘ (חסידים ראשונים) Anwendung finden oder – in selteneren Fällen – auf charismatische Einzelpersonen appliziert werden.

Zaddik in der rabbinischen LiteraturDer Gebrauch des Begriffs Zaddik durch die rabbinische Literatur knüpft ebenfalls an biblische Gewohnheiten an. Allerdings verschieben sich die Maßstäbe dessen, was als adäquater Umgang mit der Tora und den in ihr enthaltenen Geboten gefasst werden kann, ziemlich deutlich nach oben. Menschen, die sich (wie so mancher Psalmenbeter) rühmen könnten, tatsächlich vollkommen gerecht zu sein, gibt es nach Auffassung der Rabbinen eigentlich gar nicht: Selbst große Gelehrte hielten sich für eher mittelmäßig (bBer 61b). So nimmt es nicht wunder, dass Zaddikim mitunter in den höchsten Tönen gelobt werden. Ihre Verdienste sind höher einzuschätzen als diejenigen der Dienstengel (bSan 93a); nur ihretwegen hat die Welt Bestand (bJoma 38b). Auf Grundlage dieser Wertschätzung trifft der Babylonische Talmud denn auch Aussagen wie die folgende, die für die Konzepte des späteren osteuropäischen Chassidismus von großer Bedeutung sind:

Sagte R. Schmu’el bar Nachmani, sagte R. Jonatan: Was ist es, das geschrieben steht: ‚Spruch Davids, des Sohnes Jischais, Spruch des Starken, der hoch erhoben ward‘ [2 Sam 23,1]. Spruch Davids, des Sohnes Jischais: denn er erhebt das Joch der Bußumkehr. ‚Es sagte der Gott Israels, zu mir redete der Felsen Israels: Der über den Menschen Herrschende ist gerecht [oder: Ein Herrscher über Menschen ist ein Zaddik]; herrschend [in] der Gottesfurcht.‘ [2 Sam 23,3] Was ist es, das gesagt ist: Sagte der Gott Israels, zu mir sprach der Fels Israels’? ICH herrsche über den Menschen – aber wer herrscht über MICH? Der Zaddik! Denn ICH dekretiere ein Dekret und er hebt diese Worte [wörtlich: Namen] auf. (bMo’ed Qatan 16b)

2.3.Im mittelalterlichen Aschkenas

Chassidé AschkenasEine weitere Neufassung gewann der Begriff Chassid im Zentraleuropa (Aschkenas) des 12. und 13. Jahrhunderts. Eine Gruppe von Gelehrten, die Chassidé Aschkenas, entwickelte unter dem Eindruck der jüdischen Martyrologie im Gefolge der Kreuzzüge und in Reaktion auf christliche Frömmigkeitsbewegungen eine spezifische Ethik und Spiritualität. Einige herausragende Vertreter dieses Kreises, |21|Schmu’el ben Kalonymus he-Chassid (2. Hälfte des 12. Jh.), sein Sohn Jehuda he-Chassid (starb 1217) sowie dessen Schüler El’asar ben Jehuda ben Kalonymus (starb ca. 1230), entstammten der berühmten Kalonymus-Familie aus Lucca, die als wesentliche Mittlerin von Traditionen von Italien nach Deutschland gilt. Die Chassidé Aschkenas beeinflussten, wiewohl eine verhältnismäßig kleine Gruppierung, nicht nur die großen rheinländischen und süddeutschen Gemeinden, sondern auch die nordostfranzösischen Zentren jüdischen Lebens.

Schriften der Chassidé AschkenasSie schufen ein reiches Korpus an halachischen, ethischen und esoterischen Werken. Die bedeutendste unter den ethischen Schriften dürfte der Śefer Chassidim (ספר חסידים; Buch der Frommen) des Jehuda he-Chassid darstellen, der noch heute viel gelesen wird und höchst aufschlussreiche Einsichten in das jüdische Leben im hochmittelalterlichen Aschkenas vermittelt. Unter den halachischen Texten ragen der Śefer ha-Roqeach (ספר הרוקח) des El’asar von Worms sowie das Kompendium Or Saru’a (אור זרוע; Das aufgehende Licht) des Jitzchak ben Mosche von Wien (um 1180–1260), eines Schülers des El’asar, heraus. In ihren esoterischen Schriften – wie dem Śefer Śodé Rasajá (ספר סודי רזיא; Buch der verborgenen Geheimnisse) des El’asar von Worms – griffen sie auf teils sehr alte mystische Traditionen zurück.

