CHINA. Wie ich es sehe - Egon Krenz - E-Book

CHINA. Wie ich es sehe E-Book

Egon Krenz

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Beschreibung

China – die neue Bedrohung für die europäischen Wirtschaftsmächte? Ein Land, in dem Korruption und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind? China – die zweitgrößte Wirtschaftsnation unter Führung einer kommunistischen Partei auf dem besten Weg, die Weltmacht USA zu überholen? Land im Aufbruch oder Land des enthemmten Kapitalismus? Diese Fragen beschäftigen auch Egon Krenz. Er kennt China nicht nur aus Zeiten, als er es in politischer Funktion bereiste, sondern ist bis heute regelmäßig zu Gast, zuletzt im Oktober 2017 bei einer wissenschaftlich-historischen Konferenz. Er fuhr, wie jedes Mal, durchs Land, sprach mit Betriebsleitern und Parteifunktionären, mit den neuen Managern der boomenden Industrie, mit Studenten und Bankern, schaute genau hin. Und nimmt für sich in Anspruch, gelernt zu haben, "nicht überheblich gegenüber anderen und neuen Wegen" zu sein. Wie sieht Chinas eigener Weg aus? Wie und zu welchem Preis erreichen die Chinesen ihr selbsterklärtes Ziel, eine "Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand" zu sein? Welche Lasten aus Maos Reich liegen auf dem modernen China, welche Lehren zieht es?

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Abbildungen: Archiv Robert Allertz und Archiv Egon Krenz

ISBN E-Book 978-3-360-51044-0ISBN Print 978-3-360-01885-4

© 2018 edition ost im Verlag Das Neue Berlin, BerlinUmschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

Die Bücher der edition ost und des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Das BuchÜber China meinen wir, viel zu wissen. Schließlich ist es regelmäßig Gegenstand in den hiesigen Medien. Allerdings scheint der Eindruck nicht ganz unbegründet, dass die Themen nicht nur beschränkt sind, sondern sich auch stetig wiederholen. Auf der anderen Seite ist das Interesse der Deutschen größer, geht ihre Neugier viel weiter als das, was ihnen in Presse, Fernsehen und Rundfunk angeboten wird. Egon Krenz, der das Land wiederholt bereiste – zuletzt im Oktober 2017 –, bietet hier seine Sicht. Keine touristische, sondern eine politische. Die ist, natürlich, subjektiv, also weit davon entfernt, eine verbindliche, allgemein gültige zu sein. Eben so, wie der Titel des Buches lautet.

Der AutorEgon Krenz, geboren 1937, Schlosserlehre und Lehrerausbildung. Nach Besuch der Parteihochschule in Moskau von 1964 bis 1967 wurde er Vorsitzender der Pionierorganisation und war von 1974 bis 1983 FDJ-Chef. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge von Erich Honecker Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender. Heute lebt er in Dierhagen an der Ostsee.

Inhalt

Parteitag, Smog und Wetter

»Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab«

Über den Wolken zwischen Berlin und Beijing

Kommunistisch, sozialistisch, kapitalistisch

Ein fundamentales Missverständnis

Der Krieg gegen die Armut

Kampf gegen die Korruption

China und die Oktoberrevolution

Erlebnisse, Episoden und Emotionen

Geschichtliches und Aktuelles

Parteitag, Smog und Wetter

18. Oktober 2017. In Beijing beginnt der XIX. Parteitag der chinesischen Kommunisten. Seit einer Woche erlebe ich hier als Gast der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, wie gespannt die Chinesinnen und Chinesen dieses für sie wichtige Ereignis erwarten. Leute, die ich treffe, sind zuversichtlich. Sie sind neugierig auf Kommendes. Sie wirken gelöst und ruhig. Ich spüre eine Aufbruchstimmung. Das Land ist in Erwartung. Es hat sein Festkleid angelegt: rote Fahnen mit Hammer und Sichel.

