Verlust und Erwartung - Egon Krenz - E-Book

Verlust und Erwartung E-Book

Egon Krenz

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Beschreibung

Im dritten Band nimmt Egon Krenz den Herbst 1989 in den Blick, als er Staats- und Parteichef wurde, seine Vertreibung aus dem Amt, den Verlust seines Landes, schließlich die juristischen Auseinandersetzungen. Als die Republik vor 75 Jahren gegründet wurde, war er zwölf. Er hat sie nicht nur erlebt, sondern aktiv gestaltet. Als sie vor 35 Jahren unterging, verlor er mehr als nur seine Arbeit. Er reflektiert diese auch für andere Ostdeutsche sehr komplizierte Zeit. Seine Memoiren offenbaren die letzten Geheimnisse der DDR, die nur er noch kennt.

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Verlust und Erwartung

Der Autor

Egon Krenz, geboren 1937, nach Lehrer-Studium Dienst in der Nationalen Volksarmee, danach Funktionär der Freien Deutschen Jugend, deren 1. Sekretär er von 1974 bis 1983 war. Danach Mitglied der Partei- und Staatsführung der DDR. Im Herbst 1989, in der Nachfolge Erich Honeckers, Generalsekretär des ZK der SED, Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.

Im Dezember 1989 Rücktritt von allen Funktionen.

Seit 1990 parteilos. Publizistisch aktiv, Autor von Büchern, die es meist in die Bestsellerlisten schaffen.

EGON KRENZ

Verlust und Erwartung

Erinnerungen

Für Erika

Inhalt

Neunzehnneunundachtzig

Politisches Wetterleuchten

Das Politbüro macht Ferien

Ratlosigkeit und Resignation

Berlin oder Leipzig

Politik, Kunst und Literatur

Im Zwangsurlaub

Am Vorabend des 40. Jahrestages

Tage der Entscheidung

Entbindung, nicht Rücktritt!

Zwischen Hoffen und Bangen

Der 9. November – Wahrheit und Legende

Vorschlag für eine Volksbefragung

Rücktritt als Staatsratsvorsitzender

Delegierter des Außerordentlichen Parteitages

Die Zeit danach

Wie Stimmung gemacht wurde

Ein schmerzlicher Rausschmiss

Der Umgang mit Honecker

Anschluss statt Vereinigung

Erste Erfahrungen mit dem Rechtsstaat

Die »Stasi« war an allem schuld

Siegerjustiz?

Ein weißer Fleck

Zeuge vor Untersuchungsausschüssen

Ost-West-Begegnungen

Dialog statt Konfrontation

»Herr Krenz, Sie sind verhaftet«

In Moabit

Revision

Die letzte Lesung

Zweite Haft

Von Plötzensee nach Strasbourg

Eine ungewöhnliche Begegnung

Haft zu Ende, die Jagd geht weiter

Lieber ein Betonkopf als ein Weichei

Unterwegs im Internet und im Leben

Russland und China, Kuba und Vietnam

Was bleibt?

Personenregister

Neunzehnneunundachtzig

Zwischen Weihnachten und Silvester 1988 wollte ich einige Tage frei machen. Honecker war im Lande, und ich brauchte ihn nicht zu vertreten. Ich freute mich auf die Zeit mit der Familie und vor allem auf meine fast dreijährige quicklebendige Enkelin. Mein ganzer Stolz. Sie kam, wann immer es ihr einfiel, in mein Arbeitszimmer daheim und lenkte mich für kurze Zeit von meinen Sorgen ab.

Den Kopf bekam ich dennoch nicht frei. Mich plagten vorrangig die in den vergangenen Monaten verpassten Gelegenheiten, im Schulterschluss mit Moskau notwendige Veränderungen in unserer Politik vorzunehmen. Manchmal war ich der Resignation sehr nahe. Ich richtete mich dennoch immer wieder auf. Ich trug schließlich ebenfalls dafür Verantwortung und stand in der Pflicht, zu der ich mich bekannte.

Kurz vor Weihnachten hatte mir mein langjähriger Freund und Wegbegleiter Wolfgang Herger gesagt: »Wenn Erich Honecker Altersweisheit besäße, würde er jetzt zurücktreten. Wenn er es auf der nächsten Tagung des Zentralkomitees nicht macht, werde ich ihn dazu auffordern.« Wolfgang leitete seit 1985 im ZK die Abteilung Sicherheitsfragen, zuvor die Abteilung Jugend. Beide gehörten wir dem Zentralkomitee an.

Ich glaubte nicht an eine solche Einsicht des Generalsekretärs. Aus verschiedenen Gründen. Zunächst natürlich politische. Gorbatschow hatte unlängst in einer Grundsatzrede von einer »Krisensituation« in der Sowjetunion gesprochen und vor Kräften gewarnt, »die die Perestroika missbrauchen, um zu den Zuständen vor der Oktoberrevolution 1917 zurückzukehren«. Das klang nach Konterrevolution und machte Honecker hellhörig. Mehr noch: Er verhielt sich, wenngleich nur für kurze Zeit, solidarisch mit dem sowjetischen Parteiführer. Dieser wiederum fürchtete Instabilität in der DDR, käme es dort zu einem Führungswechsel. Sie konnte er nicht gebrauchen, jetzt schon gar nicht. Das sah und spürte auch Honecker. Für ihn war das wie eine Aufforderung zum Bleiben. Sowjetbotschafter Kotschemassow drückte es mir gegenüber diplomatisch verklausuliert aus: »Nach politischen Erfolgen wie etwa dem Staatsbesuch in der Bundesrepublik 1987 wechselt man nicht die Pferde.«

Auf der anderen Seite: Erich Honecker – Jahrgang 1912 – war inzwischen fast im gleichen Alter wie sein Vorgänger Walter Ulbricht. Mit eben jenem Argument, dem Hinweis auf das Alter, hatten Mitglieder und Kandidaten des Politbüros in einem Schreiben an Leonid Breshnew, den sowjetischen Parteichef, Ulbrichts Ablösung gefordert. Mit 78 Jahren habe er Mühe, »den großen Umfang von Arbeiten und Verpflichtungen wahrzunehmen, die sich aus der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ergeben«. Honecker befand sich nun in der gleichen Lebensphase wie seinerzeit Ulbricht. Doch ihm war das scheinbar nicht klar – so er denn die erkennbaren Alterserscheinungen nicht bewusst verdrängte.

Ich erinnerte mich an eine internationale Konferenz in Moskau 1984. Wir sahen, wie dem 73-jährigen KPdSU-Generalsekretär Tschernenko, bereits sichtlich hinfällig, das Redemanuskript entglitt. Gorbatschow an seiner Seite ging in die Knie und sammelte die Blätter ein. Honecker zeigte sich angesichts dieser ziemlich traurigen Peinlichkeit angefasst und beugte sich zu mir herüber: »Du musst unbedingt aufpassen, dass uns nicht Ähnliches passiert.«

Fünf Jahre später nun musste Honecker zwar nicht gestützt werden, und er hielt seine Redemanuskripte unverändert fest in der Hand. Aber er war eben auch nicht jünger geworden. Hätte ich ihn jedoch an diese Beobachtung und seine Bemerkung im Kreml erinnert, wäre dies von ihm vermutlich als eine persönliche Beleidigung empfunden und zurückgewiesen worden: In seiner Selbstwahrnehmung war er fit und gesund. Von Altersstarrsinn spürte er selbstverständlich nichts, nichts von zunehmender Eitelkeit und Selbstüberschätzung.

Selbstkritisch muss ich bekennen, dass ich zu jenem Zeitpunkt der – später als illusionär zu bezeichnenden – Auffassung war, die notwendigen Veränderungen in der Partei und in der Gesellschaft mit und nicht gegen Honecker einleiten zu können. Zumal er in großen Teilen der Bevölkerung – bei aller Kritik – aufgrund seines auch international geachteten aktiven Beitrages zur europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik noch immer viel Zuspruch erfuhr.

