Christomathie - Eugen-Biser-Stiftung - E-Book

Christomathie E-Book

Eugen-Biser-Stiftung

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Beschreibung

In seiner posthum veröffentlichten Christomathie verfolgt der Philosoph und Theologe Eugen Biser nichts weniger als den Anspruch, von der »christlichen Wahrheit« zur »Wahrheit Christi« - zurückzufinden. Das Spezifikum Jesu Christi sieht Biser darin, dass Jesus nicht nur eine Botschaft hat, sondern diese Botschaft in personaler Verkörperung ist. Daraus folgt, dass die Wahrheit seiner Lehre nur von seiner Person her verstanden werden kann. Die Person Jesu muss als Interpretament an alle biblischen wie theologischen Aussagen herangetragen werden. Das Evangelium und die Theologie sind daher nicht Aussagen über Jesus, sondern eigentlich dessen Selbstaussage. Durch die innere, mystische Präsenz des Auferstandenen kann jeder Glaubende in den Verstehensakt der Selbstaussage Jesu hineingenommen werden.

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Seitenzahl: 754

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Eugen Biser

Christomathie

Eine Neulektüre des Evangeliums

Mit einer Einführung vonMartin Thurner

 

 

 

 

Im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftungaus dem Nachlass herausgegebenvonRichard Heinzmann und Monika Schmid

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

WBG academic ist ein Imprint der WBG.

© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtJede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-40000-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-40001-0eBook (epub): 978-3-534-40002-7

 

 

 

 

Rede, daß ich dich sehe!

(Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce, 1762)

