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Frank Niess

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Beschreibung

Che Guevara (1928–1967) hat wie kaum ein anderer die sozialen Utopien und Träume einer ganzen Generation verkörpert. Seine Unerbittlichkeit gegen sich selbst, seine Willenskraft, seine Todesverachtung - all das hat ihn zum Idol werden lassen. Die Monographie beschreibt den Mythos und die Realität eines außergewöhnlichen, bewegten Lebens, das bis heute Menschen in aller Welt fasziniert und begeistert. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 214

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Frank Niess

Che Guevara

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Über dieses Buch

Che Guevara (1928–1967) hat wie kaum ein anderer die sozialen Utopien und Träume einer ganzen Generation verkörpert. Seine Unerbittlichkeit gegen sich selbst, seine Willenskraft, seine Todesverachtung - all das hat ihn zum Idol werden lassen. Die Monographie beschreibt den Mythos und die Realität eines außergewöhnlichen, bewegten Lebens, das bis heute Menschen in aller Welt fasziniert und begeistert.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Frank Niess

Frank Niess, 1942–2011. Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Bonn und Heidelberg. Bis Juni 2003 Wissenschaftsredakteur beim Südwestrundfunk.

Buchveröffentlichungen: «Der Koloss im Norden. Geschichte der Lateinamerikapolitik der USA», 2. verb. Auflage 1986. «Das Erbe der Conquista. Geschichte Nicaraguas», 2. Auflage 1989. «Sandino. Der General der Unterdrückten. Eine politische Biographie», 1989. «20mal Kuba», 1991. «Am Anfang war Kolumbus. Geschichte einer Unterentwicklung. Lateinamerika 1492 bis heute», 1991. «Eine Welt oder keine. Vom Nationalismus zur globalen Politik», 1994. «Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands», 2001. Bei rowohlts monographien erschienen die Bände über Che Guevara (2003, rm 50650) und Fidel Castro (2008, rm 50679).

Mythos Che

Kaum ein Mensch des 20. Jahrhunderts hat eine solche Berühmtheit erlangt wie der Argentinier Ernesto Che Guevara. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre hat ihn als den «vollkommensten Mann seiner Zeit»[1] gerühmt. Kaum eine herausragende historische Figur, deren Wesenszüge man nicht in ihm hat wiederaufleben sehen. Zu dieser Ahnengalerie gehören die «guten Menschen» Franz von Assisi, Bartolomé de las Casas und Albert Schweitzer. Man hat ihn unter die «Märtyrer der beiden Amerikas», die lateinamerikanischen Befreiungskämpfer Hidalgo, Morelos, Bolívar, San Martín, Zapata und Sandino eingereiht. Der kubanische Nationaldichter Nicolás Guillén tat ein Übriges, ihn mit seiner Ode «Che Comandante» in «den Pantheon der historischen Helden Lateinamerikas» zu erheben.[2]

Und die Europäer standen in ihren Elogen auf Che Guevara den Lateinamerikanern in nichts nach. Sie schufen mit am «Mythos Che», indem sie ihn zum «roten Robin Hood», zum «Don Quichotte des Kommunismus», zum «neuen Garibaldi», «marxistischen Saint-Just» oder «Cid Campeador der Verdammten dieser Erde» stilisierten.[3] Man hat ihn auch zum «ersten Bürger der Dritten Welt»[4] verklärt, zum «Menschen des 21. Jahrhunderts»[5], «zu einem der hervorragendsten ethischen Symbole in der Geschichte der Zivilisation»[6] und, mit einem merkwürdigen Zug ins Metaphysische, zum «Rebellen Christus am Kreuz»[7]. Als «San Ernesto» (de la Higuera) und als «Christus von Vallegrande»[8] ist Che Guevara in die Geschichte eingegangen. Und es waren nicht nur die «einfachen Gläubigen» in Lateinamerika, sondern auch hochgestellte Geistliche, die neben dem Kruzifix in ihrer Behausung ein Foto des berühmten Che aufstellten. Über kaum eine andere historische Figur sind so viele Lieder und Gedichte geschrieben worden: etwa 135 an der Zahl[9], Theaterstücke wie «Él» (Che Guevara), Filme, Romane, Anekdotensammlungen und politische Comicstrips, ganz zu schweigen von den Biographien, deren es mittlerweile einige Dutzend gibt, und der wissenschaftlichen Literatur, zu der ein eigenes Che-Guevara-Lexikon gehört. Die Zahl der Aufsätze und Monographien geht in die Tausende.[10] Nicht zu vergessen die unüberschaubare Präsenz des Che im Internet auf Tausenden von Seiten.

