China - Gerhard Stahl - E-Book

China E-Book

Gerhard Stahl

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Beschreibung

China wird unsere Zukunft bestimmen. Nicht nur unser Wohlstand hängt vom Handel mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht ab, sondern auch globale Probleme, allen voran der Klimawandel, können nur mit Chinas Mitarbeit bewältigt werden. Die USA sehen in der kommunistischen Volksrepublik eine Gefahr für die internationale Ordnung, für Frieden und Demokratie. Europa muss einen Weg finden, mit China umzugehen. Welche Richtung sollen wir einschlagen? Wirtschaftliche und technologische Abschottung, politische und militärische Konfrontation oder Kooperation? Gerhard Stahl beschreibt die Veränderungen der chinesischen Gesellschaft. Er skizziert das chinesische Geschichtsverständnis, den wirtschaftlichen und politischen Alltag sowie Vorstellungen chinesischer Gesprächspartner über das moderne China. Er schildert die innovative Dynamik der Metropolen und gleichzeitig die ländliche Armut und die regionalen Unterschiede in diesem riesigen Land mit seinen Widersprüchen: Entwicklungsland und Hochtechnologiestandort, Sozialismus und Marktwirtschaft, weltoffen und nationalistisch. Stahl geht auf geopolitische Konflikte sowie Menschenrechte ein und gibt Empfehlungen für Wirtschaft und Politik.

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Seitenzahl: 257

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Gerhard Stahl

CHINA

ZUKUNFTSMODELL ODER ALBTRAUM?

Europa zwischen Partnerschaft und Konfrontation

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0637-6 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7041-4 [E-Book]

Copyright © 2022 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Ute Lübbeke | Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

DIETZ& DASDer Podcast zu Politik, Gesellschaft und GeschichteAuf allen Podcast-Plattformen abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1.Einleitung

2.Der erste Eindruck von China

3.Peking University HSBC Business SchoolIm Vienna Hotel

4.Chinas GeschichteErniedrigung durch die KolonialmächteDer chinesische BürgerkriegDeng Xiaoping öffnet China der WeltDas offizielle chinesische GeschichtsbildDie Furcht vor den USAMilitärische SpannungenDie neue Militärallianz AUKUS

5.Was kennzeichnet das heutige China?Das politische System: Diktatur einer Partei oder Demokratie im Werden?Der StaatsaufbauDas Fiskalsystem: Dominanz der lokalen EbeneDie Kommunistische Partei Chinas (KPC)Die FünfjahrespläneWie Entscheidungen in China getroffen werdenGeneralsekretär und Präsident Xi JinpingIst China noch ein Entwicklungsland?Ist China eine Planwirtschaft oder eine Marktwirtschaft?

6.Vom Land in die StadtHukou: Das HaushaltsregistrierungssystemLandfluchtErfolgreiche MetropolenDie Ein-Kind-PolitikDie städtische Mittelschicht

7.Von der Küste ins Landesinnere: Regionalpolitik in China

8.Von der Werkbank der Welt zum Technologie- und InnovationszentrumInnovationspolitikInternationale PatenteEhrgeiziges RaumfahrtprogrammChinas DigitalökonomieDas Biotech-Unternehmen BGI – ein Weltstar in SchwierigkeitenDie »Made-in-China-2025-Strategie«

9.Chinas neues Wirtschaftsmodell und die ökologische ZivilisationVom quantitativen zum qualitativen WachstumStärkung der BinnennachfrageLandesweiter EmissionshandelRadikale EnergiewendeSchutz der NaturGemeinsamer WohlstandVerbesserung der ArbeitsbedingungenRegulierung der Internet-UnternehmenNeuorientierung des ImmobilienmarktesEvergrande: Probleme bei der UmorientierungMarktzugang für ausländische Unternehmen

10.Die Eroberung internationaler MärkteVon Afrika nach EuropaHuawei zwischen Wirtschaft und PolitikVortrag des Firmengründers Ren ZhengfeiDie Firmenkultur von HuaweiDie amerikanischen Sanktionen gegen Huawei

11.Chinas geopolitischer AuftrittDie Neue SeidenstraßeNeue internationale Organisationen entstehenNeue Handels- und Investitionsabkommen

12.Chinas SoftpowerChinas internationale MedienChinas FilmindustrieKonfuzius-InstituteDie politische Auseinandersetzung mit China ist keine Aufgabe des VerfassungsschutzesTeilnahme am internationalen Sport

13.Taiwan – das andere ChinaDie Geschichte TaiwansGespräch mit dem PräsidentenDie Zukunft Taiwans steht im Zentrum des China-USA-Konflikts

14.Der USA-China-Kampf um die VorherrschaftAllianz der Demokratien gegen China?

15.Die chinesisch-russische Freundschaft

16.Geht die Globalisierung zu Ende und kommen stattdessen Abschottung und Renationalisierung?

