Cheevey - Gerald DiPego - E-Book

Cheevey E-Book

Gerald DiPego

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Claude Cheever – genannt Cheevey – wird zwanzig. Und wenigstens auf seiner Geburtstagsparty möchte er einmal wieder seine ganze Familie zusammenbringen. Aber statt dessen läßt seine Mutter eine Bombe platzen und teilt ihrer Familie mit, daß sie den Rest ihrer Tage in Frankreich verbringen will – allein. Das Familienleben gerät außer Kontrolle. Cheevey versucht zu retten, was noch zu retten ist, doch seine Familie will sich nicht von ihm retten lassen. Und irgendwie sollte er auch langsam sein eigenes Leben in die Hand nehmen. Und dann ist da ja auch noch seine erste große Liebe … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerald DiPego

Cheevey

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Inhalt

Für Chris, für meine [...]PrologCheevey [Teil 1]Cheevey [Teil 2]Cheevey [Teil 3]

Für Chris, für meine Söhne Justin und Zack und für den Jungen, der ich einst war.

Prolog

Gestern gegen Mittag ist ein schwerer Spiegel von der Wand gefallen und auf dem Boden zersplittert. Wir hatten kein Erdbeben, und es fuhr auch kein schwerer Lastwagen vorbei. Der Nagel mit dem Haken steckt noch in der Wand. Ich habe festgestellt, daß eine Metallschraube auf der Rückseite des Spiegels nachgegeben hat. Zwölf Jahre lang hat diese Schraube den Draht, an dem der Spiegel hing, gehalten. Dann, in einer bestimmten Sekunde an einem bestimmten Tag, hat sie nachgegeben. Ich muß über all die Jahre nachdenken, in denen diese Schraube sich nach und nach gelockert hat, als hätte tief in ihrem Innern verborgen eine unsichtbare Uhr getickt.

Ich glaube, solche Uhren sind in allen Gegenständen verborgen, die uns umgeben, in all den Dingen, bei denen wir darauf vertrauen, daß sie an Ort und Stelle bleiben.

Ich weiß, daß es so eine Uhr im Zusammenleben meiner Familie gab. Vielleicht ist mir aufgefallen, daß sich meine Familie im Laufe der Zeit verformt und gedehnt hat, doch während ich durch meine Tage lief und meine Nächte verschlief, glaubte ich fest, daß wir alle an Ort und Stelle bleiben würden – meine Mutter und mein Vater, Phil, Mari, Bob, Ballyhoo und ich.

Wir alle waren Teile einer Maschine, Gegengewichte in einem Uhrwerk, aber das Ticken hörte ich nicht, und es gab kein Erdbeben, noch nicht mal ein Lastwagen fuhr vorbei an jenem Tag, als wir den Halt verloren und abstürzten.

Der zerbrochene Spiegel ist eine Erinnerung. Ich habe die großen Stücke vorsichtig aufgehoben und die kleinen weggefegt. Nur der Haken an der Wand ist noch immer da, um mich an den Augenblick zu erinnern, und die Schraube, die unsichtbaren Uhren. Doch beim Fall und Zerbrechen der Familie Cheever blieb mehr als nur Glas und Staub übrig. In diesem Scherbenhaufen steckten Wahrheiten, manche beschämend und manche erhebend, und jede von ihnen ist noch immer zu scharf und klar, um sie Erinnerung zu nennen und wegzustecken. Wir sind die Scherben, und uns kann man nicht wegfegen.

Möglicherweise ist das alles nur nebensächlich. Die eigentliche Geschichte, die wichtige, spielt sich vielleicht in diesem Augenblick vor dem Schaufenster des Fernsehgeschäftes ab, das meinem Vater gehört. Fast jeden Tag läßt sich ein zerlumpter Mann mit breitem, wächsernem Gesicht für ein paar Stunden auf dem Bürgersteig vor dem Laden Westland Video nieder. Er kommt mit schmutzigen Decken und mit Papiertüten, die vom unzähligen Öffnen und Schließen völlig zerknittert sind. Seine einst blaue Hose und die drei Pullover, seine Schuhe und Hände und das bleiche Gesicht hat der Staub der Straße so eingefärbt, daß sie zueinander passen. Ein Polizist hat mir erzählt, daß der Mann Jack heißt, und seitdem nenne ich ihn Jack-o’-lantern, wie die Kürbislaternen zu Halloween, wegen seines großen, beinahe zahnlosen Mundes und seiner runden Augen.

Er sitzt auf dem Bürgersteig und betrachtet in der Schaufensterscheibe sein Spiegelbild, mit dem er manchmal auch spricht. Für mich ist es sein Spiegelbild, aber für Jack-o’-lantern ist es ein anderes Wesen. Ich habe oft versucht, ihn zu belauschen, doch wenn ich in seine Nähe komme, auch wenn ich das Fenster putze und so tue, als wäre ich ganz auf meine Arbeit konzentriert, wird Jack sehr argwöhnisch und senkt die Stimme noch mehr; manchmal zwinkern sie sich zu, Jack und der Mann in der Scheibe, als wollten sie sagen: «Wir können jetzt nicht sprechen, aber … später mehr.»

Vielleicht vollzieht sich zwischen Jack-o’-lantern und dem Scheibenmann etwas sehr Wichtiges. Vielleicht tauschen sie die Geheimnisse des Universums aus, während Autos vorbeifahren und Kunden ein und aus gehen und ich hier stehe und das Fenster putze. Vielleicht ergibt mein gesamtes bisheriges Leben weniger als eines von Jacks geraunten Wörtern oder ein Zucken des breiten, wächsernen Gesichts des Mannes in der Scheibe.

In nicht ganz zwei Wochen werde ich zwanzig. Es ist ein schwieriges Unterfangen. Es bedeutet einen Sprung, einen Satz über einen Abgrund. Wenn ich darüber nachdenke, schlägt mein Herz schneller. Das heißt nicht, daß ich neunzehn bleibe, falls ich abstürze. Das heißt nur, daß von einem Zwanzigjährigen viel mehr erwartet wird. Man wird mich nach meiner Arbeit und nach meinem Gehalt fragen. Man wird sich nach meinen Plänen erkundigen.

Ich gehe aufs Santa Monica College, und meine Pläne sind mehr als vage. Ich schmiede keine Pläne mehr. Davon werde ich nur ganz nervös. Es ist so, als würde ich mir vornehmen zu träumen. Also vertraue ich darauf, daß ich mich eines Tages umschaue und feststelle, daß ich mitten in einem Plan stecke. Wenn das geschieht, werde ich gerade joggen oder Billard spielen oder dieses Schaufenster putzen.

Westland Video, das Geschäft meines Vaters, liegt am Wilshire Boulevard in Santa Monica, Kalifornien, nur zwölf Querstraßen vom Pazifischen Ozean entfernt, doch in diesem Sommer ist das Wetter heiß und drückend und wesentlich schwüler, als es sein sollte. Am liebsten würde ich Jack und den Scheibenmann fragen, warum das so ist, doch statt dessen tauche ich bloß den langstieligen Schrubber wieder in das Seifenwasser und wische einen weiteren Teil der Scheibe.

Ich putze dieses Fenster jeden Samstag, und immer bin ich verblüfft, wie schmutzig es ist. Die ganze Woche über meine ich, durch eine saubere Glasscheibe zu blicken, aber in Wirklichkeit blicke ich durch Dreck. Erst bei der wöchentlichen Reinigung, erst durch die langsamen Abwärtsbewegungen des Fensterwischers wird mir klar, wie blind ich war. Und schon bald sehe ich gar nicht mehr die frisch geputzte Scheibe, sondern blicke hindurch in den Laden.

Einen Moment lang ist mir, als hätte ich nun Gelegenheit, den Mann, der vor einer Reihe von sieben Fernsehern steht, von denen jeder dasselbe Baseballspiel zeigt, auf neue, klarere Weise zu sehen. Der Mann ist William Cheever, mein Vater, und während mein Fensterwischer den Schmutz entfernt, spüre ich, wie ich ruhig werde und genau hinsehe, weil er so klar zu erkennen ist: die hohe Gestalt, das zerknitterte weiße Hemd, das schüttere, aber noch immer braune Haar und das Profil, leicht nach oben gewandt, während sich die Falten langsam tiefer um die Augen eingraben, weil sich dort ein leises Lächeln einnistet. Ich sehe zu den Bildschirmen hinüber und frage mich, worüber er wohl lächelt, weil der Ton abgedreht ist und das Bild lediglich einen Schlagmann zeigt, der sich die Hände abwischt – und dann wird mir zum fünftausendsten Mal klar, daß er über nichts Bestimmtes lächelt. Er ist bloß glücklich darüber, fernzusehen, auf friedliche Weise glücklich. «Ich war dabei, als es anfing», hat er gesagt. Er meint das Fernsehen, und er betrachtet es mit ruhiger Verwunderung und Verehrung, als wäre es keine Erfindung, sondern ein Besucher aus einer anderen Welt. Mein Vater mag mich, vermute ich, aber ich kann mich nicht entsinnen, je der Grund für dieses besondere friedliche Lächeln auf seinem Gesicht gewesen zu sein. Ich entsinne mich, es versucht zu haben. Ich versuche es immer noch. Das Lächeln, das er für mich übrig hat, ist ein rasches, nervöses, beiläufiges Lächeln. Ich gebe mir Mühe, das nicht persönlich zu nehmen. Er konzentriert sich eigentlich nie längere Zeit auf irgend jemanden, aber ich gestehe, daß ich jedesmal ein kleines Stechen in der Brust spüre, wenn seine Augen von mir abgleiten, ohne haftenzubleiben.