Daneben die Fülle der Produkte und Devotionalien, die sein Bild und seinen Namen tragen: Bierflaschen, Zigarettenschachteln, Geldscheine, Briefmarken, Mützen, Tücher, Ringe, Taschen, Uhren, Aschenbecher, Feuerzeuge, Tassen und natürlich: T-Shirts. Wer gedacht haben sollte, das Charisma des Che würde verblassen, wenn seine glühenden Verehrer der 68er-Generation erst in ihrer bürgerlichen Existenz dem Idealismus abgeschworen hätten, sieht sich durch den andauernden und neuerlichen Che-Guevara-Boom widerlegt.

Der Mythos des bärtigen Rebellen ist ungebrochen. Er ist zur Pop-Ikone und zum T-Shirt-Helden der Loveparade geworden. Zur «Ikone revolutionären Märtyrertums»[11]. Die Vermarktung dieses «Hohenpriesters der Weltrevolution»[12] geht unvermindert weiter. Und der Drang, in diese Kultfigur alle unerfüllten Sehnsüchte und Wünsche zu projizieren, hält unvermindert an.

Da bleibt mit dem uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano nach dem Grund für diese stetige «Wiederauferstehung» des Che zu fragen: «Ist es nicht deshalb, weil Che das sagte, was er dachte, und das machte, was er sagte, ist das nicht der Grund, daß er weiter außergewöhnlich ist in einer Welt, in der sich die Worte und die Taten sehr selten treffen?»[13] Über das Faszinosum der Einheit von Denken und Handeln, wie sie Che Guevara eigen war, soll diese Monographie Aufschluss geben.

Erziehung zum Widerspruch

Kindheit: Das Gespenst des Asthmas

Die Vorfahren haben Ernesto Che Guevara vorgelebt, was ihn später selbst ausgezeichnet hat: ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, Widerspruchsgeist, Wagemut und Prinzipientreue. Francisco Lynch y Arandia, einer der Urgroßväter väterlicherseits, irisch-spanischer Abstammung, hatte seine Heimat Argentinien aufgrund der Nachstellungen des Diktators Juan Manuel de Rosas (1829–1852) verlassen müssen. Genauso wie ein anderer Urgroßvater: Juan Antonio Guevara, der mit seinem jüngeren Bruder José Gabriel vor den Repressalien des Gewaltregimes geflohen war. Sie alle drei zog es nach Kalifornien, wo man Anfang 1848 bei Sacramento Gold gefunden hatte. Während Francisco Lynch sich in San Francisco eine bürgerliche Existenz aufbaute und nicht dem «Goldfieber» erlag, suchten die Brüder Guevara wie Tausende anderer Besessener ihr Glück bei den «Placeres de California» zu machen, den Goldvorkommen im kalifornischen Hinterland. Ein vergebliches Unterfangen, wie sich zeigen sollte.

Als der Diktator de Rosas 1852 gestürzt wurde, stand ihrer Heimkehr nichts mehr im Wege. Die Brüder Guevara machten sich alsbald auf die Reise. Zusammen mit Concepción Castro Peralta, einer Farmerstochter, die der ältere Guevara, Juan Antonio, in Kalifornien geheiratet hatte, und ihrem gemeinsamen Sohn Roberto. Francisco Lynch hingegen ließ sich gut zwanzig Jahre Zeit, ehe dann auch er nach Argentinien in die Provinz Mendoza heimkehrte, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter Ana. Letztere verliebte sich in Roberto Guevara. Und aus der Ehe, die sie schlossen, gingen zwölf Kinder hervor. Darunter Ernesto, der Vater von Che Guevara. Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen, wie sie seine Großväter bewiesen hatten, waren nicht Ernestos Stärken. Er lavierte sich eher durchs Leben. Machte immer neue Konzessionen in der Hoffnung auf berufliche Erfolge.

