Chefarzt Dr. Holl 1938 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1938 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Im düsteren Tal der Trauer gefangen, lebt Lona Gruber seit dem Tod ihres dementen Vaters. Sie funktioniert nur noch, agiert wie eine Maschine. Der einzige Anker, der sie noch an die Wirklichkeit bindet, ist der gut aussehende Zahnarzt Dr. Patrick Waldhof. Seine Küsse entfachen ein Feuerwerk der Endorphine in tiefschwarzer Dunkelheit, in seinen Armen fühlt sie sich sicher und geborgen.
Doch dann wird Lona eines Tages von Dr. Holl zu einem schicksalhaften Gespräch gebeten, er darf ihr die Wahrheit über die Krankheit ihres Vaters nicht länger vorenthalten: "Seine Demenz war nur eine Begleiterscheinung von ..." Die Worte des Chefarztes klingen nur noch dumpf in ihren Ohren. Langsam fährt die kalte Angst ihre scharfen Krallen nach der Krankenschwester aus. Und bald schon kreist in ihr bloß noch die quälende Frage: Was ist, wenn ich wie mein Vater an Morbus Huntington leide? Die Chance liegt bei fünfzig Prozent!
Lieber schottet sich Lona ab, als die Wahrheit zu erfahren ...


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Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Die Heilkraft des Küssens

Vorschau

Impressum

Die Heilkraft des Küssens

Dr. Holl und eine Liebe, die dem Schicksal trotzt

Von Katrin Kastell

Im düsteren Tal der Trauer gefangen, lebt Lona Gruber seit dem Tod ihres dementen Vaters. Sie funktioniert nur noch, agiert wie eine Maschine. Der einzige Anker, der sie noch an die Wirklichkeit bindet, ist der gut aussehende Zahnarzt Dr. Patrick Waldhof. Seine Küsse entfachen ein Feuerwerk der Endorphine in tiefschwarzer Dunkelheit, in seinen Armen fühlt sie sich sicher und geborgen.

Doch dann wird Lona eines Tages von Dr. Holl zu einem schicksalhaften Gespräch gebeten, nicht länger darf er ihr die Wahrheit über die Krankheit ihres Vaters vorenthalten: »Seine Demenz war nur eine Begleiterscheinung von ...« Langsam fährt die kalte Angst ihre scharfen Krallen nach der Krankenschwester aus. Die Worte des Chefarztes klingen nur noch dumpf in ihren Ohren. Und bald schon kreist in ihr bloß noch die quälende Frage: Was ist, wenn ich wie mein Vater an Morbus Huntington erkrankt bin? Die Chance liegt bei fünfzig Prozent!

Lieber schottet sich Lona ab, als die grausame Wahrheit zu erfahren ...

In der Notaufnahme der Berling-Klinik war die Hölle los. Mitten im Gewimmel aus Ärzten, Sanitätern, Pflegern und Patienten befand sich Schwester Lona bereits seit vielen Stunden im Einsatz.

»Ich brauche jetzt unbedingt etwas zu essen«, teilte sie ihrer Kollegin Maria mit, »sonst breche ich auf der Stelle zusammen. Dann habt ihr zu all den Notfällen hier noch zusätzlich Arbeit mit einer bewusstlosen Krankenschwester.«

Ohne einen Kommentar von Maria abzuwarten, machte sich Lona mit weichen Knien auf den Weg in die Cafeteria. Dort kaufte sie ein Fladenbrot mit Thunfisch und ließ es von der sympathischen Bedienung aufwärmen.

»Ich bring's Ihnen«, entschied der wohlbeleibte Grauhaarige hinter der Theke, als hätte er erraten, wie müde und fertig die Schwester war.

Lona nahm noch eine große Flasche Orange-Ingwerwasser mit und ging zum letzten freien Tisch in der Ecke des Raums. Aufseufzend nahm sie Platz und streckte die schmerzenden Füße von sich. Allein das Sitzen empfand sie schon als Wohltat.

Zwei Minuten später wurde ihr gefülltes Fladenbrot gebracht. Gierig nahm sie einen ersten Bissen und genoss das behagliche Gefühl, das allmählich den Schwindel und die leichte Schwäche verdrängte. Langsam kam ihr Körper wieder ins Gleichgewicht.