Die Chassidé Aschkenas sahen sich als spirituelle Elite, der es oblag, die Gebote schärfer zu beachten, Seele und Geist reiner zu halten und die Gebets- und Bußpraxis mit höherem persönlichen und emotionalen Engagement umzusetzen, als es den einfachen oder unwilligen Juden möglich oder erwünscht erschien. Die Liebe zum Ewigen als dem Schöpfer der Welt sollte die gesamte Lebensführung durchdringen und es dem Bösen verunmöglichen, Zugriff auf den Chassid zu erlangen.

Gebets- und BußpraxisSeinen besonderen Ausdruck findet das Streben nach spiritueller Vervollkommnung in der Zuwendung zu jedem Detail der überlieferten Gebete: der Kawwana (כוונה; Ausrichtung, Intention). Seien es die Formen, Klänge, Zahlenwerte der Buchstaben oder die verwendeten Melodien – jedes einzelne Element des Gebetes bedurfte sorgfältiger Würdigung, da es schließlich als Kanal oder als Leiter in die himmlischen Sphären angesehen wurde. Im Unterschied zu vorgängigen Strömungen erfuhr auch die Bußpraxis bei den Chassidé Aschkenas entscheidende Aufwertung. Diese geht womöglich auf zeitgenössische christliche Einflüsse zurück. Sie unterschieden vier Grundformen der Reaktion auf eine verübte Sünde. Die bei weitem leichteste bestand darin, eine günstige Gelegenheit zu ähnlichem Treiben bewusst auszulassen. Für die härteste Variante, vorgesehen bei Vergehen, die der Tora zufolge als |22|todeswürdig anzusehen sind, musste sich der Penitent „Qualen, schwer wie der Tod“ unterziehen, um die Verletzung der himmlischen Sphäre zu sühnen.

AskeseIn Gebet, Studium der überlieferten Schriften und Buße bildete sich der Chassid zu einem von der Welt abgewandten Asketen heran, der nicht nach irdischen Gütern strebte, in Demut und Zurückhaltung jedwede Beleidigung und allerlei Spott stoisch ertrug und nicht auf seinem Recht bestand. Auch wenn es äußerlich nicht den Anschein hatte, so konnte der verachtete Fromme dennoch für sich in Anspruch nehmen, im Übermaß mit verborgenen Kräften und Kenntnissen ausgestattet zu sein. Tatsächlich verschafften ihm seine esoterischen (und durchaus auch magischen) Fähigkeiten das Bewusstsein dafür, der heimliche Herrscher der Welt zu sein.

Niemand ist ein Chassid, es sei denn er überwindet seine Eigenheiten [bRH17b]. Wenn Leute zu ihm kommen, die gesündigt haben und ihn ungehörig behandelten, dann aber bereuen und von ihm Verzeihung erbitten […], auch wenn er dies sieht, dass es in seiner Macht steht, ihnen Böses anzutun oder ihnen Gleiches zu vergelten, dann verzeiht er ihnen von ganzem Herzen. Und er tut ihnen nicht übel – deshalb wird er ein Chassid genannt. […] Dies ist das Wesen der Chassidut: Man darf in keiner Sache nach dem strengen Sinn des Gesetzes handeln, wie gesagt ist (Ps 145,17): ‚Und ein Chassid in all seinen Taten‘. (Śefer Chassidim, § 11)