Mir wird klar, daß ich meinen Vater heute nicht besser verstehe als früher. Mein Blick prallt ab, dringt nicht in ihn ein, trotz der sauberen Scheibe.

«Cheevey!»

Noch bevor ich die Fensterscheibe nach dem Spiegelbild absuche, weiß ich, was ich sehen werde. Ich kann Danny Benkos Volkswagen auf dem Boulevard tuckern und ächzen hören, und ich weiß, daß Benko oben aus dem geöffneten Schiebedach herausschaut, die Baseballkappe nach hinten gedreht, und mich mit seinem pausbackigen Gesicht anblinzelt. Vielleicht ist Chin dabei und lümmelt sich auf dem Beifahrersitz.

Ich sehe in die Scheibe, und die Szene ist ganz nah. Chin lümmelt sich auf der Rückbank, Ben Carpenter sitzt massig auf dem Beifahrersitz, und Benko blinzelt und ruft über den Lärm des Motors hinweg.

«Hast du Lust, zu Johnny Rockets nachzukommen?»

«Welchem?» Ich weiß nicht, wieso ich die Frage stelle, weil ich ohnehin nicht nachkommen kann. Wenn ich mit dem Fenster fertig bin, muß ich zu meiner Schwester babysitten. Wahrscheinlich bin ich nur neugierig, und wenn ich sie mir später ohne mich in dem Restaurant vorstellen will, weiß ich, in welchem.

«Dem an der Promenade», sagt Benko.

«Nein, ich kann nicht. Ich muß für Mari babysitten.»

Benko blinzelt mich an und sagt: «Wieso hast du dann gefragt, welches Johnny Rockets?» Deshalb mag ich Danny Benko. Neben Mari und Ballyhoo ist er mein bester Freund.

*

Ich jogge in weniger als fünfzehn Minuten vom Laden zu Maris Wohnung. Sie wohnt im ersten Stock. Eine steile Außentreppe führt dort hinauf, und ich nehme immer zwei Stufen auf einmal. Vor zwei Jahren, als Mari in die Wohnung zog, habe ich angefangen, vom Geschäft bis hierher zu laufen. Damals habe ich es gerade bis zur Treppe geschafft, und die bin ich dann keuchend hochgegangen. Die Treppe mißt meine Stärke und mein Durchhaltevermögen und zeigt mir die Veränderungen, jedesmal ein kleiner Sieg. Ich habe kein besonderes Ziel im Kopf. Ich laufe keine Wettrennen. Ich stelle mich nicht gerne einem Wettkampf, außer bei dieser Treppe.

Die Treppe aus Zement und Stahl vibriert unter meinen Schritten, läßt das Gebäude erbeben und holt Ballyhoo an die Fliegentür der Wohnung, noch bevor ich ganz oben bin. Wenn man jemand durch ein Fliegengitter sieht, wirkt die Gestalt weich und verschwommen, wie eine grobkörnige Fotografie, und Ballyhoo sieht, während er mich anstrahlt, sogar noch schöner aus als sonst. Ich kann sehen, wie sich auf seinem Gesicht angespannte Erwartung in Freude verwandelt.

Auch ich lächle von einem Ohr zum anderen, während ich zusehe, wie er versucht die Fliegentür zu öffnen, um mich zu begrüßen. Er kommt nicht ganz bis an den Griff, also gibt er auf und guckt nur noch, und wir beide sehen uns an, ein wenig verlegen, weil wir so glücklich sind, uns zu sehen.

«Ballyhoo!»

Er lacht – bloß drei ansteigende Noten auf einer Flöte –, und dann taucht Mari aus dem grauen Halbdunkel hinter der Fliegentür auf und öffnet sie. Ich gehe hinein und hebe den Jungen hoch und spüre, wie sich seine kleinen Arme um meinen Hals schlingen, und er drückt mich ganz kurz ein bißchen fester, eine Art Miniumarmung.

«Tut mir leid, ich bin total verschwitzt, Kumpel.»

«Was gibt’s sonst Neues?» sagt Mari und will damit ausdrücken, daß ich doch immer verschwitzt bei ihnen ankomme. «Dusch schnell, ja? Wir müssen los.» Ich habe T-Shirts und Unterwäsche bei Mari deponiert, weil ich immer nach dem Laufen dusche.

«Hi, Cheevey.» Maris Freundin Dash sagt das in eine Zeitschrift hinein, dann wartet sie einen Taktschlag ab, blickt auf und lächelt mich an. Ich bin unsicher, ob sie affektiert oder gar theatralisch ist. Sie ist ein Mensch mit großen Gesten, langen Pausen, sehnsüchtigen Blicken, verführerischem Lächeln. Und ich weiß nicht, ob das alles eingeübt oder natürlich ist. Jetzt zum Beispiel gähnt sie und räkelt sich auf der Couch, die Arme ausgestreckt, selbst die Beine so von sich gereckt, daß die Füße vom Boden abheben, Augen geschlossen, Mund geöffnet. Ich setze Ballyhoo ab und schiele zu ihr hinüber und versuche, es nicht zu tun. Sie trägt ein dünnes, kurzes Kleinmädchenkleid, das sehr viel von ihren gebräunten Oberschenkeln sehen läßt, und ihre Brüste malen sich unter dem Stoff ab, als sie sich reckt, und das alles erhasche ich mit einem einzigen verstohlenen Seitenblick.

Ich kann zwar in Anwesenheit sehr gutaussehender Frauen ganz locker sein, aber nicht bei Dash. Ich kenne sie seit drei Jahren, und irgendwie zieht sie stets meine Blicke auf sich, auch wenn ich weiß, daß es idiotisch ist, sie anzustarren, weil ich mir dann wie ein Voyeur vorkomme und weil man mich dabei ertappen könnte, aber ich riskiere es immer wieder. Ihr Gähnen mündet in ein Stöhnen, das in einen Satz übergeht. «Es ist soooo heiß. Mann, mir wird noch heißer, wenn ich dich ansehe.»

Ich stehe da, will irgendwas Schlagfertiges erwidern, aber der Schweiß tropft mir von der Nase und brennt mir in den Augen. «Ich muß duschen», murmele ich und gehe mit Ballyhoo, der drei von meinen Fingern festhält, aus dem Zimmer.

Bevor ich im Badezimmer verschwinde, hocke ich mich vor den Jungen hin, so daß unsere Augen auf gleicher Höhe sind, und tauche in seinen brunnentiefen Blick. Wir lächeln leicht, doch die Begrüßung ist vorbei, und nun wird verhandelt.

«Videospiele?»

Er schüttelt den Kopf.

«Das Fort?»

Er stockt, überlegt.

«Sollen wir uns Frozen Yoghurt holen gehen?»

Seine bodenlosen Augen füllen sich mit einer Vision. «Mit meinem Wagen», sagt er.

Ich nicke zum Einverständnis, und dann mache ich eine Faust und versetze ihm einen leichten Hieb in den Magen. Er versetzt mir einen leichten Hieb aufs Kinn. Das ist wohl unsere Art, uns zu küssen.

Maris Sohn ist mein einziger Neffe. Nichten habe ich keine. Mari ist sechsundzwanzig. Unser Bruder Phil ist dreißig, aber unverheiratet und kinderlos. Meine Mutter hat uns allen französische oder französisch klingende Namen gegeben. Auf der Geburtsurkunde meines Bruders wird sein Name mit Philippe angegeben, aber niemand traut sich, ihn so zu nennen, noch nicht mal meine Mutter. «Mari» war eine Inspiration, weil es französisch klingt, mit diesem frechen Pünktchen, das über dem Namen schwebt, aber eigentlich ist es nichts anderes als «Marie», wenn man es ausspricht. Meine Mutter nennt mich Claude und spricht es auch französisch aus, obwohl sie bloß ein Achtel Französin ist, von vor vielen Generationen. Meine Freunde haben mich von Anfang an Cheevey genannt, weil sie mit meinem Nachnamen besser klarkommen, und selbst in meiner Familie hat er sich durchgesetzt, zumindest bei Phil und Mari. Ich denke, sie wollten damit gegen meine Mutter rebellieren. Dad nennt mich Claudey.

