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Alles nur Fassade?
Wenn ein scheinbar perfektes Lebens zusammenbricht
Von Katrin Kastell
Voller Zärtlichkeit betrachtet Paul Leisner seine schöne Frau, die sich konzentriert über ihren Zeichentisch beugt. Innerhalb weniger Jahre ist Aurora zu einer der Top-Modeberaterinnen Münchens geworden, und die Damen der Gesellschaft reißen sich um einen Termin bei ihr. Was Aurora auch anfängt, es ist perfekt - perfekt wie sie selbst, wie ihre Ehe und ihr Leben ...
Doch selbst Paul, der Aurora über alles liebt, ahnt nicht, dass sie in Wahrheit Tag für Tag durch die Hölle geht. Auroras jahrelanges Leiden wird erst offenbar, als sie in die Berling-Klinik eingeliefert wird ...
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Alles nur Fassade?
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Eva-Katalin / iStockphoto
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-8675-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Alles nur Fassade?
Wenn ein scheinbar perfektes Leben zusammenbricht
Von Katrin Kastell
Voller Zärtlichkeit betrachtet Paul Leisner seine schöne Frau, die sich konzentriert über ihren Zeichentisch beugt. Innerhalb weniger Jahre ist Aurora zu einer der Top-Modeberaterinnen Münchens geworden, und die Damen der Gesellschaft reißen sich um einen Termin bei ihr. Was Aurora auch anfängt, es ist perfekt – perfekt wie sie selbst, wie ihre Ehe und ihr Leben …
Doch selbst Paul, der Aurora über alles liebt, ahnt nicht, dass sie in Wahrheit Tag für Tag durch die Hölle geht. Auroras jahrelanges Leiden wird erst offenbar, als sie in die Berling-Klinik eingeliefert wird …
„Lass uns heute Abend einmal so richtig ausgehen und feiern, dass wir auf der Welt sind!“ Paul Leisner saß beim Frühstück und beobachtete seine Frau, wie sie ihm Pfannkuchen buk.
Es war Sonntagmorgen und eine der seltenen Gelegenheiten, an denen sie sich überhaupt noch sahen.
„Am Montag müssen wir beide früh aus den Federn und würden es nur büßen“, erwiderte Aurora Leisner und wirkte nicht sonderlich begeistert von dem Vorschlag.
Sie sah wie immer aus – perfekt und bezaubernd und kein bisschen erschöpft. Ihrem Mann entging aber keineswegs, dass sie morgens im Badezimmer inzwischen deutlich länger brauchte, bis diese Perfektion erreicht war. Auch Aurora war erschöpft, nur gab sie es nicht zu.
Paul hätte nie eine Bemerkung darüber gemacht, denn seine Frau war unendlich verletzlich, selbst wenn sie sich nach außen wie ein Kaktus mit spitzen Stacheln gab. Es war ihre Sensibilität, die ihn zu ihr hinzog, und die Art, wie es ihr gelang, sich so gut zu tarnen, dass viele sie für kalt hielten.
Fünf Jahre lag seine Werbungszeit um sie zurück, und er konnte sich noch gut erinnern. Es war eine wahre Meisterleistung der Geduld gewesen, und er hatte mehr als einmal fast aufgegeben, aber irgendwann hatte sie ihren Panzer etwas gesenkt. Inzwischen waren sie über vier Jahre verheiratet.
Ungeschminkt hatte er sie aber selbst in ihrer Ehe so gut wie nie gesehen. Aurora brauchte ein perfektes Aussehen, perfekte Kleidung, ein perfektes Umfeld und perfekte Menschen, um sich wohlzufühlen. Sobald etwas die Perfektion beeinträchtigte, zog sie sich zurück oder wurde nervös und aggressiv.
Paul fragte sich oft, wie sie es mit ihm aushielt. Perfekt war er zu seinem Leidwesen nicht, aber er liebte seine Frau über alles und tat, was in seiner Macht lag, damit es ihr gutging.
„Schatz, wir arbeiten zu viel und haben kaum noch etwas voneinander. Du stehst von Montag bis Samstag in deiner Boutique, und ich bin im Büro. Ist dir aufgefallen, dass wir oft tagelang kaum mehr als Guten Morgen zueinander sagen? Das kann es doch nicht sein! So habe ich mir unser gemeinsames Leben nicht vorgestellt“, stellte er traurig fest. Er fragte sich immer öfter, ob da nicht etwas schrecklich falsch lief.