17.Menschenrechte in Zeiten geopolitischer Konflikte

18.Die EU-China-BeziehungenEin umfassendes Investitionsabkommen

19.Europa in einer Welt im WandelDie EU am Scheideweg: Transatlantische Gefolgschaft oder europäische SouveränitätWie entwickelt sich die amerikanische Politik?Eine werteorientierte AußenpolitikAufbau einer Europäischen SouveränitätNeuausrichtung der europäischen Politik

20.AusblickDie Zielsetzungen der chinesischen Politik für die nächsten JahrzehnteDie Europäische Union und China – ein Vorbild für friedliche internationale Zusammenarbeit?Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme

Literatur

Anmerkungen

Über den Autor

1. Einleitung

Die Volksrepublik China ist das bevölkerungsreichste Land der Welt und eine alte Kulturnation. Seit der Öffnung 1979 ist es die Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft und inzwischen auch Deutschlands und Europas größter Handelspartner. Für viele deutsche Unternehmen liegt hier ihr wichtigster Markt. Die auf die wirtschaftlichen Vorteile ausgerichtete positive Einschätzung Chinas, die lange in der Öffentlichkeit vorherrschte, hat sich verändert. Auch die jahrhundertalte Wertschätzung seiner Hochkultur mit feinstem Porzellan, chinesischer Seide, schönen Stoffen und ausgewähltem Tee durch ein westliches Bürgertum spielt heute für das Ansehen der kommunistischen Volksrepublik keine Rolle mehr. In den USA wird das Land parteienübergreifend als Gegner gesehen, der eine amerikanisch geprägte internationale Ordnung gefährdet und die Stellung der USA als führende Weltmacht bedroht. Es wird der Schulterschluss der Demokratien gegen einen autoritären Staat gefordert. Auch die Europäische Union hat China inzwischen nicht nur als Partner, sondern auch als strategischen Rivalen definiert.

Einerseits wird China für die Lösung globaler Probleme gebraucht. Der Klimawandel wird ohne die Mitarbeit Chinas nicht zu bewältigen sein. Für die Entwicklung Afrikas spielen chinesische Investitionen inzwischen eine unverzichtbare Rolle. Andererseits besteht die Gefahr einer ideologischen Auseinandersetzung, eines Technologie-Krieges der auf Abschottung setzt und damit eine erfolgreiche Zusammenarbeit unmöglich macht. Um Taiwan sind selbst militärische Konflikte denkbar.

Mit dem Überfall Putins auf die Ukraine kommt Krieg als Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen nach Europa zurück. Die Volksrepublik ist ein strategischer Partner Russlands, führt gemeinsame Militärmanöver durch und kooperiert in der Sicherheitspolitik. Können die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit China unter diesen Bedingungen fortgesetzt werden?

Wie soll Deutschland, wie soll Europa sich zu diesem Land verhalten, einer Weltmacht, die ökonomisch und politisch die nächsten Jahrzehnte prägen wird, einer Gesellschaft, die sich tiefgreifend verändert und noch ihre Bestimmung sucht?

Wissen wir genug über China: seine Menschen, seine Geschichte, seine Politik, seine Wirtschaft und seine Zukunftsvorstellungen? Es gibt inzwischen zahlreiche Bücher, die eindrucksvoll beschreiben, wie China als aufsteigende Supermacht die USA ablösen wird, wie ein autoritäres politisches System eine westlich geprägte internationale Ordnung infrage stellt.

Dieses Buch soll dazu beitragen, mehr als die Schlagzeilen zu sehen, und einen tieferen Blick auf die vielschichtige widersprüchliche chinesische Gesellschaft werfen: Entwicklungsland und Wohlstandsgesellschaft, traditionelle Landwirtschaft und Hochtechnologiestandort, Sozialismus und Marktwirtschaft, weltoffen und nationalistisch. Es soll einladen, sich mit dem historischen und politischen Selbstverständnis und dem tiefgreifenden Wandel Chinas auseinanderzusetzen. Ich werde Ideen und Vorstellungen chinesischer Gesprächspartner über das moderne China skizzieren. Auch ausländische Unternehmer, die schon seit Jahren in China tätig sind, werden zu Wort kommen. Auf den folgenden Seiten spiegeln sich teilweise Erlebnisse und Erfahrungen wider, die ich in den letzten zehn Jahren in China in unterschiedlichen Funktionen machen konnte: Als europäischer Beamter in offiziellen Regierungstreffen, als Mitglied einer chinesischen Umweltorganisation und als Hochschullehrer. Ich hatte die Chance, an der HSBC-Business School der staatlichen Peking-Universität im dynamischen Shenzhen mit chinesischen und internationalen Studierenden, Kolleginnen und Kollegen aus Asien, Amerika, Afrika und Europa die Entwicklung Chinas studieren zu können. In diesem Buch möchte ich etwas von diesen spannenden Diskussionen wiedergeben.

Die Auseinandersetzung mit China wird dazu führen, traditionelle Denkmuster infrage zu stellen. Viele unserer historisch gewachsenen Vorstellungen, ob in Politik, Wirtschaft oder Kultur, passen nicht mehr zu einer Welt im Umbruch. Deutschland muss sich für eine multipolare Welt mit geopolitischen Konflikten und hartem internationalem Wettbewerb neu aufstellen. Dies wird nur möglich sein im Rahmen einer europäischen Strategie und, wenn das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten geklärt ist.

2. Der erste Eindruck von China

Zum ersten Mal habe ich China im Jahre 2008 bereist.

Meine Tochter Anna nahm nach Ende ihres Studiums an einer Sommeruniversität in Peking teil. Ich machte ihr das Angebot, im Anschluss noch einige Tage anzuhängen um mehr von Land und Leuten mitzubekommen. Im Reisebüro in Brüssel buchte ich für zwei Wochen einen Aufenthalt mit Fahrer und Fremdenführer. Einige Tage Peking, ein Flug in die Provinz Shanxi, dann Rundreise und Rückfahrt nach Peking mit der Bahn – so lautete das Programm. Ich hatte die Provinz Shanxi ausgewählt, weil sie als Wiege der chinesischen Nation gilt. Dieser kurze China-Aufenthalt hinterließ bei mir viele Eindrücke und noch mehr offene Fragen.

