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Sobald die Musik zu spielen beginnt, übernimmt Miriams Körper die Regie. Schon bei den ersten Schritten ist klar: Das hier ist ihr Leben. Die Leidenschaft fürs Tanzen fließt durch ihre Adern und strömt aus ihr heraus. Darum ist es ihr größter Traum, an der renommierten Ballett-Akademie BAL aufgenommen zu werden.
Heute wird es sich entscheiden, ob ihr Können ausreicht. Miriam wird aufgerufen. Noch einmal tief durchatmen, sich konzentrieren und fokussieren. Die erste Pirouette gelingt perfekt, dann fällt sie mit einer atemberaubenden Eleganz zu Boden, um sich gleich darauf mit gestreckten Beinen in die Luft zu erheben. Jetzt noch die letzte finale Figur ...
Miriam nimmt Schwung, doch plötzlich versteift sich ihr Körper wie ein Brett. Ungebremst stürzt sie zu Boden, unfähig sich abzustützen, mit dem Gesicht zuerst ...
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Seitenzahl: 124
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Gefallener Stern
Vorschau
Impressum
Gefallener Stern
Beim Vortanzen versteift sich plötzlich Miriams Körper
Von Katrin Kastell
Sobald die Musik zu spielen beginnt, übernimmt Miriams Körper die Regie. Schon bei den ersten Schritten ist klar: Das hier ist ihr Leben. Die Leidenschaft fürs Tanzen fließt durch ihre Adern und strömt aus ihr heraus. Darum ist es ihr größter Traum, an der renommierten Ballett-Akademie BAL aufgenommen zu werden.
Heute wird es sich entscheiden, ob ihr Können ausreicht. Miriam wird aufgerufen. Noch einmal tief durchatmen, sich konzentrieren und fokussieren. Die erste Pirouette gelingt perfekt, dann fällt sie mit einer atemberaubenden Eleganz zu Boden, um sich gleich darauf mit gestreckten Beinen in die Luft zu erheben. Jetzt noch die letzte finale Figur ...
Miriam nimmt Schwung, doch plötzlich versteift sich ihr Körper wie ein Brett. Ungebremst stürzt sie zu Boden, unfähig sich abzustützen, mit dem Gesicht zuerst ...
Die Oktobersonne schien an diesem Mittag freundlich vom wolkenlosen Himmel hinab. Auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben, und auch in der Notaufnahme der Berling-Klinik ging es hoch her.
»Das hier ist Aurélie Leclerc, einundsechzig Jahre alt. Die Patientin klagt über starke Schmerzen im unteren Rückenbereich. Sie kann sich kaum bewegen, ist aber wieder ansprechbar«, teilte der Rettungsarzt Dr. Huber seiner Kollegin in der Notaufnahme mit.
»Ich bin nicht nur ansprechbar, sondern auch völlig klar im Kopf, Frau Doktor«, korrigierte Aurélie den Notarzt.
Die gepflegte Frau im Kostüm war nicht allein. Ein Mann Anfang dreißig begleitete sie.
»Mama, bitte!«, bat Pascal Leclerc.
»Was denn?«, schnaubte sie. »Die Leute sollen ruhig wissen, mit wem sie es zu tun haben.«
Dr. Anke Petersen nahm das Klemmbrett aus der Hand des Notarztes und überflog die Angaben.
»Guten Tag, Frau Leclerc. Mein Name ist Doktor Petersen. Wir bringen Sie sofort in einen Behandlungsraum.«
Sie nickte einem der Pfleger zu, die zur Unterstützung herbeigeeilt waren.
Vor der Tür blieb Pascal Leclerc stehen.
»Viel Glück, Mama. Wir sehen uns später.«
»Warte!« Aurélie zupfte die goldenen Clips von ihren Ohrläppchen und reichte sie ihrem Sohn. »Es soll ja viel wegkommen in Krankenhäusern.«
Dabei durchbohrte sie den Pfleger mit Blicken.
Vor Scham wäre Pascal am liebsten im Erdboden versunken.