Auch ich schätzte unverändert Honeckers Mut, als er sich in den frühen achtziger Jahren dem Raketenwahnsinn widersetzte. Er engagierte sich damals für eine Koalition der Vernunft über Länder- und Systemgrenzen hinweg und riskierte damit sein eigenes politisches Schicksal. Auch sowjetische Atomraketen waren für ihn Teufelszeug.

Im Nachhinein sage ich heute: Hätte der Antifaschist Honecker nach seinem Staatsbesuch in der BRD 1987 seinen Hut genommen, wäre man vielleicht später anders mit ihm umgegangen. Er hatte sich nachweislich um den Frieden verdient gemacht, was man noch immer im Volke hochschätzen würde.

Und nicht zuletzt gab es auch eine emotionale Beziehung zwischen uns. Erich Honecker war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Und Honecker hatte mich sehr lange gefordert und gefördert, ich verspürte ihm gegenüber Dank und Respekt.

Alle diese Überlegungen veranlassten mich, Wolfgang Herger von seinem Vorhaben abzubringen. Zumal sich alle im Politbüro bedeckt hielten: Niemand wusste, ob dort eine Mehrheit existierte, die meinte, den ersten Mann in diesem Gremium zum Rückzug bewegen zu können. Viele waren so alt wie er und älter. Im Januar 1971 war das anders gewesen. Dreizehn hatten das unter Federführung von Honecker verfasste siebenseitige Schreiben an Breshnew unterzeichnet – sieben Mitglieder und Kandidaten (einschließlich Ulbricht selbst) hingegen nicht, wobei bis heute Historiker über den Grund rätseln. Aber die Mehrheit war eben für Ulbrichts Ablösung. Und diese Mehrheit hatte es damals seit Monaten erkennbar gegeben.

Einen ersten ernsthaften Versuch, mich für einen Sturz Honeckers zu gewinnen, unternahm im Februar 1989 Gerhard Schürer, ein kluger, integrer Mann, dessen Auftritte als Kandidat des Politbüros ich sehr schätzte. Auch als Mensch mochte ich ihn. Der »Anschlag« erfolgte im Keller seines Wochenendhauses in Dierhagen, in das er mich eingeladen hatte. »Ich wusste, dass ich viel aufs Spiel setzte, denn immerhin war es ein Gespräch, das als Hochverrat gewertet werden konnte«, schrieb Schürer in seinen 2014 in der edition ost unter dem Titel »Gewagt und verloren« veröffentlichen Erinnerungen. Und weiter: »Im Gespräch wurde deutlich, dass sich Krenz schon länger mit ähnlichen Gedanken beschäftigt hatte. Ich war für einen sofortigen, natürlich risikoreichen Staatsstreich, wollte im Politbüro die Absetzung von Honecker, Mittag und Herrmann und die Berufung von Egon Krenz zum Generalsekretär vorschlagen und selbst in Rente gehen, damit erkennbar wurde, dass es mir nur um die Sache und nicht um einen Posten ging.«

Ich erinnerte mich an dieses Keller-Gespräch, das Schürer ohne Prolog begann: »Wir müssen Honecker stürzen.«

Er sah mir in die Augen.

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Wenn du dich an die Spitze stellst, werden sich die Armee, das Ministerium für Staatssicherheit und die Polizei loyal verhalten. Wenn du Generalsekretär bist, gehe ich.« Schürer war fast 68, also seit knapp drei Jahren im regulären Rentenalter. »Damit gebe ich den Alten im Politbüro ein Signal. So kannst du die Überalterung überwinden und dir ein jüngeres Politbüro deiner Wahl aufbauen.«

Seine Offenheit imponierte mir. Eine Verjüngung der gesamten Führung war zweifellos notwendig. In diesem Punkt stimmten wir überein. Doch sein Plan roch mir zu sehr nach Verschwörung. Ein Putsch war meine Sache nicht. Das passte auch nicht zu unserer marxistischen Weltanschauung.

Dennoch teilte ich Schürers Urteil. »Ja«, sagte ich, »auch ich glaube, dass Erich Honecker seinen Funktionen nicht mehr gewachsen ist. Weder physisch noch psychisch.« Mir mache überdies Sorge, dass unsere Schulden im Westen unablässig wüchsen. »Wir leben auf Kosten unserer Kinder und Enkel«, sagte ich. »Daran wird jeder Nachfolger Honeckers scheitern.«

»Kennst du die Details?«, erkundigte sich Schürer. Schließlich war er Chef der Staatlichen Plankommission und darum wohl bestens über die wirtschaftliche Lage der DDR informiert.

»Alexander Schalck und Wolfgang Junker haben mich seit 1984 über alles informiert, was ich über die ökonomische und finanzielle Situation der DDR wissen muss.« Staatssekretär Schalck-Golodkowski aus dem Außenhandelsministerium leitete dort den Bereich Kommerzielle Koordinierung, über den die wichtigen Geschäfte mit dem kapitalistischen Ausland liefen, und Junker, mit dem mich eine Freundschaft verband, war seit 1963 Bauminister, und das war eine Schlüsselfunktion.

Es müsse eine gründliche Analyse im Politbüro erfolgen. »Solange die Mitglieder die politischen und ökonomischen Fakten unserer innenpolitischen Lage nur ungenügend kennen, werden wir keine Mehrheit für die Absetzung Honeckers bekommen«, setzte ich fort. »Und solange Mittag den Generalsekretär steuert, wird es schwierig, auf Honecker einzuwirken.«

Ich gab ferner zu bedenken, dass auch außerhalb der DDR ein »Staatsstreich« auf Unverständnis stoßen dürfte, zu groß war die internationale Reputation Honeckers. Selbst in der Bundesrepublik. Der erzkonservative Fraktionschef der Union im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, hatte Honecker am 8. September 1987 auf Schloss Gymnich als einen »deutschen Kommunisten« begrüßt, mit dem er als deutscher Demokrat Gemeinsamkeiten hätte. Und Theo Waigel, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, hatte dazu genickt. Oder: Der langjährige SPD-Vorsitzende Willy Brandt, Vater der sogenannten neuen Ostpolitik, hatte nach seinem Besuch im September 1985 bei Honecker in Berlin auf einer Pressekonferenz erklärt, dass er »als Mensch und Politiker« gewinnen würde, wenn der Meinungsaustausch mit dem Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Fortsetzung fände. Brandts Nachfolger an der Spitze der SPD, Hans-Jochen Vogel, hatte erst unlängst gewünscht, dass Honecker noch lange im Amte bliebe, damit die fruchtbaren deutsch-deutschen Kontakte weitergeführt werden könnten …

Nein, gegen diesen Mann zu putschen ging mir gegen den Strich, wie mir politische Intrigen prinzipiell verhasst waren.

Darum reagierte ich auch abwehrend auf die Intervention der beiden Besucher, die mich am 12. September 1989 in Dierhagen aufgesucht hatten. Ich verbrachte dort meinen Urlaub, in den ich von meinem Chef geschickt worden war, damit ich nicht seine Kreise in Berlin störte.

Eberhard Aurich, seit fast sechs Jahren mein Nachfolger an der Spitze der Freien Deutschen Jugend, und Gerd Schulz, Leiter der Abteilung Jugend des ZK der SED, ließen bei mir Dampf ab. Auf der jüngsten Sitzung des Politbüros hatte Günter Mittag der FDJ die Verantwortung zugeschoben, dass so viele Jugendliche die Republik verließen. Ungarn hatte am Tag zuvor die Grenze zu Österreich geöffnet. Unter den etwa fünfzehntausend DDR-Bürgern, die die Gelegenheit zur illegalen Ausreise nutzten, befanden sich naturgemäß auch junge Leute. Das, so behauptete Honeckers amtierender Stellvertreter Mittag, sei ein Beweis dafür, dass der Jugendverband in der politisch-ideologischen Arbeit versagt habe.