Als ich an diesem Morgen aus dem Hotelfenster schaue, bin ich enttäuscht. Schade, denke ich, es regnet. Nun haben bürgerliche Medien ihren Einstieg zum Parteitag: das Wetter. Die Korrespondenten enttäuschen mich nicht. Der Mann von der ARD meldet nach Deutschland: »Das hatte sich Chinas politische Führung anders vorgestellt. Regen und Smog an diesem Morgen in Beijing. Dabei tut man vor wichtigen Großveranstaltungen immer alles für saubere Luft und blauen Himmel. Fabriken haben extra ihre Produktion gedrosselt, Baustellen wurden vorübergehend stillgelegt – dieses Mal«, so der Fernsehjournalist abschließend irgendwie zufrieden, »ohne Erfolg.«

Nebel und Smog sind für Beijing durchaus ein Problem. Glücklicherweise ein immer geringeres. Als ich vor vier Jahren hier war, ging man noch von 58 Tagen im Jahr mit starker Luftverschmutzung aus. Jetzt sind es nur noch 23 Tage. Erst gestern erfuhr ich, dass die Regierung an einem Zeitplan für den Ausstieg aus Produktion und Absatz von benzingetriebenen Autos arbeite. Schon jetzt fahren in China mehr als eine Million Elektroautos. Die chinesische Führung unternimmt viel, damit die Umweltbedingungen gesünder werden, nicht nur in Beijing, sondern im ganzen Land. Seit 2003 gibt es Staatsplanziele für die »ökologische Zivilisation«. So heißen hier die Umweltauflagen. Die permanente Arie bestimmter Medien über Wetter und Smog in Beijing wirkt antiquiert und ziemlich nebensächlich für einen Bericht über einen Parteitag, dem internationale Agenturen Weltbedeutung beimessen.

Anders als das Wetter sind die politischen Verhältnisse in China klar und stabil. Den von den USA und ihren Verbündeten erhofften »Arabischen Frühling« im Reich der Mitte wird es nicht geben, ein Regime-Wechsel hat keine Chance.

Obwohl die Volksrepublik seit 2016 Deutschlands Handelspartner Nummer 1 ist, bleibt das in der Bundesrepublik gezeichnete Chinabild weit ab von der Realität. Antikommunismus ist eben ein beharrlich klebendes Pech. Deshalb auch die entlarvende Angst vor dem chinesischen Angebot einer langfristigen internationalen Kooperation in Gestalt der Neuen Seidenstraße1. Sie könnte eine Alternative zum gegenwärtig dominierenden Modell der neoliberalen Globalisierung sein. Aber gleichberechtigte, auf den Wohlstand aller beteiligten Länder ausgerichtete Beziehungen erscheinen im Kalkül der Neoliberalen als sozialistisch vergiftet und gehören nicht auf ihre Agenda. Was sie an China vor allem stört, ist die Kommunistische Partei. Ein China ohne diese wäre ihnen am liebsten.

Wenn sich westliche Staaten mit China arrangieren, tun sie es vor allem wegen seiner ökonomischen Stärke. Die Propaganda gegen China mag in Momenten eines kaufmännischen Interesses gedämpft sein, doch erinnert bald wieder in gewohnter Weise an die Hochzeiten des Kalten Krieges. Viele der Konflikte, die heute die Welt erschüttern, haben ihre Ursache in der Zerschlagung der Sowjetunion und ihrer europäischen Verbündeten. Was sich in den Jahren von 1989 bis 1991 vollzog, ist mit Putins Feststellung von einer »globalpolitischen Katastrophe« präzise benannt. Die chinesische Führung wertet alles, was mit der Niederlage der Sowjetunion zu tun hat, gründlich aus. Sie versucht daraus zu lernen. Für mich ist die Volksrepublik inzwischen ein Bollwerk der Besonnenheit in dieser unruhigen Welt.

China ist seit Juli 2017 größter Gläubiger der USA und Eigentümer von Staatsanleihen in Höhe von 1,15 Billionen US-Dollar. Das lässt sich auch einfacher formulieren: Die kapitalistischen USA schulden der sozialistischen Volksrepublik eine Menge Geld. Wenn ich bedenke, wie viele Erpressungsversuche seitens der Bundesrepublik es innerhalb von vierzig Jahren gegen die DDR gegeben hat, empfinde ich Genugtuung, dass China ökonomisch immun ist gegen Erpressung aus dem kapitalistischen Ausland. Normalerweise dürften doch auch die USA wissen, dass man in solcher Lage seinem Gläubiger nicht allzu vorlaut kommen, schon gar nicht mit einem Wirtschaftskrieg oder gar mit Atombomben drohen sollte.