Nach dem Abitur hatte er ein Architekturstudium in Buenos Aires aufgenommen, das er jedoch nach seiner Heirat mit der zwanzigjährigen Celia de la Serna 1927 abbrach – eine aparte Frau aus «gutem Hause», Urenkelin des letzten spanischen Vizekönigs von Peru. «Intelligent, fähig und mutig», so hat sie ihr Ehemann Ernesto beschrieben, der überdies betonte: «Wir verstanden uns sehr gut und waren außer Eheleuten auch sehr gute Kameraden, auch wenn wir uns oft wegen nichtiger Dinge stritten, was vielleicht darauf zurückzuführen war, daß wir uns in unserer Art sehr ähnlich waren.»[14]

Als Linksintellektuelle wird man sie beide bezeichnen können, wobei Celia ihre Standpunkte mit sehr viel mehr Emphase und Prinzipienstrenge vertrat als ihr Mann. Und mit mehr Bereitschaft zum Risiko. Nicht von ungefähr wurde sie «rebelda» genannt, «Rebellin». Etwas kleinlaut gestand Ernesto sen. später mit Blick auf ihrer beider Bekenntnis zum Sozialismus: «In kurzer Zeit ließ sie mich hinter sich zurück».[15]

Celia war in einer gutsituierten Familie aufgewachsen, hatte jedoch schon als Kind ihre Eltern verloren. Das Erbe musste sie genauso wie ihr Mann mit elf Geschwistern teilen, viel blieb da an materiellen Gütern auf beiden Seiten nicht übrig. Das junge Paar versuchte es mit einer Teeplantage in der abgelegenen Provinz Misiones. Auf dem Land, das sie erwarben, sollte das «grüne Gold» gedeihen, der Mate, der für die Argentinier ein Lebenselixier ist.

Die Region Misiones im Nordosten Argentiniens, begrenzt durch die Flüsse Paraná und Uruguay, hatte es Vater Ernesto angetan: «Dort gibt es die dichtesten Urwälder, die man sich vorstellen kann», bekundete er wiederholt, «mit mehr als vierzig Meter hohen Bäumen und einer in sich verschlungenen, sehr reichhaltigen Vegetation voller Sträucher, Lianen und Millionen von Farnkräutern.»[16]

Hier verbrachte «Ernestito», der kleine Guevara, geboren am 14. Juni 1928 in Rosario, seine ersten beiden Lebensjahre. Dem Vater war zwar klar, dass sein Kind noch nicht fähig war, dieses besondere Ambiente wahrzunehmen. «Aber dennoch bin ich überzeugt», so schrieb er, «daß all diese Erlebnisse tiefe Eindrücke in seinem Unterbewußtsein hinterlassen haben.»[17]

Die Mate-Produktion erbrachte bei weitem nicht die Einkünfte, die man zum Leben brauchte. So beschlossen Ernesto und Celia, nach San Isidro, am Ufer des Río de la Plata, umzuziehen, wo der Familienvater Miteigentümer einer Schiffswerft war. Und hier nahm am 2. Mai 1930 ein Drama seinen Lauf, das die Familie von da an immer wieder in Angst und Schrecken versetzen sollte.

Celia, eine exzellente Schwimmerin, ging mit Ernestito, auch «Teté» genannt, an einem kühlen Morgen baden. Als der Vater mittags heimkam, fand er «den Kleinen […] am ganzen Körper zitternd»[18]. Der Zustand des Zweijährigen verschlechterte sich, in der Nacht begann er anhaltend zu husten. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine asthmatische Bronchitis. Ernestitos Asthma wurde chronisch.

Es gehört zum Phänomenalen an der Biographie des Che, dass ausgerechnet aus diesem «armen Wurm», diesem asthmageplagten Wesen, ein unerschrockener, tatendurstiger, besonders willensstarker Revolutionär werden sollte. Aber vielleicht ist es umgekehrt gerade diese Krankheit, die seinen außergewöhnlichen Werdegang erklärt. Musste er doch, wollte er nicht der Angst vor dem Ersticken unterliegen, in sich alle Widerstandskräfte dagegen aufbringen. Dazu gehörte auch sein Faible für Sport – Fußball, Rugby, Schwimmen – und sein meist erfolgreiches Bemühen, sich den Alltag von dem chronischen Leiden nicht über die Maßen beeinträchtigen zu lassen.

Aber das im Hause Guevara stets gegenwärtige «Gespenst des Asthmas» bedrohte immer aufs Neue den Familienfrieden. «Wie ein böser Fluch» entzweite Ernestitos Krankheit die Eltern. Wann immer die Atembeschwerden einsetzten, kamen Schuldgefühle in der Mutter auf. Indem der Vater sie mit harschen Vorwürfen noch darin bestärkte, revanchierte er sich für manche Niederlagen in der Ehe.