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

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Impressum

Inhalt

Vorwort

Einführung

Einstimmung

I.     Die Selbstaussage

II.    Die Gegenstimmen

III.   1Eine Neulektüre des Evangeliums

IV.    Die Lebenstat Jesu

Erstes KapitelIm Gegenlicht

I.     Die Perspektivendrehung

II.    Die Auffächerung

III.   Das Eigenleben

IV.   Die Vergewisserung

V.    Die Einladung

VI.   Die stille Beredsamkeit

VII.  Der Lesemeister

VIII. Die Identität

Zweites KapitelDer Einblick

I.     Das Selbstverständnis

1. Der Helfer

2. Der Befreier

3. Der Retter

II.    Der integrative Leser

Drittes KapitelDie Explikation

I.     Perspektiven der Hilfe

1. Die Verweigerung

2. Der Reduktionismus

3. Die Blicklenkung

4. Die Selbstdarstellung

5. Die Selbstbezeugung

6. Zwischen Lehrer und Lehre

II.    Perspektiven der Befreiung

1. Die Provokation

2. Die Proklamation

3. Die Distanzierung

III.   Perspektiven der Rettung

1. Der Lebensdialog

2. Der Todesdienst

3. Die Angstüberwindung

Viertes KapitelDie Frage nach der Wahrheit

I.     Das Sohnesbewußtsein

II.    Die christliche Wahrheit

III.   Die Wahrheit Christi

IV.   Der Perspektivenwechsel

V.    Der Sehende

VI.   Der Vermittler

VII.  Die Spiegelschau

VIII. Die zentrale Perspektive

IX.    Der Sehakt

Fünftes KapitelDie Revision

I. Das Evangelium der Hilfe

1. Der Hilfserweis

2. Der Durchblick

3. Das Zeugnis des Lieblingsjüngers

4. Der hilfsbedürftige Helfer

II. Das Evangelium der Freiheit

1. Der befreite Befreier

2. Die Pioniertat

3. Der Zwischenmensch

4. Paulus an die Irokesen

III. Das Evangelium der Rettung

1. Die Rückübersetzung

2. Der Rückblick Jesu

3. Der gerettete Retter

4. Die Fulguration

Sechstes KapitelDie Zeitanalyse

I.     Das Selbst- und Weltverhältnis

II.    Die enttäuschte Erwartung

III.   Das apokalyptische Zeitalter

IV.   Eine Profilbestimmung

V.    Das Zeitalter der Angst

VI.    Die Apokalypse des Todes

VII.  Die Entropie der Gefühle

VIII. Von der Christozentrik zur Christomathie

Siebtes KapitelDie Frage nach Gott

I.     Wohin ist Gott?

II.    Die Rückkehr zur Mitte

III.   Die Selbstverwirklichung

IV.   Die Brücke zur Mitwelt

V.    Der aufgehobene Zeitenabstand

VI.   Die glaubensgeschichtliche Situation

VII.  Die Einübung

VIII. Die Rückfrage

Achtes KapitelDie Prognose

I.     Der Interpretationsakt

II.    Interpret und Interpretament

III.   Die Hierarchie der Aussagen

IV.   Die Gegenposition

V.    Der Liebesbund

VI.   Die Hemmnisse

VII.  Die göttliche Fürsorge

VIII. Der therapeutische Prozeß

Neuntes KapitelDas Prinzip Liebe

I.     Der Liebeshymnus

II.    Die Überredung zur Liebe

III.   Der Einspruch

IV.   Das Plädoyer

V.    Der Exorzismus

VI.   Die Selbstauslegung

VII.  Die Verstehenshilfen

VIII. Rede, daß ich dich sehe!

Verzeichnis der Schriftstellen

Verzeichnis der Namen

Die Eugen-Biser-StiftungDialog aus christlichem Ursprung

Vorwort

Das hier vorgelegte Werk ist der zweite Teil einer von Eugen Biser (1918–2014) konzipierten Trilogie, in der die weit ausgreifende Thematik und die vielfältigen Aspekte seines umfangreichen Lebenswerkes abschließend zusammengeführt und zu einer kohärenten Synthese gebracht werden sollten. Den ersten Teil, die „Gotteskindschaft“, hat Eugen Biser 2007 noch selbst herausgegeben, die „Christomathie“ und die „Pneumatologie“ – die Gegenwart des Geistes – hat er als Vermächtnis seiner Stiftung zur Publikation anvertraut. Bei diesem Nachlaß handelt es sich um Texte, die von Eugen Biser nicht mehr redigiert wurden.

Für die „Christomathie“ war die Sachlage folgende: Das zur Verfügung stehende Typoskript – basierend auf einer handschriftlichen Vorlage des Autors – wurde von diesem nicht mehr in eine abschließende Fassung gebracht. Der gesamte Text ist nicht differenziert unterteilt und strukturiert. Vorhandene Überschriften haben vielfach nur provisorischen Charakter. Der wissenschaftliche Apparat ist noch unvollständig: Zitate und Belegstellen sind zum Teil nur angedeutet oder fehlen ganz. Grundprinzip der Edition war es gleichwohl, auf keinen Fall vom Originaltext abzuweichen. Offensichtliche Fehler in der Vorlage wurden stillschweigend korrigiert. Editorische Notizen finden sich nur in den Fußnoten und sind durch spitze Klammern kenntlich gemacht.

Von dieser editorischen Ausgangslage her läßt sich in etwa ermessen, welche Arbeit im Vorfeld geleistet werden mußte, um einen wissenschaftlich verantworteten Text als Voraussetzung für diese Publikation zu erstellen. Die Bewältigung der damit verbundenen, nicht geringen Probleme oblag Frau Lic. theol. Monika Schmid M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Eugen-Biser-Stiftung. Nicht nur die zahllosen, oft langwierigen Recherchen, die für die Erstellung und Überprüfung des wissenschaftlichen Apparates erforderlich waren, hat sie mit großer Akribie durchgeführt. Auf Grund ihrer umfassenden Kenntnis des Gesamtwerkes von Eugen Biser war es ihr darüber hinaus möglich, offene Einzelfragen zu beantworten, Querverbindungen zu anderen Werken Bisers herzustellen und dadurch Perspektiven auf dessen theologische Gesamtkonzeption zu eröffnen. Dafür gelten ihr große Anerkennung und besonderer Dank.

Die differenzierte Formatvorlage für die Abschrift wurde von Frau Angela Stüber M.A., Büroleiterin der Eugen-Biser-Stiftung, erstellt, durch Frau Bärbel Fath-Scharbert M.A. erfolgte die sorgfältige Abschrift des vorliegenden Typoskripts. Beiden sei herzlich gedankt. Für das Gegenlesen des Textes gebührt Herrn P. Dr. Johannes Baar SJ und Herrn Dr. Max Bader besonderer Dank.

Durch seine großzügige finanzielle Unterstützung hat S. K. H. Herzog Franz von Bayern erneut seine Verbundenheit mit Eugen Biser und der Eugen-Biser-Stiftung zum Ausdruck gebracht. Nicht nur dafür ist ihm die Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Auch die Heimatdözese von Eugen Biser, die Erzdiözese Freiburg i. Br., insbesondere die Erzbischof-Hermann-Stiftung, hat finanziell zur Ermöglichung der Publikation beigetragen. Auch ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Nicht unerwähnt soll die kompetente verlegerische Betreuung durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft und die gute Zusammenarbeit mit den für diese Publikation zuständigen Lektoren, Frau Fatoumata Diop M.A. und Herrn Dr. Thomas Brockmann, bleiben.

München, im Herbst 2017

Prof. em. Dr. Richard HeinzmannEhrenpräsident der Eugen-Biser-Stiftung

Einführung

Das Christentum hat unsere Welt in den letzten zweitausend Jahren auf beispiellose Weise geprägt. Als bis in die entlegensten Winkel der Erde verbreitete und auch heute noch an Mitgliederzahlen mit Abstand größte Religion hat es die kulturell-zivilisatorische Entwicklung der Menschheit nachhaltig beeinflusst. Dadurch hat es das Leben auch jener Menschen verändert, die keiner christlichen Kirche angehören und sich nicht bewusst an der christlichen Botschaft ausrichten. Während diese Tatsachen wohl unbestreitbar sind, bleibt die Frage kontrovers, wie diese Wirkung des Christentums zu beurteilen ist und ob es unter den gewandelten Bedingungen der Gegenwart noch eine Zukunft hat oder haben sollte. Die Antwort hängt ganz davon ab, was als der eigentliche Wesenskern des Christentums betrachtet wird. Wie der Name schon sagt, definiert sich das Christentum vom Bezug zu Jesus Christus her. Was aber dieser identitätsstiftende Bezug bedeutet, worin er inhaltlich besteht und welche Konsequenzen daraus folgen, daran scheiden sich die Geister. Es mag überraschen, dass offenbar noch kein Konsens darüber gefunden wurde, obwohl die herausragendsten Denker der abendländischen Geistesgeschichte sich von Anfang an darum bemühten.