Aus meinem Zimmer im 20. Stock des modernen Hotels im Zentrum habe ich trotz Nieselregens einen guten Blick auf die chinesische Hauptstadt. Es macht Spaß, das pulsierende Leben unten auf der Straße zu beobachten. Schon bei meiner Ankunft war mir aufgefallen, wie schick die Menschen, besonders die jungen Chinesinnen, gekleidet sind. Als ich das erste Mal in China war – im Oktober 1989 –, trugen viele noch die Einheitskleidung, welche an Uniformen erinnerte, und statt der Automassen auf den Straßen bewegten sich vorwiegend Fahrradfahrer auf dem Asphalt. Heute überlegen die Verwaltungen schon, ob künftig überhaupt noch Zulassungsgenehmigungen für Autos erteilt werden können.

Was sich so technisch anhört, ist in Wirklichkeit der Ausstieg von Hunderten von Millionen Chinesen aus der Armut.

Die zentrale Frage, die in China schon seit einigen Jahren erörtert worden war, als ich das Land 1989 besuchte, hieß: Welcher Typ von Sozialismus entspricht am besten den spezifischen Bedingungen Chinas, einem großen Land mit einer riesigen Bevölkerung, einer fünftausendjährigen Zivilgeschichte, aber einer schwachen ökonomischen Basis, und mit einem Erbe aus kolonialer und feudaler Vergangenheit?

Ende der 1970er Jahre zogen die chinesischen Kommunisten Bilanz über ihren Weg seit Gründung der Volksrepublik 1949. Nach selbstkritischer Analyse der großen Sprünge und der Kulturrevolution entschieden sie sich für eine »Politik der Öffnung und der Reformen«. Schon auf dem XII. Parteitages der KP 1982 kam erstmals die Idee von einem Sozialismus mit chinesischem Charakter zur Sprache. Sie wurde intensiv im Volk beraten, Vor- und Nachteile wurden abgewogen, bis schließlich eine in sich geschlossene Konzeption entstand, die für neue Fragestellungen nach vorn offen war und Ziele anstrebte, die das System der sogenannten westlichen Demokratien nach politischen, ökonomischen und sozialen Kriterien überragten.

In China gab es Millionen Diskussionsrunden zu der Frage: In welcher Gesellschaftsordnung wollen wir leben? »Gemeinsam diskutieren, gemeinsam planen, gemeinsam bauen und gemeinsam profitieren« – dieser Aufruf folgte der chinesischen Philosophie: Gehe voran, und andere werden dir folgen!

Die Antwort auf die Frage von 1989 ist inzwischen weltweit bekannt. Es ist der Trend hin zum Sozialismus. Und zwar einer, der zu China passt. Sein Name: »Sozialismus chinesischer Prägung«. Kein Spontaneinfall einer kleinen Elite, sondern wissenschaftlich erarbeitet mit dem Volk und für das Volk unter Führung der KP Chinas. Es gab damals vier unumstößliche Prämissen, die bis heute gelten:

Erstens: Festhalten am sozialistischen Weg.

Zweitens: Festhalten an der demokratischen Diktatur des Volkes.

Drittens: Festhalten an der Führung durch die Kommunistische Partei.

Viertens: Festhalten am Marxismus-Leninismus und den Ideen von Mao Zedong.

Der Fortschritt des Landes seitdem ist augenscheinlich. Atemberaubend das Tempo der Entwicklung. Politische und ökonomische Prozesse, zu denen Länder des Westens Jahrhunderte benötigten, absolviert China in Jahrzehnten. Ich gehöre zu den Bewunderern dieses großen Projekts, wohl wissend, dass noch sehr viel zu tun ist, bis alle Chinesen davon profitieren. Das Land ist aber in einem enormen Aufbruch. Dass es dabei auch politische, ökonomische und soziale Risiken und auch Rückschläge geben kann, gehört zu den Wahrheiten großer geschichtlicher Vorhaben. Nur wer sie nicht scheut, wird die neuen Ufer erreichen.