Wirkung der Chassidé AschkenasSowohl die beschriebene Bußpraxis als auch die besondere Aufmerksamkeit (Kawwana) für das Gebet sollten spätere Generationen von ‚Frommen‘ nachhaltig prägen. Kenntnisse über Lehre und Leben der Chassidé Aschkenas gelangten in die Provence und auf die Iberische Halbinsel, wo sie von denjenigen mystischen Zirkeln intensiv rezipiert wurden, die zu Trägern der Kabbala werden sollten. Auch auf mystisch gespeiste Strömungen des 16. und 17. Jahrhunderts übten die Frommen von Aschkenas großen Einfluss aus, so zum Beispiel auf führende Mitglieder der Gemeinschaft von Zefat (Safed) wie Mosche Cordovero (1522–1570), Schlomo Alkabez (1505–1584), Elija de Vidas (1518–1592), aber auch Jitzchak Luria (1534–1572). Gleiches gilt für den osteuropäischen Chassidismus und dessen unmittelbare Vorläufer, die sogenannten Chassidim alter Prägung („old-style-Hasidim“), von denen im Folgenden noch die Rede sein soll.

|23|2.4.In der philosophischen und ethischen Literatur des Mittelalters

Chassid und Zaddik in der philosophischen und ethischen LiteraturIn der ethischen und philosophischen Literatur des Hochmittelalters kann man einerseits die traditionelle Differenzierung beider Begriffe in durchschnittlich observante Juden (Zaddikim) und herausragend Fromme (Chassidim) beobachten. Andererseits werden beide Termini auch unspezifisch oder synonym gebraucht.

Bachja ibn Paquda (2. Hälfte des 11. Jh.) entwarf in seinem überaus populären ethischen Werk Chovot ha-Levavot (חובות הלבבות; Von den Pflichten des Herzens) einen Pfad zur persönlichen Vervollkommnung, der letztlich in die Liebe zum Ewigen und Gottesfurcht mündet. Wer durch moderate Askese und uneigennütziges Dienen am Ewigen und den Mitmenschen auf dem von Bachja beschriebenen Wege die größte Vollkommenheit erreicht, wird zumeist als Chassid charakterisiert, zuweilen jedoch auch als Zaddik bezeichnet. Mosche Maimonides (1135/38–1204) definiert in seinem großen talmudischen Kodex Mischné Tora (משנה תורה) die Angelegenheit folgendermaßen:

So soll ihn nur nach den Dingen gelüsten, die sein Körper nötig hat, und ohne die es ihm unmöglich ist [zu existieren]. In der Sache, da gesagt ist: ‚Ein Zaddik isst zur Sättigung seiner Seele‘ (Prov 13,25) Ebenso soll er in dem, was er [beruflich] tut, nur insoweit Anstrengung unternehmen, dass er dasjenige erreicht, dessen er zum Leben unmittelbar bedarf. In der Sache, da es heißt: ‚Das Wenige ist dem Zaddik gut‘ [Ps 37,16]. Ebenso verschließe er seine Hand nicht übermäßig und verschwende sein Vermögen nicht. Vielmehr gebe er Almosen entsprechend seiner Möglichkeit und verleihe dem Bedürftigen, wie es angemessen ist. Auch sei er nicht ausgelassen und [übermäßig] fröhlich, noch bekümmert und unzufrieden. Vielmehr freue er sich all seine Tage in Behagen und freundlicher Miene. So auch mit seinen übrigen Verhaltensweisen. Dieser Weg ist der Weg der Weisen. […] Wer es aber mit sich selbst sehr genau nimmt und etwas über die durchschnittliche Verhaltensweise in der einen oder anderen Beziehung hinausreicht, der wird Chassid genannt. Wie [das]? Wer sich von Hochmut fernhält bis zum entgegengesetzten Extrem und äußerst demütig ist, der wird Chassid genannt. Dies nämlich ist die Weise der Chassidut. Wer sich aber [vom Hochmut] nur bis zur Mitte fernhält und bescheiden ist, der wird ein Weiser genannt. (Hilkhot De’ot I, 4–5)

Für den aristotelisch geprägten Philosophen wäre der Goldene Mittelweg jedwedem frommen Extremverhalten entschieden vorzuziehen. In gewisser Weise betrachtet Maimonides den Chassid als eine desintegrierte Persönlichkeit: Keine der erstrebenswerten Verhaltensweisen eines Menschen sollte über ein vernünftiges Maß hinausreichen, nicht einmal die Demut.