Doch wie ich bald merkte, war nicht Mittags skandalöse Unterstellung der Anlass für die beiden ZK-Mitglieder, mich während meines Zwangsurlaubs an der Ostsee aufzusuchen. Der eigentliche Grund ihrer Dienstreise war ein anderer.

»Gestern hat es einen tiefen Einschnitt im Leben unseres Landes gegeben«, hob Aurich an und bezog sich auf die Reaktion des Politbüros auf die Grenzöffnung der Ungarn. »Ich bin empört, wie das Politbüro damit umgeht.« Das Politbüro verdränge Tatsachen und handele in kurzschlussartiger Hektik. Das Wort der Partei werde nicht mehr ernstgenommen. Noch vor einem Jahr habe man auf die Autorität Erich Honeckers bauen können. Die aber habe er inzwischen verloren.

Aurich machte eine kurze Pause, schaute mich an: »Egon, komm zurück nach Berlin! Mit Honecker geht es nicht mehr.«

Aha, dachte ich, daher wehte der Wind.

Ich sah natürlich wie sie, dass dringender Handlungsbedarf bestand. Der ehrgeizige, machtbesessene Mittag leitete in Honeckers Auftrag das Politbüro. Ich konnte Mittag schlechterdings nicht auffordern, sich zurückzuziehen, um mir diese Aufgabe zu übertragen. Undenkbar ohne die Zustimmung Honeckers, der sich nach einer neuerlichen Operation im Genesungsurlaub befand. Honecker war erkennbar am Ende seiner Kräfte, doch die Erfahrung lehrte auch: Meist hatte die Ablösung des ersten Mannes in einem sozialistischen Staat zu gesellschaftlichen Verwerfungen und Auseinandersetzungen geführt. Das musste vermieden werden.

Darüber diskutierte ich oft mit Siegfried Lorenz. Wir waren seit den sechziger Jahren eng miteinander befreundet, teilten Überzeugungen und Sichten und redeten ganz offen über die Probleme, die uns bedrückten. »Siggi« gehörte wie ich dem Politbüro an. Wir waren inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Klassenkämpfe der Vergangenheit Honeckers Denken dominierten. Eigentlich hätten das die Gegenwart und gesellschaftliche Strategien für die Zukunft sein müssen. Das war doch die Hauptaufgabe der heutigen Klassenauseinandersetzungen. Honecker jedoch setzte die Errungenschaften der DDR ins Verhältnis zu seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen. Arbeit, Brot und Völkerfrieden, die in einem alten Arbeiterlied besungen wurden, waren seine Ideale. Und diese waren für ihn erfüllt und mussten nun lediglich verteidigt werden. Selbst Wilhelm Busch wusste bereits: »Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.« Das bedeutete doch, dass jede nachwachsende Generation andere Ansprüche und Bedürfnisse entwickelte und sich nicht mit dem zufrieden gab, was ihr überlassen wurde. Alles andere bedeutete Stagnation. Das Konservieren des Ist-Zustandes war eigentlich Rückschritt. Unter der Losung »Kontinuität und Erneuerung« sollte dieser Tatsache entgegengewirkt werden. Doch das blieb nur eine propagandistische Parole. Honecker setzte auf Kontinuität.

Das wurde ganz deutlich, als er im November 1988 dem Politbüro vorschlug, den XII. Parteitag der SED um ein Jahr vorzuziehen. Diese unangekündigte Initiative traf alle wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Also nicht 1991, sondern schon 1990 sollte das höchste Gremium der Partei zusammentreten. Das verstieß nicht nur gegen das Statut, das einen Fünfjahres-Turnus vorsah. Es brach auch mit der Tradition, dass der SED-Parteitag auf den der KPdSU in Moskau folgte.

Einige meiner älteren Politbüro-Genossen, die schon lange gehen wollten, nahmen diese Ankündigung als hoffnungsvolles Zeichen. Sie vermuteten nämlich, dass der Generalsekretär den Weg für einen Generationswechsel freimachen wollte: nicht nur in seiner Funktion, sondern in der gesamten Führung.

Doch darin sahen sie sich bald getäuscht. Honeckers Äußerungen und nachfolgende Vorschläge zielten genau aufs Gegenteil. Die Benennung der Hauptredner auf diesem Parteitag – Erich Honecker, Willi Stoph und Horst Sindermann – ließ erkennen, dass es unter »bewährter Führung« weitergehen sollte. Also weiter Kontinuität statt Erneuerung.

Als Motiv für die Vorverlegung des Parteitages und dessen Platzierung vor dem KPdSU-Konvent nannte Honecker auch. »Damit wir uns mit dem ganzen Quatsch von Gorbatschow auf seinem Parteitag nicht beschäftigen müssen.«

Diese eher beiläufig gemachte Bemerkung im Politbüro fand nicht nur ich befremdlich.

Möglicherweise brachte Honecker damit eine tiefe innere Ablehnung zum Ausdruck. Äußerungen wie diese signalisierten nach meinem Eindruck auch eine gewisse Selbstüberhebung. Honecker war von sich eingenommen und zeigte Anflüge von Hochmut. Bezeichnend seine Rede auf der 7. Tagung des ZK im Dezember 1988. Darin präsentierte er eine lückenlose, durchgängig positive Bilanz seit dem VIII. Parteitag 1971 – also jener Zeit, in der er an der Spitze von Partei und Staat gehandelt hatte.

Diese Bilanz war nicht nur geschönt. Sie ließ in ihrer Übertreibung auch keine Steigerung mehr zu. Die nachfolgende Führung hatte unter dieser Vorgabe keine Chance für zukunftsträchtige Veränderungen, denn es war schon alles getan und entschieden. Jeder Schritt vorwärts wäre einer zurück, denn man entfernte sich von diesem vermeintlich so erfolgreichen Kurs.

Ich hatte Mitte der sechziger Jahre an der Moskauer Parteihochschule zwar »Das Kapital« von Karl Marx und andere Klassiker zur Ökonomie studiert, aber ich kannte meine diesbezüglichen Grenzen. Mir fehlten wie Honecker tiefere Kenntnisse volkswirtschaftlicher Zusammenhänge und der dort herrschenden Regeln. Allerdings hatte ich noch immer den Satz eines sowjetischen Professors im Ohr, der Seminare zum »Kapital« und zur sozialistischen Ökonomie abhielt. Den thematischen Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft leitete er mit der Bemerkung ein, wir hätten uns bisher mit Marx und der Wissenschaft beschäftigt – jetzt gingen wir zur Träumerei über.

Wir deutschen Hörer protestierten, glaubten wir doch darin einen Angriff auf das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung zu erkennen. Dieses Reformkonzept war 1963 auf dem VI. Parteitag der SED beschlossen worden. Doch die damit verbundenen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft der DDR wurden von der neuen sowjetischen Führung – 1964 war Chruschtschow von Breshnew gestürzt worden – kritisch gesehen. Das, so meinten wir, war ursächlich für die professorale Bemerkung.

Letztlich führte die Moskauer Kritik an diesem Reformkonzept zur Absetzung Ulbrichts und zu einer politischen Kurskorrektur, die auf dem VIII. Parteitag 1971 vollzogen worden war. Unter der Losung von der Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollten die Menschen unmittelbar am Aufschwung teilhaben. Sozialismus war nicht mehr das Versprechen auf ein besseres Leben in der Zukunft, sondern sollte bereits in der Gegenwart erfahrbar sein. Daraus sollte auch eine höhere Motivation wachsen, sich stärker als bisher für den Sozialismus zu engagieren. Friedrich Engels hatte diese Dialektik das »Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt« genannt.