Mari wollte ihren Sohn William nennen, nach unserem Vater. Ihr Mann Bob wollte ihn Hugh nennen, nach seinem Vater, also haben sie sich auf William Hugh Horton oder Billy Hugh geeinigt – und daraus wurde dann Ballyhoo. Nur Mari und ich sagen «Ballyhoo» und Ballyhoo selbst. Sein Vater Bob hört das gar nicht gern und gibt mir die Schuld für diese Schöpfung. Und überhaupt mag er mich nicht besonders.

Während ich unter der Dusche stehe, kommt jemand eilig ins Badezimmer. Mari würde das nur im Notfall tun, und als ich versuche, durch die beschlagene Glastür der Dusche zu spähen, weil ich befürchte, daß irgendwas passiert ist, höre ich Dash sagen: «Ich guck nicht hin, Cheevey, Ehrenwort», und ich drehe mich rasch um, weg von ihrer dunstig verschwommenen Gestalt, und dann höre ich über das Rauschen der Dusche hinweg: «Ich muß dringend pinkeln, aber ich schwöre, ich laß die Augen zu.»

Also ist mein nackter Hintern dieser ausgesprochen gutaussehenden Freundin meiner Schwester zugewandt, und ich kämpfe gegen die Versuchung an, mir den Hals zu verrenken und rüberzuschielen, aber ich tu es nicht, weil ich verlegen bin und ich sie eigentlich auch gar nicht auf dem Klo sitzen sehen will. Dann geht die Klospülung, und die Dusche wird kalt, so daß ich nach Luft schnappe, und ich höre sie sagen: «Ciaoooo», und die Tür schließt sich wieder. Durch die Tür kann ich Maris Stimme hören, ein paar Töne höher vor Verblüffung und Tadel: «Da-ash! Bist du wirklich da reingegangen?»

*

Ich gehe zu dem Laden, wo Frozen Yoghurt verkauft wird, und ziehe dabei Ballyhoo in einem vierrädrigen Spielzeugwagen mit hohen Seitenteilen hinter mir her. Er steht, hält sich an den Holzleisten fest, starrt geradeaus, und sein Gesicht ist ernst, während er sich ganz genau die Stadt ansieht und sie gleichzeitig verändert, seiner Phantasie freien Lauf läßt. Er scheint ein winziger römischer General oder Kaiser zu sein, der in seinem Streitwagen steht, und ich bin vier Schimmel.

«Aus dem Weg», sagt Ballyhoo leise. «Aus dem Weg.» Es macht ihm kaum etwas aus, daß ich ihn beobachte und ihm zuhöre. Das tut seiner Phantasie keinen Abbruch. «Macht Platz für Jaka.» Ich möchte ihn nicht unterbrechen und fragen, wer Jaka ist. Meiner Meinung nach ist das nämlich keine Phantasievorstellung. Vielleicht sind Kinder unter vier ständig damit beschäftigt, in einem parallelen Universum zu verschwinden und wieder daraus aufzutauchen. Nach dem vierten Lebensjahr vergessen wir dann allmählich, wie das geht.

«Aus dem Weg», sage ich laut. «Macht Platz für Jaka.» Ballyhoo lächelt ein ganz klein wenig, ohne dabei seine gebieterische Pose aufzugeben, und wir bewegen uns weiter den Pico Boulevard hinunter, der Kaiser und seine Wache. Ich bin ihm dankbar, daß er mich mitspielen läßt. Wenn ich allein den Pico Boulevard entlanggehe, sage ich nie etwas.

Bevor wir den Eisladen erreichen, fällt mir auf, daß ein Wagen neben uns die Straße entlangrollt. Ich sehe hinüber und sehe Bob, Ballyhoos Vater, der seinen Honda mit fünf Kilometern pro Stunde fährt und zu uns herüberstarrt. Er sieht aus, als überlegte er, was wir vorhaben, und sein Blick ist finster. Ich sehe Bob selten fröhlich, aber vielleicht ist er fröhlicher, wenn ich nicht dabei bin. Das hoffe ich jedenfalls für Mari und Ballyhoo. Bob ist blond und sähe gut aus, wenn er mal lächeln würde. Er ist fast so groß wie ich und kräftiger. Er joggt auch, aber auf dem Sportplatz. Er ist ein Jahr jünger als Mari und hat vor zwei Jahren sein Jurastudium abgeschlossen. Aber dann ist er bei der Zulassungsprüfung zum Anwalt durchgefallen. Das ist das einzige, was ich an Bob sympathisch finde.

Bob drückt auf die Hupe, und ich bleibe stehen, und jetzt schaut auch Ballyhoo hinüber. Bob zieht die Augenbrauen hoch, als er seinen Sohn ansieht, und scheint irgendwie zu lächeln, aber seine finstere Miene ist wieder da, als er sich mir zuwendet.

«Wo wollt ihr denn hin?»

«Frozen Yoghurt holen.»

«Jetzt?! Wo ist Mari?»

«Sie –»

Wir werden von wütendem Hupen unterbrochen, weil Bob die Straße blockiert. Er dreht sich um und funkelt die ungeduldigen Fahrer wutschäumend an, dann zeigt er ihnen den Finger und fährt ein Stück weiter vorn an den Bürgersteig. Ich setze mich wieder in Bewegung und ziehe Ballyhoo zu dem parkenden Wagen. Bob steigt aus und kommt uns entgegen, aber er steuert geradewegs auf mich zu und redet auf mich ein, während ich finde, er sollte zuerst mal Ballyhoo zur Begrüßung umarmen. Er wäre ein fröhlicherer Mensch, wenn er das täte. Ich weiß, daß Bob auf mich und Ballyhoo eifersüchtig ist. Er hat mir vorgeworfen, ich würde den Jungen verwöhnen, aber wahrscheinlich weiß er selbst, daß das Blödsinn ist. Der Mann hat einfach nichts Verspieltes an sich. Ich sehe ihn nie mit Ballyhoo auf dem Boden sitzen, es sei denn, er hält einen Schraubenzieher in der Hand und versucht, ein kaputtes Spielzeug zu reparieren, das er verflucht. Er gibt nie vor, etwas anderes zu sein als Bob, und er ist nie albern. Zumindest tut er nichts von alledem, wenn ich in der Nähe bin. Ich hoffe, daß er, wenn er mit seinem Sohn allein ist, weicher und kindischer ist – aber ich bezweifle es. Mari sagt, es liegt daran, daß seine Eltern ihn wie einen kleinen Erwachsenen behandelt haben – und weil Bob unter großem Druck steht. Zur Zeit hat er nämlich einen Job bei einer Versicherung, der ihm zuwider ist, studiert Betriebswirtschaft und bereitet sich obendrein auf den zweiten Versuch vor, die Zulassungsprüfung zum Anwalt zu bestehen. Alle seine Geschwister sind Anwälte, hat Mari mir erzählt, auch seine Mutter und sein Vater. Sogar ihre Nachbarn sind Anwälte, sogar ihr Haushund. Ich versuche, Bob zu mögen. Jedesmal.

«Er kriegt jetzt keinen Frozen Yoghurt. Es gibt bald Abendessen. Wo ist sie?»

«Ich weiß nicht. Sie ist mit Dash ausgegangen.»

«Das darf nicht wahr sein. Hat sie irgendwas gesagt wegen Abendessen?»

«Nein …»

«Das darf nicht wahr sein.»

Ich hatte nicht ans Abendessen gedacht. Bob hat völlig recht, daß der Junge dann keinen Hunger mehr hat – aber es ist so heiß heute, immer noch heiß und feucht, und das um Viertel vor sechs.

«Na ja, es ist heiß», sage ich, «wir könnten doch alle einen Frozen Yoghurt essen mit Obst – und Nüssen. Ich meine, das ist doch ziemlich gesund. Und –»

«Bezahlst du?» sagt Bob lauernd, als ob ich ein Schnorrer wäre, was ich nicht bin. Ich gebe mir immer noch alle Mühe, ihn heute zu mögen, also rege ich mich nicht auf.

«Klar. Ich lade euch ein. Wir könnten zusammen –»

«Nein, ich hab bloß …» Bob seufzt und sieht weg, seine Art, sich beinahe zu entschuldigen.

«Daddy. Darf ich einen Quirl haben?»

Endlich wendet Bob sich Ballyhoo zu. «Einen was?»

«Das sind drei verschiedene Sorten zusammengequirlt», sage ich, bevor ich merke, daß ich lieber den Mund halten und ihn mit seinem Sohn reden lassen sollte.

Bob starrt mich an, als wollte er es verstehen, als versuchte er, sich den zusammengequirlten Frozen Yoghurt vorzustellen, aber vielleicht versucht er ja, mich zu verstehen. Ich bedenke ihn mit einem freundlichen milden Lächeln, indem ich die Lippen breit- und die Augenbrauen hochziehe, um stumm zu fragen, wie es denn nun mit dem Frozen Yoghurt ist.