Abb. 1: Ez Chajim mit den zehn Śefirot

|25|2.5.In der kabbalistischen Literatur

In der frühen KabbalaDer Śefer ha-Bahir (ספר הבהיר; etwa: Buch des Glanzes), der in der Provence des 12. Jahrhunderts erstmalig verbreitet wurde, bietet eine der frühesten Darstellungen eines Systems aus dem Ewigen emanierender Strukturen, der Śefirot (ספירות). Sie finden sich zu einer Art Baum hierarchisiert, der späterhin als Ez Chajim (עץ חיים; Baum des Lebens) bezeichnet werden sollte. Die neunte dieser zehn Śefirot, Jessod (יסוד; Basis, Fundament), wird mit dem Zaddik identifiziert. Dies reicht in die Hebräische Bibel (Prov 10,25) zurück, wo es heißt: „Der Gerechte ist ein ewiger Grund (jessod)“ bzw. „Der Gerechte ist das Fundament (jessod) der Welt.“

Der Bahir erläutert dazu unter Rückgriff auf talmudische Aussagen (bChag 12b; bJoma 38b):

Es wird gelehrt: Eine Säule [reicht] vom Land bis zum Firmament und ‚Zaddik‘ ist ihr Name. Aufgrund des Begriffs der Zaddikim – denn wenn es Zaddikim in der Welt gibt, dann wird [die Säule] gestärkt, und wenn nicht, dann wird sie geschwächt. Und sie trägt die ganze Welt, wie geschrieben ist [Prov 10,25]: ‚Der Zaddik ist das Fundament der Welt‘. Wenn sie schwach ist, dann kann die Welt nicht bestehen. Daher: Sogar, wenn es nur einen Zaddik in der Welt [gibt], dann lässt Er die Welt bestehen, wie gesagt ist: ‚Und der Zaddik ist das Fundament der Welt.‘ [ibid.] (Bahir 44,11a)

Der Begriff Chassid findet sich in der frühen kabbalistischen Literatur hingegen kaum explizit erläutert. Immerhin werden einige der Exponenten der frühen provençalischen Kabbala von ihren Schülern als Chassid tituliert. Dazu gehören Rabbi Jitzchak der Blinde (Anfang des 13. Jh.), der als einer der ‚Urväter‘ der Kabbala gilt, oder Jakob ha-Levi he-Chassid (13. Jh.). Wie bei den Chassidé Aschkenas, so könnte auch bei ihnen deren asketischer Lebensstil zu diesem Ehrentitel beigetragen haben.

Asri‘el von GeronaErst Asri’el von Gerona (ca. 1160–1238), der Schüler Isaaks des Blinden, weist auf eine naheliegende terminologische Analogie hin, nämlich die zwischen der vierten Śefira, Chessed (חסד), und den Chassidim:

In Verbindung mit diesem Attribut (Tif’eret) bezieht es sich auf diejenigen, die es empfangen, die Zaddikim genannt werden, weil sie über die Kraft von Zedek (Malkhut) und Zedaka (Tif’eret) verfügen; und es bezieht sich auf die Aufrechten (Jescharim), die von der Kraft des strengen Gerichts herkommen, das man Joscher nennt (d.i., Gevura oder Malkhut); und es bezieht sich auf die Chassidim, die von Chessed empfangen. (Asri’el von Gerona, Perusch ha-Tefillot, zitiert nach Tishby, Wisdom, S. 1411)

Asri’el entwirft in seinem Kommentar zu den Gebeten eine Rangfolge von drei lobenden Attributionen, die er jeweils einer der Śefirot zuordnet. Dabei wird der Zaddik auf die zehnte (מלכות/|26|Malkhut oder שכינה/Schekhina) bzw. sechste (תפארת/Tif’eret) Śefira bezogen, der „Aufrechte“ (יושר/Joscher) auf die fünfte (גבורה/Gevura oder דין/Din) bzw. die zehnte und schließlich der Chassid auf die vierte (Chessed oder רחמים/Rachamim) und somit höchste der genannten Manifestationen des Ewigen.