Dies hat seine Ursache vielleicht darin, dass das Grundphänomen, welches mit dem Christentum in die Welt tritt, mit keiner der bisher verfügbaren Denkkategorien angemessen erfasst und zum Ausdruck gebracht werden konnte. In Jesus Christus erscheint Gott als Person, das transzendent-geistige „Wort“, das als ewige Wahrheit und schöpferische Allmacht bei Gott war, wird Mensch in der Endlichkeit der geschichtlichen Zeit. Der Gedanke, dass die absolute Wahrheit mit einer individuellen, in Raum und Zeit existierenden Person identisch ist, kann zunächst nur paradox klingen, denn Wahrheit ist doch etwas Allgemeingültiges und daher Überindividuelles, eine geschichtliche Person hingegen ist in ihrer Konkretheit einmalig und nicht auf eine abstrakte Universalität reduzierbar.

Aus dieser Spannung ergaben sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des Christentums nicht geringe Schwierigkeiten. Einerseits musste der Glaube, besonders im Zuge seiner Verbreitung über den engeren jüdischen Entstehungskontext hinaus, durch eine rationale Reflexion verstehbar gemacht werden, andererseits standen dafür mit der antik-griechischen Philosophie nur Kategorien zur Verfügung, welche Wahrheit mit abstrakter Allgemeinheit identifizierten und in deren Kontext eine Offenbarung der absoluten Wahrheit in einer konkreten geschichtlichen Person eigentlich nicht denkbar war. Dies hatte zur Folge, dass die personale Offenbarungsgestalt Jesu Christi zunächst auf abstrakte Begriffe und diese dann in ein System gebracht wurden. Das Wahrheitsverständnis wurde nicht prinzipiell verändert, aber mit neuen, eben christlichen Inhalten gefüllt, es wurde eine „christliche Wahrheit“ entfaltet. Die trinitätstheologischen und christologischen Definitionen der alt-kirchlichen Konzilien, die großen theologischen Summen des Mittelalters und die lehrbuchartigen Dogmatiken und Katechismen auch noch des neuzeitlichen Katholizismus geben ein breites Zeugnis davon. Die durch Martin Luther 1517 ausgelöste Reformation kann auch als kritischer Einspruch gegen diese Entwicklung hin zu einem auf begriffliche Systematisierung reduzierten Christentum gedeutet werden. Die Rückbesinnung auf das Zeugnis der Heiligen Schrift ist auch eine Wiedergewinnung jenes personalen Heilsbezuges, der durch Jesus Christus eröffnet wurde. Freilich stellt sich dann die Aufgabe, den so reformierten Glauben rational zu verstehen und zu verantworten, mit neuer Dringlichkeit.

Im Kontext dieser skizzierten Entwicklung zeigt sich die epochale Bedeutung von Eugen Biser (1918–2014). Mit seiner hier posthum veröffentlichten Christomathie verfolgte er nichts weniger als den Anspruch, von der „christlichen Wahrheit“ zur „Wahrheit Christi“ – zurück – zu finden und so jenem Sinn der Offenbarungswahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, der ihr ebenso unverwechselbar wie ursprünglich eigen ist. Für diese Wiederentdeckung ist eine „Neulektüre des Evangeliums“ unverzichtbar. Das Spezifikum Jesu Christi sieht Biser darin, dass er „nicht nur eine Botschaft hat, sondern diese Botschaft in personaler Verkörperung ist“. Daraus folgt, dass die Wahrheit seiner Lehre nur von seiner Person her verstanden werden kann. Die Person Jesu muss als Interpretament, als Schlüssel, an alle biblischen wie theologischen Aussagen herangetragen werden. Das Evangelium und die Theologie sind daher nicht Aussagen über Jesus, sondern eigentlich die Selbstaussage Jesu.

Freilich ergibt sich aus einer solchen Vorentscheidung ein gewichtiges hermeneutisches Problem: Wie soll der heutige Leser der Heiligen Schriften einen Zugang zum Selbstverständnis Jesu bekommen, das ihm ja eigentlich durch die Evangelien erschlossen werden sollte? Den Ausweg aus diesem hermeneutischen Zirkelschluss findet Biser in seiner Sicht des Christentums als einer nicht doktrinär-moralischen, sondern mystisch-therapeutischen Religion. Zum Spezifikum des Christentums gehört es auch, dass sein Stifter nicht nur eine prophetische Gestalt der Vergangenheit ist, sondern durch die Auferstehung in den Herzen der Seinen gegenwärtig fortlebt. Durch diese mystische Präsenz Jesu Christi kann jeder Glaubende in den Verstehensakt der Selbstaussage Jesu hineingenommen werden. Diesen grundlegenden Gedanken bindet Biser zurück an das schon in der Patristik entfaltete Bild von Jesus Christus als dem inwendigen Lehrer. Im auf Ignatius von Antiochien zurückgehenden Begriff der „Christomathie“ (vom griechischen manthanein, lernen) wird das Verhältnis zwischen Jesus und den Glaubenden am Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler verdeutlicht. Ebenso wie der Lehrer seinen Schüler, so nimmt auch Jesus den Glaubenden in seinen eigenen Verstehensprozess mit hinein. Und ebenso, wie der Lehrer einen Schüler nicht nur intellektuell informieren, sondern existenziell bilden will, so wirkt auch das Wort des inwendigen Lehrers Jesus Christus nicht nur informativ, sondern performativ, lebensgestaltend und lebensverändernd. Mehr noch: Weil das innere Wort Jesu das Leben des Auferstandenen mitteilt, überwindet es die Angst vor dem Tod und wirkt daher befreiend und heilend.

