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Aufgeregt starrt die schwangere Stephanie Gerstenberger auf den Bildschirm, der über der Untersuchungsliege angebracht ist. Gleich wird Dr. Holl mit dem Ultraschall beginnen - und dann wird sie hoffentlich das Geschlecht ihres Babys erfahren. Insgeheim wünscht sie sich einen kleinen Jungen. Sogar einen Namen hat sie schon ausgesucht: Lukas.
"Und? Können Sie es sehen?", fragt sie Dr. Holl.
Als der Klinikchef nicht antwortet, sondern angespannt auf den Ultraschall starrt, ahnt Stephanie plötzlich, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmt. Was Dr. Holl ihr dann mitteilt, verändert alles: aus Freude wird Leid, aus Hoffnung wird Verzweiflung. Ihr ungeborenes Kind leidet unter einem hypoplastischen Linksherzsyndrom, kurz HLHS, dem schwersten angeborenen Herzfehler. Noch vor wenigen Jahren wäre diese Diagnose ein Todesurteil gewesen, doch zu Dr. Holls Team gehört ein junger Arzt, der Stephanie verspricht: "Ich rette Ihr Kind!"
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Alles riskiert
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: LightField Studios / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0649-0
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Alles riskiert
Hat Dr. Holls ehrgeiziger Kollege sein Können überschätzt?
Von Katrin Kastell
Aufgeregt starrt die schwangere Stephanie Gerstenberger auf den Bildschirm, der über der Untersuchungsliege angebracht ist. Gleich wird Dr. Holl mit dem Ultraschall beginnen – und dann wird sie hoffentlich das Geschlecht ihres Babys erfahren. Insgeheim wünscht sie sich einen kleinen Jungen. Sogar einen Namen hat sie schon ausgesucht: Lukas.
»Und? Können Sie es sehen?«, fragt sie Dr. Holl.
Als der Klinikchef nicht antwortet, sondern angespannt auf den Ultraschall starrt, ahnt Stephanie plötzlich, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmt. Was Dr. Holl ihr dann mitteilt, verändert alles: aus Freude wird Leid, aus Hoffnung wird Verzweiflung. Ihr ungeborenes Kind leidet unter einem hypoplastischen Linksherzsyndrom, kurz HLHS, dem schwersten angeborenen Herzfehler. Noch vor wenigen Jahren wäre diese Diagnose ein Todesurteil gewesen, doch zu Dr. Holls Team gehört ein junger Arzt, der Stephanie verspricht: »Ich rette Ihr Kind!«
»Ich bin die glücklichste Frau auf der ganzen Welt ... Ich bin die glücklichste Frau auf der ganzen Welt ... Ich bin die glücklichste Frau auf der ganzen Welt!«
Wieder und wieder sprach Stephanie diesen Satz vor sich hin und konnte doch noch immer nicht fassen, dass er der Wahrheit entsprach: Es war der Tag, von dem sie seit etlichen Monaten geträumt hatte. Nun, wo er endlich da war, war das Glück zu groß, um es zu begreifen, und sie wusste einfach nicht, wie sie noch bis zum Abend durchhalten sollte, ohne jemandem davon zu erzählen.
Dass es ein Samstag war, machte es nicht leichter. An einem Wochentag hätte ihre Arbeit als Grundschullehrerin sie ein wenig ablenken können, heute aber dehnten die vielen Stunden sich schier endlos vor ihr aus. Zwar war sie mit ihrer Freundin Nicole zum Joggen verabredet, aber sie beschloss, ihr abzusagen, weil sie auf einmal fürchtete, der Sport könne in ihrem Zustand vielleicht zu gefährlich sein.
Stephanie musste über sich selbst lachen. Verfiel sie jetzt etwa schon in die sprichwörtliche Überängstlichkeit, vor der ihre Freundinnen sie gewarnt hatten?
Sollte sie ihre Mutter anrufen und ihr von der wunderbaren Neuigkeit erzählen? Ihre Schwester Anneke, ihre heiß geliebte Schwiegermutter Lieselotte, die vor Freude einen Luftsprung vollführen würde, oder vielleicht eine ihrer Freundinnen?
Nein, das durfte sie nicht, entschied Stephanie. Es war Michael, der zuerst davon erfahren musste, und gemeinsam würden sie dann ihr süßes Geheimnis ihren Familien und Freunden mitteilen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wenn sie gleich loslief, würde sie es noch ins Einkaufszentrum schaffen. Dann konnte sie noch ein paar Dinge besorgen, um den großen Augenblick zu feiern. Die Zeit würde auf diese Weise schneller vergehen, und sie kam nicht in Versuchung, doch noch zum Telefon zu greifen und alles zu verraten.