Ich bin mir sicher, dass die Rolle als Pionier des Menschheitsfortschritts, die im 18. Jahrhundert Frankreich mit der Revolution von 1789 und im 20. Jahrhundert Russland mit der Oktoberrevolution gespielt haben, im 21. Jahrhundert auf die Volksrepublik China übergegangen ist. Wie 1917 Lenin und seine Genossen Neuland vor sich hatten, ist in unserem Jahrhundert das chinesische Vorhaben harte Pionierarbeit. Diese Überzeugung leite ich aus Fakten ab, die ich in China kennenlernte. Ich vertraue chinesischen Verlautbarungen mehr als tendenziös zusammengestellten Materialien übelwollender Außenquellen. Hegel (1770–1831) wird wohl mit seiner Voraussage Recht behalten: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien ist der Anfang.«

Als ich an diesem 18. Oktober zum Frühstück ins Hotelrestaurant komme, macht sich auch mein unbekannter Tischnachbar, ein deutschsprechender Engländer, über das hiesige Wetter seine Gedanken. Er empfängt mich mit den Worten: »Das Wetter haben die Kommunisten doch noch nicht im Griff.«

»Auch das kommt noch«, antworte ich heiter, »heute wird erst einmal ein Zukunftskongress eröffnet.«

»So?«, fragt er verwundert.

»Ja«, sage ich, »er hat den Namen XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas.«

Mein Gesprächspartner zeigt sich über meine Antwort ein wenig verwundert. Was habe denn ein Parteitag mit der Zukunft zu tun, will er wissen.

»Schauen Sie auf dieses Land, auf den Fleiß seiner Bürger, auf seine Geschichte, auf das Tempo seiner Entwicklung und seinen Einfluss auf die Weltpolitik, den es schon heute hat. Dann können Sie ermessen, was da noch alles kommt. Ich bin sicher: Wir erfahren in dieser Woche viel darüber, was das 21. Jahrhundert der Menschheit bringen wird und welche Rolle China dabei spielt.«

Der Mann mag erkennbar meinen Gedankengängen nicht folgen. Jedenfalls guckt er mich verdutzt an. Ich sage ihm, dass das statistische Amt Chinas gerade informiert habe, dass das Bruttoinlandsprodukt2 des Landes im dritten Quartal 2017 um 6,8 Prozent zulegte. Besonders beeindruckend sei, dass die Hightec-Industrie gar ein Plus von 13,5 Prozent erreicht habe. Das sei im Weltmaßstab beachtlich, zumal China immer größeren Wert auf Qualität und Effektivität lege. Die Volksrepublik leiste schon in diesem Jahr einen Beitrag zum Wachstum der Weltwirtschaft von mehr als 30 Prozent. In meinen Augen sind das Signale, dass China schon in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts das mächtigste und dynamischste Land der Welt werden könnte, also die USA hinter sich ließe. Für mich das Spannendste in dieser durcheinandergeratenen und trostlosen Welt: Der Kapitalismus bleibt nicht das letzte Wort der Geschichte.

An dieser Stelle wird unser Gespräch abrupt unterbrochen, weil in der Hotelhalle ein überdimensionaler Bildschirm ausgerollt wird. Das chinesische Fernsehen überträgt live den Parteitag aus der »Großen Halle des Volkes«.

Ich sehe auf dem TV-Bild, wie Generalsekretär Xi Jinping in Begleitung von Jiang Zemin3 und Hu Jintao4, den noch lebenden Vorgängern des aktuellen Generalsekretärs, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Parteiführung das Präsidium betritt. Eine optische Demonstration der Einheit und Geschlossenheit der KP Chinas, der Kontinuität chinesischer Politik. Zugleich eine Zurückweisung westlicher Unterstellungen, Xi Jinping wolle sich als Alleinherrscher in Szene setzen.

Ein Symbol? Natürlich. Aber ein starkes, in die Zukunft weisendes Symbol: Der Parteitag baut auf dem auf, was seit Mao geschaffen wurde. Später wird eine deutsche Zeitung ihrem Bericht die Überschrift geben: »Mao reloaded«5. Dass nun Mao »neu geladen« wurde, kann man wirklich nicht sagen. Er gehört seit Gründung der KP Chinas zu ihrer Geschichte. Die Chinesen wissen, welche Verdienste er hat. Sie reden aber auch offen über seine Irrtümer. Beides gehört zu ihrer Geschichte.

Das neue China ist trotz Irrungen und Wirrungen, trotz großer Sprünge und der Kulturrevolution, trotz Höhen und Tiefen seiner Geschichte das Resultat eines fast hundertjährigen Wirkens seiner Kommunistischen Partei. Wie viele Parteien in der Welt sind in einem so langen Zeitraum an ihren Streitigkeiten zerbrochen? Wie viele, die hoffnungsvoll begannen, hat es aus der Bahn geworfen? Auch meine Partei, die SED. Die chinesische KP hat ihre Prüfungen bestanden. Sie lebt. Sie regiert das Land und ist mit über 85 Millionen Mitgliedern die größte Partei der Welt. Wie weit könnte die Menschheit heute schon sein – ohne Flüchtlingsströme und Kriege, ohne Rassismus, Nationalismus und Faschismus –, wenn es ähnliche Fortschritte in der übrigen Welt gegeben hätte?