«Ich bringe ihn nach Hause», sagt Bob und macht einen Schritt auf Ballyhoo zu. «Kannst du den Wagen zurückbringen?» Er hebt den Jungen aus dem Wagen und geht Richtung Auto.

«Da-ad!»

«Es ist zu spät für ein Eis.»

«Da-ad!»

«Hör mal, Billy. Es gibt doch gleich Abendessen.»

Bob redet ziemlich sanft mit seinem Sohn, aber ich fürchte, wenn Ballyhoo noch einen weiteren Versuch startet, wird Bob die Geduld verlieren. Ich habe mal gesehen, wie er den Jungen geschüttelt hat, nicht allzu fest, aber so fest, daß es mir in der Seele weh tat. Ballyhoo sieht mich über die Schulter seines Vaters hinweg traurig an, gleich wird er weinen. Ich beobachte, wie sie sich dem Auto nähern, und wünsche mir – ja ich bete fast –, daß Bob Ballyhoo fester an sich drücken wird, wenn das Weinen beginnt. Langsam verzerrt sich das kleine Gesicht, und das Wimmern setzt mit dem Atemholen ein; dann kommt der erste laute Schrei, der das Ende des Frozen-Yoghurt-Abenteuers betrauert und das Ende von Jaka, dem Kaiser. Ballyhoos Stirn ruht an der Schulter seines Vaters, als der nächste, noch lautere Schrei kommt, fast ein Kreischen, und in diesem Moment wiegt Bob den Jungen hin und her und tätschelt ihm zumindest mit einer Art zerstreutem Mitgefühl den Rücken, und ich bin dankbar.

Der Wagen paßt nicht ins Auto, also ziehe ich ihn wieder zurück und stelle ihn in der Garage ab; dann gehe ich hinauf in die Wohnung, um mich von Ballyhoo zu verabschieden, aber Bob bittet mich zu bleiben. Er sagt, er wolle etwas zu essen holen. Dann geht er duschen und zieht sich um, während ich auf dem Boden neben Ballyhoo sitze. Das Gesicht des Jungen ist noch immer tränennaß, und manchmal bebt ihm der Atem in der kleinen Brust, aber er zeigt mir bereits eines seiner großen Märchenbücher und deutet auf die Bilder. Wir denken uns abwechselnd Namen für die Tiere aus, sogar einen zweiten Vornamen. John Francis Tiger. Herman Albert Wiesel. «Rudy Russe Papagei», sagt Ballyhoo, und ich lache, und er lächelt dieses schiefe Grinsen, und die Tränen und der Frozen Yoghurt scheinen vergessen.

Bob fährt etwas zu essen holen und kommt mit Mari nach Hause. Vielleicht haben sie sich einfach draußen vorm Haus getroffen, oder er hat sie unterwegs gesehen und mitgenommen. Ich weiß es nicht. Aber wir hören ihre Stimmen auf der Treppe durcheinanderreden, und Ballyhoo springt auf und will die Fliegentür öffnen. Die ist immer verschlossen, damit er nicht die steile Treppe hinunterfallen kann, also muß ich aufstehen und die Tür öffnen, und ich wünschte, ich müßte das nicht. Ich wünschte, ich könnte auf dem Boden sitzen bleiben und so tun, als sei ich völlig in das Märchenbuch versunken, Bob und Mari streiten sich nämlich.

«Wenigstens einen Zettel!» sagt er. «Dein Bruder erzählt mir rein gar nichts.»

«Ich hab vergessen, ihm zu sagen, was er dir sagen soll.»

Maris Stimme hat einen entschuldigenden Unterton. Das hasse ich am meisten. Er muß sich wegen so was nicht derart aufregen. Durch das Fliegengitter sehe ich, wie er sie mit Blicken durchbohrt. «Nicht zu fassen», sagt er, und es klingt wütend und schneidend. Sie wendet sich ab und sieht mich an und murmelt: «Hi Cheeve», als ich die Tür öffne, aber Bob macht einfach weiter, als wäre ich gar nicht da, dabei weiß er bestimmt, daß die Situation für sie noch unangenehmer ist, weil ich da bin.

«Ich soll also einfach dasitzen, wie ein Trottel, und warten.»

«Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s vergessen. Hi, Bally.»

«Würdest du bitte aufhören, ihn so zu nennen.»

Mari küßt den Jungen oben auf den Kopf, und er sagt zu ihren Schuhen: «Ich wollte einen Quirl.»

«Ja genau, dein Bruder wollte ihm ein Eis zum Abendessen spendieren.»

«Frozen Yoghurt mit Obst und Nüssen», sage ich. Für heute habe ich aufgehört, Bob mögen zu wollen. Er wirft mir einen seiner wütenden, giftigen Blicke zu, aber Mari hebt gerade den Jungen hoch.

«So, jetzt kriegst du von mir einen Quirl», sagt sie und tanzt ein paar Kreise mit ihm durch den Raum, vorsichtig, um nicht auf irgendwelches Spielzeug zu treten.

«Du weißt, daß ich heute abend Seminar habe.» Bob stürmt in die Küche davon. Mari hört auf zu tanzen und wirft mir über den Kopf ihres Sohnes hinweg einen Blick zu. Der Blick ist halb belustigt, halb müde, aber noch immer liegt dieses Quentchen Entschuldigung darin, das ich hasse.

«Hast du Lust mitzuessen?» Als sie das sagt, sieht sie mich hoffnungsfroh, vielleicht sogar ein wenig flehend an, aber es fällt mir sehr schwer, mit ihnen beiden zusammenzusein – besonders wenn Bob sauer ist, und das ist er meistens.

«Ich muß los.»

«Warte. Dein Geld.»

«Gib’s mir nächstes Mal.»

«Nein. Warte. Bob! Gib Cheevey sein Geld, ja?» Ich sehe ihr nach, wie sie mit ihrem Sohn in die Küche tanzt. Ich winke, und einer von diesen zarten Miniaturarmen mit Hand hebt sich und winkt zurück. Ich fange noch einen Blick aus einem Auge auf, als seine Mutter sich mit ihm dreht und er sich gegen sie drückt. Dieser tiefe, braune, bodenlose Blick scheint zu sagen: Ich weiß. Ich verstehe alles, was hier vor sich geht.

Dann dreht sich Mari erneut mit ihm und verschwindet rückwärts in der Küche, schiebt sich durch die Schwingtür und lächelt mir dabei zum Abschied zu. Sie sieht nicht so umwerfend aus wie Dash. Mari ist klein und eher eckig als kurvig. Ihre Gesichtszüge sind nicht so fein geschnitten, aber wenn sie sich zu einem Lächeln sammeln, scheinen sie irgendwo in ihr eine Quelle anzuzapfen, und ein echtes Leuchten erscheint, Wärme und Freude. Dash hat das nicht. Auch sonst niemand in meiner Familie. Aber es ist zerbrechlich, dieses Lächeln, das sich schon wieder auflöst, noch während ich es entstehen sehe, und bevor sie sich in der Küche umwendet, ist es verschwunden.

Bob nimmt keine Notiz von ihr, als er durch die Schwingtür auf mich zukommt, aber er ruft ihr nach: «Tu als erstes die Pizza in den Ofen.» Dann sieht er mich an und sagt: «Wieviel?»

«Vier, glaube ich.»

«Was nun, sind es vier oder nicht?»

Ich starre ihn bloß an. Ich würde diesem Mann gern so vieles sagen, und das nicht nur zu seinem arroganten Auftreten. Ich hätte eine Menge dazu zu sagen, daß er an einem derart heißen Tag wie diesem eine Tiefkühlpizza kauft und den Ofen aufheizt, wo doch ein großer Frozen Yoghurt mit Erdbeeren, Bananen und Walnüssen wesentlich gesünder und angemessener wäre, aber ich drehe mich einfach um und gehe und steige die Treppe hinunter, lasse ihn mit den vier Scheißdollars in der Hand stehen, und er stottert: «Was? Was? Was ist denn jetzt los … Ach so, ich hab wohl deine Gefühle verletzt, was? Na toll. Prima. Meine Güte. Was seid ihr bloß für eine Familie. Unglaublich!»

Ich höre, wie er die Innentür zuknallt, und ein Teil von mir hofft, daß er sich den Finger einklemmt, aber das ist ein ziemlich gemeiner Gedanke, und deshalb schiebe ich ihn beiseite, als meine Füße auf den Bürgersteig treten und ich, ohne nachzudenken, wieder anfange zu laufen.

