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Als der erste klägliche Schrei erklingt, atmen alle im Kreißsaal der Berling-Klinik auf. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als stimmte irgendetwas mit dem Neugeborenen nicht, doch nun gibt der Kinderarzt Entwarnung.
Lächelnd legt Chefarzt Dr. Holl den kleinen Jungen in die Arme seiner erschöpften Mutter, die ihr Baby zärtlich an sich drückt - und dann in bitteres Schluchzen ausbricht! Mitfühlend drückt der Chefarzt Verena Fiebichs Schulter, denn er kennt den Grund für ihre Tränen. Der Vater des kleinen Sascha liegt im selben Haus - im Sterben. Das Wunder, das Alexander Bergreiter hätte retten können, ist leider ausgeblieben ...
Schon wenige Stunden nach der Geburt seines Sohnes tut Alexander seinen letzten gequälten Atemzug, und ihr kleiner Sohn ist alles, was Verena noch von ihrer großen Liebe bleibt. Doch kaum ist sie mit ihrem Baby zu Hause, schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu: Klein-Sascha erkrankt lebensgefährlich und hat kaum eine Chance ...
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die kleinsten Segnungen sind oft die größten
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: pixdeluxe/iStockphoto
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6031-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die kleinsten Segnungen sind oft die größten
Dr. Holl und ein dramatischer Start ins Leben
Von Katrin Kastell
Als der erste klägliche Schrei erklingt, atmen alle im Kreißsaal der Berling-Klinik auf. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als stimmte irgendetwas mit dem Neugeborenen nicht, doch nun gibt der Kinderarzt Entwarnung.
Lächelnd legt Chefarzt Dr. Holl den kleinen Jungen in die Arme seiner erschöpften Mutter, die ihr Baby zärtlich an sich drückt – und dann in bitteres Schluchzen ausbricht! Mitfühlend drückt der Chefarzt Verena Fiebichs Schulter, denn er kennt den Grund für ihre Tränen. Der Vater des kleinen Sascha liegt im selben Haus – im Sterben. Das Wunder, das Alexander Bergreiter hätte retten können, ist leider ausgeblieben …
Schon wenige Stunden nach der Geburt seines Sohnes tut Alexander seinen letzten gequälten Atemzug, und ihr kleiner Sohn ist alles, was Verena noch von ihrer großen Liebe bleibt. Doch kaum ist sie mit ihrem Baby zu Hause, schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu: Klein-Sascha erkrankt lebensgefährlich und hat kaum eine Chance …
„Großartig, einfach großartig!“ Dr. Stefan Holl nickte der werdenden Mutter aufmunternd zu. „Alles läuft bestens. Jetzt noch einmal und Sie haben es geschafft, Frau Fiebich!“
„Ich … kann … nicht … mehr“, stammelte Verena Fiebich völlig erschöpft.
„Aber, aber!“ Schwester Annegret stand neben ihr und hielt ihre Hand. „Noch einmal pressen und es ist vorüber. Sie können das. Ich weiß es!“
Verena Fiebich blickte in das gütige Gesicht der alten Schwester und sammelte die letzten Kraftreserven. Unter dem guten Zureden Schwester Annegrets unterstützte sie Dr. Holls Bemühungen.
Dr. Holl machte sich schon bereit, aktiv nachzuhelfen, weil die junge Frau wahrscheinlich zu schwach war, doch unmittelbar vor einer Entscheidung des Chefarztes der Berling-Klinik fand Verena Fiebich die nötige Kraft – und ihr Kind erblickte das Licht der Welt!
Während Dr. Holl und Schwester Olli das Neugeborene versorgten, sank Verena Fiebich ermattet zurück.
Schwester Annegret redete lobend und beruhigend auf die junge Frau ein und ließ sich die Sorge um ihre Patientin nicht anmerken. Sie wartete wie Dr. Holl und ihre Kollegin auf den ersten Schrei des Kindes, der ungewöhnlich lange auf sich warten ließ.
