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Erschöpft lässt sich Tobias Bornemann auf die Couch fallen. War das wieder ein anstrengender Tag! Als er seinen Arm nach der Fernbedienung ausstreckt, durchfährt ihn ein brennender Schmerz. Reflexartig will er sich aufrichten, doch ein jäher Stich in der Bauchgegend zwingt ihn sofort wieder in die Kissen zurück.
Hört der Mist denn nie auf?, fragt er sich und schaltet entnervt den Fernseher ein. Da betritt seine Frau Christina in Sportkleidung die Wohnung, sieht ihn scheinbar faul auf dem Sofa und schüttelt wortlos den Kopf.
Er kann es ihr nicht verdenken. Das Ehepaar war bereits beim Arzt - laut der Befunde ist Tobias kerngesund. Und trotzdem ist er in letzter Zeit wirklich unausstehlich, zu nichts zu motivieren, bricht ständig mit seiner Tochter, seiner Frau und - was keiner weiß - sogar mit seinem Chef Streit vom Zaun und legt obendrein immer mehr an Gewicht zu. Dabei isst er nicht einmal viel, ihm ist ja ständig übel. Ach, kein Wunder, dass seine Familie resigniert ...
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Seitenzahl: 125
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Impressum
Rettender Schmerz
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: YAKOBCHUK VIACHESLAV / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0808-1
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Rettender Schmerz
Doch wie geht es nach der Diagnose weiter?
Von Katrin Kastell
Seit Wochen fühlt sich Tobias Bornemann ständig müde und schlapp, überhaupt nicht mehr aktiv. Egal, was seine Frau ihm für Unternehmungen vorschlägt, er kann sich zu nichts aufraffen. Auch von seiner Tochter, die er doch abgöttisch liebt, fühlt er sich nur noch genervt. Er hat auch nie Hunger und nimmt trotzdem ständig zu. Ganz aufgedunsen ist sein Gesicht schon.
Bei seinem Hausarzt war Tobias bereits zweimal, der hat ihn gründlich untersucht, aber nichts gefunden. Kein Wunder, dass seine Frau und seine Tochter glauben, dass er nur simuliert und ihn einen Hypochonder nennen. Bis sie ihn eines Tages auf dem Sofa finden – vor Schmerzen zusammengekrümmt und nicht in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Jetzt kommt Tobias in die Berling-Klinik – wo Chefarzt Dr. Holl die Symptome sehr ernst nimmt ...
»Ach, Frau Bornemann, können Sie diese Akte hier bitte schnell noch bearbeiten?«
Christina Bornemann hatte gerade ihren Computer herunterfahren wollen, um endlich Feierabend zu machen. Jetzt aber stand Wolfram Schmied, ihr Gruppenleiter, vor ihr, legte ihr einen dicken Ordner auf den Tisch und sandte ihr einen bittenden Blick.
Christina seufzte. »Natürlich. Danach muss ich aber wirklich gehen, Herr Schmied.«
Ihr Chef grinste. »Wichtige Verabredung mit dem Kochtopf, ja?«
Christina hätte liebend gern nach dem nächstbesten Gegenstand auf ihrem Schreibtisch gegriffen und diesen ihrem Chef an den Kopf geworfen.
Sie wusste nur zu gut, was Wolfram Schmied und die meisten anderen Männer in ihrem Büro von ihr dachten: Eine Frau mittleren Alters, uninteressant, langweiliges Leben, nicht sonderlich attraktiv und übergewichtig – aber gut für all die Sachen, zu denen man selbst keine Lust hatte, denn sie sagte niemals Nein und war zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk.
Vielleicht haben all diese Männer ja nicht ganz Unrecht, überlegte Christina, während sie sich über die Akte beugte und ihren Chef geflissentlich ignorierte.
Wenn sie einem von ihnen das Jugendfoto zeigen würde, das sie neulich ganz hinten in einem uralten Album gefunden hatte, würden sie ihr wohl kaum glauben, dass es sich bei der gertenschlanken jungen Frau im knappen Tennisdress tatsächlich um sie, die dickliche, behäbige Christina Bornemann, handelte.