Ich gehe noch einmal unter die Dusche, als ich zu Hause ankomme. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wegen der Wasserverschwendung, und ich frage mich, ob meine Haut schuppig und mein Haar strohig werden wird, aber vor allem muß ich an Maris Badezimmer denken und daran, wie Dash hereingekommen ist, und ich überlege mir, was ich hätte sagen können, und spiele die Situation im Kopf noch einmal durch. Als sie erst sagt: «Ich guck nicht hin, Cheevey, Ehrenwort», sage ich: «O doch, das tust du.» Sie sagt: «Nein, ich muß nur pinkeln.» Ich sage: «Was dagegen, wenn ich mich weiter einseife? Ich hab gerade mit der wichtigsten Stelle angefangen.» Daraufhin lacht sie ihr typisches lautes, schamloses Lachen und gibt damit den richtigen Ton an. Sie sagt: «Brauchst du Hilfe?» Ich sage: «Hoppla. Hab die Seife verloren. Hebst du sie auf?» Ihr Lachen wird noch kehliger, und es mischen sich lustvolle Kiekser dazwischen. Sie sagt provozierend: «Paß auf, Cheevey, vielleicht mach ich das sogar», und ich sage: «Zu zweit wäre es hier drin furchtbar eng» und werde mit einem weiteren tiefen, entzückten Lachen belohnt, und ich höre, wie sie die Badezimmertür abschließt. Dann öffnet sie die Tür der Duschkabine, und ich seife mich einfach weiter ein, und sie tritt von hinten an mich heran und berührt mich, und ich drehe mich um, und sie kichert, bis ich ihr Lächeln wegküsse und ihr den Atem nehme, und dann, während wir uns weiterküssen und uns nicht voneinander lösen, fange ich an, ihr beim Ausziehen zu helfen, ziehe ihr Kleid langsam nach unten, weil es naß ist und ihr am Körper klebt, und dann schiebe ich ihr die nasse, hauchdünne Unterwäsche von Brüsten, Hüften und Hintern …

Während ich mir das vorstelle, wird mein Penis dick und erhebt sich langsam, wie ein blindes urzeitliches Tier, das seinem DNS-Programm gehorcht. Kein Denken. Reiner Instinkt. Ich bewundere das. Ich habe jetzt keine Lust zu masturbieren, und so sehe ich einfach zu, wie das Tier sich wieder zurückzieht und erneut in urzeitlichem Schlaf versinkt, während das Duschwasser darauf niederprasselt wie ein tropischer Regenguß.

*

Meine Mutter macht im Sommer Salate zum Abendessen. Es sind üppige Salate, und sie schmecken gut, aber ich muß meistens so gegen neun Uhr noch mal los und einen Hamburger essen. Ich könnte die Salate weglassen und allein was Sättigenderes essen, aber dann hätte ich überhaupt keine Gelegenheit mehr, mit meinen Eltern zu sprechen; und die beiden würden wahrscheinlich gar nicht mehr miteinander reden. Von Jahr zu Jahr wird bei mir zu Hause weniger gesprochen und diesen Sommer ganz besonders. Das Schweigen breitet sich aus, wird selbstsicherer, schleicht durchs Haus wie ein finsteres Tier, aber ich versuche, es zurückzutreiben.

Als Mari und mein Bruder Phil noch zu Hause wohnten, hockte das Schweigen in irgendeiner dunklen Ecke und wurde dadurch in Schach gehalten, daß Phil uns herumkommandierte oder durch die langen Gespräche zwischen Mari und mir. Auch heute noch reden wir manchmal stundenlang.

Damals fiel es mir nicht so auf, aber meine Eltern hatten bereits mit dem Schweigen Freundschaft geschlossen. Nach dem Abendessen ging mein Vater immer in das kleine Arbeitszimmer und guckte Fernsehen, und er wollte nicht gestört werden, außer es gab einen sehr guten Grund dafür. Er machte keinen Hehl daraus. «Das ist die Zeit für mich alleine», sagte er oft. Das Fernsehen treibt das Schweigen nicht zurück. Die beiden existieren gemeinsam und nähren sich voneinander. Mein Vater geht noch immer nach dem Abendessen ins Arbeitszimmer. Er braucht es nicht mehr zu erklären.

Meine Mutter machte die Küche mit unserer Hilfe – nicht mit Phils Hilfe; er aß, und weg war er. Mari und mir machte es nichts aus, abzutrocknen und zu wischen und wegzuräumen. Aber sobald die Küche in Ordnung war, ging meine Mutter ins Elternschlafzimmer. Sie hat sozusagen ihr Büro da, einen langen Tisch mit einem Computer darauf und viele Bücher und Papiere. Sie macht zu Hause die Buchhaltung für das Geschäft, aber nachts studiert sie dort. Sie studiert die französische Sprache und die französische Küche und Reiseführer von Frankreich. Sie sagt, sie hat sich auf dem College in Frankreich verliebt und immer davon geträumt, einmal dorthin zu fahren. Meine Familie war oft im französischsprachigen Teil Kanadas, aber für Frankreich spart meine Mutter, und zwar sowohl ihr Geld als auch ihren Appetit, glaube ich. Sie will sich ihr Fest nicht dadurch verderben lassen, daß sie nur eine kurze Rundreise dort macht – was das einzige wäre, wofür wir genug Geld hätten. Sie möchte «lange in Frankreich» bleiben, wie sie oft gesagt hat. «Ohne Zeitplan.» In der Zwischenzeit fährt sie weiterhin ab und an nach Französisch-Kanada oder nach New Orleans, aber jetzt mit einer ihrer «Französischgruppen». Das sind frankophile Clubs. Ihr Sozialleben beschränkt sich ausschließlich darauf.

Nach dem Abendessen geht mein Vater also zum Fernsehen, und meine Mutter geht, wie Mari sagt, nach Frankreich – so hat Mari schließlich das Elternschlafzimmer genannt. Das Haus wird still. Der Fernseher brummt, und gelegentlich klickt der Computer (sie stellt gerade ein französisches Kochbuch für einen ihrer Clubs zusammen), aber es gibt kein Geräusch von einem lebendigen Wesen. Unser Hund ist vor zehn Jahren gestorben. Die Katze hat ihn nur um acht Monate überlebt. Selbst das Summen einer Fliege im Haus kommt mir heute merkwürdig vor. Ich vermute, daß das inzwischen groß und stark gewordene Schweigen die Fliege fängt und auffrißt.

Beim Abendessen attackiere ich das Schweigen an drei Fronten.

«Mama, ich habe einiges über die französische Fremdenlegion gelesen.»

«Hoffentlich leidet dein Studium nicht darunter.»

Ganz gleich, wie gut ich im College bin, meine Mutter meint immer, sie müßte mich hin und wieder ein bißchen antreiben. Obwohl das mittlerweile fast automatisch geschieht, weiß ich es noch immer zu schätzen.

«Rate mal, wo ihre berühmteste Schlacht stattgefunden hat?»

Sie blickt mich jetzt an, ein Häufchen Salat auf ihrer Gabel. Sie sieht Mari ähnlich, ist aber kleiner und gebeugter. Ihre Rückenschmerzen sind mit den Jahren immer schlimmer geworden. Sie sitzt auf einem Kissen, hat eines im Rücken und hält ihren Körper in einer scheinbar unbequemen Position, die ihr aber etwas Erleichterung verschafft. Sie überlegt jetzt, wobei sich ihr schmales Gesicht mit den dunklen Augen leicht anspannt.

«Na ja, ich würde Marokko vermuten.»

Meine Mutter sagt, sie liebt die französische Geschichte, aber in Wirklichkeit meint sie deren Spuren, das Kopfsteinpflaster und die Kathedralen. Sie weiß nicht besonders gut darüber Bescheid, was vor Coco Chanel passiert ist, also hat sie für ihre Verhältnisse ziemlich gut geraten.

«Nein, aber prima geraten. Vorzüglich geraten. Es ist tatsächlich ein Land, das mit M anfängt.»

«Ach Claude, sag’s mir einfach.»

«Von wegen. Welches bedeutende Land fängt mit M an?»

Sie starrt mich weiter an, und noch immer hält die Gabel ihren Bissen Salat. Mein Dad blickt auf, lächelt vage, und das Schweigen verkümmert in der Anspannung des Augenblicks, wohl wissend, daß noch mehr Worte kommen werden.

«Minnesota, Montana …» Mein Dad fängt an aufzuzählen.

«Nein, Dad, Länder.» Sein vages Lächeln wird breiter. Das Schweigen bebt.

«Mongolei», sagt meine Mutter. Sie kennt den Atlas. «Ähhhhh, Mandschurei … Ach, Claude.»

«Gleich hast du’s, Mama.»

«Marshall-Inseln?»

«Nein, Dad, aber nicht schlecht! Sehr schön nachgedacht. Hintersinnig. Originell.»

Das Schweigen verkriecht sich. Ich grinse schadenfroh.

«Mexiko?»

«Richtig, Mama. Brava. Olé. Ein Städtchen namens Camerone – eigentlich bloß eine Hazienda. Aber es war ein Kampf bis zum letzten Mann, und von da haben sie ihren Wahlspruch. Kennst du den?»

Ich warte erneut. Locke das Schweigen, aber es hat sich verkrochen.

«Beau geste», sagt mein Vater, der nun geistesabwesend lacht. Meine Mutter ißt ihren Salat und schüttelt den Kopf, schon nicht mehr ganz bei der Sache. Ich kann es sehen, und es läßt mich verzweifeln.