Zwei Stunden später war Stephanie mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen wieder in dem kleinen Haus, das sie und Michael sich mit all ihrer Liebe eingerichtet hatten. Es war ihr Traumhaus – und nun würde es endlich auch zu dem werden, was sie beide darin schon gesehen hatten, als sie es das erste Mal betreten hatten: das Heim ihrer Familie.
Stephanie packte die Taschen aus und richtete die kalten Köstlichkeiten der mediterranen Küche, die Michael und sie so gern aßen, auf einer Platte ansprechend an. Sie stellte den Champagner kalt, von dem sie selbst nicht mehr als ein winziges Schlückchen zum Anstoßen trinken würde, und deckte den Tisch mit ihrem Lieblingsgeschirr in den leuchtenden, sonnigen Farben, in das sie sich auf ihrer Hochzeitsreise in Amalfi verliebt hatte.
Ein Miniatur-Set gehörte auch dazu. Es war genauso liebevoll und detailreich gestaltet wie die großen Teile und unterschied sich nur durch die viel geringere Größe. Und das lachende Gesicht der Sonne, das der Künstler beim Bemalen des Geschirrs hinzugefügt hatte, um kleinen Menschen das Essen von Anfang an zu einem fröhlichen Erlebnis zu machen.
Zum ersten Mal stellte Stephanie heute den kleinen Vorspeisenteller und die Schüssel für Suppe oder Dips als zusätzliches Gedeck auf den Tisch.
Aus dem Brotkorb nahm sie eine frisch aufgeschnittene, leicht nach Fenchel duftende Scheibe und legte sie auf den Teller ihres Kindes. Es war das erste Mal, dass sie sich diese Worte gestattete:
Ja, an diesem Platz würde ihr Kind in seinem Stühlchen sitzen. Von diesem Teller mit der lachenden Sonne würde es zuerst noch von ihnen gefüttert werden und sich dann irgendwann unbeholfen sein Essen in den Mund stopfen, während Michael und Stephanie – Papi und Mami – über den Tisch hinweg einen lächelnden Blick tauschten.
Viele Monate, beinahe ein ganzes Jahr lang, hatten sie vergeblich auf diesen Augenblick gehofft. Beide waren sie gesund und fruchtbar, und Dr. Holl, der eine der besten Kliniken Münchens leitete, hatte ihnen zu Geduld geraten.
Mit Michaels wechselhaften Arbeitszeiten als Pilot war es für Stephanie und ihn nicht immer möglich, zum entscheidenden Zeitpunkt zusammen zu sein. In letzter Zeit war es Stephanie schwergefallen, die Hoffnung zu bewahren, und selbst ihre geliebte Arbeit in der Schule hatte sie belastet.
Es war so hart, mit den zauberhaften kleinen Menschen umzugehen, den Beruf auszuüben, den sie sich aus Liebe zu den Kindern ausgesucht hatte, und dabei denken zu müssen, dass sie und ihr Liebster vielleicht nie einem eigenen Kind eine glückliche Kindheit würden schenken können.
Jetzt aber waren all diese düsteren Gedanken wie ausgewischt. Der so heißersehnte Moment war da. Nichts und niemand würde ihnen ihr Glück mehr nehmen.
Behutsam wickelte Stephanie das Paar weicher, winzig kleiner Babyschuhe aus der Verpackung. Sie hatte sie in dem entzückenden Kinderausstattungs-Geschäft in der Fußgängerzone gekauft, an dem sie täglich vorbeiging. Wie oft hatte sie beim Blick ins Schaufenster mit den Tränen gekämpft!
Heute aber war sie glückstrahlend hineingegangen und hatte die Schühchen gekauft.
An den Außenseiten war ein kleines Motiv angebracht: Ein kuscheliger Bär, der sich zum Schlafen in die Arme einer lächelnden Mondsichel schmiegte.
»Gefällt Ihnen das für Ihr Kleines?«, hatte die nette Verkäuferin gefragt. »Die Sachen sind handgefertigte Einzelstücke – wir haben auch noch die passende Spieluhr dazu.«
Die Spieluhr spielte »Guter Mond, du gehst so stille«, und Stephanie hatte nicht widerstehen können. Es war gut, eine Spieluhr bereits zu Beginn der Schwangerschaft zu kaufen, hatte sie gelesen, denn so konnte sie den Mond mit dem Bärchen allabendlich auf den Bauch legen und die zarte Melodie für ihr Kind abspielen. Wenn es dann auf die Welt kam, würde die vertraute Musik ihm helfen, sich in all dem Fremden zurechtzufinden und sich zu Hause zu fühlen.