Damals hatte sie das Frühlingsturnier des Tennisklubs im gemischten Doppel gewonnen. An der Seite des »schönen Schweden«, wie alle ihn genannt hatten – Lasse Gustavson.
Strahlend stand dieser attraktive, sportliche, von allen begehrte Mann, der größte Tenniscrack des ganzen Klubs auf dem Foto an ihrer Seite und legte den Arm um sie.
Christina hatte jenen Tag so gut wie vergessen, doch als ihr das Foto in die Hände gefallen war, hatte sie sich wieder an jedes einzelne Detail erinnern können: Lasse und sie hatten gefeiert, getanzt und geflirtet, was das Zeug hielt. Und später, unter den Laternen im Garten des Klubhauses, hatte er sie geküsst – nicht nur einmal.
Vermutlich hatte es in ihrer gesamten Clique kein einziges Mädchen gegeben, das Christina nicht glühend beneidet hatte.
Ja, jener Sommer mit Lasse war wunderbar gewesen. Es war Christina vorgekommen, als liege ihr die ganze Welt zu Füßen: Sie war jung gewesen, verliebt, hatte mit ihrem wippenden, blonden Pferdeschwanz und der sportlichen, schlanken Figur als hübsches Mädchen gegolten und hatte kurz vor ihrem Schulabschluss gestanden, ihrem Tor zur Freiheit. So hatte sie sich damals das Leben vorgestellt: Aufregend, abenteuerlich und voller Freiheit, um zu tun, was auch immer sie wollte.
An Lasses Seite hatte sie von weiten Reisen geträumt, von sportlichen Erfolgen und einzigartigen Erlebnissen.
Als jedoch der Herbst angebrochen war, war der Alltag eingekehrt, und Christina hatte sich recht bald auf dem nüchternen Boden der Tatsachen wiedergefunden.
Ihr Abschluss war nicht schlecht gewesen, doch eine große Auswahl an passenden Lehrstellen hatte es für sie nicht gegeben. Letzten Endes war sie froh gewesen, einen Ausbildungsplatz beim Sozialamt ergattert zu haben.
Ein Bürojob als Beamtin? War es das, was sie sich erträumt hatte? Beileibe nicht.
Als junge Mädchen hatten sie über Leute, die sich hinter Schreibtischen die Hintern platt saßen, gelästert und um nichts in der Welt so werden wollen.
Das Leben aber sah häufig anders aus, als junge Mädchen es sich erträumten.
Ihre und Lasses Wege hatten sich bald darauf getrennt.
Vielleicht hatte er ja wirklich die große Karriere als Tennisstar gemacht, die er sich damals gewünscht hatte.
Ein paar Jahre lang hatte Christina noch jedes Tennisturnier im Fernsehen mit Argusaugen verfolgt, weil sie insgeheim gehofft hatte, ihrer großen Jugendliebe auf diese Weise »wiederzubegegnen«.
Schon bald aber hatte sie diese Gewohnheit abgelegt. Die Anforderungen des Alltags ließen für solche Flausen wenig Zeit.
Und sie hatte Tobias kennengelernt.
Auch wenn ihre zweite Liebe es an Herzklopfen, Schweißausbrüchen und ganz großen Träumen mit der ersten nicht aufnehmen konnte – sie konnte zum Ausgleich mit Stabilität und Beständigkeit aufwarten.
Bei Tobias fühlte sich Christina angekommen. Er war kein Adonis wie Lasse, nach dem die Mädchen die Köpfe verdrehten, aber er war durchaus ein attraktiver Mann und alles andere als langweilig. Im Gegenteil – er sprühte nur so vor Ideen.