«Die Legion stirbt», sage ich, «sie ergibt sich nicht.»

Aber sie sind beide nicht mehr da, haben sich urplötzlich wieder in sich zurückgezogen. Das geschieht schnell. Das Schweigen macht zögernd ein paar Schritte vorwärts.

«Dad, hast du das große Zenith-Modell verkauft? Die Leute schienen –»

Er schüttelt bereits den Kopf, Mundwinkel nach unten gezogen. Die Wirtschaftslage ist schlecht, und das Geschäft hält sich so eben über Wasser. Das Thema ist heikel, aber ich riskiere es. Meistens redet er ein paar Minuten über das Geschäft, wenn man ihn drängt.

«Bloß einen kleinen Tragbaren. So einen für die Küche … Und der Videorecorder ist vermietet. Vermietet.» Sein Kopfschütteln hält an, und er schiebt seinen Teller zurück, mit angewidertem Gesicht. Ich merke, daß ich auch ihn verliere.

Als er ihn wegschiebt, stößt der Teller gegen die Servierplatte mit dem Spargel. Es gibt ein schrilles, schmerzhaftes Geräusch, das alle Augen auf die Stelle lenkt, wo der Zusammenstoß passiert ist. Wir sehen, daß ein Stückchen vom Teller abgesprungen ist und daß dieses zehncentgroße Stück jetzt auf dem Tischtuch liegt. Der Blick meines Vaters ist nicht entschuldigend, sondern dunkel herausfordernd, als seine Augen zu meiner Mutter huschen, und ich folge der Bewegung. Sie kontert seinen stechenden Blick mit dem ihren. Gekreuzte Schwerter. Es dauert nur eine Sekunde, dann sehen beide weg, aber ich bin es nicht gewohnt, nackte Klingen zwischen ihnen zu sehen. Ich spüre, wie sich meine Brust verengt. Meine Stimme klingt beschwörend.

«Ihr hättet Ballyhoo heute sehen sollen.» Ich zwinge ein Lächeln auf meinen Teller, spieße das letzte Spargelstück auf. «Er war –»

«Warum nennst du ihn so?» Meine Mutter hat die Neigung, jede Frage weinerlich klingen zu lassen. «Du weißt doch, daß Bob das nicht mag.»

«Ihr hättet ihn jedenfalls sehen sollen.» Ich lache dabei, aber als ich aufblicke, sehe ich, daß weder mein Vater noch meine Mutter irgendein Interesse zeigen. Selbst ihr Enkelsohn kann sie nicht in der Welt halten. Sie gehen nach innen und schließen die Türen hinter sich. Nur das Schweigen antwortet jetzt auf mein Lachen – und kann nun schadenfroh grinsen. Ich spreche gehetzt.

«Er stand in seinem kleinen Wagen, und ich hab ihn die Straße langgezogen, und er hat die ganze Zeit … Dad, ich erzähle dir was.»

«Was?» Mein Vater hat seinen Stuhl zurückgeschoben und steht nun auf.

«Ich habe café au lait», sagt meine Mutter automatisch, während sie noch ißt.

«Den trinke ich später», sagt mein Vater automatisch, während er sich Richtung Arbeitszimmer entfernt.

«Er hat sich in dem Wagen aufgeführt wie ein kleiner König, Mama.»

«Wer?»

«Ballyhoo!»

«Warum mußt du Bob so reizen? Hinterher nörgelt er dann an Mari herum.»

«Er nörgelt so oder so an Mari herum.»

Jetzt steht sie auf, verdreht den Körper dabei, hält aber ihren Hals gerade, und das Essen ist beendet.

«Du und Dad, ihr redet weiß Gott nicht mehr viel miteinander.» Normalerweise gehe ich nicht zum direkten Angriff über, aber ich bin verzweifelt, und das macht sich in meiner Stimme bemerkbar.

Ihr Blick fällt auf mich, und es tut mir leid, daß ich davon angefangen habe. Es ist ein Blick, der mehr sagt, als ich hören will. In ihren Augen liegt Zorn, trotziger Zorn, selbstgerechter Zorn, und eine Verheißung, als ob sie sagen wollte: «Du wirst schon sehen.» Es ist kein jäher Zorn. Den könnte ich akzeptieren. Vielleicht gäbe es dann einen Streit, oder vielleicht würde sie anfangen, sich über Dad zu beschweren. Das wäre besser. Ihr Zorn wirkt verzerrt und bitter, ein alter unförmiger Fels in ihrem Kopf. Dann wendet sie ihren Blick von mir ab, geht steif in die Küche und läßt mich mit einem Frösteln zurück.

Ich kann spüren, wie das schadenfrohe Schweigen durchs Haus schleicht und sich reckt wie ein Panther.

*

Ich wohne nicht im Haus. Phil renoviert Häuser. Vor zwei Jahren hat er, auf Bitte meiner Eltern hin, damit angefangen, den seit Ewigkeiten unfertigen Raum über der Garage auszubauen. Wahrscheinlich hatte er gerade eine seiner seltenen guten Stimmungen, als er sich dazu bereit erklärte – für die Unkosten plus die Hälfte seines normalen Stundensatzes. Es war eine gute Abmachung, aber bald kam es zwischen Phil und meinem Vater zu Streitigkeiten. Mein Vater war mit seinen Zahlungen weit im Rückstand, sogar für das Baumaterial. Also hörte Phil auf, bevor das Bad eingebaut war, und meinte, er würde weitermachen, wenn er endlich Geld bekäme. Mein Vater ist von Natur aus geizig und sehr nervös wegen seines Ladens und der dürftigen Ertragslage, aber er behandelt Phil wirklich schlecht. Ich verstehe ihren Krieg nicht.

Das Zimmer über der Garage auszubauen war die Idee meiner Mutter. Sie wollte es vermieten. Wir hatten den Verdacht, daß sie das Geld für ihren Frankreichfonds haben wollte, aber ohne Badezimmer konnte sie nun mal nicht vermieten, und deshalb wohne ich jetzt da. Ich esse und benutze das Badezimmer im Haupthaus, manchmal sehe ich mit meinem Dad im Arbeitszimmer fern, immer darauf bedacht, nicht zu reden, selbst wenn Reklame läuft – aber fürs College arbeiten, telefonieren, lesen und schlafen, all das mache ich in meinem eigenen Apartment über der Garage, und dort fröne ich auch meinem Hobby.

Ich trete hinaus auf den fleckigen Rasen vor dem Haus und betrachte den letzten Rest des Samstags, der sich in einer Ecke des Himmels über dem Ozean zusammenballt. Ich kann das Dröhnen der Autos auf dem Wilshire Boulevard hören, ein fremdartiges Auflachen aus dem Fernsehgerät meines Vaters und das Klappern und Klirren meiner Mutter bei der Arbeit in der Küche. Ich gehe zur Garage und der Außentreppe, die nach oben zu meinem Zimmer führt, aber ich gehe nicht ganz hinauf. Genau auf halber Höhe setze ich mich auf die Treppe: die Mitte zwischen meinem Zuhause und ihrem Zuhause, zwischen dem dunklen, milchigen Sonnenuntergang und dem Wilshire Boulevard und zwischen jetzt und später. Ich lasse die Zeit gefrieren, indem ich mich auf die Treppe setze, und während dieses hinausgezögerten Augenblicks denke ich über die Gemeinheit zwischen meinen Eltern nach. Ich kann noch immer die Verletzung spüren, die sie in meiner Brust hinterlassen hat.

Ich analysiere sie nicht, diese Gemeinheit, und warum sie in diesem Sommer so plötzlich zugenommen hat; vielleicht habe ich Angst davor. Ich untersuche nur die Erinnerung daran.

Ein Wagen biegt vom Wilshire Boulevard in unsere Straße ein und nähert sich heulend mit einem immer schrilleren Geräusch und einem leichten Klappern, und ich bin froh, daß Benko kommt.

*

Sozusagen als Begrüßung schiebe ich meinen Hintern auf der Treppe ein Stück zur Seite, und Benko setzt sich ächzend neben mich. Er ist nicht groß, aber sehr dick und breit, seine runden, massigen Knie glänzen unter den ausgebeulten Shorts.

«Scheiße.»

«Was?»

«Ich hab Rema gefragt, ob sie heute abend mit uns einen Hamburger essen geht, und gesagt, sie soll für dich Donni Loma mitbringen …»

«Loma ist für dich.»

«Quatsch», sagt Benko. «Jedenfalls hat sie gesagt, vielleicht, und gerade hat sie mich angerufen und gesagt, nein, sie könnten nicht kommen.»

«Nett von ihr, daß sie dich angerufen hat.»

«Na ja, eigentlich habe ich sie angerufen. Ich meine, ich hatte vorher angerufen, um zu hören, ob es klappt, und eine Nachricht hinterlassen. Sie hat also bloß zurückgerufen.»