Was auf den ersten Blick wie eine klare Rangfolge aussieht, lässt jedoch bei näherem Hinsehen jede spezifische Qualifikation vermissen. Dies sollte als absolut typisch für die Art und Weise gelten, wie die Tradition mit der scheinbar so klaren Begrifflichkeit umgeht: Verwendung und Darstellung der Termini sind völlig von den Grundtexten abhängig, die gerade kommentiert werden – in diesem Fall ein Abschnitt aus der Neujahrsliturgie. Weitreichende Schlussfolgerungen, etwa im Sinne einer klaren Überordnung des Chassid über den Zaddik, sollte man besser nicht anstellen.

Zaddik und Chassid im SoharGleiches gilt für das Hauptwerk der klassischen Kabbala, den Sohar und seine „Satelliten“ (Midrasch ha-Ne’elam, Tiqquné Sohar, Sohar Chadasch etc.). Diese Textgruppe wird auf den Zirkel der kastilischen Kabbalisten um Mosche de León (ca. 1250–1305) zurückgeführt. Der im Sohar weitaus häufiger verwendete generische Begriff für einen vorbildlichen Menschen ist der des Zaddik. Er wird verhältnismäßig (!) konstant mit der Śefira Jessod (IX) verknüpft. Im anthropologischen Symbolsystem des Sohar kann Jessod mit dem männlichen Geschlechtsorgan des Adam Qadmon (אדם קדמון), des präfigurierten Urmenschen, identifiziert werden und dieses wiederum mit dem Bund der Beschneidung. Daraus ergibt sich – im ethischen Symbolsystem – die Kardinaltugend der Keuschheit, für die wiederum der biblische Joseph als ideale Verkörperung gilt (vgl. Sohar II, 23a).

Seltener äußern sich soharische Traditionen zum Chassid (beispielsweise I, 39a; II, 129b–130b; III, 145a.b), und dies noch dazu mit recht unterschiedlichen Perspektiven und Ergebnissen. Im Grunde bleibt dem Beobachter nichts anderes übrig, als sich der Einschätzung Isaiah Tishbys anzuschließen, wenn er konstatiert:

Es ist mir nicht gelungen, zu mehr als nur vagen Schlussfolgerungen der dürftigsten Art zu kommen. Es trifft zu, dass der Autor des Sohar an wenigen Stellen eine Unterscheidung zwischen Zaddik und Chassid vornimmt, und in diesen Fällen den Chassid eher zufällig auf einen höheren Rang hebt. Er macht sich aber nirgends die Mühe, die Charakteriska der Chassidut zu erklären oder ein genaueres Bild vom Idealtypen eines Chassid zu etablieren. […] Generell bedeutet Chassidut, wenn es überhaupt erwähnt wird, individuelle Vollkommenheit in Bezug auf Moral und gute Taten, wohingegen die hauptsächlichen Qualitäten anderer Art – nämlich mystische Wahrnehmungsfähigkeit und Betätigung einerseits und Führungskraft beim inneren und praktischen Leben andererseits – einen weitaus prominenteren |27|Platz im Sohar einnehmen und beinahe ausschließlich mit dem Zaddik assoziiert werden. (Tishby, Wisdom, S. 1416)

Diese Verwendung der beiden Begriffe, so vorsichtig sie auf den gesamten soharischen Korpus ausgedehnt werden mag, deutet schon auf ihren spezifischen Gebrauch innerhalb des osteuropäischen Chassidismus hin.