Wie Christina selbst ging er gern tanzen, ins Kino und liebte es, in der freien Natur zu sein. Beide kochten gern zusammen und hatten einen ähnlichen Lebensplan: Beruflich wollten sie sich noch ein wenig verwirklichen, nicht bis zur Rente in ungeliebten Jobs verharren. Vor allem aber wünschten sie sich beide eine Familie mit Kindern.
Ganz leicht zu verwirklichen war weder das eine noch das andere gewesen: Während Tobias sich in verschiedenen Berufen ausprobiert hatte, hatte Christina mit ihrem Job im Sozialamt für ihren Unterhalt sorgen müssen, und ehe sie es sich versehen hatte, war sie verbeamtet worden und in der Abteilung von Wolfram Schmied gelandet.
Sie verdiente gutes Geld und war nicht völlig unzufrieden. Die Arbeit war nicht schwer, und in einer Zeit der wachsenden Unsicherheit war ein unkündbarer Job nicht zu verachten.
Tobias fand schließlich als Einkäufer in einem Biosupermarkt eine Arbeit, die ihm entsprach, und es wurde Zeit, die Familienplanung in Angriff zu nehmen. Auch die ersehnte Schwangerschaft stellte sich jedoch nicht so schnell ein wie erhofft.
Ihre Ehe war glücklich. Tobias war Christina nicht nur ein Ehemann, sondern zugleich ein echter Freund, der sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam mit ihr meisterte. Um sich darüber zu trösten, dass es mit dem Kinderwunsch so schnell nicht klappte, bauten sie ihre geräumige Eigentumswohnung nach ihren Wünschen aus und machten ein paar herrliche Wanderurlaube, auf denen sie die Natur erkundeten, wie sie es beide liebten.
Da sie Individualisten waren, die sich im Massentourismus unwohl fühlten und gern spontan entschieden, erfüllten sie sich bald einen gemeinsamen Traum: ein Wohnmobil.
Sie waren gerade damit an der französischen Atlantikküste, wo sie wandernd, radelnd und schwimmend die wildromantische Landschaft genossen, da musste Christina sich nach einem Abendessen mit köstlichem frischem Fisch auf einmal übergeben. Bei dem einen Mal blieb es nicht.
Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sie war endlich schwanger.
***
Karoline kam im Frühling des folgenden Jahres zur Welt und war vom ersten Moment an der Liebling ihrer beiden Eltern. Ein ganz einfaches Kind war sie nicht, sondern eine »kleine Diva«, wie ihr Vater sie manchmal zum Spaß nannte.
Aber sowohl für Christina als auch für Tobias war sie das wundervollste kleine Mädchen auf der Welt, und sie ließen sich nur zu gern von ihrer blauäugigen Prinzessin um den kleinen Finger wickeln.
Nun, wo ihr Wunschkind da war, gab es keine Radtouren, Wanderungen oder Kinobesuche zu zweit mehr, und auch die spontanen Abenteuerreisen an den Atlantik gehörten der Vergangenheit an.
Stattdessen jonglierten Christina und Tobias Beruf und Haushalt so, dass möglichst viel Zeit für die Familie heraussprang. Ihre gesamte Freizeit verbrachten sie von nun an zu dritt und widmeten sich ihrer Tochter mit aller Liebe und Hingabe. Sie vermissten nichts.
Sonntage mit Legosteinen und Kasperletheater auf dem Boden des Wohnzimmers waren wundervoll, und beim Spazierengehen einem kleinen Menschen Vogelnester, Fliegenpilze und Kaninchenbauten zu erklären, war schöner als jede ausgiebige Wanderung.
Für den ersten gemeinsamen Urlaub fanden sie einen gemütlichen Campingplatz im Fränkischen. Er lag an einem kleinen, flachen Badesee, in dem Karoline ihre ersten Schwimmstöße machte, und in der Nähe gab es einen Bauernhof, wo ihr tierliebes Stadtkind kleine Lämmer, Kälber und Entenküken streicheln durfte.