Das Fladenbrot war erst zur Hälfte vertilgt, als ihre Erholungspause schon gestört wurde. Schwester Margot segelte auf sie zu, einen Teller mit zwei Leberkässemmeln in der linken und eine Flasche Limonade in der rechten Hand.

»Hier ist ja alles voll!«, beschwerte sie sich lautstark und ließ ihr ausladendes Hinterteil Lona gegenüber auf den Stuhl fallen.

»Ist nicht meine Schuld«, versetzte Lona schulterzuckend.

Der Kollegin eilte ein Ruf voraus, dessen sie sich täglich aufs Neue würdig erwies. Beim Personal hieß sie »Margot die Giftspritze«. Was auch immer die Stationsschwester jetzt wieder von sich geben würde, Lona durfte sich auf kein Gespräch einlassen.

Margot musterte die vollschlanke Lona, wodurch ihr Doppelkinn noch besser zur Geltung kam.

»Kennste den? Ein Gerippe kommt zum Arzt, der betrachtet es prüfend und sagt dann: ›Tut mir leid, Sie hätten früher kommen sollen.‹«

Lona verzog nur kurz den Mund.

»Klar kenne ich den.«

»Ich sag's ja nur. Du bist auch nicht mehr weit von einem Gerippe entfernt. An dir ist ja nix dran.«

»Danke für das Kompliment«, versetzte Lona.

»Meiner Meinung nach brauchst du dringend mal Urlaub.«

»Im Augenblick geht das nicht.«

Margot hatte die erste Semmel verputzt und spülte jetzt mit viel Limonade nach.

»Na, was ist los mit dir?«

Irgendwie klang die Stimme der Giftspritze weicher als sonst, was Lona so aus der Fassung brachte, dass sie sich gegen die aufsteigenden Tränen nicht mehr wehren konnte.

»Zurzeit krieg ich die Kurve nicht mehr«, schluchzte die junge Schwester auf. »Die Arbeit in der Klinik, zu Hause mein Vater, der Haushalt, mein Freund ... Alle wollen etwas von mir, und ich kann nicht mehr.«

Und als sich auch noch Margots warme Hand tröstend auf Lonas Unterarm legte, war es um ihre Beherrschung völlig geschehen. Zum Glück befand sich der Tisch zwischen ihnen, sonst hätte sie sich Margot wohl heulend an den Hals geworfen.

Unglaublich, aber wahr: Ausgerechnet die Giftspritze vom Dienst zeigte Verständnis für ihre Situation.

»Mach es wie ich, leg dir ein dickes Fell zu. Dann kann dir keiner mehr was.«

»Du hast leicht reden«, erwiderte Lona, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Die Leute vom Nebentisch schauten schon neugierig herüber. »Jeder kann nur so sein, wie er eben ist. Banal, aber wahr.«

»Du hast ja recht. Aber wenn es dir zu viel wird, schrei mal laut deinen Frust raus. Das tut auch gut.«

»Bei nächster Gelegenheit werde ich es ausprobieren.« Lona wischte sich über das Gesicht und trank ihre Schorle leer. »Ich muss wieder in die Notaufnahme«, erklärte sie nach einem Blick auf die Uhr. »Es hilft ja alles nichts.«

Die Hälfte des Fladenbrots ließ sie zurück. Sie hatte genug.

»Isst du das nicht mehr?« Mit großen Augen schaute Margot auf Lonas Teller.

»Ich hatte Hunger, aber jetzt krieg ich nichts mehr runter.«

»Na dann ...« Margot zog den Teller zu sich herein. »Wenn du nichts dagegen hast. Man soll ja nichts verkommen lassen. Das Bisschen hat auch noch Platz in meinem Magen.«

»Bis später.« Lona verließ die Kollegin mit einem dünnen Lächeln.

Zu mehr war sie nicht in der Lage.

***

Zur gleichen Zeit beriet sich Chefarzt Dr. Holl in seinem Büro mit dem Verwaltungsdirektor Kurt Huber.