Die schlimmste Zeit durchlebte Ernestito zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr. Die Asthmaanfälle überkamen ihn in immer kürzeren Abständen, sodass er nicht regelmäßig in die Schule gehen konnte. Seine Mutter tat ihr Bestes, ihn zu Hause selbst zu unterrichten. So wuchs in dieser Zeit «zwischen ihnen die große Liebe und Kameradschaft» – wie der Vater vielleicht etwas eifersüchtig registrierte. Nicht, dass Celia Ernestitos jüngere Geschwister stiefmütterlich behandelt hätte. Sie ging wohl ebenso zärtlich und liebevoll mit ihnen um. Doch für «Teté» hielt sie immer noch ein Gran mehr an Zuneigung bereit.

Er war der älteste Junge, und auf eine bestimmte Art und Weise übernahm er Verantwortung für die Geschwister. Nicht weil er sich beliebt machen wollte, nein, er fühlte sich tatsächlich verantwortlich. Vielleicht auch weil die Ehe der Eltern schwierig war. Der Vater hatte viele Affären […]. Ernesto war verletzt, daß sein Vater so eine Art Playboy war, der auf die Gefühle der Mutter keine Rücksicht nahm. Ernesto stand seiner Mutter sehr nahe.

Dolores Moyano

Und dieser erwiderte ihre Gefühle. Er war zwar seinen vier Geschwistern zugetan, besonders dem Benjamin: Juan Martín, der fünfzehn Jahre jünger war als er und den er mehr wie einen Sohn behandelte, doch zu seiner Mutter behielt er zeitlebens die stärkste Verbindung. Das schloss später das politische Einverständnis mit ihr ein. Wo immer er sich aufhielt oder was immer er gerade tat, als junger Arzt, als Guerillero oder als Politiker: Stets blieb er in besonders engem Kontakt mit seiner Mutter. Seine Briefe, in denen er sie aus seinem bewegten Leben auf dem Laufenden hielt, was meist Politika ebenso einbegriff, zeugen davon, wie sehr er seine Mutter geliebt und auch verehrt haben muss.

Wissensdurst und politisches Interesse

Die Eltern ließen nicht nach in ihrer Sorge um den asthmakranken Sohn. Sie zogen in der Hoffnung, das Klima in Buenos Aires werde Ernestito besser bekommen, in die Hauptstadt um. Die Hoffnung trog, dem umhegten Sohn ging es dort genauso schlecht wie in San Isidro. Man entschied schließlich, alle Taue zu kappen und sich im Nordwesten Argentiniens in zuträglicheren klimatischen Verhältnissen anzusiedeln. Der Weg führte auf ärztlichen Rat nach Alta Gracia, eine ruhige Kleinstadt nicht weit von Córdoba, am Fuß der Sierra Chica, 600 Meter hoch gelegen.

Dort ließ sich die Familie 1933, um Sohn Roberto angewachsen, erst in einem Hotel und dann nach einem weiteren Wohnungswechsel in der «Villa Nydia» nieder, einem geräumigen alten Haus mit großem Garten, das in den sogenannten besseren Kreisen des Städtchens unter dem Namen «Leb wie du willst» bekannt war.

Obwohl Ernestos Eltern stets in finanziellen Nöten waren, machten sie dem libertären Geist, der aus diesem Namen sprach, doch alle Ehre. Ihr Haus stand für jedermann offen, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, gleichgültig, ob arm oder reich. Und die Kinder der Umgebung nahmen dieses Angebot in hellen Scharen freudig wahr.

In Alta Gracia lernte Ernestito die Natur als «wichtige Lehrmeisterin» kennen. In den umliegenden Zuckerrohrfeldern, in den nahen Wäldern und in den Bergen. Er reifte, wie sein Vater mit einigem Stolz vermerkte, zu einem «Experten des Urwalds» heran. Aber nicht nur das: Er lernte auch, sich in den sozialen Beziehungen durchzusetzen. Immer wenn die Kinder von Alta Gracia etwas Verwegenes planten, hieß der Anführer Ernestito. «Bereits mit sechs Jahren befehligte er die ganze Kinderclique der Nachbarschaft.»[19]