Sie hatte die wunderschöne Spieluhr gekauft und stellte sie jetzt neben den kleinen Teller. Gerade als sie auch noch den Schwangerschaftstest, den sie heute Morgen gemacht hatte, dazulegen wollte, hörte sie das Klappern des Schlüssels im Schloss.
Michael!
Er war zurück.
Von einem Langstreckenflug nach New York kam er geradewegs nach Hause, um seine Frau in die Arme zu schließen.
Michael war anders als seine Kollegen, die meistens in Flughafen-Hotels übernachteten, wenn ihnen nur ein einziger knapper Tag Pause blieb. Auch Michael würde morgen Abend wieder losfliegen müssen, er war als Kapitän auf einem weiteren Langstreckenflug nach Dubai eingesetzt, doch den Tag, den er gemeinsam mit ihr, Stephanie, verbringen konnte, ließ er sich nicht entgehen.
Er hatte sich zum Piloten ausbilden lassen, weil er mit dem hohen Verdienst, den dieser Beruf mit sich brachte, seiner Familie das schönste Leben bieten wollte. Stephanie wäre auch mit viel weniger zufrieden gewesen, doch sie wusste, für ihn war es ein Zeichen seiner Liebe zu ihr, und sie liebte ihn dafür umso mehr.
Und was für eine Nachricht hatte sie heute, um ihn zu empfangen!
Stürmisch rannte sie ihrem Mann entgegen, riss die Tür der Wohnung weit auf, noch ehe er die Schlösser ganz entsperrt hatte, und fiel ihm um den Hals.
»Liebling! Unser Traum ist wahr geworden. Wir bekommen ein Kind.«
Das plötzliche Leuchten in den Augen ihres Mannes, die ungläubige, fassungslose Freude, die sich in seinem Gesicht abzeichnete, würde Stephanie niemals vergessen. Am achtzehnten Geburtstag des Kindes, so beschloss sie, würde sie ihm davon erzählen.
»Dein Kommen hat deinen Vater so glücklich gemacht, wie ich ihn nie zuvor gesehen habe«, würde sie sagen. »Mit dir wurde unser Glück komplett.«
***
»Und? Wie sehe ich aus?« Julia Holl drehte sich um ihre eigene Achse, dass der Rock des schlicht geschnittenen, in Herbstfarben gemusterten Kleides um ihre schlanken Beine schwang.
Stefan Holl konnte nicht anders. Er war im Begriff, den edlen französischen Rotwein, den er gleich dekantiert hatte, als er nach Hause gekommen war, in ihre schönsten Kristallgläser zu schenken, doch er musste alles aus der Hand stellen und seine Frau in die Arme schließen.
»Du bist die schönste«, raunte er ihr zärtlich ins Ohr. Sie hatte sich das seidige Haar hochgesteckt und trug die kleinen Ohrstecker mit den Granatsteinen, die er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Das warst du immer, und du wirst es immer bleiben.«
Julia lachte, nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn auf den Mund.
»Dann ist es ja gut, dass du heute Abend ein Date mit mir hast. Ich liebe dich.«
»Ich dich aber mehr. Lust auf ein Glas süffigen Cabernet?«
»Zum Butter-Popcorn? Was könnte es Besseres geben?« Nach einem weiteren Kuss löste sie sich sanft aus seinen Armen, wirbelte an ihm vorbei in die Küche und goss die goldgelbe Butter, die sie gerade geschmolzen hatte, auf das frisch zubereitete Popcorn in der Schüssel.
Stefan schenkte den Wein ein, stellte die Gläser auf ein Tablett, auf dem schon kleine Schalen mit gefüllten Oliven, Jalapeños, Cashew-Nüssen, Sesam-Crackern und Käsewürfeln bereitstanden, und gemeinsam trugen sie alles ins Wohnzimmer.
Es war ihr Sonntagabend. Die kostbare Spanne Zeit, die ihnen allein gehörte.
Die zwanzigjährigen Zwillinge Dani und Marc waren wie meistens mit Kommilitonen unterwegs, Chris, ihr fünfzehnjähriger Sohn, hatte einen Freund zu Besuch, und Juju, das Nesthäkchen der Familie, übernachtete bei einer Freundin, mit der sie morgen früh auch zur Schule gehen würde.