»Wir brauchen mehr Pflegepersonal«, stellte Dr. Holl fest. »Auf einigen Stationen arbeiten unsere Leute schon am Limit.«

»Ich weiß, ich weiß«, versuchte Kurt Huber abzuwiegeln. »Wir sind ja bereits händeringend auf der Suche nach geeignetem Personal. Ich habe Inserate geschaltet, und auch auf unserer Homepage stellen wir ausführliche Informationen über den Pflegeberuf zur Verfügung und rufen zu Bewerbungen auf. Aber es ist nun mal nicht einfach, geschulte oder schulungswillige Kräfte zu finden.«

»Mag schon sein, Herr Huber. Aber während mein Ärzteteam und ich die Patienten behandeln und operieren, begleiten uns Pflegerinnen und Pfleger rund um die Uhr. Wir wissen, dass während und nach jeder Therapie und OP eine mehr oder weniger intensive Betreuung notwendig ist. Unser Pflegepersonal ist dafür verantwortlich, die Pflege gehört zur Heilung dazu. Daher setzen Sie bitte alle Hebel in Bewegung. Unsere Mitarbeiter dürfen nicht auf dem Zahnfleisch laufen. Sie sind dafür verantwortlich, uns die Zahl an Hilfskräften einzustellen, die wir brauchen.«

»Andere Kliniken haben die gleichen Probleme ...«

»Mit diesem Argument kommen wir nicht weiter. Wenn Schwestern und Pfleger eine berufliche Umorientierung in Erwägung ziehen, weil sie zu schlecht bezahlt werden, oder interessierte junge Menschen andere Berufsfelder vorziehen – wenn also der tarifliche Lohn zu niedrig ist, müssen Sie eben mehr zahlen.«

Kurt Huber schwieg kurz. Er schien gekränkt zu sein. Nach einigen Sekunden schob er das Kinn vor und bedachte den Klinikchef mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Lieber Herr Doktor Holl, ich darf Sie daran erinnern, dass ich als Verwaltungschef auch für die Wirtschaftlichkeit der Klinik verantwortlich bin.«

»Schon gut, schon gut, Herr Huber. Ich wollte Ihre Tätigkeit nicht in Zweifel ziehen, wenn das bei Ihnen so angekommen sein sollte. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber die Lage ist prekär. Also fertigen Sie bitte einen neuen Businessplan an, in den Sie höhere Entlohnungen einbeziehen.«

Der Verwaltungsdirektor machte sich eine handschriftliche Notiz.

»Wir sollten in diesem Zuge auch überlegen, den ein oder anderen Gerätekauf noch ein wenig hinauszuschieben«, fuhr Stefan Holl fort. »Die Pflege ist das A und O einer komplikationsfreien Genesung und hat somit oberste Priorität. Bitte sorgen Sie dafür, dass dieser Engpass beseitigt wird. Ich verlasse mich auf Sie.«

***

Die Schichtablösung traf ein. Zwei Schwestern hatten sich krankgemeldet.

Oberschwester Bettina bat die Kollegin Lona, noch ein, zwei Stunden länger zu bleiben.

Lona schwankte nur kurz, dann verneinte sie Bettinas Bitte: »Das ist ganz unmöglich. Ich kann heute nicht mehr, ich bin am Ende.«

»Das sind wir doch alle. Aber es muss ja irgendwie weitergehen. Die Patienten dürfen jedenfalls nicht wegen des Personalmangels leiden.«

»Tut mir leid, Bettina, aber es geht wirklich nicht. Ich muss auch für meinen Vater da sein. Er ist krank und braucht mich. Bitte fragen sie jemand anderen.«

»Ich verstehe.« Bettina seufzte enttäuscht.

Kollegin Lona war eine Spitzenkraft, auf die sie ungern verzichtete. Aber sie sah ein, dass sie die Mitarbeiterin nicht zwingen konnte, noch ein paar Überstunden anzuhängen.

Eilig verließ Lona die Klinik, schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr durch die milde Abendsonne nach Milbertshofen, wo sie mit ihrem Vater wohnte.

Bis vor einem Jahr hatte Lona noch ein Appartement in der Nähe der Klinik gehabt. Aber seit Vater allein nicht mehr zurechtkam, wohnte sie wieder bei ihm.

Lona Gruner nahm ihre Pflichten als Tochter ernst. Damit gab sie dem Vater etwas zurück, der sie nach der Scheidung von ihrer Mutter allein großgezogen hatte.

Im Supermarkt kaufte sie Tomaten, Paprika, Zwiebeln, Brot und Käse. Zu Hause würde sie in der Pfanne etwas zusammenrühren.

Ihrem Vater schien es egal zu sein, was sich auf dem Teller befand. Er aß immer alles auf, machte aber keine Bemerkung, ob es ihm geschmeckt hatte.