„Was ist …?“ Verena Fiebich war zu schwach zum Sprechen, doch sie drehte den Kopf und sah Schwester Annegret ängstlich an.
Schon wollte die erfahrene Pflegerin sich mit eigenen Augen davon überzeugen, was mit dem Neugeborenen war, als endlich der erhoffte Schrei ertönte.
„Ein gesunder Junge“, verkündete Dr. Holl, und man hörte ihm an, dass auch er erleichtert war.
Erst jetzt entspannte sich die junge Mutter vollständig, schloss die Augen und begann, bitterlich zu weinen.
Keiner der Anwesenden im Kreißsaal fragte nach dem Grund. Alle kannten ihn.
Der Vater des Kindes, die große Liebe der jungen Mutter, lag im selben Haus – im Sterben. Das Wunder, das ihn hätte retten können, war ausgeblieben.
***
„Ich bin dann weg, Mami!“
Julia Holl kannte diesen Ruf eines ihrer Kinder sehr gut, bekam sie ihn doch täglich mindestens einmal zu hören. Meistens antwortete sie mit einer Ermahnung, vorsichtig zu sein oder nicht zu spät nach Hause zu kommen. In diesem Fall hielt sie es jedoch für angebracht einzuschreiten.
„Einen Moment, junger Mann!“, rief sie ihrem jüngeren Sohn Chris zu. „Nicht so hastig.“
Chris war schon fast zur Haustür hinaus.
„Was ist denn noch?“, fragte der Fünfzehnjährige, drehte sich um und unterdrückte im letzten Moment eine genervte Miene. Seine Mutter vertrug es nicht, wenn er sich ihr gegenüber respektlos verhielt.
„Wohin willst du denn?“ Julia kam aus dem Wohnzimmer und seufzte in sich hinein. Chris lehnte wie ein Fragezeichen in der offenen Haustür, hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und sah ihr rebellisch entgegen.
„Papa besuchen“, erwiderte er. „Ich habe doch beim Mittagessen gesagt, dass ich heute Nachmittag mit dem Rad in die Klinik fahren will. Ich war schon lange nicht mehr dort, und Papa freut sich bestimmt.“
Grundsätzlich hatte Julia nichts gegen sportliche Aktivitäten ihrer Kinder einzuwenden. Es kam auch nicht selten vor, dass ihre Kinder von dem Haus am Stadtrand von München zur nicht allzu weit entfernten Klinik des Vaters fuhren. Bei Chris gab es allerdings gewisse Bedenken.
„Wie sieht das denn mit deinen Hausaufgaben aus?“, erkundigte sie sich. „Wenn ich mich recht erinnere, war beim Mittagessen davon die Rede, dass du sie vorher machst und erst danach in die Berling-Klinik fährst. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du schon mit allem fertig bist.“
„Nun ja …“ Allein schon durch den gedehnten Tonfall verriet Chris, dass seine Mutter ins Schwarze getroffen hatte. „Nicht mit allem …“
Julia seufzte in sich hinein. „Könnte es sein, dass du noch gar nichts gemacht hast?“, fragte sie sehr geduldig. „Ich habe dich nämlich nach dem Essen in deinem Zimmer gehört. Du hast ziemlich laut Musik gespielt, und dabei hast du dich garantiert nicht auf Hausaufgaben konzentriert.“
„Na ja, das ist nämlich so“, begann Chris umständlich. „Ich hab versucht, mich durch die Musik in die richtige Stimmung zu bringen und vom Stress in der Schule abzuschalten, aber das hat nicht so direkt geklappt, und darum dachte ich, wenn ich jetzt in die Klinik fahre und mich dabei erhole, geht es hinterher viel leichter und …“
„Mit einem Wort“, unterbrach ihn Julia, „du hast gar nichts getan.“
„Wie ich schon sagte …“
„Du brauchst es nicht zu wiederholen“, fiel Julia ihm ins Wort. Da sie jedoch der Meinung war, dass Chris mit seinen fünfzehn Jahren Verantwortung gegenüber seinen Verpflichtungen lernen musste, lenkte sie ein. „Meinetwegen kannst du deinen Vater besuchen, aber komm gleich wieder nach Hause. Es bringt nämlich gar nichts, wenn du womöglich erst nach dem Abendessen zu arbeiten anfängst. Dann schaffst du nichts mehr. Das haben wir oft genug festgestellt.“
„Klaro“, erwiderte Chris hastig und verbesserte sich. „Ich meine, ist in Ordnung, Mama!“
Er war weg wie der Blitz, und Julia sah ihm kopfschüttelnd nach, als er mit seinem Fahrrad auf die Straße hinausfuhr, die durch das Villenviertel führte. Anders als Marc und Dani, die zwanzigjährigen Zwillinge, war Chris noch ungefestigt. Man konnte sich nicht auf ihn verlassen. Das war zwar kein Wunder, aber es erzeugte doch gelegentlich Schwierigkeiten.