»Bitte entschuldigen Sie, meine Mutter meint das nicht so.«
»Und ob ich das so ...«
»Wenn Sie nicht wollen, dass Pfleger Johann Sie später statt in die Radiologie in eine dunkle Abstellkammer bringt, sollten Sie jetzt mit uns kooperieren«, ging Dr. Petersen dazwischen.
Diese Drohung wirkte. Aurélie Leclerc schloss den Mund und ließ die Untersuchungen schweigend über sich ergehen.
Eine halbe Stunde später lagen die ersten Ergebnisse vor.
Anke Petersen saß in einem Nebenraum des Behandlungszimmers am Computer und studierte die Aufnahmen aus der Radiologie, als ihr Chef Dr. Stefan Holl an die halboffene Tür klopfte.
»Hier stecken Sie, Kollegin Petersen. Gibt es mittlerweile schon genauere Informationen, wann die Handultraschallgeräte geliefert werden?«
»Da müssten Sie sich an den Verwaltungschef Huber wenden. Er hat den Kontakt mit der Firma«, erwiderte die Internistin und konzentrierte sich wieder auf die Bilder.
Stefan Holl bemerkte ihre gerunzelte Stirn.
»Stimmt etwas nicht?«
»Die Bilder sind nicht sehr aussagekräftig.«
Der Klinikchef beugte sich über den Computerbildschirm und studierte die Aufnahmen.
»Es könnte sich um einen Deckplatteneinbruch handeln. Allerdings ist das leider nur eine Vermutung.«
»Hallihallo, kann auch mal jemand mit mir sprechen?«, wehte die Stimme der Patientin aus dem Nebenraum herüber.
Dr. Petersen verdrehte die Augen.
»So geht das schon die ganze Zeit«, flüsterte sie ihrem Chef zu. »Die Dame scheint unser Haus mit einem Hotel zu verwechseln.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Glück mal bei ihr versuche?«
Die Internistin machte eine einladende Handbewegung.
»Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Das ließ sich Stefan Holl nicht zweimal sagen. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen trat er an die Behandlungsliege im Nebenraum und stellte sich vor.
»Na, endlich mal ein kompetenter Ansprechpartner«, seufzte Aurélie Leclerc auf. »Das wurde auch langsam Zeit.«
»An dieser Klinik arbeiten nur Spezialisten ihres Fachs«, widersprach Dr. Holl freundlich, aber bestimmt.
»Nur mit dem feinen Unterschied: Sie sind der Chef. Ich gehe davon aus, dass das einen Grund hat«, konterte Aurélie Leclerc. »Und jetzt sagen Sie mir bitte, was mir fehlt. Ich kann nicht den ganzen Tag hier herumliegen. Ich muss so schnell wie möglich zurück ins Büro.«
»Das wird leider nicht gehen. Wenn Sie eine Krankmeldung brauchen ...«
»Ich bin mein eigener Chef.« Aurélie Leclerc strich sich eine blondierte Strähne aus der Stirn und warf den Kopf in den Nacken. »Ich habe die Ballett-Akademie ›BAL‹ in München gegründet, die seit dreißig Jahren international gefeierte Stars ausbildet.«
Dr. Holl zuckte mit den Schultern.
»Tut mir leid, mit Tanz im Allgemeinen und Ballett im Speziellen kenne ich mich nicht aus.« Fast bereute er nun, die Ballett-Karten, die er neulich von einem dankbaren Patienten geschenkt bekommen hatte, an seine Schwester und ihren Mann weitergegeben zu haben. »Dafür umso besser in der Medizin«, fuhr er schnell fort, als die Patientin bereits tadelnd eine Augenbraue hob. »Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie. Wir müssen noch eine Extraaufnahme Ihres Wirbels machen, um herauszufinden, was damit passiert ist. Die ersten Bilder lassen aber bereits befürchten, dass Sie zumindest die Nacht bei uns verbringen müssen.«
Die Empörung stand der Patientin ins Gesicht geschrieben.