Doch er war nicht jedermanns Darling. So haben nicht wenige Nachbarskinder, Mitschüler und Lehrer ihm ihre Sympathien versagt. Sie erlebten ihn als rebellischen, waghalsigen, widerspenstigen, respektlosen und starrköpfigen Jungen. Manchen galt er auch als schweigsam, introvertiert, ja sogar als schüchtern und gehemmt. Seine Krankheit zwang Ernestito zu vielen Ruhepausen. Zeit, die er nutzte, um alles zu lesen, dessen er im Hause Guevara habhaft werden konnte. Mit Feuereifer verschlang er Abenteuerbücher, Romane und Reisebeschreibungen von Robert Louis Stevenson, Jules Verne, Alexandre Dumas oder Jack London, um nur einige zu nennen. Vater Ernesto attestierte dem Zwölfjährigen den Bildungsstand eines Achtzehnjährigen.[20]

Er machte sich genauso mit Cervantes und Anatole France, mit Chiles marxistischem Poeten Pablo Neruda und Horacio Quiroga sowie mit den spanischen Dichtern Antonio Machado y Ruiz und Federico García Lorca bekannt. Wenn stimmt, was der Vater später über das Lektürepensum seines ältesten Sohnes die Öffentlichkeit hat wissen lassen, dann hatte Ernestito, kaum sechzehn Jahre alt, schon sämtliche Bücher im Hause Guevara gelesen: an die 3000 Bände – zur Geschichte, Literatur, Poesie und insbesondere Politik.[21]

Obwohl die Guevaras gewissermaßen der Aristokratie angehörten, wuchs Ernestito in einem ausgesprochen egalitären Klima auf, für das beide Elternteile gleichermaßen sorgten. Durch seine vielfältigen sozialen Kontakte lernte er die Ungerechtigkeiten in der argentinischen Gesellschaft kennen. Von seinen Freunden, von denen die meisten zur Unterschicht gehörten, erfuhr er, was soziales Elend hieß, was es bedeutete, sich als Arbeiter in den Bergwerken, auf den Baustellen oder auf den Mate-Anpflanzungen für einen Hungerlohn abzurackern, ohne die geringste soziale Sicherheit zu haben. Er bekam Einblicke in die unsäglichen Wohnverhältnisse, in denen manche seiner Spielgefährten aufwachsen mussten.

Möglicherweise lehrte ihn seine Krankheit, sich zu beherrschen, sich nicht unterkriegen zu lassen und sich keinen trügerischen Illusionen hinzugeben. Vermutlich löst das Asthma bei den Erkrankten einen Mechanismus aus, der das Selbstbewußtsein stärkt.

Ernesto Guevara Lynch

Was Ernesto in seiner Kindheit und dann als Jugendlichen besonders geprägt hat, waren die langen Schatten und der Widerhall des Spanischen Bürgerkriegs in Argentinien. Während dieser Zeit wohnte Celias älteste Schwester Carmen mit ihren zwei Kindern im Hause Guevara. Ihr Mann, der kommunistische Schriftsteller und Journalist Cayetano «Policho» Córdova Iturburo, hatte sich als Kriegsberichterstatter für die Zeitschrift «Crítica» nach Spanien an die Front begeben. Er schrieb Carmen viele Briefe: hochwillkommene Lebenszeichen und zugleich wichtige Informationen über den Spanischen Bürgerkrieg. So konnte man sich in Alta Gracia ein recht genaues Bild von den Ereignissen in Spanien machen.

Keine Frage, dass Ernestitos Eltern Partei für die bedrohte Republik ergriffen. Sie taten dies nicht nur in lebhaften Gesprächen, sie ließen den Worten auch Taten folgen. Ernesto sen. hob ein lokales Comité de Ayuda a la República mit aus der Taufe, einen örtlichen Ableger des landesweiten Netzwerkes der Solidarität mit der gefährdeten spanischen Republik. Und er nahm Kontakt zu den politischen Flüchtlingen auf, die in immer größerer Zahl nach Argentinien strömten. Darunter der Arzt Juan González Aguilar und der Held der Schlacht von Guadalajara (1937) General Jurado. Er hatte die italienischen Truppen geschlagen, die im Dienste Francos auf spanischem Boden kämpften. Ernesto jun. saß wie gebannt dabei, wenn diese Augenzeugen des Spanischen Bürgerkriegs von ihren Erlebnissen berichteten. Es waren Schlüsselerlebnisse für ihn, wie sein Vater registrierte: «Ernesto schnitt sorgfältig alle Nachrichten aus den Zeitungen aus, und in seinem Zimmer hing eine große Spanienkarte, auf der er die Truppenbewegungen verfolgte und kleine Fähnchen an die Stelle der verschiedenen Fronten steckte. Ich glaube, daß er in dieser Zeit begann, seine ablehnende Einstellung gegenüber Diktaturen, die die Völker unterdrückten, zu entwickeln.»[22]