„Liegt das etwa an mir? Du bist mit der Firma verheiratet, und eigentlich sollte ich eifersüchtig auf deine Sekretärin sein. Sie hat mehr von dir als ich, und streng genommen teilt ihr auch mehr Gemeinsamkeiten“, ging Aurora zum Gegenangriff über, wie es ihre Art war. „Sei froh, dass ich fast so ein Arbeitstier bin wie du und mit so einer Situation klaglos umgehe! Andere Frauen würden sich vernachlässigt fühlen und dir die Hölle heißmachen. Ich bin pflegeleicht und preisgünstig. Also will ich nichts hören!“
„Aurora, so war es nicht gemeint. Ich mache dir keinen Vorwurf. Wie könnte ich! Wir sind beide dafür verantwortlich, wie wir unser Leben gestalten und wie wir unsere Prioritäten setzen. Ich frage mich nur manchmal, ob das unser Leben ist oder ob wir uns irgendwann verirrt haben und das Leben anderer führen. Verstehst du, was ich meine?“ Hoffnungsvoll sah er sie an, aber sie hob nur fragend eine Braue.
„Nein, soweit ich mitbekomme, sitzen wir gerade in unserer absolut traumhaften Designerküche und essen aus unserem astronomisch teuren Edelporzellan. Nichts davon hat eine andere als ich ausgewählt und zusammengestellt. Mein Werk! Mein Leben!“ Mit Stolz sah sie sich in der Küche um, die vor Sauberkeit blitzte wie der Rest der Villa.
„Gut, wir verdienen viel Geld und können uns jeden Luxus leisten. Würde es für München eine Liste der erfolgreichsten Mitbürger geben, ständen wir beide weit oben. Die Frage ist nur: Reicht uns das? Reicht es dir, um glücklich zu sein? Ist das unser Leben?“, bohrte er weiter.
Sie konnte doch nicht zufrieden sein! Fehlte ihr die gemeinsame Zeit mit ihm denn kein bisschen? Erschöpfte sich ihr Verlangen darauf, ein Zuhause perfekt einzurichten und zu pflegen und dabei auch noch eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu sein?
Zugegeben, schon dafür erforderte der Tag im Grunde mehr als vierundzwanzig Stunden – das war ihm durchaus bewusst. Aber sehnte sie sich denn nicht nach mehr? Was hatte sie von einem perfekten Haus, wenn kein perlendes Leben in ihm stattfand? Wozu die Designerseligkeit, wenn sich niemand wirklich daran erfreute? Er verstand sie so wenig wie sie ihn.
Aurora schnaubte halb verärgert und halb belustigt.
„Glück – seit wann haben solche subjektiven und rein persönlichen Gefühle für dich Priorität? Paul, mach mir keine Angst! Du bist siebenunddreißig und hast die ersten grauen Strähnen im Haar. Muss ich mich darauf einstellen, dass du in den nächsten Jahren unausstehlich wirst, mich betrügst und verlässt, weil dich die Midlifecrisis schüttelt? Bitte, falls du Einfluss darauf hast, lass diese Krise aus!“
„Aurora, ich …“ Paul Leisner verstummte. Die Bemerkung seiner Frau erschütterte ihn, und er wusste einfach nicht, wie er reagieren sollte. Er kannte ihren Kaktus-Charme, wenn ihr etwas nahe ging oder Furcht einflößte. Dennoch war es nicht immer leicht, damit umzugehen. Hin und wieder musste er sich die Wunden lecken und tief durchatmen.
„Was ist mit dir? Hast du keinen Hunger?“, fragte sie gereizt, als er nicht, wie erwartet, genussvoll den Pfannkuchen mit Honig bestrich und aß, den sie vor ihm auf den Teller legte. „Du liebst Pfannkuchen und hast dir heute extra welche gewünscht, und jetzt isst du nichts.“
Er sah sie forschend an, dann gab er sich einen Ruck. Schweigen half nicht, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er tatsächlich hören wollte, was seine Frau zu sagen hatte.
„Glück ist durch und durch subjektiv und persönlich, aber es anzustreben scheint mir nicht lächerlich. Ich liebe dich und möchte die Lebensform finden, in der wir zusammen glücklich sein können. Was ist daran krisengeschüttelt und verdient deinen Spott?“, fragte er, gegen seinen Willen beleidigt.
