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Die fünfjährige Annika ist furchtbar enttäuscht. Zuerst bricht die Mama ihr Versprechen und holt sie nicht vom Kindergarten ab, und dann erzählt Oma Hedwig ihr, dass die Mama nun beim lieben Gott im Himmel ist. Was macht die Mama da oben? Annika braucht ihre Mama doch hier!
Als die Kleine dann Tage später neben ihrem Papa am offenen Grab steht und auf den dunklen Sarg schaut, bricht das Kinderherz entzwei - und Annika verstummt!
Doch Christian Baumann ist so sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt, dass er blind ist für die Not seiner Tochter. Wird er rechtzeitig begreifen, wie sehr Annika jetzt seine Liebe braucht und dass die Kleine Gefahr läuft, ihre Sprache für immer zu verlieren?
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Annika – für immer stumm?
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 20176 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Dainis
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4257-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Annika – für immer stumm?
Ein kleines Mädchen spricht plötzlich nicht mehr
Von Katrin Kastell
Die fünfjährige Annika ist furchtbar enttäuscht. Zuerst bricht die Mama ihr Versprechen und holt sie nicht vom Kindergarten ab, und dann erzählt Oma Hedwig ihr, dass die Mama nun beim lieben Gott im Himmel ist. Was macht die Mama da oben? Annika braucht ihre Mama doch hier!
Als die Kleine dann Tage später neben ihrem Papa am offenen Grab steht und auf den dunklen Sarg schaut, bricht das Kinderherz entzwei – und Annika verstummt!
Doch Christian Baumann ist so sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt, dass er blind ist für die Not seiner Tochter. Wird er rechtzeitig begreifen, wie sehr Annika jetzt seine Liebe braucht und dass die Kleine Gefahr läuft, ihre Sprache für immer zu verlieren?
„Ich will nicht in den Kindi! Mami, du hast gesagt, wir gehen heute in den Zirkus!“, empörte sich Annika Baumann und stemmte die Arme in die Seiten.
Für ihre fünf Jahre wusste die kleine Dame ganz genau, was richtig und was falsch war. An einem Zirkustag konnte man doch unmöglich in den Kindergarten gehen müssen! Unmöglich! Da gab es so viel Wichtigeres, was unbedingt getan werden musste.
„Trapezmädel, wir gehen in den Zirkus! Ich habe es dir versprochen“, beschwichtigte Daniela Baumann ihre Tochter und hatte ein schlechtes Gewissen. Es war ein Notfall, der sie zwang, ausgerechnet an diesem Vormittag zu arbeiten. Zirkustage waren Annika und ihr eigentlich heilig und folgten einem festen Ritual.
„Aber ich will vorher nicht in den Kindi! Ich will, dass wir uns hübsch machen und … und … und …“ Da war so viel, was Annika an den besonderen Tagen normalerweise mit ihrer Mami machte, und vom gemeinsamen Frühstück angefangen, machte einfach alles davon Spaß.
„Ich weiß, mein Schatz. Papi hat überraschend einen wichtigen Termin mit einem neuen Kunden, und ich muss heute Vormittag eine unserer Baustellen für ihn ansehen. Es geht leider nicht anders. Die Vorstellung fängt um vierzehn Uhr an. Ich hole dich spätestens um halb eins vom Kindergarten ab, dann reicht es noch, um uns schön zu machen und sogar um vor dem Zirkus noch fein essen zu gehen. Ist das ein guter Plan?“
Annika nickte zufrieden und strahlte wieder. Ihre Mami hielt immer, was sie versprach. Das Mädchen liebte den Zirkus über alles und wollte später unbedingt selbst in der Zirkuskuppel von Trapez zu Trapez fliegen und auf dem Hochseil tanzen.
Wann immer ein Zirkus in München gastierte, besuchte ihre Mami mindestens einmal eine der Kindervorstellungen mit ihr. Manchmal gingen sie sogar zwei- oder dreimal hin, wenn die Vorstellung Annika besonders gut gefiel. Selbst in die Abendvorstellung durfte Annika manchmal mit.
Mutter und Tochter machten sich kurz vor acht Uhr Hand in Hand und munter plaudernd auf den Weg zum Kindergarten. Er lag nur knappe zehn Minuten zu Fuß entfernt. Daniela Baumann und ihr Mann Christian waren Architekten und hatten das Haus, in dem sie lebten, ganz nach ihren Bedürfnissen entworfen und gebaut.