Peking im Jahre 2008 ist wie eine städtebauliche Metapher für die schnelle Veränderung des ganzen Landes: Bauboom mit Hochhäusern und Stadtautobahnen, das Verschwinden der Hutongs – der traditionellen Wohngebiete Pekings in alter Bauweise, mit engen Gassen und Häusern, die oft über einen kleinen Innenhof verfügten – immer weitere Ausdehnung der Metropole mit zusätzlichen U-Bahnringen, modernen Einkaufszentren und, als Fixpunkt, die Palastanlagen der verbotene Stadt am Tian’anmen-Platz. Dieses bauliche Symbol kaiserlicher Macht und langer Geschichte zählt zwar seit 1987 zum UNESCO-Weltkulturerbe, wurde aber damals noch recht lieblos den Touristen präsentiert. Vielleicht waren daran die politischen Schwierigkeiten im Umgang mit der feudalen Vergangenheit schuld oder einfach mangelnde Fremdenverkehrserfahrung, die eine angemessene Darstellung dieses Meisterwerk chinesischer Baukunst verhinderte.

Unsere Fremdenführerin in der Provinz Shanxi war eine junge chinesische Frau, die gerade ihr Studium der deutschen Sprache abgeschlossen hatte und vorübergehend mit Touristen ihr Geld verdiente. Sie hatte ihre Heimatprovinz noch nie verlassen, sprach aber trotzdem ein verständliches Deutsch. Um uns die Anrede zu erleichtern hatte Sie sich den deutschen Namen Martha gegeben. In Shanxi sah ich zum letzten Mal viele Chinesen auf dem Fahrrad. Der Himmel war von Luftverschmutzung grau, das städtische Alltagsleben vibrierte, überall boten mobile Straßenhändler zahllose Speisen an. Es erstaunte mich auch, wie wenig das historische Erbe dieser alten Kulturnation damals gepflegt wurde. Meine Tochter war sehr enttäuscht darüber, dass es beim Besuch buddhistischer Tempel keinen Moment einer religiösen Besinnung gab. Was nach der Besichtigung übrig blieb, war das unangenehme Gefühl, es sei nur darum gegangen, durch den Verkauf belangloser Souvenirs Geld einzunehmen. Bei späteren China-Aufenthalten traf ich allerdings Chinesen, für die der Besuch eines Tempels und die Lehren Buddhas auch heute noch wichtige Lebenshilfen darstellen.

Es gab eine Szene, die mir besonders haften blieb und die Chinas Umbruch beispielhaft zusammenfasste. Als wir mit dem Auto übers Land fuhren, sahen wir am Straßenrand chinesische Bäuerinnen sitzen, die Kürbisse und Wurzelgemüse verkauften. In einiger Entfernung bemerkten wir eine kleine Ansiedlung. Wir hielten an und ich bat Martha zu fragen, ob wir das Dorf besichtigen dürften. Martha erläuterte, wir seien anständige Menschen und hätten ein ernsthaftes Interesse, das Leben in China kennenzulernen. Nach einigem Zögern erklärte sich eine Frau schließlich bereit, uns ins Dorf zu führen. Wir folgten der sonnengegerbten Bäuerin mit Strohhut zu Fuß auf einem staubigen Feldweg. Als wir ankamen, erlebten wir eine fast menschenleere Ansiedlung von einigen Hütten, die um einen Platz angeordnet waren. Die Männer waren offensichtlich auf dem Feld. Hühner liefen frei herum. Wir gingen auf eine mit Wellblech abgedeckte, unverputzte Lehmsteinhütte zu, wo unsere Bäuerin wohnte. Es gab nur einen Raum mit Holztisch, Plastikstühlen, einer Truhe und einem Steinofen, auf dem die ganze Familie schlief. Aus der Hütte kam ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt. Mit ihrem Aussehen hätte sie auch auf die Straßen von Brüssel oder Berlin gepasst. Sie war die Tochter und das einzige Kind der Bäuerin. Martha stellte uns vor, erklärte dass wir Deutsche seien, Vater und Tochter, und dass wir China kennen lernen wollten. Anna erwähnte ihren Sommerkurs an der Universität in Peking. Das Mädchen war interessiert und erwiderte, dass sie noch nie in Peking gewesen sei. Sie wolle noch viel lernen und hoffe, dass sie die Prüfungen bestehen werde, um vielleicht auch mal auf eine Universität zu kommen. Im Nachbardorf hätte es ein Mädchen geschafft. Ihr Vater würde sie unterstützen, während die Mutter meinte, sie solle lieber ans Arbeiten denken und sich in der naheliegenden Stadt eine Stelle suchen. Wir tauschten noch ein paar Freundlichkeiten aus, dann verabschiedeten wir uns von der Bäuerin, hinterließen einen Geldschein, der nach anfänglichem Zögern gern angenommen wurde, und setzten unsere Fahrt vor.

Ich sollte später noch öfter die Möglichkeit haben, Dörfer in unterschiedlichen Teilen China zu besuchen. Immer wieder erlebte ich, dass die junge Generation sich bereits vom ländlichen Leben und deren Traditionen verabschiedet hatte und ihre Zukunft in den Städten sah. Dies spiegelt eine grundlegende Tatsache wider: Chinas Wohlstand entsteht in den Städten.