Hoffentlich stellte er sich heute vernünftiger an als bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit.
Chris trat kräftig in die Pedale und genoss es, mit dem Fahrrad durch die stillen Straßen des Münchner Vorortes zu jagen. Dabei wählte er eine Strecke, die abseits der viel befahrenen Durchgangsstraßen lag. Auf diese Weise vermied er die von Abgasen verpestete Luft, starken Verkehr und die Gefahr durch unachtsame Autofahrer.
Er kannte sich hier sehr gut aus, war er doch mit Fahrrad, Skateboard und Inline-Skates oft unterwegs, und er wählte heute eine Strecke, die ihn an einer großen freien Wiesenfläche vorbeiführte.
Für gewöhnlich fand man hier zu jeder Tageszeit Hundebesitzer, die ihre Vierbeiner ausführten und miteinander spielen ließen. Chris hatte sich noch nie sonderlich dafür interessiert und war stets weitergefahren.
Heute warf er einen Blick auf die Wiese und bremste mit einem begeisterten Stöhnen das Rad ab.
„Mann, irre“, murmelte er vor sich hin und betrachtete mit strahlenden Augen die Wohnwagen, auf denen in bunten Lettern der Name Carossa prangte. „Ein Zirkus!“
Ohne lange zu überlegen, schwang er sich von seinem Drahtesel und schob ihn zu den Wagen, zwischen denen die Mitglieder des Zirkus Carossa arbeiteten.
Einige Männer waren damit beschäftigt, das Zelt aufzubauen. Es war ein kleines Wanderunternehmen, doch das störte Chris nicht im Geringsten. Er sah eine Weile zu, wie mit Winden und kräftigem Zupacken der Mittelmast aufgerichtet wurde.
Ein kurzes Fauchen zog ihn gleich darauf zu einem der Wagen. Die Seitenwand war geöffnet, und hinter den Gitterstäben entdeckte er einen Löwen.
„Geh nicht zu nahe ran“, warnte eine Frau, die den Kopf aus einem der Wohnwagen steckte.
Chris winkte beruhigend ab. „Hallo, Miezekatze“, sagte er grinsend zu dem Löwen und hörte hinter sich ein helles Lachen.
Er drehte sich um und riss die Augen weit auf. Das Lachen wurde daraufhin noch lauter.
„Dir fallen gleich die Augen aus dem Kopf“, ertönte es aus dem Mund eines hübschen Mädchens, das für Chris’ Verwirrung verantwortlich war.
Chris brauchte eine Weile, um verstandesmäßig zu begreifen, was er da vor sich sah. Der Kopf saß auf zwei Händen. Zwei Beine waren oberhalb des Kopfes ineinander verschränkt.
Es sah aus, als hätte ein wahnsinniger Chirurg in einem Horrorfilm ein Mädchen zersägt und neu zusammengesetzt, sodass der Kopf sich direkt auf den Händen fortbewegen konnte. Und in einem Anfall völliger Verwirrung hatte derselbe Chirurg die Beine an den Ohren befestigt.