„Was ist heute Morgen denn nur mit dir los?!“ Sie verdrehte genervt die Augen. „Ich habe mich auf unser Frühstück gefreut“, drehte sie den Spieß um. „Wir arbeiten so viel. Musst du uns das bisschen Freizeit verderben mit deinen Empfindlichkeiten?“
„Ganz im Gegenteil! Ich wollte, dass wir es uns heute Abend gut gehen lassen und …“
„Schon gut! Schon gut! Wenn du unbedingt etwas unternehmen musst, weil es dir zu Hause mit mir langweilig ist, dann gehen wir eben aus!“, gab sie ärgerlich nach.
Paul schüttelte nur frustriert den Kopf und stand auf. Er hatte keine Lust mehr auf Pfannkuchen oder diese sinnlose Diskussion. Letztendlich entschied Aurora darüber, was sie taten und wie sie es taten. Er konnte sich innerlich dagegen auflehnen oder es einfach akzeptieren.
„Du drehst mir die Worte im Mund um, wie es dir gerade passt, und am Ende hast du immer recht. Aber was soll es!“, brummte er mürrisch.
„Was kann ich dazu, wenn ich recht habe?“, schnappte sie zurück.
Etwas in ihren Augen blitzte flüchtig auf, und Paul beschloss, der Bemerkung einen scherzhaften Ton zu unterstellen. So ließ sich besser damit leben.
„Ich gehe eine Runde joggen, und dann machen wir etwas Schönes aus diesem Tag – zu Hause! Es ist für drei Wochen der letzte Tag, den wir zusammen verbringen können. Nächstes Wochenende bin ich auf dem Kongress in New York, und das Wochenende darauf hast du deine Modemesse in Mailand“, erinnerte er sie an ihre vollen Kalender.
Aurora ließ ihn gehen und räumte penibel ihre Küche auf, bis sie wieder glänzte, als stünde sie noch im Möbelhaus. Was war nur mit Paul los? Vielleicht sollte sie ihm vorschlagen, einmal eine Psychotherapie zu machen. Das war schick. Viele taten es, die in der Gesellschaft etwas galten.
Als sie fertig war, zog auch sie ihre Jogginghose und die Sportschuhe an, um ihre morgendliche Runde zu laufen und das Muskelaufbautraining zu absolvieren, dass sie jeden Morgen machte, um ihren Bauch, die Beine und den Po zu straffen.
Paul saß längst frisch geduscht und besserer Laune mit einem Buch auf der Terrasse, als seine Frau von ihrem Training zurückkam. Sie war völlig nass geschwitzt und wollte an ihm vorbeieilen, damit er sie so nicht sah. Dann überlegte sie es sich aber doch. Er war am Morgen so seltsam gewesen, und ein nettes Wort wirkte manchmal Wunder.
„Kampf den Kalorienteufeln! Ich habe sie bis auf die letzte runtertrainiert!“, verkündete sie triumphierend.
„So viele Kalorien haben ein, zwei Pfannkuchen auch wieder nicht“, meinte Paul gelassen. Für seinen Geschmack hätte Aurora deutlich mehr wiegen dürfen, aber das behielt er tunlichst für sich.
„Hast du eine Ahnung!“ Aurora rechnete es ihm aufs Genaueste vor.
„Spaßbremse!“, schimpfte er heiter und strich sich über seinen kleinen Bauchansatz. „Wo bleibt der Genuss, wenn man von jedem Nahrungsmittel genau weiß, wie viele Kalorien es hat?“
„Glück und Genuss – mein Mann wird zum Gefühlsmenschen. Pass auf, dass du mich nicht irgendwann zu einem kaltherzigen Biest erklärst!“, scherzte seine Frau und wechselte geschickt das Thema.
Paul wollte sie an sich ziehen und küssen, aber sie ließ es nicht zu.
„Du machst dich doch ganz dreckig! Das ist eklig. Ich bin verschwitzt.“ Sie eilte hoch ins Badezimmer.
Paul sah ihr nach. Wie dünn sie war! Freunde beneideten ihn oft um seine perfekte Frau. Auroras Figur hätte jedem Model Ehre gemacht. Es war für Paul schwer, nachzuvollziehen, warum eine Frau, die kein Gramm Fett unter der Haut hatte, so viel über Kalorien sprach und derart hart trainierte. Wie so vieles an Aurora ließ er auch das stehen und akzeptierte es.