2.6.Bei den Kabbalisten von Zefat/Safed

Die Kabbalisten von ZefatIm reichen Schrifttum der Kabbalisten von Zefat um Cordovero, Luria oder Chajim Vital (1543–1620) begegnet man dem Zaddik ebenfalls bei weitem häufiger als dem Chassid. Dies hängt vermutlich mit den vielfältigen Identifikationen zusammen, die sich vor allem an Jessod-Zaddik heften. Neben den kosmologischen, anthropologischen und Seelenwanderungs-Meditationen (vgl. beispielsweise Ez Chajim, Scha’ar 38,3) finden sich jedoch einige dezidiert ethische Ausführungen, die begriffliche Unterscheidungen zwischen Zaddikim und Chassidim enthalten. Hierbei muss wieder daran erinnert werden, dass es sich um punktuelle Beschreibungen handelt, die keineswegs für alle oder auch nur für einen Großteil der Texte repräsentativ sind. Die folgende Begriffsbestimmung entstammt immerhin den Scha’aré Qeduscha (שערי קדושה; Tore der Heiligkeit; 1734 erstmals gedruckt) des Chajim Vital, einer Art Anleitung zur persönlichen Vervollkommnung, die zu den populären Klassikern der kabbalistischen Literatur gehört.

Allgemein ist festzuhalten, dass derjenige, der die Einhaltung der 613 Gebote [bewerkstelligt], indem er sich als stärker erweist als der Böse Trieb, der im Menschen ist, Zaddik genannt wird. Wer sie aber einhält, indem er den Bösen Trieb nichtet, sodass dieser den Erwerb der guten Eigenschaften in vollkommener Weise lehren kann, siehe, dieser wird vollendeter Chassid genannt. (Chajim Vital, Scha’aré Qeduscha I,3)

Als eine einzigartige Gemeinschaft von Gelehrten legten die Kabbalisten von Zefat größten Wert auf gelebte Frömmigkeit. In der nordgaliläischen Stadt entstanden etliche Bruderschaften (חבורות/Chavurot), die sich verstärkt bestimmten Aspekten des spirituellen Lebens kabbalistischer Prägung widmeten. Eine Reihe der großen Persönlichkeiten Zefats übten und empfahlen asketische Praktiken wie die Enthaltsamkeit von Wein und Fleisch, Fasten, mitternächtliches Gebet und sogar Geißelungen. Die in jenen Chavurot gepflogene Frömmigkeit verbreitete sich durch ihre Hanhagot (הנהגות), schriftliche Ordnungen, die oft von den Safeder Meistern wie Mosche Cordovero oder Abraham Galante (starb 1560) persönlich |28|verfasst worden waren. Mittels der zahlreichen durch Cordovero oder Luria inspirierten ethischen Werke beeinflusste die Gemeinschaft von Safed die ab dem 17. Jahrhundert zahlreich entstehenden kabbalistischen Zirkel in Zentral- und Osteuropa.

Die Gelehrten des obergaliläischen Zefat schufen als Exponenten einer kabbalistisch inspirierten Gemeinschaft Denkmodelle und Lebensformen, die im osteuropäischen Chassidismus aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Dazu gehören unter anderem Konzepte zur Einbeziehung einfacher Gläubiger in das Gefüge einer komplexen Spiritualität. So vertraten sowohl Schlomo Alkabez wie auch sein Schüler Mosche Cordovero die Auffassung, ein Schüler oder einfacher Mensch könne sich an seinen Lehrer oder einen Gelehrten heften und dadurch einen spirituellen Aufstieg erfahren (z.B. Cordovero, Schi’ur Qoma, fol. 85b–86a; vgl. Sack, Ijjun, S. 226–231). Die chassidischen Meister sollten dies sukzessive zu einer Lehre der normativen Mittlerfunktion des Zaddik ausbauen und transformieren.

[Zum Inhalt]

|29|3. Die Vorgeschichte: Jitzchak Luria und die Chassidim ‚alter Schule‘

Etkes, Immanuel, The Besht: Magician, Mystic, and Leader, Hanover, London 2005, S. 7–45.

Grözinger, Karl Erich, Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen, in: Idel, Moshe/Grafton, Anthony (Hg.), Der Magus – Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 167–192.

Hundert, Gershon D., Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century: A Genealogy of Modernity, Berkeley, Los Angeles 2006.

Idel, Moshe, Hasidism: Between Ecstasy and Magic, Albany 1995.

Ders., Jewish Magic from the Renaissance Period to Early Hasidism, in: Neusner, Jacob u.a. (Hg.), Religion, Science, and Magic: In Concert and in Conflict, New York, Oxford 1989, S. 82–117.