In der „Christomathie“ kulminieren zahlreiche Vorstudien Eugen Bisers zum Thema „Jesus Christus“. Mit diesem Werk führt er seine Reflexionen auf das Ursprungsprinzip jeder traditionellen Christologie zurück. Aus einer immer intimer werdenden Christusbeziehung heraus öffnet der Glaubende sich für das Wort, das sich selbst als die Liebeszusage Gottes zu verstehen gibt.

Dieser theologische Neuansatz kann nicht ohne Konsequenzen für die konkrete Gestalt der Kirche bleiben, sowohl formal-strukturell als auch inhaltlich. Das Christentum wird dadurch erneut befähigt, seinen Weltauftrag zu erfüllen, d.h. zeitgemäße Antworten auf die Probleme der Gegenwart zu geben – und damit einen Beitrag für die Zukunft der Menschheit zu leisten.

Prof. Dr. Martin Thurner

Vorsitzender des Stiftungsrates der Eugen-Biser-Stiftung

Einstimmung

I. Die Selbstaussage

Seit langem geht durch unsere Welt ein Appell an offene Ohren. Er gilt den vom Alltagslärm übertönten leisen Stimmen, die in dem für den Menschen lebenswichtigen Interesse der Orientierung und Sinnfindung nicht überhört werden dürfen. Dabei entspricht es dem Selbstzerwürfnis des Menschen, daß die dissonanten Töne als erste Gehör finden. Darauf baute Heinrich Heine, als er seine Leser angesichts des von ihm sarkastisch geschilderten Niedergangs des Gottesglaubens aufforderte:

Hört Ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte1.

Vernommen hat das vor allem Friedrich Nietzsche, der diesen „Abgesang“ zur Botschaft des „tollen Menschen“ vom „Tod Gottes“ steigerte. Doch sein Leser Martin Heidegger vernahm in dessen provokatorischem Rufen das Gegenteil:

Vielleicht hat da ein Denkender wirklich de profundis geschrieen? Und das Ohr unseres Denkens? Hört es den Schrei immer noch nicht?2

Keine Zweifel hatten daran Joseph Bernhart und die ihm geistesverwandte Simone Weil, die beide das „De profundis“ auf den Todesschrei des Gekreuzigten zurückbezogen: Bernhart, der ihn in seinem titelgleichen Werk als den „im Namen aller Kreatur“ ausgestoßenen Notschrei vernimmt, gleichzeitig aber auch als ein schöpferisches „Es werde“, mit dem die gekreuzigte Kreatur, „als wenn Gott nicht wäre, ihn erschafft mit ihrem innersten Rufe“3. Und Simone Weil, die diesen Notschrei als Ausdruck der „Zerreißung“, jedoch umgriffen vom Liebesband der „höchsten Einigung“, vernimmt, die als solche „unaufhörlich durch das ganze Weltall“ hallt4. Ähnliches hatten zwei große Bibelleser vor ihr vernommen, Johann Georg Hamann, der bei der Geschichte vom ersten Brudermord eine Stimme in der Tiefe seines Herzens „seufzen und jammern“ hörte, die ihn des Brudermords an dem gekreuzigten Gottessohn bezichtigte5. Und Søren Kierkegaard der angesichts des von Jesus ausgestandenen „inwendigen“ Leidens selbst aus den freudigsten Herrenworten den Leidenston heraushörte6. Zusammengefaßt aber waren diese disparaten Zeugnisse längst in dem von Nikolaus von Kues entwickelten Theorem von der „großen Stimme“, die gleicherweise in der Tiefe unseres Herzens ertönt, wie sie von den Propheten in die Welt hineingerufen wurde7. Sie steigerte sich über Jahrhunderte bis hin zu Johannes, dem Rufer in der Wüste, um schließlich, Mensch geworden, in der Lebensgeschichte Jesu eine Reihe von Modulationen zu durchlaufen, bis sie am Ende sterbend einen großen Schrei ausstieß und verschied. Als hätte er dieses Theorem im Ohr, mahnt Augustinus in seinem Psalmenkommentar (42,1):

Gut sollten wir diese Stimme kennenlernen, diese glücklich singende, diese schmerzvoll stöhnende, diese in Hoffnung aufjubelnde, in ihrem gegenwärtigen Zustand aber seufzende Stimme, gut sollten wir sie kennenlernen, sie innerlich vernehmen und sie uns zu eigen machen8.