Der nächste Schritt in der politischen Sozialisation des jungen Ernesto war denn auch folgerichtig das Bestreben, nicht mehr nur den Erwachsenen gespannt zuzuhören, sondern selbst teilzuhaben. Ein Verlangen, dem Vater Ernesto Guevara nachkam, als er den Elfjährigen in die Jugendorganisation der von ihm in Alta Gracia gegründeten Ortsgruppe der «Acción Argentina» aufnahm. Diese Organisation hatte es sich zum Ziel gesetzt, gegen die antisemitischen, rassistischen und faschistischen Tendenzen in Argentinien anzukämpfen.

Sie versuchte es auf verschiedenste Weisen. Mit Kundge-bungen, Geldsammelaktionen für die Alliierten, Unternehmungen gegen das Eindringen der Nazis in Argentinien, mit dem Nachweis der Infiltrierung durch ehemalige Mannschaftsmitglieder des 1940 in der Bucht von Montevideo gesunkenen deutschen Schlachtschiffs «Graf Spee» und der Verbreitung von Informationen über die Erfolge der Alliierten im Krieg.[23] Wann immer Ernesto sen. die Gebirge rund um Córdoba auf der Suche nach Spuren nazistischer Infiltration durchstreifte, war Ernesto jun. mit dabei.

1941 kam die Zeit, da Ernestito aufs Gymnasium wechseln sollte. Und ein solches gab es nur in Córdoba. Es war ein langer Schulweg, den er tagtäglich vor sich hatte: hin und zurück etwa 70 Kilometer. Für den Dreizehnjährigen ein unerhörter Stress. Zumal sich sein Asthma keineswegs gebessert hatte.

Es war ein ereignisreiches Jahr, in dem Ernesto in das «Colegio Nacional Dean Funes» aufgenommen wurde. Im Juni 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Russland ein. Und im Dezember bombardierten japanische Flugzeuge die Pazifikflotte der USA in Pearl Harbor. Der Zweite Weltkrieg eskalierte. Eine mörderische Konfrontation zwischen den Alliierten und den Achsenmächten spitzte sich zu. Wobei Argentinien, nicht zuletzt wegen seiner starken wirtschaftlichen Verbindung zu Nazi-Deutschland, eine dubiose Rolle spielte. Es entwand sich den Bestrebungen seiner Nachbarn, klipp und klar für die Vereinigten Staaten zu optieren. Im Gegenteil: Es ließ sich von der Achse als Stützpunkt in der westlichen Hemisphäre, mit eindeutiger Spitze gegen die USA, benutzen. Und es wurde zum Standort sinistrer politischer Kräfte. Nazis, Falangisten und Faschisten gaben sich hier ein Stelldichein. Sie schleusten Spione ein und trieben Propaganda.

Das politische Hauptereignis der Jugendzeit Ernestos wurde die Machtergreifung von Juan Domingo Perón, damals für die Öffentlichkeit noch ein unbeschriebenes Blatt. Dieser Bewunderer Mussolinis und auch Hitlers, der als führendes Mitglied der allem Anschein nach faschistisch angehauchten «Gruppe Vereinigter Offiziere» (GOU) am Putsch gegen die herrschende Militärfraktion beteiligt war, stieg zum Arbeitsminister, dann zum Kriegsminister und schließlich, 1944, auch zum Vizepräsidenten auf. In der neuen Militärregierung war Perón vor allem auf eine progressive Sozialpolitik bedacht. Höhere Löhne für die sogenannten kleinen Leute und mehr gewerkschaftliche Rechte standen auf seinem populistischen Programm. Er verstand es, mit Hilfe seiner späteren Frau Eva Duarte, einer ehemaligen Sängerin und Filmschauspielerin, die als «Madonna der Armen» nahezu mystische Verehrung genoss, das Arbeitsministerium zu einem Schlüsselinstrument seiner Politik zu machen.