Erstes Kriterium für die Wahl des Bauplatzes in einem exklusiven Stadtrandviertel von München war die Nähe zu Kindergarten und Grundschule gewesen. Die kleine Familie fühlte sich sehr wohl in ihrem Zuhause, auch wenn das gemeinsame Architekturbüro in der Innenstadt lag. Zur Arbeit brauchte das Paar gute dreißig Minuten.
Daniela fuhr daher nicht mehr jeden Tag ins Büro. Sie hatte sich zu Hause ein Arbeitszimmer eingerichtet, in dem sie ihre Entwürfe und Berechnungen machte. Nur wenn sie sich mit Kunden traf, nahm sie den Arbeitsweg in Kauf, oder wenn ihr Mann sie für eine besondere Aufgabe im Büro benötigte.
Christian und sie hatten von Anfang an besprochen, dass Daniela beruflich zurücksteckte und mehr Zeit auf Annika und ein geborgenes Heim verwendete. Sie tat es gerne, wenn sie auch nicht ganz ohne ihren Beruf hätte sein können.
Da Christian und sie immer als Team gearbeitet hatten, bezog er sie ganz selbstverständlich weiterhin in alles ein. Es war ein guter Kompromiss, bei dem Annika ein kuscheliges Nest hatte, die Familie im Zentrum stand und ihre Mutter trotz allem berufstätig sein und am Ball bleiben konnte.
„Mami, um halb zwölf oder gaaaaaaaaanz viel früher!“, rief Annika ihrer Mutter nach, als sie sich vor der Tür zum Kindergarten verabschiedeten. Sie winkte ihr und warf ihr Kusshände zu. Wenn ihre Mami auf eine Baustelle musste, konnte es immer später werden, und das schätzte die kleine Dame ganz und gar nicht.
„Zirkustag! Natürlich komme ich pünktlich!“ Daniela warf die Kusshände lachend zurück. Sie hatte als Kind den Zirkus genauso geliebt und ähnliche Träume wie ihre Tochter gehabt. Es rührte sie, wie alles sich im Leben zu ändern schien und doch einiges sich immer wiederholte.
„Hier läuft gerade gar nichts, wie es soll!“, empfing ein sichtlich genervter und überforderter Bauleiter die Architektin zur anstehenden Baubesichtigung, auf die er gedrängt hatte, weil es Probleme gab.
„Hagner hat meine besten Leute abgezogen und mir dafür ungelernte Arbeiter geschickt, mit denen sich nicht viel anfangen lässt. Sehen Sie sich das an, Frau Baumann! Ich muss überall zugleich sein, damit alles richtig gemacht wird“, beschwerte er sich.
Rainhold Hagner war der Bauträger, der den Bürokomplex hochzog. Letztendlich waren auch Daniela und ihr Mann für ihn tätig, aber im Gegensatz zu dem Bauleiter, den er als Untergebenen betrachtete, behandelte er sie etwas mehr auf Augenhöhe.
„Warum haben Sie nicht Hagner hergebeten? Wenn er sieht, was hier los ist, wird er sicher ein paar besser ausgebildete Leute schicken“, riet Daniela.
„Hagner geht nicht ans Telefon, wenn ich anrufe, und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Sie kennen ihn doch! Hauptsache billig“, brummte der Bauleiter.
Daniela nickte wortlos. Sie konnte sich vorstellen, dass der Mann es nicht leicht hatte. Hagner war stur, geizig und nicht immer einsichtig. Die Verhandlungen mit ihm waren unangenehm und gefürchtet. Jedes Mal nahmen Christian und sie sich vor, nie wieder für ihn tätig zu werden, aber er war nun einmal einer der mächtigsten Bauträger der Gegend.
„Ich schaue mir das Ganze an!“, versprach sie vage und ging mit dem Bauleiter einige Stockwerke ab.
Auf der Baustelle herrschten chaotische Zustände. Keiner schien recht zu wissen, wo er hinlangen sollte. Die Hierarchien waren kaum geklärt, und jeder machte anscheinend, was ihm gefiel, ohne auf die anderen zu achten. Wie beim Turmbau zu Babel ging es drunter und drüber, und die Leute mussten sich erst zusammenraufen und einarbeiten.