Doch wie sie sich verstehend zu eigen machen, wo sie doch in ihrer Schlußgestalt als unartikulierter und deshalb übersprachlicher Schrei alle Verstehenshorizonte durchbricht? Gerade so entspricht es demjenigen, der nach dem Eingangswort des Johannesevangeliums im Unterschied zu allen andern Religionsstiftern nicht nur eine Botschaft hat, sondern diese Botschaft in personaler Verkörperung ist und deshalb alles, was von ihm berichtet und ausgemacht werden kann, um eine ganze Ordnung übersteigt. Deshalb muß er selbst an diese Berichte und Aussagen nach Art eines Interpretaments herangetragen werden, weil es erst in seinem Licht deren wahre Bedeutung zu erkennen gibt. Doch auch diese Lesart muß durch eine noch angemessenere überboten werden. Und diese könnte nur darin bestehen, daß er in den neutestamentlichen Zeugnissen von und über ihn selbst zum Reden gebracht und als Interpret in eigener Sache vernommen wird. Das ist mit der „Selbstaussage des Evangeliums“ gemeint.

Heute, in dieser Stunde der sich Zug um Zug realisierenden Utopien, gilt es, diese Möglichkeit Realität werden zu lassen, weil damit ein entscheidender Beitrag zur Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit des Christentums geleistet würde. Mit Recht wies Milan Machoveč in seinem Jesusbuch „für Atheisten“ darauf hin, daß Jesus die Welt mit seiner Botschaft deshalb „in Brand“ setzte, weil er mit dieser Botschaft identisch und insofern das überzeugendste Argument für die Wahrheit und die Verwirklichung seiner Lehre ist9. In einer Stunde des zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlustes geht es deshalb entscheidend darum, dieses „Selbstzeugnis“ aufzurufen. Da die in jahrhundertelanger Bemühung ausgearbeiteten Beweisgänge immer weniger verfangen, muß alles darangesetzt werden, das von Jesus mit und durch sich selbst erbrachte Hauptargument für Gott zur Geltung zu bringen und Jesus selbst für sich und seine Sache sprechen zu lassen.

Zweifellos spricht es nicht gegen, sondern für das Recht dieses Ansatzes, daß er zunächst nicht im Raum der Theologie, sondern der modernen Jesusliteratur, und hier von ausgesprochenen Außenseitern, vertreten worden ist. Damit wiederholt sich der Vorgang, der zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zur Neuentdeckung Jesu führte und der, erstaunlich genug, bei der durch die Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ bekannt gewordenen amerikanischen „Jesus-Bewegung“, Jesus-People, ihren Ausgang nahm10. In seinem Beitrag „Jesus im Spiegel seiner Autobiographie“ machte Georg Langenhorst darauf aufmerksam, daß zwei herausragende Autoren der Gegenwartsliteratur, José Saramago und Norman Mailer, mit Jesusbüchern hervortraten, in denen Jesus nicht mehr Gegenstand, sondern Autor und Berichterstatter seiner Lebensgeschichte ist, indem er diese durch die Leihstimme des jeweiligen Autors erzählt11. So sind diese Autoren, die sich allein auf das Recht ihrer dichterischen Intuition stützen, Pioniere dessen, was nach dem Versiegen des bisherigen Diskurses „aus der Zeit“ ist. Denn mit der Glaubwürdigkeit steht die Zukunft des Christentums auf dem Spiel.

Theologisch ausgedrückt, geht es dabei um den Versuch, die das Nachdenken über Jesus und sein Lebenswerk strukturierende Christologie in eine – von den altchristlichen Ignatiusbriefen insinuierte – Christomathie zu überführen12. Damit ist ein grundlegendes Metho-denproblem aufgeworfen. Denn die Krise des theologischen Diskurses ist nicht zuletzt die Folge der Selbsterschöpfung der bisher so gut wie ausschließlich angewandten historisch-kritischen Methode. Bei allem Wert der durch sie erhaltenen Ergebnisse ist sie aber doch, paulinisch beurteilt, die Methode des „toten Buchstabens“, die den „lebendigmachenden Geist“ des Evangeliums nicht aufzureißen vermochte und deshalb durch alternative Lesarten ergänzt werden muß. Daß dazu in erster Linie eine rezeptionstheoretische Lesart gehört, wurde bereits in aller Form von Ferdinand Hahn eingefordert13. Wenn der im Evangelium Bezeugte zu Wort kommen soll, muß die vorgenannte Lesart sodann durch eine reduktionstheoretische Lesart, welche sich auf die Mitte des Evangeliums konzentriert, fortgeführt werden. Das Ziel wäre freilich erst dann erreicht, wenn beide durch eine systematische Evokation – die Intention dieser Überlegungen – vervollständigt würden.

Das kann ein Blick auf Friedrich Nietzsches Lehre von den drei Verwandlungen verdeutlichen, zumal diese als Leseanweisung zu „Also sprach Zarathustra“, der nach Karl Löwith „antichristlichen Bergpredigt“ Nietzsches, gemeint ist: der Verwandlung des Menschen in das als Symbol des „tragsamen Geistes“ anzusehende Kamel; dessen Verwandlung in den Löwen, das Symbol des autonomen, jedoch zu ständiger Selbstbestätigung genötigten Geistes, und schließlich die Verwandlung des Löwen in das Kind, den Inbegriff des vollkommen zu sich selbst gekommenen und in sich ruhenden Geistes14.