«Zumindest hat sie sich die Mühe gemacht.»

«Meine Güte, Cheevey. Herrgott noch mal. Sei doch nicht so dankbar. Wer ist sie denn schon? Verdammt.»

«Sie ist Rema, und ich liebe und begehre alles an ihr, selbst ihre Fußsohlen, selbst ihre Schienbeine und jedes Kleidungsstück, das je ihre Haut berührt hat, und sogar die Fusseln auf der Kleidung, die ihre Haut berührt hat, und dir geht es genauso. Ich liebe ihre Schuppen. Ich liebe die Fingerabdrücke, die sie hinterläßt, und alle Krümel auf dem Tisch, an dem sie gegessen hat.»

«Warum fragst du sie dann nicht mal, ob sie mit dir ausgeht?»

«Das werde ich.»

«Wann?»

Statt einer Antwort lasse ich den letzten Rest des Samstags über dem Pazifik verglühen, was soviel heißen soll wie «alles zu seiner Zeit» oder «irgendwann» oder «so was darf man nicht überstürzen».

Ich hatte fast zwei Jahre lang eine feste Freundin, und das war viel zu lange, denn schon nach einem Jahr hatte unsere Beziehung alle Freude verloren. Trotzdem trugen wir die leere Schale mit uns herum, wie eine Eierschale, sprachen leise, bewegten uns vorsichtig und mit Bedacht, damit sie nicht zerbrach, bis wir schließlich kaum noch sprachen, uns kaum noch bewegten. Es schaudert mich, wenn ich daran denke, wie taub und still wir waren, weil es mich an das Schweigen erinnert, das in meinem Elternhaus wächst, und ich frage mich, ob der Keim dieses Schweigens nicht auch in mir steckt.

«Kann ich mir die neue Figur ansehen?»

Benko folgt mir die Treppe hinauf, die knarrt und bebt und sich von der Mauer wegneigt. Phil hat die Arbeit hingeschmissen, bevor die Treppe fest verankert war.

Ich bin stolz darauf, wie mein Zimmer aussieht, besonders nachts. Wenn ich das Licht einschalte, beleuchten drei Klemmlampen das Regal, das ich unter Phils Anleitung eingebaut habe, und auf diesem Regal stehen die Dinge, die mir am meisten am Herzen liegen – meine Bücher über Militärgeschichte und meine Figürchen. Ich habe 273 Bleisoldaten. Vierunddreißig davon habe ich selbst bemalt, und am fünfunddreißigsten arbeite ich gerade.

Die glänzenden Bucheinbände und die bunten Figürchen reflektieren das Licht, und das löst in mir ein Gefühl aus, das ich nicht in Worte fassen kann. Es ist mehr als Stolz. Ich liebe meine Sammlung von Bleisoldaten. Diese Figuren durchziehen meine Erinnerung, seit ich überhaupt Erinnerungen habe. Sie sind nicht «Teil» meiner Kindheit. Für mich sind sie «Sinnbilder» meiner Kindheit. Sie tragen das Gewicht der meisten meiner Kindheitstage und -nächte, und dann ist da noch etwas, das nur schwer auszudrücken und wahrscheinlich unmöglich zu verstehen ist. Ich habe das Gefühl, einer von ihnen zu sein, als hätten sie mich gesammelt.

«Cool.»

Benko hockt sich hin, um auf Augenhöhe mit meiner Schreibtischplatte zu kommen. Die eine Hälfte davon nutze ich für die Arbeit fürs College, die andere zum Malen. Ich schalte die Schreibtischlampe ein, direkt über der neuen Figur, damit Benko die Details sehen kann. Gesicht, Hut und Jacke sind fertig. Die komplizierten Teile mache ich am liebsten zuerst. Ich knie mich neben Benko, um den Soldaten in Augenschein zu nehmen, und mir fällt auf, daß die meisten Menschen die Figur in die Hand genommen hätten, aber Benko und ich nähern uns ihr und lassen sie dort stehen, wie sie stehen soll, Beine gespreizt, Gewehr in der Armbeuge, den Kopf nach links geneigt. Es ist nicht gerade Verehrung, die uns beide dazu bringt, uns hinzuhocken oder zu knien, aber es ist eine Art von Respekt.

Der Mann ist Sergeant in der britischen Armee, man nannte sie Royal Green Jackets. Benko weiß das.

«Der Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel?»

«Ja, um 1809. Fünfundneunzigstes Regiment.»

Sein großer, dicklicher Finger berührt das winzige Gewehr, bewegt es leicht. «Baker-Gewehr?»

«Mhm.»

«Die Augen sehen gut aus.»

«Danke. Der Mund ist mir nicht gelungen, also hab ich ihm einen Schnurrbart verpaßt.»

«Paßt gut zu den Koteletten. Für die Schärpe hast du aber doch bestimmt eine Lupe gebraucht – und die Knöpfe!»

Benko weiß, daß ich nie eine Lupe benutze, und ich lächele stolz.

«Nee.»

«Mein Gott, Cheevey. Du bist unschlagbar.»

Ich nicke langsam und gewichtig, während ich meinen neuen Sergeant betrachte. Benko erhebt sich und geht zum Regal.

«Die Zuaven find ich aber immer noch am schönsten.»

Ich trete neben ihn. Auf dem Regal habe ich eine ganze Frontlinie von angreifenden Zuaven und Highlandern; Reihen von Gurkhas und bengalischen Lanzenreitern paradieren dort; auch französische Legionäre, stehend, kniend, lang ausgestreckt; und sechs arabische Krieger stürmen genau auf die französischen Gewehre zu. Ich habe Napoleons alte Garde und Wellingtons holländische Truppen bei Waterloo und auch seine Artillerie. Da stehen ein Kavallerieschwadron aus Pulaskis Legion im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, irreguläre Derwisch- und Zulu-Truppen, Waliser und Russen, Deutsche aus dem deutsch-französischen Krieg, die Schwere Brigade und die kümmerlichen Überreste der armen, geschundenen Scots Greys von der Krim. Als ich klein war, habe ich meine Truppen mit Luftpistolen und Gummibändern quer durchs Zimmer geschossen – bevor der tiefe Respekt sich in mir breitmachte.

«Als ich heute bei Mari geduscht habe, war Dash da.»

«Dash ist Spitze», sagt Benko bewundernd. Wir inspizieren noch immer meine Truppen.

«Sie ist reingekommen – während ich geduscht habe.»

«Dash?!»Jetzt wendet er sich mir zu, aber ich blicke weiter die Soldaten an. «Dash ist reingekommen?»

«Jawohl.» Ich richte eine Reihe von Preußen aus, einen halben Zentimeter weiter nach links.

«Warum?»

«Sie hat gesagt, sie müßte pinkeln.»

«Gibt’s nicht! Sie hat das währenddessen gesagt?»

«Ja, sie ist reingekommen und hat sich hingesetzt.»

«Gibt’s nicht! Was hast du gemacht?»

«Na ja, da gibt’s ja keinen Duschvorhang, bloß eine Glastür.»

«Was hast du gemacht?»

«Ich hab mich umgedreht.»

«Welche Richtung?»

«Weg von ihr, du Trottel. Denkst du etwa, ich hab ihr meine Vorderseite präsentiert?»

«Du hast ihr deinen Hintern gezeigt?»

«Was hätte ich denn sonst machen sollen?»

«Was hat sie gemacht?»

«Sie hat sich entschuldigt und gepinkelt und hat gesagt, sie würde nicht hingucken, und ist wieder raus.»

«Quatsch. Totaler Quatsch, Mann. Du weißt, daß sie geguckt hat.»

«Na und?»

«Meine Güte. Dash.» Er spricht den Namen fast ehrfürchtig aus. Er ist Dash schon oft begegnet, wenn wir zusammen bei Mari waren oder sie beide irgendwo hingefahren haben oder wenn Benko und ich auf Ballyhoo aufgepaßt und Mari und Dash ihn abgeholt haben. Dash Markel mit ihrem schönen Gesicht und dem sexy Lachen und den tollen Beinen war schon immer begehrenswert und unerreichbar, fünf Jahre älter als wir, mit einem Blick in ihren wachen Augen, der uns zu Kindern macht.

«Du hättest ihr deinen Zauberstab zeigen sollen.»

«Ja klar.»

«Sehr issimo.»

«Muy issimo.»

«Sí.»

«Die ist stark. Die ist Spitze.»

«Du findest jede stark, Benko.»

«Quatsch. Ich habe meine Ansprüche. Du bist der Trottel. Du findest ja sogar meine Schwester stark.»

«Ist sie auch.»

«Sie ist fünfzehn, imbecilico.»

«Sie ist stark, wie man eben mit fünfzehn stark ist.»