»Ausgeschlossen. Ende Oktober finden die ersten Aufführungen statt, die Proben für das Weihnachtsspiel beginnen, außerdem stehen einige wichtige Termine an. Ich kann jetzt nicht ausfallen.«
»Haben Sie keinen Stellvertreter, der sich vorübergehend um die Leitung der Geschäfte kümmern kann?«
Aurélie presste die Lippen aufeinander.
»Schicken Sie mir meinen Sohn. Er wartet draußen vor der Tür«, erwiderte sie schließlich.
***
Am nächsten Nachmittag saß Pascal Leclerc nachmittags am Schreibtisch im Büro seiner Steuerkanzlei. Anders als sonst konnte er sich nicht recht auf seine Arbeit – diesmal ging es um die Steuerangelegenheiten seiner Mutter – konzentrieren. Immer wieder wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in eine Zeit, in der die Zukunft noch in schillernden Farben vor ihm gelegen hatte.
Schon als kleiner Junge war ihm klar gewesen, dass er Tänzer werden wollte. Hocherfreut hatte Aurélie den Herzenswunsch ihres einzigen Kindes unterstützt und keine Kosten und Mühen gescheut. Ein ehemaliger Solist des weltberühmten Bolschoi-Balletts war Pascals Lehrer gewesen – sehr zum Ärger seines Vaters.
Noch immer klangen Pascal die Streitereien seiner Eltern im Ohr, die lautstark über seine Zukunft diskutiert hatten.
Statt auf einer großen Bühne zu tanzen, saß er nun hier am Schreibtisch seiner eigenen Steuerkanzlei. Seine Eltern waren längst geschieden, seine großen Träume gehörten der Vergangenheit an. Für Tanzen war kein Platz mehr in seinem Leben. Die Prüfung der Finanzen der Akademie war das Einzige, was seinen Beruf noch mit seiner einstigen, großen Leidenschaft verband.
Seufzend beugte sich Pascal wieder über die Unterlagen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Aber was? In seine Gedanken hinein klingelte das Telefon. Seine Mutter war am Apparat. Ihre Neuigkeiten waren alles andere als erfreulich. Mit angehaltenem Atem lauschte er ihren Ausführungen.
»Du meinst, du hast schon öfter Rückenprobleme gehabt?«, hakte er in einer Sprechpause nach.
»Ich war schon ein paarmal beim Arzt wegen Rückenschmerzen«, erwiderte Aurélie kleinlaut. »Nachdem der aber nichts feststellen konnte, wollte ich keinen Wind um diese Sache machen.«
»Und die Schmerzen?«
»Doktor Ruhpold hat mir immer wieder mal ein paar Tabletten verschrieben, das war alles. Worüber sollte ich mir also Sorgen machen? Die Beschwerden sind ja jedes Mal wieder schnell verschwunden.«
»Warum hast du nie etwas davon gesagt?«, stellte Pascal eine berechtigte Frage. »Ich dachte, du vertraust mir.«
»Aber das tue ich doch, mein Junge. Ich hielt es einfach nicht für wichtig. Außerdem gab es immer so viel zu tun, dass ich meinen Rücken ganz schnell wieder vergessen habe.«
»Das scheint ein Fehler gewesen zu sein«, seufzte Pascal. »Wissen die Ärzte schon, was dir fehlt?«
»Der Klinikleiter ist noch auf der Suche. Ich hoffe, er hat seinen Titel nicht im Lotto gewonnen.«
»Mama, bitte!«, ermahnte Pascal seine Mutter.
»Schon gut, schon gut. Ich habe versprochen, mich zurückzuhalten.«
Draußen klingelte es. Er hörte die Schritte seiner Assistentin.
»Ich muss jetzt aufhören, Mama. Das ist Justus. Ich habe ihn hergebeten, um ein paar Ungereimtheiten zu klären.«
»Bitte sei nicht wieder päpstlicher als der Papst«, mahnte Aurélie. »Diese Eigenschaft erinnert mich immer an deinen Vater.«
Mit diesem kleinen Seitenhieb beendete sie das Telefonat.