Im Hinblick darauf können drei Schichten im Evangelium unterschieden werden: eine basale, die als Vorzugsfeld der historisch-kritischen Methode Aufschluß über die Lebensverhältnisse, Lehren, Taten und Leiden Jesu gibt; ein sich darüber wölbender Bilderfries, der in einer Folge von symbolischen Szenen die urchristliche Deutung dessen wiedergibt, und eine beide Schichten übergreifende Sphäre, in welcher der in seiner Historizität Dargestellte und bildhaft Gedeutete sich selbst zur Geltung bringt und ausspricht. So wird er in der untersten Schicht referiert, in der mittleren Schicht als Interpretament an dieses Referat herangetragen, während er zuletzt als Interpret in eigener Sache initiativ wird und seine Geschichte selbst erzählt.

II. Die Gegenstimmen

Im Zug seiner Christentumskritik stellte Nietzsche die Diagnose, daß es gleich allen anderen Kulturgestalten an seinen eigenen Hervorbringungen zugrundegehen müsse. So sei es infolge der Bibelkritik „als Dogma“ zugrundegegangen. So müsse es nun in einem „Schauspiel von hundert Akten“ auch noch „als Moral“ zugrunde gehen15. So hellsichtig diese Diagnose gerade auch angesichts der gegenwärtigen Selbstdarstellung des Christentums erscheint, gilt doch tatsächlich das Umgekehrte: daß es nur aus eigener Kraft und in entschiedenem Rückbezug auf seine Mitte, also auf dem Weg der Selbstaussage, den krisenhaften Zustand überwinden und seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen kann.

Dieser Selbstaussage fehlt jedoch der Hallraum, in dem sie vernommen, aufgenommen und umgesetzt werden könnte. Es sind vor allem epochale Gründe, die sie nicht „zu Wort kommen“ lassen. Unter diesen ist es insbesondere der sich in die Signatur der Gegenwart immer tiefer einschreibende „Reduktionismus“16. Ihm leistete Nietzsche Vorschub, sofern er darauf ausging, den „unvollständigen“ Nihilismus seiner Zeit, in den „vollkommenen“ zu überführen und den Gottesgedanken bis in seine letzten, selbst grammatikalischen Restbestände hinein aus der modernen Denkwelt zu eliminieren. Deshalb versuchte er, seine Zeitgenossen mit den Mitteln seiner vehementen Rhetorik vom zielgerichteten Geschichtsbild der jüdisch-christlichen Tradition abzubringen und mit seiner Lehre von „der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zum zyklischen Geschichtsmodell der Antike zu überreden17. Doch damit wurde für ihn nicht nur – in Anspielung auf Richard Wagners „Parsifal“ gesprochen – die Zeit zum Raum unablässiger Wiederholungen; vielmehr ging es ihm gleichzeitig auch darum, den durch die Botschaft Jesu der Menschheit eröffneten Atemraum einzuebnen.

Dieser Raum hatte seinen Zenit in dem von Jesus entdeckten, erkämpften und erlittenen Gott der vorbehalt- und bedingungslosen Liebe, zu dem er die Seinen aufblicken und in dem er sie Halt, Hoffnung und Frieden zu finden lehrte. Erst in der Retrospektive Thomas Manns wurde klar, daß Nietzsches Attacke, mit dem Schlüsselwort des „Doktor Faustus“ gesprochen, der „Zurücknahme“ der Gottesbotschaft Jesu und der Destruktion des von ihm erschlossenen Himmels galt18. Obwohl dem Urheber dieses Vorhabens nur der Hinweis auf Ludwig van Beethovens „Neunte Symphonie“ zu entlocken ist, erhellt sich doch aus dem Kontext, daß es sich letztlich gegen den „Vater überm Sternenzelt“ richtet, dem Nietzsche den Appell: „bleibt der Erde treu“19, entgegengesetzt hatte.

Doch damit brachte der Dichter des „Doktor Faustus“ nur das auf den Begriff, was sich nach Gerhard Krüger längst schon anbahnte, nachdem bei Descartes der Gott der „undurchschaubaren Übermacht“ das Gottesbild Jesu verdunkelte20; nachdem bei Kant der sich selbst verrätselnde Gott an die Stelle dessen trat, in welchem nach 1Joh 1,5 „Licht und keine Finsternis ist“, und nachdem sich der Liebesblick des nach Nikolaus von Kues „Allsehenden“21 bei Nietzsche in einen tödlich verletzenden Pfeil verwandelte22. Und hatte dem nicht auch Goethe in seinem „Faust“ vorgearbeitet, als er das nirgendwo schöner als im Neuen Testament „brennende“ Offenbarungswort, nach stufenloser Zurücknahme zu „Sinn“ und „Kraft“, schließlich mit „Tat“ übersetzte23? Visierte er mit seinem Übersetzungsversuch nicht die Abstiegskurve an, die von der reformatorischen Inthronisation des Wortes über Idealismus und Lebensphilosophie zur Absage an die Interpretation zugunsten der revolutionären Gewalt führte? Mittelbar sind damit aber auch die Schlüsselgestalten dieser Verfallsgeschichte angesprochen: Lessing mit seiner Zurücknahme der Offenbarung auf ein göttliches Erziehungsprogramm, Kant mit seiner Einschränkung der Religion auf die Grenzen bloßer Vernunft und David Friedrich Strauß mit seiner Bestreitung eines göttlichen Eingriffs in die Menschheitsgeschichte24. Denn mit dieser Absage war auch der für das Christentum konstitutive Glaube an eine göttliche Selbstoffenbarung getroffen.