Geschickt, mit raffinierter volksnaher Attitüde, umwarb er die Enkel der spanischen und italienischen Arbeiter und mit ihnen die größte Gewerkschaft Argentiniens, die «Confederación General de Trabajadores» (CGT), in der diese die Mehrheit stellten. Wie eine gute Fee erfüllte Evita Perón nach ihrer Heirat als «Presidenta» den «Descaminados», den «Hemdlosen», und ihren bitterarmen Familien, die vor ihrem Büro ehrfürchtig Schlange standen, Wünsche nach ein paar Pesos, Lebensmitteln, Mobiliar oder anderen Dingen des täglichen Bedarfs.[24]

Indem er lohn-, tarif- und arbeitsrechtliche Konflikte zugunsten der Arbeitnehmer beizulegen half, schuf sich Perón eine Massenbasis. Unter dem Einfluss der katholischen Soziallehre tendierte er zu einem rückwärtsgewandten und undemokratischen Korporatismus. Aber die «Aufhebung der Klassengegensätze», die er um des sozialen Friedens willen mit seiner Lohn- und Sozialpolitik anstrebte, sollte ihm später nurmehr zur Machterhaltung dienen.[25]

Perón mochte beim Proletariat noch so populär sein, der Linken war er, nicht zuletzt wegen seines konservativen katholischen Nationalismus, zutiefst verhasst. Für sie war und blieb er ein Faschist. Da konnte er die wirtschaftliche Emanzipation des argentinischen Proletariats im Innern und die Befreiung der Republik aus der Umklammerung durch den ausländischen Imperialismus verlangen – bei der Linken fand er damit kein Gehör. Erstaunlich, dass Linksintellektuelle wie die Eltern Che Guevaras nicht einmal ein Kernelement des «justicialismo» goutieren mochten: den «Mittelweg» zwischen Kapitalismus und Kommunismus, den er propagierte.[26]

Und verwunderlich auch, dass Ernestos Anti-Peronismus ebenso entschieden ausfiel wie der seiner Eltern, ohne dass er dabei den Worten hätte Taten folgen lassen. Er rührte zu dieser Zeit, als Jugendlicher, keinen Finger gegen die Übel, die er später anprangern und bekämpfen wird: den chronischen Wahlbetrug, den Militarismus, die Korruption, die Ausbeutung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und den «Yankee-Imperialismus».

Ernesto hüllte sich, zurückgezogen in eine Zimmerecke, oft in Schweigen, wenn die Älteren am Esstisch heftig debattierten. Und ähnlich wortkarg gab er sich bei politischen Diskussionen in der Schule. Im Alter von fünfzehn Jahren blieb er den Protesten «gegen die gleichsam faschistischen Säuberungsaktionen in den Schulen des Landes»[27] fern. Und er beteiligte sich auch nicht an Streiks gegen die Diktatur Peróns.

Es tat sich in dieser Zeit bei dem jungen Ernesto eine merkwürdige Diskrepanz zwischen theoretischem Feuereifer und praktischer Lethargie auf. Während er das internationale Geschehen mit Aufmerksamkeit verfolgte, schien er sich für Argentinien trotz des politischen Umbruchs nicht weiter zu interessieren. Als Peróns Chef, General Pedro Ramírez, Ende 1943 die politischen Parteien verbot, strenge Vorschriften religiöser Art erließ und die Pressezensur verschärfte, gingen die Oberschüler und die Lehrer auf die Straße, um dagegen zu protestieren.

Einer von Ernestos besten Freunden wurde dabei festgenommen und inhaftiert. Als Monate verstrichen, ohne dass sich ein Gerichtsverfahren gegen ihn und seine Gefährten abgezeichnet hätte, also auch in den Sternen stand, wann sie freigelassen würden, rief ein Solidaritätskomitee zu einer Demonstration gegen diese Willkür auf. Ernesto blieb daheim mit der Begründung: Auf die Straße gehen, um sich von der Polizei niederknüppeln zu lassen? Ich beteilige mich nur, wenn mir jemand einen «bufoso» [Revolver] in die Hand drückt.[28] Man hat Ernesto später gern als frühreifen Sozialisten und leidenschaftlichen Jungpolitiker dargestellt. Doch das erweist sich bei näherem Hinsehen als Legende. Er selbst hat dieses Bild von sich korrigiert: […] in meiner Jugend hatte ich keinerlei gesellschaftliche Interessen, und ich habe in Argentinien nie an Studentendemonstrationen oder politischen Aktionen teilgenommen.[29] Er trat während des Anti-Peronismus seiner Mitschüler und Kommilitonen nur als Zaungast auf.