Welche historische Ironie. Im Chaos der Kulturrevolution hatte Mao Millionen junger Menschen für ein vermeintlich besseres Leben von der Stadt aufs Land geschickt. Obwohl es bereits fünfzig Jahre zurück liegt, hat diese traumatische Erfahrung viele, die noch heute in Wirtschaft und Politik an den Schalthebeln der Macht sind, geprägt. Allerdings hat dieser Umstand nicht dazu beigetragen, dass die ländliche Entwicklung zur Zukunftshoffnung wurde. Das chinesische Entwicklungsmodell setzt auf die Metropolen. Erst heute verbessern sich die Bedingungen des ländlichen Lebens langsam. Erste Modellprojekte erlauben, das ländliche Kollektiveigentum so auszugestalten, dass Landwirtschaftsbetriebe entstehen können, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien am Wirtschaftsleben teilnehmen.

Zum Abschluss unserer Rundreise kamen wir im Hotelrestaurant in Taiyuan in den Genuss eines typisch chinesischen Essens. Martha, die in einem anderen, wahrscheinlich billigeren Hotel wohnte, war unser Gast. Wir saßen an einem runden Tisch und ließen die verschiedenen Speisen herumgehen, die, wie in China üblich, auf einer Drehscheibe platziert waren. Martha gefiel die Atmosphäre, und wir hatten Zeit auch über ihre persönlichen Wünsche zu sprechen. Ich dachte mir am Ende des Abends, dass sich ihre Zukunftsvorstellungen wenig von denen meiner Tochter unterschieden: mehr von der Welt sehen, einige Zeit im Ausland leben, sich später eine schöne Wohnung leisten können und vielleicht einen interessanten Mann treffen, der eine gleichberechtigte Partnerschaft akzeptiert.

In dem Buch »China, wer bist du?« hat die deutsche Autorin Simone Harre unterschiedliche Lebenssituationen von Chinesen aufgeschrieben: Der kranke Bauer, der von der Pacht seines kleinen Stück Land lebt; der Schriftsteller, der kein Auto möchte und lieber ein Buch liest, als eine Frau zu heiraten; die Eventmanagerin, die vom Buddhismus erleuchtet wurde; der Lehrer, der Immobilienunternehmer und Millionär wird; die Umweltaktivistin, die plötzlich politische Anerkennung erfährt. Das Buch zeichnet ein insgesamt positives Bild einer Gesellschaft, die, begünstigt durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung, viele unterschiedliche Lebenschancen bietet.1 Das Buch der chinesischen Autorin Xinran »The Good Women of China« blickt hingegen bei der Beschreibung der weiblichen Lebensgeschichten etwas tiefer.2 Auch die dunklen Seiten eines prosperierenden Chinas und die langen Schatten der Kulturrevolution werden beschrieben: Eine Frau in besten Verhältnissen ist vom Leben und der Ehe enttäuscht. Sie war vor vierzig Jahren voll Idealismus der Kommunistischen Partei beigetreten und hatte einen kommunistischen Offizier geheiratet, der inzwischen als wichtiger Politiker einflussreich und wohlhabend wurde, aber kein Interesse mehr an der Familie hat.

Sie erzählte auch von der Gefängnisinsassin, die als junges Mädchen während der Kulturrevolution von ihrer Familie getrennt und von Rotgardisten vergewaltigt worden war und darüber nicht hinwegkam. Auch Xinrans eigene Biographie zeigt die Schattenseiten des modernen Chinas: Als erfolgreiche Journalistin im staatlichen Rundfunk fühlte sie sich eingeschränkt und verließ China, um in Großbritannien zu leben. Es sind Geschichten, die unser oft eindimensionales Bild von China als einer kommunistischen Diktatur erweitern und uns eine erstaunlich dynamische und vielfältige Gesellschaft zeigen. Besonders einfühlsam hat Mo Yan die kulturellen Veränderungen des modernen Chinas in seinen Novellen beschrieben. Dafür erhielt er 2012 den Nobelpreis für Literatur.

3. Peking University HSBC Business School

Im Jahre 2014 erhielt ich eine Einladung von der Peking University HSBC Business School (PHBS) in Shenzhen, dort in einem Master-Programm zu unterrichten. Ich musste Unterlagen über meine bisherige Berufs- und Lehrtätigkeit einreichen, auch den Entwurf eines Lehrplans zu »Transition Economics«: dem Übergang von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft. Die Leitung dieses Kurses war frei geworden, und ich hatte sie gerne angenommen. Mein Interesse war nämlich, den außergewöhnlichen politischen und wirtschaftlichen Wandel Chinas zu erforschen.

Mich beruhigte, dass der Unterricht auf Englisch stattfindet. Die chinesischen Studierenden hatten ein strenges auch sprachliches Auswahlverfahren durchlaufen, und die Lehrinhalte entsprachen weitgehend der traditionellen Ökonomieausbildung.

Der Anflug auf Hongkong war beeindruckend. Da es nur wenige Wolken gab, konnte ich von meinem Fensterplatz aus das Meer mit dem intensiven Schiffsverkehr sehen. Die Brücken, welche Hongkong mit dem chinesischen Festland und mit Shenzhen verbinden, kamen immer näher. Die Hochhäuser Hongkongs wurden sichtbar.

Der Taxifahrer, der am Ausgang des Flughafens mit einem Namenschild auf mich wartete, sprach immerhin einige Brocken Englisch. Er hatte die Genehmigung für den Grenzübertritt und konnte Kunden auch aufs Festland befördern. Ich gab dem Fahrer meine Hoteladresse in Shenzhen, die ich auf Chinesisch ausgedruckt hatte. Wir passierten die Grenze. Das Einreisevisum wurde genau geprüft. Die mehrfachen Kontrollen erinnerten an die deutsch-deutsche Grenze vor der Wiedervereinigung, die nicht nur Menschen, sondern auch Wirtschaftssysteme trennte.