Nigal, Gedalyahu, Magic, Mysticism, and Hasidism: The Supernatural in Jewish Thought, Northvale 1994.

Der osteuropäische Chassidismus speist sich wesentlich aus Impulsen, die er aus der Lehre und der gelebten Spiritualität der kabbalistischen Gemeinschaft von Zefat empfing. Die Kunde von der neuen, faszinierenden Form der Kabbala verbreitete sich etwa ab Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa und dem Osmanischen Reich. Zunächst geschah dies in der Form von Erzählungen über Jitzchak Luria und seinen Schülerkreis. Ein sehr früher dieser zunehmend hagiographisch gefärbten Berichte geht auf den böhmischen Juden Schlomo ben Chajim Meinsterl von Dresnitz zurück, der im Jahre 1602 nach Zefat emigrierte und zwischen 1607 und 1609 vier umfangreiche Briefe in die alte Heimat sandte. In ihnen teilte er seine Erkenntnisse über das wundersame Wirken Lurias mit. Später wurden sie als Schivché ha-Ar“i (שבחי האר״י; Preisungen des Ar“i) kopiert und gedruckt.

3.1.Die Verbreitung der lurianischen Kabbala

Verbreitung der Lehren LuriasIn der Folgezeit verfassten Mitglieder des Safeder Schülerkreises Darstellungen der Konzepte Cordoveros und Lurias. Zu diesen gehören die Werke Chajim Vitals, Joseph ibn Tabuls (geb. um 1545) oder Israel Sarugs (um 1600). Obwohl Luria, mindestens nach Auskunft Chajim Vitals, die Weitergabe seiner Lehre untersagt haben soll, fand diese bald größere Verbreitung als jedes andere kabbalistische System zuvor. Die Produktion lurianisch inspirierter |30|Werke explodierte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geradezu: Enzyklopädisch angelegte Neue kabbalistische LiteraturWerke, Sammlungen von Homilien, Kommentare zu den Gebeten, ethische Schriften (מוסר/Mussar) und Ratgeberliteratur (הנהגות/Hanhagot) konfrontierten die jüdische Leserschaft mit Safeder Theorie und Praxis, wie sie von zeitgenössischen Autoren verstanden und auf deren kulturelle Kontexte angewendet wurde.

Als paradigmatisch für jene Literatur können die Sch’né Luchot ha-Berit (שני לוחות הברית) des Jesaja Horowitz (1565–1630) gelten. Das erstmals im Jahre 1649 gedruckte enzyklopädische Werk enthielt kabbalistisch inspirierte Kommentare zur Tora ebenso wie Homilien, Traktate zu ethischen Themen, Erklärungen zur spirituellen Bedeutung von Geboten, Gebetstexten und Ritualen. Es übte einen immensen Einfluss auf die gelehrten Eliten Europas aus.

Das Eindringen kabbalistischer Konzepte in breitere Schichten der Bevölkerung verursachte eine tiefgreifende Veränderung des spirituellen Wertesystems. Jede Einzelheit der tradierten Riten und Gebote erlangte durch ihre Verbindung mit den umfassenden kosmologischen und anthropologischen Konzepten quasi universale Bedeutung. Wer mit der passenden Ausrichtung und Konzentration (Kawwana) an die Umsetzung der Liturgie, Bräuche und Vorschriften ging, konnte sich deren Wirkung auf die himmlischen Sphären sicher sein. Zugleich entwickelten bereits der Zirkel von Zefat und später seine Multiplikatoren (wie eben Horowitz) neue, kabbalistisch inspirierte Rituale und Gebrauchstexte, die das jüdische Leben prägen und verändern sollten.

Lurianisch inspirierte KabbalistenkreiseIn vielen Orten Zentral- und Osteuropas, wie zum Beispiel in Brody, Ostróg, Opatów, Brzesc Litewski (Brest-Litowsk), Lemberg oder Wilna, bildeten sich kleine kabbalistische Zirkel, deren Mitglieder sich als B’né Alija (בני עליה