Außerdem hatte Karo die Begeisterung ihrer Eltern für die deftige fränkische Küche geerbt. Jeder Urlaub auf dem Campingplatz bei Rosslach begann mit einem zünftigen Essen beim »Rössl«, und am nächsten Tag kaufte Tobias eine Riesenpackung Rostbratwürste, die sie sich vor ihrem Wohnmobil grillten. Abends schlugen sie endlose Familienschlachten beim »Kniffel« oder »Spiel des Lebens«.
Was wollten sie mehr?
Andere mochten ihr Leben langweilig finden, doch für Christina, Tobias und Karoline war es viele Jahre das glücklichste Leben gewesen, das ein Mensch überhaupt nur haben konnte.
Gewesen, fuhr es Christina durch den Kopf.
Hatte sie wirklich eben gedacht: Es war das glücklichste Leben gewesen?
Was war anders geworden in der letzten Zeit, dass sie auf einmal ihr Leben nicht mehr für das glücklichste hielt?
Sie saß über die Akte gebeugt und konnte sich nicht konzentrieren.
Wenn sich sonst ihr Chef oder einer der Kollegen über ihren wenig ereignisreichen Feierabend lustig gemacht hatte, hatte sie sich doch davon nicht derart treffen lassen.
Warum also heute?
Weil mein Leben mir selbst nicht mehr gefällt, dachte sie. Weil ich etwas ändern will und damit ja schon begonnen habe. Ausgerechnet heute geht es los.
Christina war nämlich heute Abend keineswegs mit ihrem Kochtopf verabredet, sondern mit einem sogenannten »Coach« in einem nahen Fitnesscenter.
»Fitness für Wiedereinsteiger« nannte sich das Programm, zu dem sie Tobias und sich kurzerhand angemeldet hatte.
Es war für Leute wie sie gedacht. Leute, die früher sportlich, schlank und fit gewesen waren, im täglichen Einerlei ihren Körper jedoch vernachlässigt hatten.
Christina sah an sich hinunter. Der locker sitzende Blazer, den sie trug, sollte die Polster um Taille und Hüften kaschieren, hatte dabei aber nur sehr mäßigen Erfolg. Der Hosenbund schnürte ihr ins Fleisch, und auch um die Schenkel spannte der Stoff. Dabei hatte sie die Hose erst vor einem guten halben Jahr angeschafft, weil sie nichts mehr im Kleiderschrank gehabt hatte, das ihr passte.
Hatte sie denn in dieser kurzen Zeit schon wieder so viel zugenommen, dass sie eine größere Größe brauchte?
Bei Tobias war es dasselbe. Die Liebe zu gutem Essen sah man ihm ebenso an wie die vielen Abende, die sie inzwischen immer häufiger auf der Couch vor dem Fernseher verbrachten.
Christina machte es ihren Lieben gern gemütlich, stellte Popcorn und Kartoffelchips bereit und bot die Lieblingsgetränke an: Coca-Cola und Eis im Sommer, heißen Kakao mit viel Sahne jetzt, in der kalten Jahreszeit.
Es war gemütlich. Sie waren zusammen. Sie waren die glückliche Familie, die sie immer hatten sein wollen.
Warum also störte sie auf einmal ihr Gewicht oder das ihres Mannes? Warum war sie letzte Woche eines Abend einfach mitten in dem Film, den sie gerade gesehen hatten, vom Sofa aufgesprungen und hatte beschlossen: »Es geht so nicht weiter!«
Die Antwort darauf war so leicht nicht zu finden. Etwas hatte sich verändert. Nicht von heute auf morgen, sondern schleichend.
***
Zunächst war Karo ihren gemeinsamen Abenden immer häufiger ferngeblieben. Sie hatte sich in ihr Zimmer verzogen, um Musik zu hören, am Computer zu spielen oder endlos mit ihren Freundinnen zu chatten. Wenn sie sich doch zu ihren Eltern gesetzt hatte, war sie meistens schlecht gelaunt gewesen.
»Wieso machen wir eigentlich nie was?«, war sie neulich einfach so losgeplatzt.