Endlich erreichte sie das Einfamilienhaus, das längst einige Reparaturen nötig hatte. Aber sich auch darum noch zu kümmern, überstieg zurzeit ihre Kräfte und finanziellen Mittel.

Sie schob das Rad um die Ecke und lehnte es gegen die Mauerwand. Mit zwei Einkaufstaschen beladen, betrat sie das Haus über die Terrasse.

»Hallo, Papa. Ich bin's.«

Keine Antwort. Es blieb ruhig.

»Wo bist du?«, fragte Lona nun in die Stille hinein.

Die Krankenschwester stellte ihre Einkäufe ab, lief durch alle Zimmer und schließlich in den ersten Stock, wo sich ihr altes Jugendzimmer befand, in dem sie jetzt wieder schlief.

Vater Arno saß auf Lonas Bett und starrte vor sich hin.

»Grüß dich, Papa. Ich habe dich gerufen. Warum hast du nicht geantwortet?«

Arno Gruner wandte den Kopf und schaute sie an.

Lona erschrak. In seinem Blick lag Unverständnis gepaart mit Fremdheit.

Doch wenige Sekunden später glitt ein Lächeln über sein Gesicht.

»Da bist du ja, mein Kind! Ich habe auf dich gewartet.«

Wieder machte er diese seltsam zuckenden Armbewegungen, bei denen schon einiges im Haushalt zu Bruch gegangen war.

»Aber was machst du denn hier oben? Du sollst doch nicht die Treppe hinaufsteigen. Unten ist es viel bequemer.«

Vor sechs Wochen hatte er eine Hüftoperation und die anschließende Reha überstanden. Aber das Laufen klappte noch nicht so gut, wie es sollte.

Seit dieser Zeit hatte Lona weder einmal durchatmen noch mit ihrem Freund etwas unternehmen können. Neben ihrer Arbeit forderte Arno ihre volle Aufmerksamkeit.

Oliver gefiel das nicht. Immer wieder drängte er, endlich den alten Vater in ein Pflegeheim zu geben. Doch das kam für Lona nicht infrage. Sie liebte ihren Vater und würde für ihn sorgen – so wie er für sie gesorgt hatte.

»Komm, wir gehen nach unten, ganz vorsichtig. Halt dich an mir fest.«

Sie reichte ihm ihren Arm und legte seine Hand auf das Geländer. Langsam gingen sie Stufe für Stufe nach unten.

»Ich mache uns etwas zu essen. Im Anschluss können wir beide noch fernsehen, bis uns die Augen zufallen.«

Arnos Appetit hatte deutlich nachgelassen, ein paar Kilo hatte er bereits abgenommen. Lona musste ihrem Vater beim Essen gut zureden, doch noch einen Löffel oder zwei zu nehmen.

Nach dem Essen setzte er sich auf die Couch und schaute die Nachrichten. Lona saß neben ihm. Gelegentlich gab sie einen Kommentar von sich, auf den er aber nicht reagierte.

Lona ließ sich nicht anmerken, dass ihre Sorgen von Tag zu Tag zunahmen. Ihr Vater zeigte demente Störungen und litt unter unwillkürlichen Bewegungen. Er war ungewöhnlich reizbar und manchmal sogar aggressiv. Dann wieder wagte er nicht, allein einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, und traute sich auch nicht in den Garten hinter dem Haus.

Dazwischen gab es immer wieder klare Momente, die Lona Hoffnung machten. Dennoch ahnte sie, dass er womöglich schon bald ganztägig beaufsichtigt werden musste.

Eine Demenz bildete sich schließlich nicht zurück, sondern schritt unaufhaltsam fort. Wie sie die familiäre Situation dann mit ihrem Beruf vereinbaren sollte, war ihr noch ein Rätsel.

Immer öfter befiel sie eine große Angst vor der Zukunft.

Nur eine Sorge blieb ihr erspart. Vater war zwar erst vierundfünfzig, war aber bereits arbeitsunfähig und bekam nur eine kleine Rente. Im Laufe seines Berufslebens hatte er gut verdient und das Geld gewinnbringend angelegt. Außerdem war noch ein kleines Vermögen von Lonas Großvater hinzugekommen, sodass vorerst keine finanziellen Probleme anstanden. Lona bekam ja auch ein Gehalt.

Als Arno immer wieder die Augen zufielen, legte sie ihm eine Hand auf die Schulter.