Einen Moment lang überlegte Pascal, ob er seiner Mutter böse sein sollte. Schließlich war sie selbst es gewesen, die Martin Leclerc zum Ehemann genommen hatte. Doch dann klopfte es an seiner Tür, seine Sekretärin Romana kündigte den Besucher an, und Pascal Leclerc konzentrierte sich auf das schwierige Gespräch, das vor ihm lag ...
***
Schweißperlen glänzten auf Miriam Schwabs Stirn. Obwohl die Sonne Ende Oktober kaum mehr Kraft hatte und ohnehin bald hinter den Bäumen des Englischen Gartens versinken würde, klebte ihr das T-Shirt am Rücken.
Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper brannte, ihre Beine zitterten, doch sie drehte sich weiter und weiter, machte schließlich einen Flickflack und landete sicher wieder auf ihren Füßen.
Der Beat der Musik aus der kleinen Anlage trieb sie weiter an. Gleich stand das große Finale ihrer Choreografie bevor.
Ein Windhauch strich über Miriams heißen Körper und kühlte ihre erhitzten Wangen. Schade, dass kaum einer der Passanten trotz ihrer Anstrengungen und der neuen Choreografie, die sie sich ausgedacht hatte, stehen blieb. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die kalten Jahreszeiten anbrachen. Die sinkenden Temperaturen waren schlecht für das Geschäft.
Miriam machte noch eine Drehung und fiel dann in einer finalen, dramatischen Pose auf die Knie. Wie ein Schwert schoss ein Schmerz in ihre Glieder, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um sich nichts anmerken zu lassen.
Ein Pärchen spendete Applaus, zwei Mädchen kramten ein paar Münzen aus ihren Taschen.
Langsam, aber sicher wurde es dunkel. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen, zu duschen und sich auf den Weg in die Kneipe zu machen, in der sie momentan stundenweise jobbte.
Die wenigen Zuschauer warfen ihren Obolus in den Hut und verabschiedeten sich. Miriam dankte ihnen mit einer Pirouette, zog den Pullover über das feuchte Shirt und zählte ihre Einnahmen. Vierundzwanzig Euro für den ganzen Nachmittag, das meiste davon in Münzen, nicht einmal halb so viel wie an guten Tagen. Aber wer konnte schon von sich behaupten, überhaupt für seine Leidenschaft bezahlt zu werden?
Bevor sie zu sehr auskühlte, packte Miriam ihre Sachen zusammen. Schlimm genug, dass ihre Knochen schmerzten, wahrscheinlich Nachwirkungen der Coronainfektion, die sie sich trotz Impfung vor ein paar Wochen eingefangen hatte. Da brauchte sie nicht auch noch eine Grippe.
Es dauerte nicht lange, bis sie die kleine Musikanlage zusammengepackt und ihre Siebensachen in der Tasche verstaut hatte. Mit einem letzten Blick versicherte sich Miriam, auch ja nichts vergessen zu haben, und machte sich auf den Weg.
Wie immer führte sie ihr Weg am Kiosk Fräulein Grüneis vorbei. Im Sommer stand das ehemalige, liebevoll umgebaute Toilettenhäuschen unter Bäumen im kühlen Schatten. Im Winter bollerte drinnen ein kleiner Ofen neben einer Eckbank, die zum Aufwärmen und Verweilen an dem einzigen Tisch des Mini-Cafés einlud.
Der Duft nach gebratenem Gemüse und Kräutern ließ Miriam das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie hielt Ausschau, wer diesmal hinter dem Tresen stand.
»Hallo, Miri!«, rief die Studentin Susi und winkte herüber. »Lust auf Kokossuppe mit Kürbis?«
Schnell rechnete Miriam im Kopf durch, ob sie sich diesen Luxus leisten konnte, aber das Geschäft lief zu schlecht.
Sehnsüchtig betrachtete sie die selbst gebackenen Kuchen und Snacks, die unter ihren Plastikhauben neben der Kaffeemaschine standen. Daneben gab es liebevoll zubereitete Gerichte wie Suppen oder vegetarische Speisen, mal orientalisch, mal mediterran oder asiatisch.