Tatsächlich gab es nach 1971 einen beachtlichen Aufschwung in der DDR. Gute Arbeit machte sich bezahlt: für den Einzelnen wie für alle. Es wurden ein gewaltiges Wohnungsbauprogramm begonnen und die Mieten gesenkt. (In Berlin beispielsweise wurde die Miete auf 1,00 bis 1,25 Mark je Quadratmeter Wohnfläche festgelegt.) Waren und Dienstleistungen wurden subventioniert, weshalb man bald von der »zweiten Lohntüte« sprach. Viele sozialpolitische Maßnahmen wurden auf dem Weg gebracht – Unterstützung für junge Familien und doppelt belastete Frauen (womit die in der DDR-Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung der Geschlechter weiter in der Wirklichkeit ankam). Und auch außenpolitisch fuhr Honecker die Ernte ein, wofür Ulbricht mit Beharrlichkeit und Ausdauer die Saat gelegt hatte: Im September 1973 wurde die DDR – gemeinsam mit der BRD – in die UNO aufgenommen, mehr als hundert Staaten nahmen diplomatische Beziehungen zur DDR auf.

Aber: Der ökonomische und gesellschaftliche Aufschwung kostete mehr, als wir es uns hatten leisten können. Das wohl meinte der Genosse Professor in Moskau mit »Träumerei«, ohne die tatsächliche Entwicklung der folgenden zwei, drei Jahrzehnte zu kennen. Chruschtschow hatte bereits auf dem XXI. Parteitag der KPdSU 1959 erklärt, man würde nunmehr mit dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaftsordnung beginnen, während Ulbricht indirekt widersprach, indem er dem Sozialismus ein langes Leben und die Eigenständigkeit als Gesellschaftsordnung zugestand. An dieser Überzeugung hielt unausgesprochen auch Honecker fest – während Breshnew auf dem XXV. Parteitag 1976 noch immer vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der UdSSR als Tagesaufgabe träumte.

Wir lebten über unsere Verhältnisse, häuften Schulden an und gerieten in Abhängigkeiten, von denen wir nicht mehr loskamen. Es zeigte aber auch, wie sehr wir noch in die kapitalistische Weltwirtschaft eingebunden waren. Das sozialistische Lager war ökonomisch keineswegs autark. Stiegen die Weltmarktpreise für Rohstoffe, hatte das Konsequenzen für uns. Fielen die Weltmarktpreise für Maschinen, die wir exportierten, sanken auch unsere Erlöse. War die Ernte schlecht, mussten wir Weizen im NSW, im Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, gegen Devisen kaufen, die uns an anderer Stelle fehlten. Zudem hatten wir uns der Boykott- und Embargomaßnahmen zu erwehren. Es gab im Westen die berüchtigten Cocom-Listen, auf denen die Waren standen, die aus »strategischen Gründen« nicht an die sozialistischen Länder geliefert werden durften. Trotz Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen wurden wir von der internationalen Arbeitsteilung ausgeschlossen, der globale wissenschaftlich-technische Fortschritt zog gewissermaßen an uns vorbei und forderte uns riesige Investitionen ab, um aus eigener Kraft Defizite auszugleichen. So gerieten wir zunehmend in eine ökonomische Schieflage. Doch Honecker tat so, als befänden wir uns seit 1971 in einem kaum gebremsten Aufstieg.

Am Anfang fand ich Erich Honeckers Arbeitsstil bestechend. Schickte ich ihm morgens einen Vorschlag, kam in der Regel noch am gleichen Tag ein quer über das Blatt geschriebenes »Einverstanden« zurück. Bald schon, eben aufgrund des vorrückenden Alters und wegen der Tatsache, dass alle Entscheidungen über seinen Tisch liefen, las er manches nur noch quer, schrieb sein »Einverstanden« darauf und konnte sich später nicht mehr daran erinnern. Das verunsicherte die Arbeit des Politbüros, weil niemand mehr genau wusste, was wirklich mit ihm abgestimmt war und was nicht.

Honecker verlor mit den Jahren sowohl die Bereitschaft wie auch die Fähigkeit, die Veränderungen in der Welt und in der DDR zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Realitätsverlust ging einher mit der Verweigerung zu akzeptieren, dass der politische Kurs des VIII. Parteitages ökonomisch nicht abgesichert war. Eine Korrektur der Politik der Hauptaufgabe, die Gerhard Schürer mehrmals anmahnte, selbst nur in Details, kam für Honecker zu keinem Zeitpunkt infrage. 1976 wurde er beispielsweise von der Plankommission auf die Explosion der Weltmarktpreise für Erdöl und andere Rohstoffe und die daraus für unsere Volkswirtschaft erwachsenden Folgen aufmerksam gemacht. Darauf reagierte er unwirsch mit den Worten: »Wir können doch nicht von einem Tag zum anderen vor das ZK und die Partei treten und sagen: ›Wir haben uns geirrt‹.«

Nein, eine Korrektur der Politik, die mit seinem Namen verbunden war, schloss er definitiv aus. Fehler konnte es nicht geben, also waren auch keine vermeintlichen Irrtümer zu korrigieren. Aber es war doch weder ein Fehler noch ein Irrtum unserer Politik, dass die Rohstoffpreise unerwartet stiegen. Ohne unser Zutun. Die Preise machten die anderen. Wir mussten jedoch darauf reagieren, vielleicht andere Schwerpunkte in der Wirtschaftspolitik setzen und den Menschen reinen Wein einschenken. Da aber verweigerte sich Honecker.

Im Panzerschrank von Minister Walter Halbritter, dem Leiter des Amtes für Preise, lagen Vorlagen zur Preispolitik der DDR. Nahezu jährlich machte er Vorschläge zum Abbau von Subventionen – durchaus auch im Interesse sozialer Gerechtigkeit. Honecker war stets strikt dagegen. Einmal sagte er mir, der 17. Juni 1953 habe mit der Erhöhung der Marmeladenpreise begonnen, das sei ihm eine Lektion fürs Leben gewesen.

Um die Debatte über eine Preisreform zu beenden, ließ er von dem bekannten DDR-Wirtschaftswissenschaftler Prof. Jürgen Kuczynski einen Grundsatzartikel publizieren. Tenor: Die Preisstabilität sei eine großartige Leistung des Sozialismus, die dürfe man unter keinen Umständen aufgeben. Prof. Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, sah das weniger propagandistisch, sondern sachlich-nüchtern. Auf seinen Beitrag im Neuen Deutschland reagierten über zweihundert Leser mit bemerkenswerten Stellungnahmen. Diese widerspiegelten die DDR-Wirklichkeit. Die einen beklagten die Gleichmacherei. Ob einer faul oder fleißig sei, spiele keine Rolle im Sozialismus. Das Leistungsprinzip sei außer Kraft gesetzt. Andere monierten, dass hochsubventionierte Lebensmittel – etwa Brot – als Tierfutter eingesetzt würde, weil es billiger sei als das eigentliche Futter.

Ich ging mit der Analyse der Leserbriefe zu Honecker. Dessen Kommentar: Der erfahrene Wissenschaftler Jürgen Kuczynski weiß es besser. Damit war für ihn das Problem vom Tisch.

Tatsächlich waren die Zuwendungen aus dem Staatshaushalt zwischen 1971 und 1988 von 26,2 Milliarden auf 110,5 Milliarden Mark gestiegen – einzig um die Preise für Grundnahrungsmittel, Energie, Dienstleistungen, Fahrtarife, Kino- und Theaterkarten usw. auf dem Niveau von vor Jahrzehnten zu halten. Im Durchschnitt zahlte der DDR-Bürger lediglich drei Prozent des Haushaltsnettoeinkommens für die Miete.

Das hatte dazu geführt, dass inzwischen jeder Werktätige lediglich 57 Prozent seines Einkommens de facto »erwirtschaftete« – 43 Prozent bekam er leistungsunabhängig in Gestalt von Subventionen. Jeder Volkswirtschaftler sagte, dass dies ein ungesundes Verhältnis war. Zudem wirkte es nicht stimulierend auf die individuelle Leistungsbereitschaft.

Nicht nur Halbritter schlug seit Jahren darum vor, die Subventionen sozial gerecht abzubauen und das verfügbare Monatseinkommen um etwa 460 Mark zu erhöhen.