Julia und Stefan durften sich also guten Gewissens eine Pause von ihren elterlichen Pflichten gönnen und hatten sich um nichts und niemanden zu kümmern als um einander.
Sie hatten sich das zu einer liebgewonnenen Gewohnheit gemacht: Sein Beruf als Chefarzt der renommierten Berling-Klinik ließ Stefan oft nicht die Zeit und Ruhe, die er sich für seine Familie wünschte. Oft blieb alle Arbeit, die Haushalt und Kinder betraf, an Julia hängen, und abends waren sie oft froh, wenn sie nur noch nebeneinander ins Bett fallen mussten.
Ihre Liebe durfte deswegen jedoch nicht vernachlässigt werden, sie war ihnen beiden viel zu kostbar. In Phasen, in denen ihr Leben besonders hektisch verlief und sie zu erschöpft waren, um miteinander auszugehen, verabredeten sie sich deshalb zu einem »Date im Wohnzimmer«.
In seinem Beruf gab Stefan alles. Als Arzt konnte er gar nicht anders, denn das Schicksal seiner Patienten hing von seinem Einsatz ab, die Menschen vertrauten ihm ihr Leben an. Dem hatte er immer Rechnung getragen, doch zugleich hatte die Liebe zu seiner Familie ihn davor bewahrt, sich völlig in seinem Beruf zu verlieren.
Sein junger Kollege fiel ihm ein. Christian Seefelder war zweifellos einer der besten Assistenzärzte, die er je an seiner Seite gehabt hatte, doch der geradezu besessene Ehrgeiz des Mannes machte ihm Sorge. Ein Privatleben schien Christian Seefelder nicht zu besitzen, und wenn er nicht irgendwann aufwachte und zumindest an seine Gesundheit dachte, würde er sich über kurz oder lang in der belastenden Arbeit eines Klinikarztes aufreiben.
Dafür, dass Stefan dergleichen nicht passieren konnte, sorgte seine geliebte Julia. Er war ihr unendlich dankbar dafür, und umso mehr freute er sich auf ihren gemeinsamen Abend.
Für heute war Heimkino geplant. Sie hatten sich beide Mühe mit ihrem Outfit gegeben, denn es gab keinen Menschen, dem sie mehr gefallen wollten als einander. Gemeinsam hatten sie ihr Lieblings-Finger-Food vorbereitet, würden es sich mit ihrer größten Schüssel voller Popcorn auf dem Sofa bei Kerzenschein gemütlich machen und einen romantischen Film sehen.
»La La Land« hatte Julia sich gewünscht, die herzzerreißend schöne Liebesgeschichte mit Ryan Gosling und Emma Stone. Dass sie den Film bestimmt schon dreimal gesehen hatten, störte nicht. Die Songs luden auch beim vierten Mal noch zum Träumen ein, und am Ende würde Julia in seinen Armen vor Rührung weinen.
Sie war sonst eine Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und den quirligen Alltag einer sechsköpfigen Familie mit Bravour meisterte. An ihren gemeinsamen Abenden aber gönnte sie sich Zeit für Träume und Romantik.
Sie stießen miteinander an und nahmen sich Zeit für einen langen Kuss, in dem ebenso viel Zärtlichkeit wie Leidenschaft lag. Das Verlangen war zwischen ihnen auch nach zwanzig Ehejahren und vier Kindern noch lange nicht erloschen. Im Gegenteil. Stefan fand, seine Julia wurde mit jedem Jahr, das sie gemeinsam verlebten, begehrenswerter. Er würde sich auch noch nach ihr sehnen, wenn sie beide alt und grau waren, und schon jetzt freute er sich auf später, wenn sie nach dem Film Arm in Arm ins Bett gehen würden – so verliebt wie einst als junge Studenten, als sie Hand in Hand aus dem Kino kamen.
Sanft löste sich Stefan aus ihrer Umarmung, schaltete den Fernseher ein und stand auf, um die DVD einzulegen. Aber was war das? Er hielt inne und starrte auf den Bildschirm, über den gerade die Nachrichten flimmerten. Der Münchner Flughafen war zu sehen. Reporter sprachen mit Menschen, die hemmungslos weinten. Im Hintergrund lagen sich weitere Weinende in den Armen oder liefen konfus und panisch durch die Halle.
»Um Gottes willen.« Vor Entsetzen schlug Julia eine Hand vor den Mund. »Bitte schalte den Ton ein, Stefan, wir müssen sehen, was da passiert ist.«
Stumm nickte Stefan und erhöhte mit der Fernsteuerung die Lautstärke.