Wir gehen zur Tür, und ich strecke schon die Hand zum Lichtschalter aus, werfe aber noch einen letzten Blick auf meine Truppen. Selbst in dieser kurzen Sekunde, bevor mein Finger sie auslöscht, genieße ich den Anblick der Uniformen, glänzenden Bajonette, Lanzen und Flaggen, und ich weiß, daß ich, während ich mit Benko ziellos in der Gegend herumfahre und selbst während ich meinen Hamburger esse, darauf brennen werde, hierher zurückzukehren und meinen neuen Sergeant von der Schützenbrigade fertigzumalen.

*

Wenn ich male, lasse ich keine Musik laufen. Es gibt nur das Geräusch meines eigenen Atems. Es gibt den Geruch der Farbe und das Eintauchen und behutsame Ansetzen des Pinsels. Es gibt das langsame Einkleiden des Soldaten, Knopf um Knopf, Gürtel um Gürtel. Es gibt die Farbe des Lebens, die auf totes Metall gepinselt wird, bis seine Hände aussehen, als könnten sie sich bewegen, und seine Augen wirken, als würden sie jeden Moment zwinkern, und mittlerweile könnte das Atmen, das ich höre, mein eigenes sein, oder es könnte seines sein.

Dieser Moment ist zerbrechlich, und jetzt zerplatzt er, zertrümmert durch das Klingeln des Telefons. Als ich zum Hörer greife, werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist vier Minuten nach Mitternacht, also weiß ich, wer anruft.

«Hi.»

«Also, wie willst du nun deinen Geburtstag feiern?»

Mari flüstert halb. Bob und Ballyhoo schlafen, und sie ist in der Küche. Ich weiß das von all den anderen Anrufen; ich weiß, daß sie sehr aufgeregt ist und versucht, nicht in Panik zu geraten, und daß sie mich deshalb anruft, und ich weiß, daß wir uns Zeit lassen werden, bis wir dazu kommen, daß sie mir verrät, was ihr angst macht.

«Ich habe gedacht, vielleicht am Strand. Meinst du, die anderen würden zum Strand kommen? Kannst du dir vorstellen, daß Mama und Dad zum Strand kommen? Ich bin nicht sicher …» Ich schlage einen heiteren und entspannten Ton an, als ob das wirklich das Thema dieses Anrufs wäre. «Phil ist gern am Strand. Ballyhoo ist gern –»

«Ich habe dir doch gesagt, daß du niemals zum Strand gehen sollst, Cheevey. Ich dachte, das hätte ich dir eingeimpft. Ich dachte, du hättest mir versprochen, daß du nie hingehen würdest, und falls du doch gehst – um Himmels willen, geh nicht ins Wasser. Es gibt Lebewesen im Wasser, mikroskopisch kleine Wesen mit Krallen. Sie nisten sich im Hirngewebe ein und fressen die Hirnmasse langsam, aber sicher auf. Dafür gibt es Beweise. Die ganze Surfer-Subkultur ist ein schlagender Beweis dafür. Dein Haar wird heller. Dein Geschmack in Sachen Kleidung wird schlechter. Deine Sprache verändert sich. Du sagst dauernd so was wie ‹echt cool, Mann› und kannst nichts dagegen machen.»

Ich weiß, wenn ich jetzt mein Lächeln sehen könnte, dann wäre es ein Lächeln, das man als traurig bezeichnen würde – wenn ein Lächeln überhaupt traurig sein kann. Ich vermute, es ist bloß ein Lächeln, das dein Gesicht im selben Augenblick erreicht wie ein trauriger Gedanke, und die beiden existieren gleichzeitig nebeneinander. Ich lächle über Maris üblichen beißenden Witz und bin traurig über den Wein, der ihre Sprache schleppend macht.

«Die Krabbeldinger aus dem Ozean kriechen also in dein Großhirn und fressen es auf?»

«Genau», sagt sie, und ich kann hören, daß sie sich Wein nachschenkt.

«Wie Alkohol», sage ich, und die Folge sind ganze dreißig Sekunden Funkstille.

«Du kannst so ein Drecksack sein.»

«Das ist hundertprozentig ein besoffener Ausdruck. Du hast benebelt eins und benebelt zwei schon hinter dir gelassen und bist bei besoffen angekommen. Warum hast du nicht vor einer Stunde angerufen?»

«Du kleiner Scheißer.»

«Ich bin größer als du.»

Wieder Funkstille.

«Cheevey, können wir uns im Park treffen? Bitte!»

Ich schließe die Augen und seufze und denke an all die Gründe dafür, es nicht zu tun, wohl wissend, daß ich es doch tun werde. «Was ist, wenn Ballyhoo aufwacht, und du bist nicht da?»

«Was, wenn er aufwacht, und ich bin hier? Willst du, daß er mich so sieht? Bitte!»

«Wir treffen uns vor deiner Wohnung.»

«Nein. Im Park.»

«Du solltest so spät nicht mehr allein da draußen rumlaufen.»

«Ich nehme den Wagen.»

«Mari, du kannst nicht mehr fahren.»

Ihre Stimme wird leiser, so daß sie mich flüsternd anbrüllen kann. «Ich kann. Ich bin noch immer in benebelt eins, und meine Reflexe sind alle voll funktionsfähig. Sei in zehn Minuten im Park am Wilshire Boulevard, Cheevey. Bitte. Bitte. Bitte.»

«Bleib im Wagen, bis ich da bin.»

*

Das mit Ballyhoo ist schon wieder passiert, nur schlimmer. Ich meine, wenn er verschwindet. Er ist da, aber ich kann ihn nicht sehen, und mir bleibt fast das Herz stehen, und ich weiß, daß ich das Schlimmste überhaupt getan habe, das Schlimmste, was eine Frau tun kann. Ich habe mein Kind verloren, und mir bricht der Schweiß aus, und ich zittere – und dann ist er da, nur wenige Schritte entfernt, und sieht mich an, aber ein paar Sekunden lang konnte ich ihn nicht sehen. Es ist in der Bibliothek passiert.» Mari setzt sich auf die Parkbank, auf die Vorderkante des ersten Bretts, doch dann steht sie wieder auf und tigert weiter auf und ab, zittert leicht. Ich trage mein Sweatshirt mit Kapuze, und mir ist noch immer warm von dem Lauf hierher.

«Wir können im Wagen weiterreden», sage ich.

«Nein. Ich muß mich bewegen.» Während sie spricht, macht sie geistesabwesend ein paar Schritte, blickt zu ihren Schuhen hinunter, zum Himmel jenseits des Lichtkegels. Aus Sicherheitsgründen stehen wir in der Nähe des Boulevards unter einer Straßenlampe.

«In der Bibliothek gab es mal wieder eine Märchenstunde, und er mag das, wenn er mit vielen anderen Kindern auf dem Boden sitzt … Jedenfalls hat die Frau aus einem Buch vorgelesen, und ich bin mit den Gedanken abgeglitten. Ich hab gar nicht mehr hingehört, und als ich wieder bei der Sache war, hab ich auf einmal gespürt, wie sich mein Herz verkrampft und mir der Schweiß ausbricht, und ich wußte, daß ich irgendwas Schreckliches getan habe, und ich habe mich umgesehen, und er war nicht da. Ich habe wirklich Ausschau gehalten, Cheevey. Ich habe jedes Kind angesehen und dann in der ganzen Bibliothek gesucht, und innerlich habe ich geschrien, nicht einfach nur: Wo ist er? sondern: Wo bin ich? Ich wußte nicht mehr, wo ich war, Cheeve. Aber ich wußte, daß ich das einzige verloren hatte, was ich nie hätte verlieren dürfen, und ich habe aufgeschrien, und rate mal, was ich geschrien habe?»

Jetzt starrt sie mich an, und ihre Lippen beben, und ihre Schultern werden von einem Schauder geschüttelt; ich wünschte, ich hätte etwas Warmes dabei, das ich um sie legen könnte, und nicht bloß ein feuchtes Sweatshirt.

«Ich habe ‹Coretti!› geschrien.»

Ihre Augen werden feucht und laufen über, und sie wischt sich rasch die Augenwinkel, ohne den Blick von mir abzuwenden. «Coretti», wiederholt sie leise schluchzend. Ich nehme sie in die Arme, und sie drückt ihr Gesicht gegen meine Schulter und redet weiter.

«Und in dem Augenblick wußte ich, wo ich war. Ich hatte mich in Corettis Büchern verirrt. Ich hatte mich verirrt, Cheeve. Und als ich aufschrie, drehten sich alle zu mir um, und eines der Gesichter war Ballyhoo, und ich hatte ihn nicht gesehen. Er war da, sah mich an, als wäre ich eine Fremde, und einen Moment lang war ich das tatsächlich. Und mir ist etwas klar geworden.» Sie wischt sich wieder mit den Fingern über das Gesicht. «Wenn das früher passiert ist, habe ich immer gesagt, daß Ballyhoo irgendwie in meinen blinden Fleck gerät, als hätte ich einen physischen und psychischen blinden Fleck, aber nun weiß ich, daß dem nicht so ist. Ich gehe fort. Ich verschwinde.»