Kein Wort dazu in Honeckers Rede auf dem 7. ZK-Plenum Ende 1987. Sein Bericht war zuvor auch nicht im Politbüro diskutiert, sondern dort lediglich zur Kenntnis gegeben worden. Doch einige Genossen – so etwa Günter Schabowski – deuteten Honeckers Ausführungen als »tiefgreifende Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung, als einen bedeutenden Beitrag zur sozialistischen Gesellschaftskonzeption der SED«.

Das waren sie nun wahrlich nicht. So wünschten wir uns die DDR – aber so war sie leider nicht. »Dank der Politik der DDR hat die Partei einen festen Platz im Herzen der Bürger unseres sozialistischen Vaterlandes«, erklärte Honecker.

Wäre es denn so gewesen, hätte der Herbst ’89 einen anderen Verlauf genommen. Vielleicht hätten wir sogar die Staatskrise abwenden können.

Ich muss heute mit der Bürde leben, dass ich damals durchaus einen kritischen Blick auf diese Entwicklung hatte, aber eine grundsätzliche inhaltliche Auseinandersetzung mit Honecker und dessen realitätsfernen Blick auf die DDR scheute. Ich hielt dafür die Zeit noch nicht reif.

Zudem las ich aus verschiedenen internen Papieren des Westens heraus, dass sich weder die Bundesrepublik noch andere westeuropäische Staaten an einem Zusammenbruch der DDR interessiert zeigten, was gewissermaßen eine Überlebensgarantie war. Wir waren einfach zu selbstsicher. Mit der großen Sowjetunion im Rücken – was sollte uns schon passieren? Außerdem gehörte die deutsche Zweistaatlichkeit zur europäischen Sicherheitsarchitektur, wie sie sich im Kontext der Entspannungspolitik entwickelt hatte.

Alexander Schalck gab mir eine Mappe. Er hatte sie in Bonn oder München von einem seiner hochrangigen westdeutschen Gesprächspartner erhalten mit der ausdrücklichen Bitte, diese an mich persönlich – als dem möglichen Honecker-Nachfolger – zu übergeben. Die 116 Seiten waren in Leinen gebunden und der Titel in Gold geprägt: »Die DDR an der Schwelle der neunziger Jahre«. Ich las die Studie ohne Emotionen und verglich die darin aufgeführten Zahlen mit denen, die mir der Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik gegeben hatte. Ich ging davon aus, dass unsere Zahlen richtig, während die im Dokument, das von einem Briten stammte, mehr oder weniger ideologisch determiniert, also unzutreffend waren.

Die Analyse aus dem Westen, die mir von Schalck übergeben worden war, regte mich damals nicht sonderlich auf; mit manchem war ich einverstanden, vieles sah ich wesentlich anders. Wichtig wurde sie für mich erst 1989/90. Die Untersuchung war nämlich zu dem Schluss gelangt: Weder die Bundesrepublik noch die Sowjetunion seien an einem Zusammenbruch der DDR interessiert. Die DDR hatte also eine Zukunft!

Beim Neujahrsempfang des Staatsratsvorsitzenden für das Diplomatische Korps Anfang Januar 1989 übertrafen sich die Botschafter aus westlichen Ländern in ihrem Lob für die DDR und für Honecker. Der US-Botschafter und mit ihm der Leiter der BRD-Vertretung bei der DDR interessierten sich ausschließlich dafür, ob Honecker 1989 die USA besuchen werde.

Sowjetbotschafter Wjatscheslaw I. Kotschemassow erkundigte sich bei mir, ob wir hinter dem Rücken von Gorbatschow ein Gipfeltreffen mit dem neuen US-Präsidenten George Bush vorbereiteten.

Obwohl ich in der Regel mehr als offen zu Kotschemassow war, blieb ich diesmal wortkarg. »Kein Wort!«, hatte Honecker gesagt. Ich genehmigte mir drei. »Es könnte sein.«

Allein diese vage Bemerkung nährte Moskaus Misstrauen.

Ich hätte Kotschemassow gern reinen Wein eingeschenkt, denn eine Reise in die USA ohne Absprache mit Moskau – wie etwa 1986 in die Volksrepublik China und 1987 in die Bundesrepublik – wäre nicht nur in meiner Sicht ein Skandal gewesen. Für Honecker jedoch die endgültige Souveränität der DDR. Die meisten NATO-Staaten hatte er bereits besucht. Die DDR war international anerkannt und hochgeschätzt. Außenpolitisch standen wir kurz vorm Gipfel, innenpolitisch jedoch ging es bergab. Ich riet Honecker, sich wegen der geplanten USA-Reise mit Gorbatschow abzustimmen. Ich predigte tauben Ohren.

Die ersten Kontakte in die USA hatte der einstige Diplomat und Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi geknüpft. Bei einem Empfang im Weißen Haus trug ihm der amtierende Präsident Ronald Reagan Grüße für »Präsident Erich Honecker« auf, was in Berlin als Signal gedeutet wurde. Ich traf gelegentlich mit Klaus Gysi im Vorzimmer von Honecker zusammen, wenn dieser unserem gemeinsamen Chef über den Fortgang seiner konspirativen Mission in Übersee berichtete. Ich ertappte die beiden gewissermaßen »auf frischer Tat«, was Honecker wohl veranlasste, mich bei dem Thema auf dem Laufenden zu halten. »Die Amerikaner haben dich ja kennenlernen wollen, aber du hast dich ja verweigert«, frotzelte er und tat so, als müsse er nun zwangsweise diese Aufgabe übernehmen.

Er wusste genau, dass es nicht meine Entscheidung gewesen war. Damals, im Sommer 1985, hatten DDR-Wissenschaftler am New Hampshire Symposium in Conway an der Westküste der USA teilgenommen. Nach ihrer Rückkehr hatten sie Honecker berichtet: »Es besteht großes Interesse daran, Egon Krenz zu einem Besuch in den USA zu bewegen. Über Egon Krenz als zweiten Mann und mutmaßlichen Nachfolger Erich Honeckers wisse man in Washington wenig. Zugleich wisse auch Egon Krenz nichts über die USA, die er noch nie gesehen habe. Er kenne zwar die Sowjetunion und andere sozialistische Länder, sei aber nicht aus eigener Anschauung mit den westlichen Ländern vertraut. Das sei ein Hindernis für die Entwicklung langfristiger Beziehungen zwischen der DDR und den USA.«

Nun, aus meiner Reise in die USA wurde damals nichts.

Auch nicht die von Erich Honecker. Washington hatte Ende der achtziger Jahre andere Pläne.

Aber immerhin: Am 30. März 1989 saßen mir im Staatsratsgebäude neun Vertreter des US-Repräsentantenhauses gegenüber. Die Delegation wurde vom Vorsitzenden des Finanzausschusses Dan Rostenkowski geleitet. Ich würdigte den Besuch als »zeitgemäße Fortsetzung der Kontakte, die seit langem zwischen der DDR und den Vertretern des USA-Kongresses bestehen«. Während die Amerikaner im Gespräch allerdings die Menschenrechte in den Vordergrund stellten, erklärte ich zunächst, dass sich die DDR dafür einsetze, »die Kernwaffen zu beseitigen und die konventionellen Militärpotentiale drastisch abzubauen«. Denn Frieden und damit die Beseitigung der Angst vor Kriegen seien das A und O. »Die Verwirklichung der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit sei ein Synonym für die Politik der DDR. Die DDR fülle alle drei Körbe der Schlussakte von Helsinki. Dazu gehören auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die – wie es in dem Dokument heißt – durch keinerlei Einschränkungen beeinträchtigt werden sollten. Hindernisse jeglicher Art sollten abgebaut und schrittweise beseitigt werden.«

Womit ich den Amerikanern zu verstehen geben wollte, dass für uns das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit die wichtigsten Menschenrechte waren – eben nicht nur die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte, wie sie im Westen verstanden wurden. Ohne Frieden, ohne Arbeit, ohne Diskriminierung und Sanktionen in den zwischenstaatlichen Beziehungen könne man nicht behauptet, die Menschenrechte zu wahren. Sie galten universell und waren unteilbar. Woran sich bis heute nichts geändert hat.