So abweisend sah also die Realität des politischen Konzeptes »Ein Land, zwei Systeme« aus.

Während die Fahrt von Hongkongs Flughafen über die Brücken nach Shenzhen schnell vorbei ging, erlebte ich die Strecke innerhalb von Shenzhen als endlos. Auf überfüllten Autobahnen fuhren wir durch eine gigantische Stadt. Ich sah lange Zeit nur Hochhäuser und kaum Menschen. Als wir endlich im Nanshan-Distrikt, wo ich wohnen würde, ankamen, war es schon dunkel.

Im Vienna Hotel

Das Telefon klingelte. Ich hatte gerade die Morgendusche beendet und hob ab. »Ich wollte schon wieder auflegen«, sagte Ya Yang3.

»Wo bist Du?« fragte ich. »Ich stehe am Empfang des Vienna Hotels und schlage vor, dass wir gemeinsam frühstücken gehen.«

Es freute mich sehr, dass mein neues Leben in Shenzhen mit Yang begann. Er unterrichtete seit einigen Jahren an der PHBS, wir kannten uns schon mehr als vier Jahre und hatten ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Gelegentlich bezeichnete er mich als seinen Lehrer. Ich begriff bald, dass sich dahinter die typisch chinesische Anerkennung gegenüber einem älteren Kollegen verbarg. Kennengelernt hatten wir uns 2010 auf einer Konferenz in Hongkong, wo ich als Experte für Regionalentwicklung eingeladen worden war und die Grundzüge der europäischen Strukturpolitik erklärte.

Yang, eingeladen als chinesischer Wirtschaftsexperte, hat mich auf Deutsch angesprochen, er war in Berlin promoviert worden und hatte mehrere Jahre in Deutschland gelebt. Seine Wertschätzung für Deutschland und mein Interesse an China hatten ein langes Abendessen zur Folge.

Beim Frühstück beschrieb er mir die Business School. Es war so eine typische Shenzhen-Geschichte, voll von vermeintlichen Widersprüchen. Sie begann mit einem engagierten Professor der ältesten chinesischen Staatsuniversität, der Peking-Universität, einigen international ausgerichteten Unternehmern und einer europäischen Großbank, der HSBC. Ihnen gelang es 2004, die Peking Universität HSBC Business School zu gründen. Diese Business School wurde die erste staatliche chinesische Universität, wo nur auf Englisch unterrichtet und international anerkannte Masterabschlüsse angeboten wurden. Sie sollte auch die erste chinesische Universität werden, die in Oxford eine Niederlassung errichtete und einen amerikanischen Wirtschafts-Nobelpreisträger als Professor verpflichtet. Die Business School gehört zur Peking Universität und unterliegt damit der administrativen und politischen Aufsicht des Staates. HSBC hat nur das Geld für das Gebäude gestiftet, die Erwähnung im Namen erhalten, aber sonst keinen Einfluss. Das Lehrprogramm für die Master-Abschlüsse entspricht den Standards internationaler Business Schools und wird durch die internationale Akkreditierung regelmäßig evaluiert. Sozialistische Staatsaufsicht und marktwirtschaftliche Ausbildung in einem. Chinesische Professoren, die sich dem Aufbau des Sozialismus verpflichtet fühlen müssten, und internationale Professoren meistens mit einer Ausbildung in den USA die angelsächsischen Kapitalismus lehren. Ich war gespannt.

Mir blieb nach dem Frühstück noch eine gute Stunde bis zu dem vereinbarten Treffen mit meiner studentischen Lehrassistentin. Ich hatte Amy ins Hotel bestellt. Sie war mir von Ya Yang empfohlen worden. Um etwas frische Luft zu schnappen, sah ich mich in der unmittelbaren Umgebung um. Da Shenzhen sich von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsmetropole entwickelt hatte, gab es nicht die für andere chinesischen Städte typische Luftverschmutzung. Hinter dem Hotel lag ein Wohngebiet, das noch viel von der Anfangsphase Shenzhen widerspiegelte. Fünf- bis sechsstöckige Wohnhäuser, einfacher Bauqualität, mit kleinen Wohnungen und kleinen Balkonen, auf denen Wäsche getrocknet wurde. Die Gebäude waren in den 1970er- und 1980er-Jahren errichtet worden, als Shenzhen seinen beispiellosen Aufstieg zur Metropole begann. Die wenigen noch vorhandenen ein- bis zweistöckigen Häuser erinnerten an eine dörfliche Vergangenheit. Die Bebauung war eng, mit vielen kleinen Geschäften. Gegenüber vom Hotel, auf der anderen Seite der großen Straße, lag eine andere Welt: moderne Hochhäuser mit luxuriösen Apartments und ein Zaun, der eine parkähnliche Anlage begrenzte: den Universitätscampus.

Amy kam ins Foyer des Hotels. Da ich ihr Foto vorab erhalten hatte, erkannte ich sie gleich. Sie hatte, für eine Chinesin typisch, kräftige schwarze Haare und sah jünger aus, als es dem Lebensalter von 25 Jahren entsprach. Ihr Englisch war gut, und ich hatte schnell den Eindruck, dass wir gut zusammenarbeiten werden.