„Du siehst zum Schießen komisch aus“, urteilte das Mädchen, und im nächsten Moment sanken die Beine zu Boden, die Hände gehörten plötzlich zu Armen, und gleich darauf richtete sich ein gertenschlankes, mit einem Trikot bekleidetes Mädchen auf und trat auf Chris zu. „Hallo, ich bin Melanie.“
Chris klappte erst einmal den Mund zu, den er vor Verblüffung nicht geschlossen hatte, und lächelte verlegen.
„Ich bin Chris“, sagte er und hoffte, dass seine Wangen nur glühten und nicht auch sichtbar rot wurden.
„Ich bin das Gummimädchen“, fügte Melanie hinzu.
Chris nickte eifrig. „Klaro. Habe ich gleich gemerkt. Na ja, nicht gleich“, räumte er ein, als Melanie wieder lachte. „Das war vielleicht ein Anblick. Mann! Wie kann man sich ermaßen verrenken!“
„Training“, erwiderte sie. Melanie war einen Kopf kleiner als er, was allerdings nicht erstaunlich war. Chris war mit seinen fünfzehn Jahren gewaltig in die Höhe geschossen und schon so groß wie sein Bruder Marc. Dafür besaß er die schlaksige Gestalt eines Jugendlichen, der noch einen weiten Weg bis zum erwachsenen Mann vor sich hatte. „Machst du echt toll“, fügte er hinzu.
„Melanie Carossa“, stellte sie sich vor. „Meiner Familie gehört der Zirkus.“
„Echt?“ Chris schloss rasch den Mund, als er merkte, dass ihm der Unterkiefer schon wieder heruntergeklappt war. Schließlich wollte er nicht dämlich wirken. „Chris Holl“, stellte er sich dann vor, als er sich an die Manieren erinnerte, die er daheim gelernt hatte. „Mein Vater leitet die Berling-Klinik.“
Melanie zuckte die Schultern. „Die kenne ich nicht. Wir reisen ständig herum. Ich habe schon so gut wie jede Stadt in Deutschland und auch im umliegenden Ausland gesehen, aber eigentlich kenne ich nichts so richtig.“
„Muss irre sein, wenn man dauernd mit dem Zirkus unterwegs ist“, schwärmte Chris.
„Ich weiß nicht.“ Melanie zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich kenne es eben nicht anders. Soll ich dir unsere Tiere und alles andere zeigen?“
„Mann, super!“, rief Chris wieder, weil er sich in diesem Moment nichts Schöneres vorstellen konnte.
Vergessen war der geplante Besuch in der Berling-Klinik. Vergessen war sein Vater genau wie seine Mutter, die ihn an die Hausaufgaben erinnert hatte. Und die Hausaufgaben gehörten ohnedies bereits einer anderen Welt an.
Chris nutzte die Chance, in die Welt des Zirkus einzutauchen, und dabei hatte er die entzückendste Führerin, die er sich vorstellen konnte. Innerhalb weniger Minuten hatte er sein Herz an Melanie Carossa verloren. Sie war zum Mittelpunkt seiner Welt geworden.
***
„Kommen Sie bitte mit, Herr Strackmeier“, sagte Dr. Stefan Holl im Vorübergehen zu dem jungen AIP, der auf dem Korridor mit einer Schwester sprach.
Holger Strackmeier, der seit einem Monat als Arzt im Praktikum an der Berling-Klinik tätig war, schloss sich sofort dem Chefarzt an.
„Frau Fiebich hat ihr Kind bekommen“, bemerkte Dr. Holl. „Einen gesunden Jungen.“
„Das ist schön.“ Holger Strackmeier freute sich sichtlich darüber.
„Sie ist sehr mitgenommen“, fuhr Dr. Holl fort, während er sich der Intensivstation näherte. „Ich möchte sehen, ob ich dem Vater die Nachricht überbringen kann.“
Holger Strackmeier nickte, und in seine blauen Augen trat sofort ein bekümmerter Ausdruck.
Der Leiter der renommierten Münchner Privatklinik blieb vor dem verschlossenen Zugang zur Intensivstation stehen und wandte sich an den Anfänger in seinem Beruf.