Politisches Wetterleuchten

In meinen Kalender vom Januar 1989 gibt es keinerlei Hinweise auf irgendwelche Auseinandersetzungen zwischen vermeintlichen Reformern und angeblichen Dogmatikern im Politbüro. Am 4. Januar 1989 stand dort: »9.20 Uhr, Treffen des Politbüros bei Schabo«. »Schabo« war Günter Schabowski, der Erste der Partei in Berlin. Er wurde an jenem Tag sechzig Jahre alt. Es gehörte zu den Ritualen des Politbüros, Mitgliedern und Kandidaten an runden Geburtstagen gemeinsam zu gratulieren. Honecker verlas eine Grußadresse des Zentralkomitees, überreichte eine hohe Auszeichnung und ein Geschenk. Der Jubilar revanchierte sich mit viel Lob für den Generalsekretär.

Huldigungen dieser Art füllten bei uns mitunter ganze Zeitungsseiten, in der Regel gab es im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan, auf Seite 1 ein Foto des Jubilars. Wo dieses platziert wurde und wie groß es war einschließlich der Huldigung, entschied der Generalsekretär. So konnte die Leserschaft leicht feststellen, welchen Stand der Geehrte beim Chef hatte.

Schabowski kannte diese Praxis aus seiner Zeit als Chefredakteur des Neuen Deutschland besser als jeder andere von uns. Wohl auch deshalb lief er schon Tage vor seinem Geburtstag mit griesgrämigem Gesicht durch die Gegend. Ausgerechnet sein Jahrestag sollte »heruntergespielt« werden, also weniger Aufmerksamkeit finden als ihm zustünde, wollte er damit sagen. Das Politbüro hatte vor Monaten nämlich beschlossen, Geburtstagsgratulationen künftig bescheidener zu gestalten. In der Öffentlichkeit, so die Begründung, kämen die gegenseitigen Schmeicheleien nicht gut an. »Die Bürger« besäßen ein feines Gespür für den Unterschied von berechtigtem Lob und billiger Beweihräucherung. Darum sah die neue Protokollordnung des ZK der SED vor, runde Geburtstage von Mitgliedern des Politbüros nur noch auf Seite 2 des Neuen Deutschland zu vermelden.

ZK-Protokollchef Jost Becher hatte diese begrüßenswerte Veränderung lange vorbereitet. Sie sollte bereits 1987 erfolgen, doch in jenem Jahr wurde Honecker 75 – und da hätte dies zu Missverständnissen führen können. So wurde dann Schabowski das erste »Opfer«.

Er kämpfte verbissen um eine Ausnahmeregelung für sich, belegte den Protokollchef mit allen möglichen Begründungen. Schließlich sei er der 1. Sekretär von Berlin, der wichtigsten Parteiorganisation der SED überhaupt. Was würden wohl die Berliner denken, so seine rhetorische Frage, wenn das Politbüro ausgerechnet seinen Geburtstag nur »gedämpft« begehen würde?

Tatsächlich interessierte ihn die Meinung der Berliner so sehr nicht. Schabowski ging es vor allem um sein Ansehen im Westen. Dort wurde er als einer der möglichen Honecker-Nachfolger gehandelt, was ihm schmeichelte. Er fürchtete nun, dass die Aufmerksamkeit dort nachließe, wenn der Eindruck entstünde, er sei bei Honecker in Ungnade gefallen und auf Seite 2 verbannt. – Jost Becher aber blieb standhaft. Schabowski musste seinen Geburtstag »gedämpft« erleben. Verwunden hat er es nie.

In den neunziger Jahren erklärte er, dass er eigentlich nur ein kleiner »Mitläufer im Politbüro« gewesen sei, ein »kleines Licht«, das von allen »Grausamkeiten der DDR« nichts gewusst habe, ein »Ahnungsloser«. Wehe jenem, der solches über ihn gesagt hätte, als er noch in Amt und Würden war!

Ende Januar wurde Reagans ehemaliger Vizepräsident und einstiger CIA-Chef George Bush als 41. Präsident der USA vereidigt. Honecker bekam aus Washington die vertrauliche Nachricht: »Der neue US-Präsident denkt nicht daran, eine strategische Partnerschaft zwischen den USA und der UdSSR, wie sie Gorbatschow anstrebe, einzugehen.« Und Bush beabsichtige, einen persönlichen Freund aus gemeinsamen CIA-Zeiten zum neuen Botschafter in Bonn zu machen. Der 72-jährige Vernon Walters, ein altes Streitross des Kalten Krieges, wurde aus der Rente geholt und extra für diesen Job reaktiviert. Das bedeutete nichts Gutes.

Honecker gab mir das Papier zum Lesen. Es trug weder ein Datum noch eine Unterschrift. Als ich die beiden Blätter überflogen hatte, fragte er: »Na, was sagst du dazu?«

Was sollte ich dazu sagen? Hatten wir etwas anderes erwartet? Die USA strebten schon immer nach einer Weltordnung unter ihrer Hegemonie.

»Das siehst du völlig richtig. Klarer als dein Gorbatschow«, reagierte Honecker auf meinen Kommentar.

Es beschäftigte ihn mehr als mir lieb war, dass ich noch immer nicht im Chor der Gorbatschow-Kritiker mitsang. Honecker gab mir mit solchen Spitzen immer wieder zu verstehen, dass ich mich diesbezüglich auf dem Holzweg befände. »Egon, du setzt auf den Falschen!«, hieß das. Damals kränkte es mich.

Im Nachhinein muss ich Honecker recht geben.

An dem Geheimdienstpapier ärgerte mich allenfalls, wie mies die USA Gorbatschow beurteilten. Erst im Dezember 1988 hatte er vor der UNO-Vollversammlung ein großartiges Abrüstungs-Programm vorgestellt. Die Sowjetarmee sollte um 500.000 Soldaten reduziert werden. Aus der DDR, der ČSSR und Ungarn wollte Moskau einige Zehntausend Mann und fünftausend Panzer zurückholen. Die DDR wollte nachziehen. Die NVA erwog, sechs Panzerregimenter und ein Fliegergeschwader aufzulösen, und die Regierung plante, die Rüstungsausgaben um zehn Prozent zu kürzen.

Das waren einseitige Angebote – in der Erwartung, dass es der Westen gleichtue. Doch der Westen, also die NATO, bewegte sich nicht. Gorbatschow machte ein Zugeständnis nach dem anderen, und ich fragte mich: Wie lange ließ sich das durchhalten? Das militärstrategische Gleichgewicht durfte nicht infrage gestellt werden, wenn wir in der Systemauseinandersetzung nicht unterliegen wollten.

Auch Sozialdemokraten erkannten nüchtern das Dilemma. Egon Bahr, theoretischer Kopf der Ostpolitik Willy Brandts, sah die Balance durch die USA gefährdet. Nach einer Amerika-Reise informierte er Erich Honecker, dass die USA mit Gorbatschow ein »teuflisches Spiel« treiben. Jedes Mal, wenn Gorbatschow einen neuen Friedensvorschlag unterbreitete, reagierte man in den USA gezielt negativ und provokativ, um danach erklären zu können: »Seht, wie schwach die UdSSR ist. Wir müssen nur weiter drücken und werden immer mehr erreichen.«

Warum, so fragte ich mich, durchschauen andere dieses »teuflische Spiel« – Gorbatschow aber nicht? Verletzte es seine Eitelkeit, sich die Tatsache einzugestehen, dass sein »Neues Denken« augenscheinlich das alte Denken der Kalten Krieger in der USA keinen Deut veränderte, sie nicht zur Aufgabe ihrer Weltbeherrschungspläne bewegte? Die Strategie der von Washington gesteuerten NATO setzte unverändert auf Destabilisierung der sozialistischen Länder. Sie wollten uns weghaben, wegreformieren, totrüsten! Das war das Generalproblem – nicht der Generalsekretär Gorbatschow. Egal, wer in Moskau das Sagen hatte: Primär waren Stärke und Stabilität der Sowjetunion und unser Schulterschluss mit Moskau. Denn ohne Sowjetunion keine DDR. Darin war ich mir mit Honecker völlig einig.