Wir gingen vom Hotel zum Campus. Es war ein kurzer Fußweg bis zum Eingangstor der großen Parkanlage, die gleich mehrere Universitäten beherbergt. Amy schleuste mich an zwei Polizisten vorbei, die in einem kleinen Wachhäuschen den Eingang kontrollierten, die Schranke für einfahrende Autos öffneten und aus- wie eingehende Studentinnen und Studenten misstrauisch musterten. Wir passierten die Gebäude der Harbin Technischen Universität, gingen am Eingang der Mensa und vielen abgestellten Fahrrädern vorbei, durchquerten ein kleines Wäldchen mit tropischen Pflanzen und erreichten ein eindrucksvolles modernes Gebäude – die Business School. Mir fiel sofort das Starbucks-Schild auf, das auf das Café im Erdgeschoß hinwies. Vom Haupteingang des Gebäudes kamen wir direkt in das Atrium. Amy führte mich durch den großen mit Glas überdachten Innenhof in ein Großraumbüro – die Universitätsverwaltung. An sechs Schreibtischen saßen vier chinesische und zwei westlich aussehende Mitarbeiter. Amy stellte mich der Chinesin am ersten Schreibtisch auf Englisch vor. Die chinesischen Mitarbeiter hatten sich zusätzlich englische Namen gegeben, um den internationalen Professoren und Studierenden die Kommunikation zu erleichtern. Ich wurde von »Lizy«, so ihr englischer Name, freundlich als neuer Professor begrüßt, erhielt eine Mappe mit Unterlagen und einen Schlüssel für mein Büro. Wir nahmen den Fahrstuhl zum sechsten Stock. Während die kleinen Büros zum Innenhof gingen, erhielt ich ein großes Büro mit schönem Ausblick: ein weitläufiger Park, links Hochhäuser mit den Studierendenwohnungen, das lang gezogene Bibliotheksgebäude, rechts das olympische Hallenbad mit seinem abgerundeten schwungvollen Dach. Im Hintergrund waren die Umrisse einer Bergkette zu erkennen.

Da die Kurse in einer Woche beginnen würden, nutzte ich die Zeit für die Vorbereitung und blieb dafür lange im Büro. Es war sehr angenehm, dass spät abends, bei meinem Rückweg ins Hotel, noch viele Studenten unterwegs waren. Ich hatte beschlossen, die ersten Wochen im Hotel zu bleiben und erst später nach einer eigenen Wohnung zu suchen. Pärchen schlenderten Hand in Hand um Mitternacht durch den sanft beleuchten Park. Mobile Straßenhändler boten vor dem Campuseingang eine Vielzahl von Speisen an: Hühnerschlegel, Dumplings (eine Art chinesischer Maultaschen), Nudelsuppe und gegrillte Maiskolben. Die Stände wurden erst gegen Mitternacht abgebaut, nachdem auch die letzten Studenten die Wohnheime aufgesucht hatten. Ich begriff, dass diese lebendige Nachtszene etwas Grundlegendes über die Gesellschaft Chinas aussagte. Die meisten Straßenverkäufer kamen vom Lande, genauso wie die Bauarbeiter, die in Schlafcontainern auf den Baustellen neuer Universitätsbauten übernachteten. Sie wohnten zwar in Shenzhen, ihre Familien lebten aber auf dem Land, dort waren sie registriert. Auch nach jahrelanger Arbeit in der Stadt, blieben sie nur Wanderarbeiter mit eingeschränkten Rechten.

Die Hochschule sollte für die nächsten Jahre mein Stützpunkt werden. Hier konnte ich meine Eindrücke und Ideen mit jungen Menschen aus China, Amerika, Europa und anderen Teilen der Welt diskutieren. Hier traf ich chinesische und europäische Unternehmer, hier tauschte ich mich mit koreanischen, amerikanischen und chinesischen Kollegen aus. Von hier aus unternahm ich Reisen, um Umweltprojekte auf dem Lande zu begutachten, um an Experten-Treffen in Peking, Chengdu und anderen chinesischen Städten teilzunehmen. Ich konnte mir keinen besseren Ort vorstellen, um Chinas Entwicklung zu verfolgen und seine internationale Öffnung zu erleben.

4. Chinas Geschichte

Es gibt Ereignisse, die das kollektive Gedächtnis Chinas geprägt haben. Sie beeinflussen das Selbstverständnis und die Sicht vieler Chinesen auf die Welt, trotz der großen Unterschiede, die es in der sozialen und ökonomischen Situation, im Bildungsniveau und den Lebenserfahrungen der Menschen gibt. Einige dieser historischen Ereignisse werden von der chinesischen politischen Führung besonders hervorgehoben, mit dem Ziel, zu einer patriotischen Bildung der Bevölkerung beizutragen. Andere werden verdrängt, um sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu entziehen. Es gehört zur chinesischen politischen Kultur, aktuelle Entwicklungen und politische Auseinandersetzungen durch Rückgriffe auf historische Personen und Entwicklungen zu kommentieren und einzuordnen.4 Aber auch bei chinesischen Unternehmern ist historisches Denken präsent. Bei Huawei zum Beispiel bereiten sich Manager auf ihre Aufgaben vor, indem sie die Geschichte der westlichen Länder studieren.5 Dies spiegelt die chinesische Vorgehensweise wider: wirtschaftliches Handeln eingebettet in einen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang zu sehen. Deutsche Unternehmen könnten daraus lernen und erkennen, dass für wirtschaftliche Erfolge in China auch Kenntnisse über seine Geschichte und seine Politik wichtig sind.