Mit der Verflachung des religiösen Lebens- und Atemraums ging aber auch eine Nivellierung des Menschen einher, die mit jener in ein verhängnisvolles Wechselspiel trat. Nachdem er nach Sigmund Freuds Theorem von den drei Kränkungen durch Kopernikus seine Zentralstellung als Mikrokosmos verloren hatte, nachdem er durch Darwin dem Entwicklungsgang allen Lebens unterworfen worden war und nachdem ihm Freud selbst das Hausrecht im Haus des eigenen Bewußtseins abgesprochen hatte, verflachte der Mensch zusehends zu der von Herbert Marcuse beklagten Eindimensionalität. So aber entsprach es aufs genaueste dem Ziel des Reduktionsprozesses, das literarisch von George Orwell und Aldous Huxley denunziert worden war und in der postmodernen Beliebigkeit seinen weltanschaulichen Ausdruck fand. In welch auswegloses Dilemma der Mensch dadurch geriet, zeigt der Zwiespalt der emotionalen Reaktionen. Der von Marcuse registrierte „Sieg über das unglückliche Bewußtsein“25 durch das „glückliche“ Einverständnis mit dem Bestehenden ging, ebenso unverkennbar wie unwiderruflich, an dessen Widersacher, den schon von Nietzsche beschworenen „Geist der Schwere“, verloren, der in Form einer depressiv-resignativen Stimmungslage die öffentliche und kirchliche Lebenswelt bestimmt.

Wenn diese Stimmung die Glaubenskraft nicht auslaugen soll, muß eine Gegeninitiative ergriffen werden. Mit Korrekturen wären freilich allenfalls kurzfristige Teilerfolge zu erzielen. Wenn das Übel an seiner Wurzel ergriffen und die unerläßliche Wende zum Besseren herbeigeführt werden soll, muß dem Reduktionismus vielmehr die schon überfällige Reduktion des Christentums auf seine ureigene Mitte entgegengesetzt werden. Denn in seiner moralischen Kopflastigkeit hat sich das Christentum bereits selbst dem von Kant bestimmten Trend unterworfen, der der Religion nur noch innerhalb der Grenzen der bloßen – und das hieß für Kant der praktischen – Vernunft, und damit als Moral ein Überlebensrecht zugestand. Damit zog es sich aber auch schon die Prognose Nietzsches zu, die es gerade „als Moral“ zum Untergang verurteilt sah. Soll diese Prognose falsifiziert und sollen das Lebens- und Überlebensrecht des Christentums gesichert werden, muß dessen mystische Mitte wiederentdeckt und zum Leuchten gebracht werden. Denn das Christentum ist im Gegensatz zum Buddhismus keine asketische, sondern eine auf die Heilung des todverfallenen Menschen bedachte therapeutische Religion. Es ist im Unterschied zum Islam keine primäre, sondern eine sekundäre Schriftreligion. Und im Vergleich zum Judentum, aus dem es hervorging, ist es keine moralische, sondern eine mystische Religion. Das resultiert aus der Tatsache, daß das Christentum seinen Ursprung und seine Mitte nicht in der Lehre seines Stifters, sondern in ihm selber hat. So unterscheidet sich Jesus von allen anderen Religionsstiftern dadurch, daß er nicht nur eine Lehre hat, sondern diese Lehre in leibhaftiger Verkörperung ist und deshalb in der Geschichte gegenwärtig bleibt; und daß er im Unterschied zu jenen nicht nur Glauben fand, sondern in den an ihn Glaubenden fortlebt. Deshalb ist er selbst sein Beweis und als solcher der Zeuge, der in der Selbstaussage des Evangeliums das entscheidende Wort zu sagen hat.

III. Eine Neulektüre des Evangeliums

Nichts ist für das Christentum so lebens- und überlebenswichtig wie die Wiederbelebung des mit ihm verbundenen „Neuheitserlebnisses“26. Denn dieses ermöglichte ihm seinen Einzug in die antike Welt. Und nur von diesem Eindruck ist sein Überleben im begonnenen Jahrtausend zu erhoffen. Allzusehr erscheint es, wie man im Anschluß an ein berühmtes Hegelwort sagen könnte, im Abendschein des Allbekannten und zur Selbstverständlichkeit Gewordenen. Daß aber das Christentum seine ganze Existenz und Botschaft in dieser todverfallenen Welt dem Niedagewesenen im Ereignis der Auferstehung Jesu verdankt und daß es von daher im Morgenlicht des immer noch Bevorstehenden und in keiner seiner bisherigen Erscheinungsformen je ganz Eingeholten gesehen werden muß, ist seinen Anhängern kaum ins Bewußtsein gedrungen – bis auf die wenigen, darum aber umso rühmlicheren Ausnahmen, von denen hier nur Joachim von Fiore genannt sei. Doch eben darin besteht sein Vorsprung gegenüber anderen Heilsangeboten, die sich ausnahmslos auf Vorgegebenes stützen, auch wenn sie sich mit der – rasch verblassenden – Verheißung eines neuen Zeitalters tarnen.