„So können Sie die Termine unmöglich halten“, stellte sie sachlich fest.
„Das habe ich Hagner gesagt, aber er hört nicht zu, und seitdem redet er nicht mehr mit mir. Könnten Sie mit ihm reden und ihn zur Vernunft bringen?“, bat der Mann, mit dem Daniela und Christian schon bei anderen Großbaustellen zusammengearbeitet hatten. Er war gut in seinem Beruf und hatte einen bemerkenswerten Blick für das Ganze.
„Das mache ich“, versprach sie daher.
Nach einer gründlichen Baubegehung hatte Daniela von ihrer Seite her zwar nichts Ernstliches zu beanstanden, aber falls sich nichts änderte, würde der Bauträger mit einer stattlichen Konventionalstrafe rechnen müssen. Sie hoffte, dass ihn das zur Besinnung brachte. Manche Sparmaßnahmen konnten teuer sein.
Sie war im Prinzip fertig und hatte ihren Schutzhelm, den sie immer auf Baustellen trug, bereits zurückgegeben. Bevor sie ging, wollte sie sich nur noch ein paar Notizen machen und stand gut sichtbar ein paar Meter vor der Baustelle.
Was Daniela Baumann nicht sehen konnte, war ein Kran auf dem Dach, der von einem ungeübten Mann bedient wurde. Er schwenkte mit der schweren Ladung gefährlich hin und her, als ob er sich nicht entscheiden könne, wohin er den Stahlträger eigentlich befördern wollte. Sie konnte nicht sehen, wie die Stahlseile, die nicht korrekt eingehängt worden waren, aus ihren Halterungen rissen.
„Weg da!“, schrie es panisch von oben und hinter ihr.
Sie drehte sich um, ohne zu ahnen, dass sie gemeint sein könnte. Entsetzt machte sie einen Satz zurück, und so wurde sie nicht von dem Stahlträger erschlagen, der direkt hinter ihr auf den Boden prallte. Aber sie bekam einen enormen Stoß versetzt und flog mehrere Meter durch die Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
„Frau Baumann! Um Himmels willen!“, hörte sie den Bauleiter völlig hysterisch rufen und wollte ihm gerade sagen, dass alles noch einmal gut abgegangen war, als sie plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als ob ihre Lunge in Zement gegossen war, und vor ihren Augen wurde es schwarz.
Verbissen wehrte sie sich gegen die Bewusstlosigkeit, aber sie verlor den Kampf und wurde in die Schwärze des Abgrundes hinter ihren Augen hineingezogen. Ihr letzter Gedanke war bei Annika. Es war doch ein Zirkustag!
***
Daniela Baumann wurde mit Blaulicht und Sirene zur Notaufnahme der Berling-Klinik gebracht. Sie hatte schwere innere Verletzungen. Ihre Milz war gerissen, Leber und Nieren waren stark gequetscht. Das Rückenmark war betroffen, und sie wies vom Hals abwärts Lähmungserscheinungen auf.
Das CT zeigte, dass das Rückenmark an keiner Stelle durchtrennt worden war, aber dafür drückten Blutergüsse darauf. Ob die Lähmungen vorübergehend oder dauerhafter Natur waren, ließ sich erst nach einer Operation sagen, die sofort hätte durchgeführt werden müssen. Bei dem schlechten Allgemeinzustand der Patientin war sie aber trotz der schrecklichen Konsequenzen zweitrangig.
Für das Ärzteteam, das sich in der Notaufnahme um die Patientin bemühte, ging es im Moment allein darum, ihr Leben zu retten. Überall war Gefahr in Verzug, und am bedrohlichsten war eine Blutung im Gehirn, die unbedingt sofort gestoppt werden musste. Ansonsten drohte das Gehirn zu stark anzuschwellen, was Krämpfe und schließlich den Hirntod zur Folge haben konnte.
„Hätte sie nur ein paar Zentimeter weiter entfernt gestanden, dann wäre ihr nichts passiert – nur ein paar Zentimeter“, knurrte einer der Chirurgen frustriert. „Ein paar Zentimeter, die über Leben und Tod entscheiden.“
„Wir müssen die Blutungen in den Griff bekommen. Sie verliert mehr Blut, als wir ihr geben können“, sagte der Allgemeinchirurg. Er versuchte, die Patientin so weit zu stabilisieren, dass sie überhaupt operiert werden konnte.