Was Aurora ihm verschwieg, war die Tatsache, dass sie beim Frühstück keinen Pfannkuchen gegessen hatte. Wie jeden Morgen hatte ihr Frühstück sich auf zwei Tassen schwarzen Kaffees beschränkt und ein Multivitaminpräparat. Am frohsten machte es sie, die Kalorienteufel zu besiegen, die sie gar nicht zu sich genommen hatte.
***
Trotz des holprigen Beginns wurde es ein harmonischer, schöner Sonntagnachmittag. Paul hütete sich, irgendein Thema aufkommen zu lassen, in dem sie unterschiedlicher Meinung waren. Er bewegte sich einmal mehr durch die Villa und sein Leben in dem redlichen Bestreben, Auroras Sinn für Ordnung und Perfektion nicht zu verletzen.
Das war die Grundhaltung, die er sich in ihrer Ehe angeeignet hatte, um seine Frau froh und zufrieden zu machen. Es war schön zu beobachten, wenn sie sich entspannte und etwas weniger perfekt, aber dafür lebendiger wirkte. Leider hielten solche Phasen nie lange an, denn sie persönlich schien sie weniger zu genießen als er.
Sie dankte ihm seine Selbstdisziplin, indem sie heiter mit ihm plauderte und ihm Anekdoten von der Arbeit erzählte. Solche Geschichten gingen ihr nie aus, denn das Leben schrieb sie täglich neu. Aurora betreute jede ihrer Kundinnen persönlich, die ohne Ausnahme zur führenden Gesellschaftsschicht der Stadt zählten.
Diese reichen und mächtigen Frauen zahlten bereitwillig ein Vermögen dafür, um von Aurora in Bezug auf ihr äußeres Erscheinungsbild und ihr Outfit zu besonderen Anlässen beraten zu werden. Das ging weit über modische Kriterien hinaus.
Inzwischen war Aurora mit ihren neunundzwanzig Jahren selbst zu einem Machtfaktor geworden. Sie wurde geladen, um neue Pflege- oder Kosmetikprodukte zu testen, und wer sich auf dem gehobenen Wellnessmarkt behaupten wollte, stellte sich gut mit ihr und versuchte, sie von seinen Ideen zu überzeugen.
Mode hatte Paul nie interessiert, aber nun sah er vieles mit den Augen seiner Frau. Geld war eine Basis gesellschaftlicher Macht, mit der er als Sohn eines Konzernchefs aufgewachsen war. Wie wesentlich es war, ein Kleid oder einen Anzug des richtigen Designers zu tragen und dass die Handtasche dazu passte, begriff er erst jetzt, auch wenn er es irgendwie erschreckend fand.
Man grenzte sich mit dem entsprechenden Geschmack vom Rest der Menschheit ab, die teilweise ein Jahr lang dafür hätte arbeiten müssen, um auch nur ein einziges dieser Outfits bezahlen zu können. Zugleich festigte und demonstrierte man die eigene Zugehörigkeit zu einer führenden Schicht, die es offiziell überhaupt nicht gab. Ein einziger Fehler konnte laut Aurora den Stein ins Rollen bringen, auf dem man das Gleichgewicht verlor und abrutschte.
Das Ganze erinnerte Paul an ein dummes Kinderspiel, das am Wesentlichen vorbeiging. Ganz verstand er nicht, warum Menschen es spielten, aber er war Realist. Mit Sicherheit gab es viele wie ihn selbst, die viel zu viel Arbeit hatten und zu wenig Zeit, um sich ständig darum Sorgen zu machen, was man wann trug und wie man gesehen werden durfte.
Und doch wurden seine Schuhe in London maßgefertigt, und seine Anzüge waren auch nicht von der Stange gewesen, bevor er Aurora kennengelernt hatte. Über seinen Vater und seine Erziehung war vieles von ganz alleine für ihn selbstverständlich. Er kannte es nicht anders, er hatte sich nur nie Gedanken darum gemacht, warum es war, wie es war.
Nach der Hochzeit hatte er Aurora die Boutique in der Fußgängerzone von München geschenkt. Die vorherige Besitzerin hatte Insolvenz anmelden müssen, und er hatte alles zu einem guten Preis bekommen.