Über verschiedene Kanäle erhielten wir uns beunruhigende Nachrichten. Manfred Uschner, Mitarbeiter von Politbüro-Mitglied Hermann Axen, berichtete von einem Gespräch Ende 1988 mit Egon Bahr in Bonn: »E. Bahr äußerte Besorgnis über eine Reihe ›extremer Presseveröffentlichungen in der UdSSR‹, das Wiederaufleben nationalistischer Stimmungen und Tendenzen sowie das langsame Tempo bei der Verbesserung des Alltagslebens der sowjetischen Werktätigen. Da man noch zu wenig Konkretes über Positives in der Gegenwart und künftig zu Erwartendes berichten könne, würden sich viele sowjetische Intellektuelle und Journalisten offensichtlich im Zuge von ›Glasnost‹ in eine ›exzessive Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit und der Verbrechen Stalins‹ flüchten. Das könne schiefgehen. Die sowjetischen Menschen bräuchten zwar die Wahrheit und Offenheit, die Überwindung von Verkrustungen. Wie sollen sie aber Kraft gewinnen, wenn man die eigenen Leitbilder diskreditiert sieht und die aus dem Westen importierte Ware attraktiver und meist besser als die eigene sei?« So gab Uschner Bahr wieder. Und weiter berichtete er: »Gefährlich für Osteuropa würde der für 1989 zu erwartende westeuropäische Fernsehsatellit, der von Lissabon bis zum Ural 30 Programme ausstrahlen werde.«

Nun wollte ich zwar nicht völlig ausschließen, dass der Bericht für Honecker ein wenig von Egon Bahrs Sicht beeinflusst worden war, doch zweifellos sahen auch realistische Kräfte im Westen die Entwicklung in der Sowjetunion zunehmend kritisch und bedenklich.

Am 19. Januar 1989 trat das Thomas-Müntzer-Komitee in Berlin zusammen. Es war im Vorjahr zur Vorbereitung des 500. Todestages des Reformators und Revolutionärs gegründet worden. Die guten Erfahrungen, die wir diesbezüglich im Luther-Jahr 1983 gesammelt hatten, wurden hier nutzbringend zur Würdigung der Frühbürgerlichen Revolution 1523/24 eingesetzt. Die Zusammenkunft war eine Routineveranstaltung, wenngleich allein die Teilnahme Honeckers sie zu einem gesellschaftlich bedeutenden Ereignis machte.

Die Planung der Sitzung lag in meinen Händen. Sie sah vor, dass Günther Maleuda – Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei (DBD) und Stellvertretender Staatsratsvorsitzender – die Zusammenkunft eröffnen und leiten sollte. Ich hatte allerdings nicht mit der Eitelkeit eines Stellvertreters des Kulturministers gerechnet. Der ehrgeizige Dietmar Keller war im Ministerium zuständig für die Erbepflege und beschwerte sich bei seinem Chef, dass nicht er, sondern Maleuda das Sagen haben sollte.

Minister Hans-Joachim Hoffmann rief mich an. Ich schätzte ihn sehr; er war ein charakterfester, hochanständiger Mann. »Egon«, sagte er, »ich habe genug Ärger im eigenen Haus. Ich brauche nicht noch einen Streit um Protokollfragen.«

Ich verstand ihn.

Keller wurde mit der Leitung der Komiteesitzung beauftragt, sein Geltungsbedürfnis war damit befriedigt.

Monate später, inzwischen war die Regierung von Willi Stoph demissioniert, berief der neue Ministerpräsident Hans Modrow Dietmar Keller zum Kulturminister. Ich erhob Einspruch und bat darum, Hoffmann in seiner Minister-Funktion zu belassen. Dieser war auch dazu bereit. Ich konnte mich als Staatsratsvorsitzender jedoch nicht durchsetzen.

Vier Jahre später vertrat Keller als Bundestagsabgeordneter der PDS in Bonn die Parlamentariergruppe der Partei in der von Pfarrer Rainer Eppelmann geleiteten Enquetekommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Die abfälligen Bemerkungen über die DDR, die Keller dort von sich gab, ließen den letzten Rest meiner Achtung ihm gegenüber schwinden

Die Rede, die Honecker – angekündigt von dem neben dem Generalsekretär sitzenden Dietmar Keller – auf der Komitee-Sitzung hielt, hatte er sich zuvor im Politbüro bestätigen lassen. Bis auf jenen Satz, der dann Geschichte machen sollte. Diesen hatte Honecker nachträglich in den abgesegneten Text eingefügt: »Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.«

Diese Aussage entbehrte nicht eines logischen Kerns, wurde aber von vielen als Drohung verstanden, dass sich am Status quo in absehbarer Zeit nichts ändern werde. Nicht nur junge Leute fragten: Wieso maßt sich ein alter Politiker an zu bestimmen, was in fünfzig oder hundert Jahren sein wird? Es geht um unsere Zukunft, nicht um seine. Da wollen wir schon selber ein Wort mitreden.

Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse wurde auf einer Pressekonferenz in Wien darauf angesprochen. »Was wird aus der Mauer?« fragten ihn die Reporter.

»Da müssen Sie Fischer fragen«, womit Schewardnadse den Außenminister der DDR meinte. Lächelnd ergänzte er: »Natürlich auch Genscher.« Das war bekanntlich der Außenminister der Bundesrepublik. Chruschtschow hatte sich in seinen Erinnerungen zu seiner persönlichen und zur Verantwortung der Sowjetunion für den Mauerbau bekannt. Das war inzwischen wohl Gemeingut, zumindest in der östlichen Hemisphäre. Doch der sowjetische Außenminister schob Anfang 1989 die Zuständigkeit für die Grenze des Warschauer Vertrages – zugleich auch Staatsgrenze West seines Bündnispartners DDR – und dessen Zukunft mit dieser Bemerkung ausschließlich uns zu. Und auch ein wenig der BRD. Als ob Berlin und Bonn allein über Errichtung und Existenz »der Mauer« entschieden hätten und über ihr Schicksal entscheiden würden.

Honeckers fortschreitenden Realitätsverlust registrierte ich auch, als wir Anfang Mai zu einem Staatsbesuch nach Prag reisten. Uns erreichte unterwegs die Agenturmeldung, dass Ungarn seine Grenze nach Österreich geöffnet habe. Ich wunderte mich über die Gelassenheit, mit der Honecker diese Nachricht aufnahm. Schließlich handelte es sich um einen Teil der Außengrenze des Warschauer Vertrages zum Westen. Ein Loch in Ungarn war ein Loch in der Grenze quer durch Europa. Das war auch für die DDR gefährlich.

»Erich«, sagte ich, »es wäre gut, wenn wir mit den ungarischen Genossen sprechen. Du könntest Mitte des Monats einen Jagdausflug nach Ungarn machen und mit ihnen reden. Wir müssen alles versuchen, damit wir im Gespräch bleiben.«

»Jagdausflug« war das Synonym für inoffizielle Treffen zwischen Staats- und Parteichefs der sozialistischen Länder, bei denen kritische Fragen unter vier Augen oder im ganz kleinen Kreis besprochen wurden.

»Öffnen die Ungarn ihre Grenze oder wir?«, entgegnete Honecker schroff. Außerdem hätten ihm die Ungarn gesagt, sie würden nur kosmetische Verbesserungen am Grenzzaun vornehmen, so wie wir es in Berlin an der Mauer von Zeit zu Zeit auch täten. An ihrem Verhältnis zur DDR werde sich dadurch nichts ändern, sei ihm versichert worden.

Mir war unklar, warum er so stur und uneinsichtig reagierte. Es ging nach meiner Überzeugung um existenzielle Fragen auch der DDR. Ich wiederholte meinen Vorschlag. »Ungarn ist unser wichtigstes Urlaubsland. Schon jetzt gibt es Spekulationen darüber, ob wir künftig unsere Leute nicht mehr dorthin reisen lassen werden.«

Honecker blieb dabei: Er wollte nicht nach Ungarn fliegen, nicht Bittsteller sein. Ungarn und die DDR gehörten zum Bündnis, das musste reichen. Er pochte auf bestehende Verträge und die Verpflichtungen Ungarns im Warschauer Vertrag.