Erniedrigung durch die Kolonialmächte

China hat eine Kultur, die im Verlauf von mehreren tausend Jahren entstanden ist. Sie zeigt sich in Sprache, Gebräuchen, überlieferten Geschichten und einem gemeinsamen historischen Erbe. Etwa im Jahre 200 vor Christus gelang es Qin Shi, der durch seine Armee aus Terrakotta-Soldaten sogar im Westen heute noch bekannt ist, andere Königreiche zu unterwerfen und das Chinesische Kaiserreich zu gründen. Im Lauf der Jahre entstanden eine einheitliche Verwaltung, gemeinsame Münzen und eine neue Schriftform. Es wurde mit dem Bau eines Straßennetzes begonnen, mit der Anlage von Bewässerungskanälen und einer großen Schutzmauer gegen Überfälle aus dem Norden. Das chinesische Kaiserreich dehnte sich weiter aus, überdauerte den Wechsel von Dynastien, Bauernaufstände und Kriege mit Nachbarn. Im Mittelalter war das chinesische Kaiserreich wirtschaftlich, technologisch und zivilisatorisch weiterentwickelt, als die europäischen Feudalstaaten und wurde von vielen europäischen Forschern und Gelehrten bewundert. Die Berichte Marco Polos, der 1271 von Venedig zu einer jahrelangen Chinareise aufbrach, zeigten die Attraktivität chinesischer Kultur, chinesischer Produkte und des dortigen höfischen Lebens. Polo berichtete von prunkvollen Palästen, glanzvollen Städten, einem Postsystem mit Stationen und Reitern und über Papiergeld, das damals in Europa noch unbekannt war.

Es gibt historische Quellen die belegen, dass Chinas Seefahrer größere und seetüchtigere Bote als Kolumbus besaßen und bereits vor den Europäern lange Expeditionsreisen in Asien, nach Afrika und Südamerika unternommen haben.6 Mit über 50 Schiffen und bis zu 30.000 Seeleuten und Soldaten spiegeln diese Expeditionen Chinas außerordentliche Macht wider. Am Ende des 15. Jahrhunderts beschlossen die chinesischen Herrscher jedoch, sich auf die Entwicklung des Riesenreiches zu konzentrieren. Die Flotte wurde abgebaut, kostspielige Expeditionen in die Fremde eingestellt, der Kontakt mit dem Ausland eingeschränkt. Diese Selbstisolation verhinderte, dass China die industrielle und militärische Entwicklung in Europa ausreichend wahrnahm.7 Von vielen Chinesen wird diese Entscheidung als tragischer historischer Fehler angesehen. Als die Konfrontation mit den europäischen Kolonialmächten bevorstand, war China nicht vorbereitet. Der Opiumkrieg (1839–1842) mit Großbritannien und die folgenden Auseinandersetzungen führten den Chinesen die militärische Überlegenheit der Europäer vor Augen und trugen zu einem 100 Jahre andauernden Niedergang bei, der China zu einem der ärmsten Länder der Welt machte. Die Konfrontation mit den Kolonialmächten führte nicht nur zu einer ökonomischen Katastrophe, sondern wird bis heute als Schändung der chinesischen Kultur gesehen. Die Plünderung des Himmelstempels in Peking durch britische und französische Truppen während des Boxeraufstandes 1902, mit dem Raub unschätzbarer Kunstwerke, ist nur ein Beispiel für die Verletzungen, die China während der Kolonialepoche erlebte.

Der chinesische Bürgerkrieg

Nach Unruhen und Aufständen wurde 1912 die Republik von China ausgerufen, und der Kaiser Puyi erklärte seinen Rücktritt. Damit war nach 200 Jahren die Qing Dynastie beendet. Es begann eine Umbruchperiode, die zu einer gewissen Demokratisierung und Modernisierung des politischen Systems führte, aber auch zu einem andauernden Bürgerkrieg, in dem sich konkurrierende Provinzen mit ehrgeizigen militärischen Führern an der Spitze bekämpften. Am 23. Juli 1921 wurde die Kommunistische Partei Chinas in Shanghai gegründet. Sie war zu Beginn eine kleine Organisation, geprägt von städtischen Intellektuellen. Die zu dieser Zeit herrschende Kraft war die Bewegung von Tschiang Kai-schek. Ihr Ziel war ein nationalistisches China, während die Kommunistische Partei sich an marxistischen Ideen orientierte. Der immer stärkere Vormarsch Japans und die große Invasion im Juli 1937 mit der Bombardierung Schanghais, zwangen alle Chinesen, zusammenzustehen. Entschieden wurde die innerchinesische Machtfrage daher erst nach der Niederlage Japans und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Maos Kommunisten siegten im Bürgerkrieg (1947–1949) mithilfe der Landbevölkerung und sowjetischer Unterstützung. Die Truppen von Tschiang Kai-schek wurden hingegen von den USA unterstützt und fanden Rückhalt in den Städten. Nach ihrer Niederlage zogen sich Tschiang Kai-schek und seine Anhänger auf die Insel Formosa, das heutige Taiwan zurückzog. Sie etablierten dort eine Militärdiktatur, die später zur Demokratie wurde. Für die Regierung der Volksrepublik gehört Taiwan – genauso wie die von den früheren Kolonialmächten inzwischen übergebenen Gebiete Hongkong und Macao – zum chinesischen Staatsgebiet.