Auf dem Bildschirm sehe ich Jiang Zemin. 1989 führte ich mit ihm interessante, angenehme Gespräche, er war mit der deutschen Geschichte und Literatur gut vertraut. Er erinnerte an seinen Besuch als Minister in Weimar und daran, dass sich wenige Kilometer von der Goethestadt entfernt das Konzentrationslager Buchenwald befand, das von den Verbrechen der Nazis kündet, aber auch ein Symbol des Kampfes deutscher und internationaler Antifaschisten ist. Der Antifaschismus der DDR habe ihn bewegt.

Als ich ihn 1989 in seinem Arbeitszimmer traf, zitierte der damals erste Mann der Volksrepublik völlig frei in deutscher Sprache die letzten Worte aus Goethes »Faust«:

»Das ist der Weisheit letzter Schluss:Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,Der täglich sie erobern muss.Und so verbringt, umrungen von Gefahr,Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtiges Jahr.Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.«

Das beeindruckte mich sehr, und ich fragte mich, welcher deutsche Spitzenpolitiker, mich eingeschlossen, Vergleichbares beherrschte. Zemin ging es nicht darum, den Gast zu beeindrucken, sondern um Goethes Botschaft: »Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.«

Deng Xiaoping und der Autor, 1. Oktober 1989

Auch die »Große Halle des Volkes«, geschmückt mit den roten Parteifahnen mit den Hammer- und Sichelsymbolen, sind mir gut erinnerlich. Dort traf ich am Abend des 1. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Volksrepublik China, den »Vater der Öffnung und der Reform«, Deng Xiaoping6. Die geistige Frische des 85-Jährigen war bemerkenswert. Ich kannte seine erregende Biografie, seinen Weg durch Höhen und Tiefen in der Geschichte der Volksrepublik. Er war einer der engsten Weggefährten von Mao Zedong, aber eben auch ein Opfer der Kulturrevolution. Der in China hochgeachtete Parteiführer hob damals hervor, dass »die DDR und die VR China seit 40 Jahren trotz aller Widrigkeiten und äußeren Einmischungen zusammengehören«. Mit einem freundlichen Lächeln sagte er: »Wir sind die ältere Schwester der DDR.«

Deng verwies auf diese Weise darauf, dass die VR China am 1. Oktober 1949 und die DDR am 7. Oktober 1949 gegründet worden waren, wir waren also eine Woche später zur Welt gekommen. Er hatte auch nicht vergessen, dass China zu den ersten Ländern gehörte, die die DDR anerkannten. Seit dem 27. Oktober 1949 unterhielten beide Staaten diplomatische Beziehungen und tauschten Botschafter aus.

Er habe Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Erich Honecker persönlich gekannt und freue sich, mich als Vertreter einer jüngeren Generation begrüßen zu können. »Ich möchte«, sagte er, »dass auch Sie wissen, dass ich die DDR immer unterstützt habe, und freue mich, dass die Deutsche Demokratische Republik im Zentrum Europas als Friedensstaat und als Bruderland Chinas existiert.«

Viele Jahre nach dem Ende der DDR habe ich diese Worte noch im Ohr. Die Trauer über den bitteren Verlust der eigenen Heimat und das Nachdenken über Erfolg und Fehl unseres Weges verbindet sich mit aufrichtiger Genugtuung über die Entwicklung unseres einstigen Bruderlandes. Die chinesische Lektion lautet doch: Die Geschichte des real existierenden Sozialismus ist mit der Zerschlagung der Sowjetunion 1991 und dem Untergang des europäischen Sozialismus nicht beendet. Die voreilige Feststellung, das Ende der gesellschaftspolitischen Umwälzungen sei gekommen, der Kapitalismus beherrsche nun endgültig die Welt, Marx sei tot und der Sozialismus endgültig besiegt ignorierte offenkundig die Existenz der Volksrepublik China. Ich meine: China gibt der sozialistischen Idee neuen Auftrieb, auch wenn manches noch nicht so läuft, wie es die Chinesen selbst gerne hätten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es die perfekte, die vollkommene Gesellschaft nicht gibt und wohl auch nie geben wird.