»Wie meinst du das, wir machen nie was?«, hatte Christina gefragt, die mit dem üblichen Tablett voller Snacks und Getränken ins Zimmer gekommen war.
»Na, wir gehen nie richtig toll weg und unternehmen aufregende Sachen wie andere Leute. Mal zu einem stinklangweiligen Kinderfilm ins Kino oder in die doofe Pizzeria an der Ecke, das ist alles. Ansonsten sitzen wir vor der Glotze und stopfen ungesundes Zeug in uns rein. Bei uns ist nie was los, und außerdem werden wir immer fetter.«
Das hatte Christina übertrieben gefunden, und auch Tobias hatte sich zu Wort gemeldet: »Ich glaube, ich höre nicht richtig, Madame. So sprichst du bitte nicht mit deiner Mutter, die sich alle Mühe gibt, um es dir schön zu machen.«
»Dein Vater gibt sich auch alle Mühe«, hatte Christina eilig ergänzt. »Und wir haben es doch schön, oder etwa nicht? Wir sind doch die drei Musketiere.«
Diesen Namen hatte Tobias für sie erfunden, als Karoline noch klein gewesen war und sie im Urlaub bei Rosslach Fechten gespielt hatten.
»Oje, hör bloß mit diesem Quatsch auf!«, hatte Karo gerufen und gestöhnt. »Drei Musketiere – ich bin doch kein Baby mehr.«
Darin bestand vermutlich das Problem: Sie war kein Baby mehr, kein kleines Kind, das mit Legosteinen und Kasperlepuppen spielte. Vielmehr war sie bereits auf dem Weg zur jungen Frau. Im Frühling würde sie fünfzehn Jahre alt werden.
Wo war nur die Zeit geblieben?
Es ging Christina zu schnell, sie hätte das Glück und die Harmonie, die ihre Familie geprägt hatten, gerne festhalten wollen.
Aber Teenager und Harmonie waren ja bekanntlich zwei Welten, die nicht zueinander passten.
»Im Übrigen gehe ich ab morgen vor der Schule joggen«, hatte Karoline verkündet. »Mit Ricarda. Sie holt mich ab.«
Damit war sie aus dem Zimmer gestapft, und Christina hatte ihrer Tochter nachgesehen.
Ja, die eng geschnittene Jeans, die Karo unbedingt hatte haben wollen, hatte ganz schön über ihrem Hintern gespannt, und auch in der Taille hatte ihre Kleine zugelegt.
Christina hatte es nicht schlimm gefunden. Im Gegenteil. Für sie war Karoline noch immer das schönste Kind auf der Welt, das bisschen Babyspeck war eher niedlich als alles andere.
Aber wie sah es für Karo selbst aus?
Bestimmt vollkommen anders.
Auf einmal erinnerte sich Christina an ihre Jugend, als sie und ihre Freundinnen ihre Hosen so eng getragen hatten, dass sie sie alleine gar nicht zu bekamen. Schlankheit hatte auch damals schon als schön gegolten. Wer schlank gewesen war, hatte die tollsten Jungs abbekommen, allen voran Lasse Gustavson, den schönen Schweden, für den sie alle geschwärmt hatten.
Noch einmal sah Christina hinunter auf die Fettpölsterchen, die sich unter ihrer Bluse abzeichneten.
Würde Lasse ihr heute begegnen, würde er ihr mit Sicherheit keinen zweiten Blick schenken.
Die Stimmung im Hause Bornemann hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil. Tobias war stets müde und erschöpft, wenn er von der Arbeit kam, und wollte sich nur noch vor dem Fernseher ausruhen. Karoline war ruhelos und beklagte sich darüber, dass nichts los war, und an irgendeinem Punkt gerieten Vater und Tochter immer aneinander.
Es war ungemütlich, angespannt geworden.
Irgendwann hatte Christina begonnen, die einst so geliebten Familienabende nicht mehr herbeizusehnen, sondern zu fürchten.