Deng Xiaoping öffnet China der Welt

Mit dem Ende der Herrschaft von Mao Zedong beginnt Chinas Reformgeschichte. Nach den Wirren der Kulturrevolution und Maos Tod 1976 konnte sich Deng Xiaoping in der Kommunistischen Partei durchsetzten. Er gehörte zu ihrer Gründergeneration und hatte eine lange und leidvolle Parteikarriere durchlebt. Er war einer der ersten chinesischen Jugendlichen die 1920 mit Hilfe einer Stiftung nach Frankreich kamen, um französisch zu lernen und zu arbeiten. Er erlebte die harten Arbeitsbedingungen in den französischen Fabriken und Stahlwerken und schloss sich dort der Kommunistischen Partei an. Vor seiner Rückkehr nach China, im Januar 1927, konnte er elf Monate in Moskau an Parteischulen studieren. Er übernahm in China wichtige Aufgaben für die Partei und erlebte in den folgenden bewegten Jahrzehnten, Anerkennung, Verbannungen und Rehabilitationen. Unter seiner Führung wurde 1979 ein Politikwechsel eingeleitet. Die Volksrepublik China öffnete sich der internationalen Wirtschaft. Nicht mehr die Ideologie, sondern praktische Ergebnisse standen im Vordergrund. Allerdings bedeutete dies nicht, dass er den Herrschaftsanspruch der Partei infrage stellte. Daher fiel seine Kritik an Maos Kulturrevolution8 sehr vorsichtig aus, obwohl er und seine Familie zu ihren Opfern gehörten. Bekannt ist sein Ausspruch: »Es ist egal ob die Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt.«

Im Mai 1980 wurde in Shenzhen, einem Fischerstädtchen direkt gegenüber Hongkong, die erste Sonderwirtschaftszone geschaffen. Es war eine gute strategische Entscheidung, das erste Tor zur Welt vor dem etablierten internationalen Wirtschafts- und Finanzzentrum zu errichten, das damals noch zum Britischen Empire gehörte. In den Folgejahren sollten reiche Hongkong-Chinesen, aber auch internationale Investoren, Fabriken in Shenzhen errichten und viele Chinesen aus ländlichen Regionen zuziehen und Arbeit finden. Die chinesische Regierung schuf weitere Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investoren. China wurde als Zulieferer und Produktionsstandort zur »Werkbank der Welt«. Die USA unterstützten sehr stark die chinesische Integration in die Weltwirtschaft. Die Regierung von Präsident Jimmy Carter schloss bereits im September 1980 Handelsabkommen über Luftfahrt, Schifffahrt und Textilien mit der Volksrepublik ab.

Auch politisch gab es ein Interesse der Vereinigten Staaten an engeren China-Kontakten. Damit sollte verhindert werden, dass die Volksrepublik in einer Periode des Kalten Krieges die Sowjetunion unterstützt. US-Präsident Ronald Reagan führte Carters Politik weiter und bot China 1981 eine strategische Partnerschaft an, die auch die Lieferung amerikanischer Waffentechnologie einschloss. Es gehörte zu Reagans globaler Strategie, den pazifischen Raum in die Weltwirtschaft zu integrieren. Dafür war die Volksrepublik natürlich besonders wichtig. Die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA entsprachen auch dem Wunsch von Deng Xiaoping. Ursprünglich hatte er sich, ausgehend von seinen Erfahrungen in Frankreich, für die Orientierung Chinas an Westeuropa orientiert. Ein Besuch in den USA 1979 änderte dies aber. Eine Rundreise von Washington bis Seattle machte einen enormen Eindruck auf ihn. Die amerikanische Technologie und Produktivität sah er als Vorbild für die chinesische Entwicklung. In den folgenden Jahren studierten viele Chinesen an amerikanischen Universitäten und trugen dazu bei, dass die USA zum Referenzmodel für China wurden. Der bilaterale Handel zwischen China und den Vereinigten Staaten entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten nach der Öffnung besonders dynamisch, von 374 Millionen Dollar im Jahre 1977 auf beinahe 18 Milliarden Dollar im Jahre 1989.9

Heute ist Shenzhen größer als Paris, wohlhabender und dynamischer als Hongkong. Es gibt kaum einen Ort, der die atemberaubende wirtschaftliche Entwicklung Chinas in den letzten vierzig Jahren besser verkörpert als diese Metropole. Vom Fischerdorf zur industriellen Werkbank für internationale Unternehmen und von dort zum Forschungs-, Technologie- und Dienstleistungszentrum. In Shenzhen wird ein wichtiger Teil der technologischen und internationalen Zukunft Chinas vorbereitet. Weltunternehmen wie Huawei, BYD und Tencent haben hier ihren Firmensitz. Die Metropole gehört zum Kern der neuen Pilotregion »The Greater Bay Area«, die über 70 Millionen Menschen umfasst. Durch neue Infrastruktur, stattliche Förderung und vereinfachte Genehmigungsverfahren, Sonderregelungen für Investoren, Unternehmensgründer und hochqualifizierte Experten wird eine dynamische Großregion geschaffen, deren Ziel es ist, Silikon Valley in den Schatten zu stellen.

Wer die Gelegenheit hat, sollte nicht versäumen, auch das Stadtmuseum von Shenzhen zu besuchen. In einem architektonisch eindrucksvollen Gebäude, gekrönt von einem futuristisch ausschwingenden Dach, wird die Öffnungsgeschichte Shenzhens erzählt. In der Eingangshalle empfängt den Besucher eine Statue von Deng Xiaoping, der hier als Vater des Wirtschaftswunders verehrt wird.

Das offizielle chinesische Geschichtsbild