Zwei Monate später, am 7. Juli, trafen sich die Staats- und Parteichefs in Rumäniens Hauptstadt. Es war das höchste Gremium des sozialistischen Lagers, der Politisch Beratende Ausschuss. Es ging zu wie immer zu: Der Repräsentant des Gastgeberlandes begrüßte die Gäste. Zur Sache sprach als Erster der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, die Kommunistische Partei der Sowjetunion gab die Linie vor. Danach folgten die Reden der anderen Parteichefs. Zum Abschluss des Gipfels wurde die Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Gemeinschaft bekräftigt …

Ich war seit 1984 dabei. Auch unter Gorbatschow hatte sich an diesem Ritual nichts geändert. Offene Probleme in den einzelnen Ländern und Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen wurden nie angesprochen. Stattdessen lobte jeder Parteichef die Politik seines Landes.

Vor der diesjährigen Beratung hatte es intern Streit um die Frage gegeben: Ist der Kalte Krieg zu Ende? Die ungarische Führung meinte Ja. Deshalb hatte sie auch die Lockerungsübungen an der Grenze unternommen, wie sie behauptete. Gorbatschow meinte Nein. Am Vortag dieses Gipfels hatte er in Brüssel vor der Parlamentarischen Versammlung erklärt, »dass der Westen die Überwindung der Spaltung Europas als Überwindung des Sozialismus versteht«.

Die Aufforderung – Ende Mai auf dem NATO-Gipfel formuliert –, die Sowjetunion in die »Wertegemeinschaft des Westens« zu holen, betrachtete er als Angriff auf seine Idee eines Europäischen Hauses. Das Überstülpen »westlicher Werte« sei nichts anderes als die Überwindung »östlicher Werte«. Für ihn, Gorbatschow, waren deshalb die Beschlüsse der NATO-Ratstagung Ausdruck einer neuen Stufe der Konfrontation.

Auch Polens Staatschef Wojciech Jaruzelski glaubte nicht an das Ende des Kalten Krieges. Ausgangspunkt guter Beziehungen zwischen den Staaten sei für ihn die Achtung der in Jalta und Potsdam fixierten Prinzipien.

Als ich mit Honecker den prunkvollen Tagungssaal betrat, saßen fast alle Teilnehmer bereits an einem langgestreckten viereckigen Konferenztisch auf ihren Stühlen. »Auch das noch«, stöhnte Honecker leise, wenngleich vernehmlich. Das Protokoll wies uns gemäß Alphabet den Platz neben der ungarischen Delegation zu. Honecker war dies merklich unangenehm. Nicht nur, weil bei den Ungarn nur neue Gesichter zu sehen waren. Formell wurde die Delegation von Rezsö Nyers geleitet, seit zwei Wochen war der Staatsminister für Wirtschaftsfragen zum Präsidenten eines vierköpfigen Politbüros der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei berufen worden. Doch die Fäden zog bereits Außenminister Gyula Horn, der am 27. Juni mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock demonstrativ den Grenzzaun durchschnitten hatte.

Außer einem »Guten Tag« hatten wir nichts füreinander übrig, die Atmosphäre war spürbar frostig. Honecker hatte erst vor einigen Tagen auf dem 8. Plenum die Ungarn kritisiert. Es seien dort Kräfte am Werk, die unter der Fahne der Erneuerung die Beseitigung des Sozialismus anstrebten. So scharf hatte die SED-Führung noch nie die Politik einer Bruderpartei attackiert, und die wiederum hatte seine Einlassungen als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten empört zurückgewiesen.

Ich entzog mich dieser peinlichen Situation, indem ich mich meinem Nachbarn zur Linken widmete. Polens Delegationsleiter Jaruzelski kannte ich, bei Besuchen in der DDR hatte ich ihn stets begleitet, und wenn ich dienstlich in Polen unterwegs war, empfing er mich immer. Das war nicht nur protokollarische Höflichkeit, wir schätzten und mochten uns. Der General war offen und sachlich. Im Unterschied zu anderen Staats- und Parteichefs war er frei von jeglicher Neigung zur Prahlerei und Wichtigtuerei. Er war der DDR und der Sowjetunion verbunden, aber auch ein polnischer Patriot. Das zerriss ihn mitunter, etwa als er im Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausrief. Dieser Schritt trug ihm den Ruf ein, er habe als Moskaus Statthalter gehandelt. Was nicht stimmte, das Gegenteil traf zu. Er wendete mit diesem mutigen, unpopulären Schritt nicht nur die polnische Staatskrise ab, sondern sicherte die Souveränität seines Landes und damit den Frieden in Europa. Eine konzertierte Aktion wie 1968 in der ČSSR fand nicht statt.

Wir wurden in unserem Gespräch durch Nicolae Ceauşescu unterbrochen. Als Gastgeber begrüßte er alle Teilnehmer des Gipfels per Handschlag.

Die Stimmung im Saal blieb bedrückend, kalt, beklemmend. Die aufscheinenden nationalen Interessen und Dünkel, gar Misstrauen, ließen wenig von der Gemeinsamkeit spüren, die das Bündnis einst hatte entstehen lassen. Wir nannten uns Bruderländer, aber von brüderlicher Zusammenarbeit und Solidarität merkte man kaum etwas. Es war ziemlich deprimierend.

Gorbatschow ermahnte in seiner Rede alle Delegationen: »Der Warschauer Vertrag ist unser gemeinsames Gut.« Leidenschaftlich kritisierte er jene, die die Oktoberrevolution und den dort eingeschlagenen Weg als geschichtlichen Irrtum bezeichneten. Ein Zurück zum Kapitalismus, so Gorbatschow, würden die Menschen in der Sowjetunion nicht zulassen.

Das war ein klares Wort.

Allerdings ging Generalsekretär Gorbatschow – anders als öffentlich von ihm wiederholt lächelnd bekundet – unverändert von der führenden Rolle der KPdSU und der Sowjetunion im Bündnis aus.

Zur Deutschlandfrage erklärte er: »Wir haben keine Illusionen. Viele in der BRD begeistern sich nach wie vor für eine Wiedervereinigung Deutschlands.« Und mit Blick auf Honecker betonte er: »Wir streben nicht danach, die ›deutsche Karte‹ zu spielen.«

Vor wenigen Wochen erst, Mitte Juni, hatte Gorbatschow die Bundesrepublik besucht. In den westdeutschen Medien hatte es geheißen, dass der sowjetischen Staats- und Parteichef erhebliche Zugeständnisse auf Kosten der DDR gemacht habe, was Honecker für bare Münze genommen hatte. Obgleich unmittelbar danach Gorbatschow das SED-Politbüro schriftlich über seine Gespräche in Bonn informiert und die westlichen Spekulationen zurückgewiesen hatte, misstraute ihm Honecker mehr denn je. Auf dem 8. Plenum des ZK der SED am 22. Juni hatte er Gorbatschow dafür getadelt: Dieser habe sich in Bonn »nicht klassenmäßig« verhalten. Das hieß im Klartext: Gorbatschow hat unsere Sache verraten. Eine solche Aussage über einen Generalsekretär der KPdSU hatte es in der Geschichte der SED bis dato nicht gegeben. Im Politbüro war über eine solche Einschätzung zuvor nie diskutiert worden. Honecker hatte diese Aussage eigenhändig ins Manuskript geschrieben. Er wies danach jedoch an, diesen Satz nicht in das »Rote Protokoll« aufzunehmen. (Das Protokoll wurde so genannt, weil es in einem roten Umschlag an die ZK-Mitglieder ging: Es enthielt das nummerierte Protokoll des ZK-Plenums, dessen Empfang dem Kurier quittiert werden musste.)