Susi wusste, was durch den Kopf der Straßenkünstlerin ging. Verlegen trat sie von einem Bein auf das andere. Manchmal ging eine Portion zurück, oder es zerbrach ein Stück Kuchen und war damit unverkäuflich. An diesem frühen Abend zuckte sie bedauernd mit den Schultern.
»Tut mir leid, heute kann ich dir nichts abgeben.«
»Macht nichts. Ich habe noch Sachen zu Hause, die unbedingt wegmüssen«, schwindelte Miriam und hob die Hand zum Gruß.
Sie verließ den Englischen Garten und machte sich auf den Nachhauseweg. Ihre winzige Wohnung lag ein Stück entfernt, und sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte.
Miriam zog den Kopf ein, ignorierte den beißenden Hunger und lief an den Passanten vorbei, die nach der Arbeit Besorgungen für den Abend machten.
Mit den letzten schönen Tagen im Oktober ging die Touristenzeit unweigerlich zu Ende. Im Grunde genommen war Miriam froh darüber. In den vergangenen Monaten hatte sie mehr Verletzungen gehabt als in den sechs Jahren zuvor, und das machte ihr Sorgen. Besonders seit der Coronainfektion schmerzte immer wieder ein anderes Körperteil, sie fühlte sich erschöpft und abgeschlagen und litt unter Rücken- und Gelenkschmerzen, speziell in den Beinen. Trotzdem ging sie nicht zum Arzt. Dazu waren die Schmerzen zu diffus. Außerdem waren die Zuzahlungen zu Medikamenten so gestiegen, dass sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten konnte.
An einer roten Fußgängerampel blieb Miriam hinter einer Traube Menschen stehen. Ungeduldig sah sie sich um, als ihr Blick auf die Litfaßsäule fiel, die über und über mit Plakaten beklebt war. Eines davon zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war ganz in Dunkelblau gehalten. Eine in ein weißes Trikot gekleidete Primaballerina stand inmitten eines Lichtkegels, der von oben aus dem Nichts auf sie herabfiel.
Miriam fühlte ein Ziehen in der Brust. Was gäbe sie darum, nur ein einziges Mal an der Stelle dieser Tänzerin sein dürfte? Wenn sie nur einmal auf einer großen Bühne tanzen dürfte, die Begeisterung in den Augen der Zuschauer sehen, ihren Applaus hören könnte ... Doch sie hatte ihre Chance gehabt und sie nicht genutzt.
Ein Stoß brachte Miriam zur Besinnung.
»Du kannst zu Hause weiterschlafen!«, blaffte sie ein Mann an, der an ihr vorbeieilte und sie dabei angerempelt hatte.
Die Ampel hatte auf Grün umgeschaltet. Miriam lief weiter und erreichte schließlich das Wohnhaus, in dem ihr winziges Apartment lag.
Beim Umziehen dachte sie wieder an das Plakat und ihren geplatzten Traum von der Profikarriere. Doch dann fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild, in das von hellbraunen Wellen eingerahmte, mürrische Gesicht.
»Was ist nur los mit dir?«, schalt sie sich selbst.
Warum war sie auf einmal so unzufrieden? Denn eigentlich war sie doch ganz glücklich mit ihrem Leben, seit sie es selbst in die Hand genommen hatte. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte und musste sich von niemandem mehr dreinreden lassen. Nach der Coronapandemie gab es in der Gastronomie Arbeit genug, und obendrein konnte Miriam auch noch tanzen. Sie war ein freier Mensch. Sie lebte ihren Traum. Zumindest einen kleinen Teil davon ...
***
Pascal Leclerc betrachtete den Buchhalter seiner Mutter, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Seine kurz geschnittenen Haare standen ihm zu Berge, weil er sie ständig nach hinten strich. Seine Wangen waren blass und eingefallen, und die Schatten um seine Augen wirkten gespenstisch. Sein offensichtlich angeschlagener Zustand machte das Gespräch nicht leichter.
»Du hättest sagen sollen, dass es dir nicht gut geht. Dann wäre ich in die Akademie gekommen.«