„Mein lieber junger Freund“, sagte Dr. Holl und klopfte dem AIP auf die Schulter. Normalerweise vermied er diese Form der Anrede sogar bei sehr jungen Kollegen, weil sie ihm herablassend erschienen wäre. Auch so vertrauliche Gesten kamen bei ihm nicht vor. In diesem Fall machte er jedoch eine Ausnahme. Die Bezeichnung „junger Freund“ kam Dr. Holl ganz natürlich über die Lippen, weil er seinen AIP mochte. Die Geste erfolgte auch unbewusst.
„Wissen Sie“, meinte Dr. Holl mit einem leichten Kopfschütteln und einem verständnisvollen Lächeln, „Sie erinnern mich ein wenig an mich selbst in Ihrem Alter. Damals habe ich mir Patientenschicksale auch zu sehr zu Herzen genommen. Wenn Sie in diesem Beruf bleiben wollen, müssen Sie rasch lernen, eine gewisse Distanz einzuhalten. Sie schaffen es sonst nicht.“
Holger Strackmeier nickte zwar, zuckte jedoch auch gleichzeitig die Schultern.
„Ich versuche es“, erwiderte er. „Es ist nur …“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Wenn eine Frau ein gesundes Kind zur Welt bringt, der Vater dieses Kindes aber als hoffnungsloser Fall im selben Krankenhaus liegt, so ist das …“
„Ja, es ist tragisch“, fiel Dr. Holl ihm energisch ins Wort. „Wir Ärzte dürfen uns davon aber nicht zu stark beeindrucken lassen, sonst halten wir die Arbeit in unserem Beruf nervlich nicht durch.“
Holger Strackmeier nickte. „Sie haben natürlich recht, Herr Chefarzt. Andererseits habe ich Sie in dem Monat, den ich jetzt bei Ihnen bin, beobachtet. Für Sie sind Patienten und ihr Schicksal nicht bloß Beruf. Sie sehen in jedem Patienten den Menschen. Darauf will ich nicht verzichten. Ich glaube auch, dass man als Arzt gar nicht darauf verzichten darf, weil man sonst kein guter Arzt ist. Zumindest keiner, der mit Patienten arbeitet. Dann sollte man, zum Beispiel, in ein Forschungslabor gehen.“
Dr. Holl klingelte am Zugang der Intensivstation.
„Sie haben völlig recht, Herr Strackmeier“, bestätigte er. „Sie haben recht, was mich angeht, und Sie sprechen mir aus dem Herzen, was die Einstellung zum Beruf betrifft. Man sollte, meiner Meinung nach, einen gesunden Mittelweg finden. Natürlich haben wir es mit Menschen zu tun, und natürlich werden wir berührt, wenn sie leiden oder sterben. Wir dürfen aber nicht so mitleiden, dass wir nicht mehr helfen können. Helfen ist schließlich unsere Aufgabe.“
Der junge AIP seufzte. „Ich weiß einfach nicht, wo die Grenze liegt.“
„Eine Frage der Erfahrung“, meinte Dr. Holl beruhigend. „Im Lauf der Zeit werden Sie schon herausfinden, wie Sie sich am besten verhalten.“ Er nickte Pfleger Lucca zu, der die Tür geöffnet hatte und den Klinikleiter und dessen Begleiter eintreten ließ.
Dr. Holl und Holger Strackmeier traten an das Bett von Alexander Bergreiter, sechsundzwanzig Jahre alt und wegen eines durch Virenbefall weitgehend zerstörten Herzmuskels nicht mehr ohne die Geräte der Intensivstation lebensfähig.
Da der Patient nicht bei Bewusstsein war, ließ Dr. Holl sich von seinem Begleiter die Anzeigen an den lebenserhaltenden Geräten und Monitoren erläutern. Holger Strackmeier, der als AIP auf der Inneren Station in die Berling-Klinik gekommen war, unterzog sich bereitwillig und erfolgreich der kurzen Prüfung durch den Chefarzt.