Keiner der Ärzte ging davon aus, dass die Patientin es in den Operationssaal schaffte, aber Daniela Baumann hielt durch. Ihr Körper war zerbrochen, aber ihr Geist hielt am Leben fest. Es war Zirkustag. Die Mutter wollte bei ihrem Kind bleiben und es erwachsen werden sehen.
Es gelang den Ärzten, Daniela Baumanns Gehirnblutung zu stoppen. Ihre Milz konnte entfernt und die Blutungen im Bauchraum eingedämmt werden. Erst dann machte der Kreislauf der Patientin nicht mehr mit, und ihr Herz drohte zu versagen.
Den Chirurgen blieb keine Wahl. Sie mussten sie vorübergehend schließen, obwohl es noch viel zu tun gab und die Zeit drängte. Falls die Patientin den Tag und die Nacht überstand, musste sie erneut in den OP. Es war ein Balanceakt – operierten die Chirurgen jetzt weiter, starb die Patientin. Zögerten sie die anstehenden Operationen zu lange hinaus, starb sie auch.
„Die Frau hat eine eiserne Willenskraft, sonst wäre sie nicht mehr da“, bemerkte der Anästhesist anerkennend, als sie nach draußen gefahren wurde.
„Ja, es ist ein Wunder, dass sie noch lebt. Hoffen wir, dass ihr die Kraft erhalten bleibt, weiter Wunder zu wirken. Sie ist noch lange nicht über dem Berg“, antwortete der Neurochirurg, der mit Sorge beobachtete, dass die Lähmung sich ausdehnte.
Medizinisch standen Danielas Chancen schlecht. Es drohte ein allgemeines Organversagen. Solange ihre Nieren noch arbeiteten, bestand Hoffnung, so gering sie auch sein mochte. Nur die Zeit konnte zeigen, ob ihr Körper der enormen Belastung standhielt.
Christian Baumann war mitten in der Besprechung, als seine Sekretärin zu ihm trat. Er wollte sie ungeduldig hinauswinken. Im Moment konnte nichts so wichtig sein, um eine Störung zu rechtfertigen. Aber sie ließ sich nicht vertreiben, und ihm fiel auf, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Mechthild Krug war Anfang sechzig, hatte zwei Scheidungen und den Verlust eines geliebten Sohnes hinter sich. Sie war eine Frau, der wenig erspart geblieben war und die dadurch eine Härte und Strenge gewonnen hatte, durch die kaum noch etwas drang. Sie war die perfekte Sekretärin, weil nichts sie erweichte oder aus der Ruhe brachte.
Der Ausdruck von Mitgefühl, Kummer und Leid in ihren Augen jagte Christian eine Gänsehaut über den Rücken. Ohne dass sie etwas sagte, war ihm klar, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste. Hatte Annika im Kindergarten einen Unfall gehabt? Mechthild liebte seine Tochter. Annika war immer viel zu wild und abenteuerlustig und kaum zu bändigen in ihrem Unternehmensdrang.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick!“, bat er mühsam gefasst in die Runde und eilte mit Mechthild hinaus.
„Was ist passiert?“, fragte er, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
„Herr Baumann, Ihre Frau hatte auf der Baustelle, die sie heute Morgen besichtigt hat, einen schweren Unfall. Der Bauleiter hat eben angerufen. Ein Stahlträger muss sich aus der Halterung am Kran gelöst haben und …“
Christian taumelte nach hinten und musste sich an die Wand lehnen. Ein Stahlträger? Die schlimmsten Szenarien liefen vor seinem inneren Auge ab. Er bekam keine Luft und konnte sich nicht rühren, aber dann fiel die Starre von ihm ab. Daniela lebte! Sie musste leben und wieder gesund werden! Alles andere war undenkbar.
„Was ist mit Daniela? Wo ist sie?“, schrie er fast.
„Sie wurde zur Berling-Klinik gebracht. Der Bauleiter konnte nicht mehr sagen und …“ Weiter kam Mechthild Krug nicht, denn Christian eilte bereits im Sturmschritt aus dem Büro, um zur Klinik zu fahren. Er überließ es der Sekretärin, die Kunden mit höflichen Worten um Entschuldigung zu bitten und zu verabschieden.