»Geh schlafen, Papa. Morgen ist ein neuer Tag.«

Er richtete sich mühsam auf und ging ins Bad, wo er seine Abendtoilette noch weitgehend selbständig verrichtete. Anschließend brachte Lona ihn ins Bett. Solang er noch gehbehindert war, schlief er unten im Gästezimmer.

Sie wartete, bis er sich hingelegt hatte und deckte ihn fürsorglich zu. »Schlaf gut.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Arno distanziert.

Leise verließ Lona den Raum.

***

Arno schlief nicht gleich ein.

Er wusste, dass seine Tochter ihn für dement hielt, womit sie auch gar nicht so falsch lag. Aber leider Gottes war das noch nicht die ganze Wahrheit ...

Das Geheimnis quälte ihn nun schon seit zwanzig Jahren. Ihm war klar, dass er längst darüber hätte sprechen sollen, aber es gelang ihm einfach nicht.

Der liebevolle Blick seiner Tochter machte jeden einzelnen Versuch zunichte. Wenn sie ihn so anschaute, dann brachte er es nicht mehr übers Herz, ihr eine Botschaft zu übermitteln, die ihr ganzes weiteres Leben überschatten, wenn nicht sogar komplett verdunkeln würde.

Wie sollte er aus diesem Dilemma jemals herauskommen? Manchmal wünschte er sich, einfach tot umzufallen und die Zukunft nicht mehr erleben zu müssen. Doch so ersparte er sich nur ein Geständnis, Lona war damit nicht geholfen.

Als seine Tochter noch sehr klein war, hatte sie ihre Mutter verloren. Nicht durch den Tod, nein, seine Frau war mit einem anderen Mann durchgebrannt und hatte ihre Familie im Stich gelassen. Den Verlust der Mutter hatte Lona nie verwunden.

Und jetzt sollte Arno seine Tochter auf einen weiteren schweren Schicksalsschlag vorbereiten? Irgendwann musste sie es erfahren, aber nicht jetzt, wo sie schon in ihrem Beruf so eingespannt war. Er bekam ja mit, wie abgekämpft sie oft nach Hause kam.

Wie gern hätte Arno sich gesagt, dass doch noch alles gut werden würde. Aber daran zu glauben, hieß an Wunder zu glauben. Und leider bezweifelte er schon lange, dass es die in dieser Welt noch gab.

***

Lona schreckte hoch. Sie war vor dem laufenden Fernseher eingenickt.

Hatte es geklingelt? Sie ging zur Tür und öffnete.

»Hallo, Lona!«, wurde sie schwungvoll begrüßt.

»Oliver! Wieso ...?«, begann sie.

»Kann ich kurz reinkommen?«, fiel ihr Freund Lona sogleich ins Wort.

»Du sollst doch nicht klingeln. Mein Vater schläft schon. Es könnte ihn wieder aufwecken.«

Oliver Siebert ging auf Lonas Worte nicht ein.

»Bitte, lass mich einfach rein!«, bat er ungeduldig.

»Gehen wir in die Küche«, schlug Lona vor. »Aber ohne dir auf die Füße treten zu wollen – wir waren doch gar nicht verabredet.«

»Ich weiß«, entgegnete der hochgewachsene Mann mit den roten Haaren.

Er war eine attraktive und zugleich leicht außergewöhnliche Erscheinung, was ihm bereits einige gut dotierte Aufträge als männliches Model beschert hatte. Vorerst zwar nur für kleine Onlineshops noch recht unbekannter Modelabels, aber da konnte noch mehr kommen. Seine Agentur rührte schon fleißig die Werbetrommel für ihn.

Oliver setzte sich an den Küchentisch.

»Möchtest du etwas trinken?«

Lona strich mit den Händen ihr schulterlanges Haar zurück, das sie bei der Arbeit zu einem Dutt zusammengebunden trug.

Trotz des kurzen Schlafs auf dem Sofa musste sie blass und müde aussehen. Es war ihr unangenehm, dass Oliver sie so erleben musste.

»Nein, danke«, lehnte der junge Mann ab.

»Da du gerade da bist, kann ich dir auch gleich sagen, dass ich zu dieser Party am Wochenende nicht kommen kann. Vater braucht mich.«

»Das ist mir schon klar.« Oliver winkte ab.

Die Ironie in seinen Worten war Lona nicht entgangen. Sie schaute ihn prüfend an.