Pfleger Lucca, der eine spezielle Ausbildung für die Intensivstation absolviert hatte, wandte sich hinterher an Dr. Holl.
„Kein Spender?“, fragte er leise.
Dr. Holl schüttelte den Kopf. Alexander Bergreiter stand seit etlichen Wochen auf der Liste jener Empfänger eines Spenderherzens, bei denen eine Transplantation dringendst nötig gewesen wäre. Bis zum heutigen Tag war kein geeignetes Herz gefunden worden. Dr. Holl verzichtete darauf, seine Mitarbeiter in diesem Moment über einen wesentlichen Punkt zu informieren.
Alexander Bergreiter war bereits zu schwach für eine Transplantation. Er hätte nicht einmal mehr die Operation überlebt. Bisher hatte der Klinikleiter nur mit Verena Fiebich darüber gesprochen. Sie hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Nicht nur, weil sie vor wenigen Stunden Alexander Bergreiters Kind zur Welt gebracht hatte. Sie hatte auch die letzten zwei Jahre mit ihm zusammengelebt. Und sie war mit ihm in die Berling-Klinik gefahren, nachdem er daheim zusammengebrochen war.
Seither war sie trotz der Schwangerschaft kaum von seiner Seite gewichen. Sie hatte die erste niederschmetternde Diagnose gehört, und sie hatte die Verschlechterung im Zustand ihres Lebensgefährten an seinem Krankenbett verfolgt.
Dr. Holl wollte seinen Mitarbeitern nichts verschweigen. Er hätte sie schon informiert, dass es hoffnungslos geworden war, doch an den Anzeigen las er ab, dass Alexander Bergreiter aus dem einer Ohnmacht ähnlichen Schlaf erwachte. Der Patient wusste zwar, wie es um ihn stand, doch er sollte nicht hören, wie über ihn gesprochen wurde.
„Herr Doktor.“ Alexander Bergreiters Stimme war kaum zu hören.
Dr. Holl nahm ihm die Atemmaske ab.
„Wie geht es Verena?“, fragte der junge Mann, der nun schon etwas besser zu verstehen war.
„Ihre Freundin hat vor drei Stunden einen gesunden Jungen zur Welt gebracht“, erwiderte Dr. Holl. Als Alexander Bergreiter schwach lächelte, fügte er hinzu: „Mutter und Kind sind wohlauf.“
„Das ist schön“, flüsterte der Patient.
Dr. Holl nickte. „Ihre Freundin wird Sie besuchen, sobald sie kann“, fuhr er fort. Als Alexander Bergreiter daraufhin besorgt die Stirn runzelte, lächelte Dr. Holl zuversichtlich. „Sie ruht sich nur von den Anstrengungen der Geburt aus.“
Alexander Bergreiter seufzte. „Ich wäre gern bei ihr gewesen. Ein Junge. Dann nennt sie ihn wie vereinbart Sascha. Sascha für Alexander. Sie hat mich auch immer Sascha genannt.“
Dr. Holl entging nicht, dass Alexander Bergreiter von seiner Beziehung zu Verena Fiebich bereits in der Vergangenheit sprach. Der junge Mann fühlte das Ende nahen. Und das veranlasste Dr. Holl zu einer Frage, die er schon kurz nach der Einlieferung dieses Patienten gestellt hatte. Damals hatte er eine abschlägige Antwort erhalten. Vielleicht dachte Alexander Bergreiter jedoch angesichts des Todes anders.
„Was ist mit Ihren Eltern, Herr Bergreiter? Soll ich sie nicht doch verständigen?“
„Nein.“ Die Antwort kam klar und unmissverständlich. „Sie haben sich von mir gelöst, nicht ich mich von ihnen. Ich habe in den letzten zwei Jahren mehrere Versöhnungsversuche unternommen. Und ich habe meine Eltern verständigt, als mir der Arzt die erste Diagnose für meine Herzprobleme stellte. Ihre Antwort war stets gleich: Ich muss mich von Verena trennen, sonst bin ich nicht länger ihr Sohn.“