1943 wechselte seine Schwester Celia auf das Lyzeum in Córdoba. Grund für die Familie, sich dort niederzulassen, um den beiden Kindern den strapaziösen Schulweg zu ersparen. Die Eltern waren, wieder einmal, so knapp bei Kasse, dass sie sich mit einer recht bescheidenen Bleibe begnügen mussten, mit einem vom Verfall bedrohten Haus unweit eines Armenviertels.

Dies scheint den Fünfzehnjährigen jedoch nicht sonderlich gestört zu haben. Er las weiter wie ein Wissenssüchtiger, und er trieb Sport bis an die Grenzen seiner körperlichen Möglichkeiten – übrigens etwas für ihn Typisches. Von seiner Mutter Celia scheint er die Lust am Risiko geerbt zu haben. In seinen Erinnerungen «Mein Sohn Che» schildert der schwergeprüfte Vater etliche Begebenheiten, bei denen die Mutter fahrlässig in Lebensgefahr geraten, zum Beispiel beinahe ertrunken ist. Von Ernesto erzählt er, wie er sich etwa eine Eisenbahnbrücke, die zwanzig Meter hoch über einen Fluss führte, als Objekt gewählt habe, um seine Tollkühnheit unter Beweis zu stellen: «Oft balancierte Ernesto auf den Gleisen über den Abgrund oder hangelte sich mit den Händen zu den Eisenbahnschienen auf die andere Seite der Brücke, wobei die Freunde ihre Blicke mit Schrecken abwandten. Waren Mädchen unter den Zuschauern, so übertrieb er zusätzlich und vollführte noch waghalsigere Balanceakte.»[30]

Berufsziel: Arzt

Es kam die Zeit, da er sich für ein Studienfach entscheiden musste. Bei seiner mathematischen Begabung hätte es nahegelegen, die Ingenieurlaufbahn zu wählen, zumal er schon als Schüler bei einer Straßenbauverwaltung ausgeholfen und dabei einige Erfahrungen gesammelt hatte. Nicht nur technische, sondern auch soziale. Stolz berichtete er als Siebzehnjähriger in einem Brief an seinen Vater, nachdem er das Straßenbauwesen als einzigen Bestechungshaufen bezeichnet hatte: Der Beauftragte erzählte, daß ich der erste Laborant in zwanzig Jahren sei, den er kennengelernt hätte, der kein Schmiergeld annahm, und einer der zwei oder drei, die nicht selbst schmierten.[31]

Umso erstaunter waren seine Schulfreunde, als er sich nach dem Abitur, 1946, für ein Medizinstudium entschied. Er schwelgte in der Phantasie, ein berühmter Arzt zu werden, ein Allergologe, der wirksame Mittel gegen das schreckliche Asthma würde entwickeln können.

Und es kam noch ein trauriges Ereignis hinzu, das ihn in dem Entschluss zum Medizinstudium bestärkte: Anfang Mai erlitt seine neunzigjährige Großmutter Ana Isabel, die er nicht nur besonders respektierte, sondern auch innig liebte, einen Schlaganfall. Als Ernesto ein Telegramm erhielt, aus dem hervorging, wie schlecht es um sie stand, gab er sofort die Arbeit beim Straßenbauamt auf und fuhr mit dem nächsten Zug nach Buenos Aires. Der Vater erinnert sich: «Ernesto wich nicht vom Bett meiner Mutter und versuchte ihr Leiden auf alle möglichen Arten zu lindern. Wir alle konnten sehen, daß ihre Krankheit sehr schwerwiegend war. Als Ernesto mit Verzweiflung sah, daß seine Großmutter nicht mehr aß, versuchte er mit einer unvergleichlichen Geduld, ihr Nahrung zuzuführen. Er blieb bis zuletzt bei ihr.»[32]

Während der Schulzeit und des Studiums war Ernesto zu einem Wahrheitsfanatiker herangereift, auch zu einem Dickkopf, der stets das letzte Wort behalten wollte. Die Freunde und Freundinnen erlebten ihn als einen Mann voller Widersprüche. Er war ein notorischer Einzelgänger, aber auch ein ausgesprochen soziales Wesen. Er kam mit seinem immensen Wissen als wandelnde Bibliothek daher, aber er spielte sich nicht als hochfahrender Intellektueller auf. Er hatte einen besonders ausgeprägten Sinn für Mitmenschlichkeit und konnte doch auch erschreckend harsch zu manchen Zeitgenossen und über die Maßen egozentrisch sein.

Ches Charisma