Noch schlimmer als die verbreitete Meinung von der Antiquiertheit des Christentums, von dem keinerlei innovatorische Impulse zu erwarten seien, ist indessen die defizitäre Einstellung der Christen selbst. Längst hat sie der von Nietzsche beschworene „Geist der Schwere“ befallen27, der ihnen einredet, einer Religion der Gesetzlichkeit anzuhängen, in der das als Gott wohlgefällig gelte, was dem Menschen schwerfällt und wehtut. Alles komme auf eine möglichst verdienstliche Lebensführung an, durch die man sich diesseitige und jenseitige Belohnung einhandeln könne. Zusammen mit dem Eindruck, daß die Kirche aufgrund eines verbreiteten Fehlverständnisses auf Fragen antwortet, die niemand stellt, dafür aber die Antwort auf brennende Glaubensfragen schuldig bleibt, führte das zu einer resignativen Stimmung, die keine Kreativität und vor allem keinen Glauben an die Zukunftsfähigkeit des Christentums aufkommen läßt. Denn das Christentum hat zwar eine Moral; es ist aber im Unterschied zu Judentum und Islam keine genuin moralische Religion. Wenn es aber infolge des verbreiteten Fehlverständnisses in diesen Anschein gerückt wird, gerät es in eine Schieflage, die seine Akzeptanz behindert und seine Wirksamkeit gefährdet. Alles ist deshalb daran gelegen, daß seine Sache im Licht der „Morgenschau“, von der schon Augustinus gesprochen hatte, gesehen, entdeckt und zur Sprache gebracht wird. Wenn das gelingen soll, muß aber mit einer Neulektüre seiner Urkunde, also der neutestamentlichen Schriften, der Anfang gemacht werden, weil nur von dort die entscheidende Wegweisung zu erwarten ist. Aber steht dieser Erwartung nicht die Tatsache entgegen, daß diese Schriften, bis auf unbedeutende Restbestände, längst zu Ende erklärt sind?

Daß diese Annahme nicht zutrifft, erklärt sich schon daraus, daß die zu allgemeiner Herrschaft gelangte historisch-kritische Methode, so hoch ihre Ergebnisse zu veranschlagen sind, letztlich doch aufgrund ihrer Herkunft aus dem Geist der Aufklärung, paulinisch ausgedrückt, als eine Methode des „toten Buchstabens“ zu gelten hat. Deshalb sind, wie sich mit wachsender Deutlichkeit herausstellt, alternative Lesarten angesagt, und dies vor allem aufgrund der von Wolfgang Iser herausgestellten Erkenntnis, daß eine Theorie zum Verständnis und zur Wirkung literarischer Texte, wie sie gerade auch für die biblischen Schriften unerläßlich ist, ohne Einbeziehung des Lesers nicht auskommen kann28. Wer aber ist der Leser der neutestamentlichen Schriften?

Wie das Bekehrungserlebnis von Augustinus erkennen läßt, ist dies noch nicht der zunächst in Betracht zu ziehende Bibelleser. Denn Augustinus selbst wird dazu erst aufgrund der an ihn ergehenden Aufforderung: „Nimm und lies“29, die ihm die Augen für die ihn aktuell betreffende Stelle und ihre wegweisende Bedeutung öffnet. Ihm mochte im Sinn des Eingangswortes seiner „Selbstgespräche“ zunächst durchaus zweifelhaft sein, ob diese Stimme von außen und nicht vielmehr aus seinem Innern an ihn erging. Und im Sinn seines Zwiegesprächs „Der Lehrer“ wäre ihm schließlich sogar deutlich geworden, daß das Letztere zutraf, und daß er durch eine in ihm waltende Instanz zur entscheidenden Lektüre geführt wurde. Wer aber ist dann der gesuchte Leser?

Auskunft gibt eine Vorüberlegung, die den Akt des Verstehens und damit auch des – sinnvollen – Lesens betrifft. Um verstanden zu werden, muß sich ein Sprechender, also auch ein Autor, das, was er zum Ausdruck bringt und sagt, zunächst selbst „gesagt sein lassen“. Anders kann er nicht hoffen, von seinem „Ansprechpartner“ verstanden zu werden. Wenn Jesus im Sinn der Inspirationslehre selbst der Initiator – und Autor – der von ihm handelnden Schriften ist, muß dasselbe auch von ihm angenommen werden. Dann ist er auch der primordiale Leser der neutestamentlichen Texte. Der Akt des Lesens hat in diesem Fall – Augustinus meint sogar: in jedem – eine christologische Vorgeschichte. In einem letzten Sinn liest sich das Neue Testament somit immer schon selbst, so wie auch der von ihm geweckte Glaube eine Selbstverständigung des Geglaubten im Glaubenden zur Voraussetzung hat. Wer immer dieses „Buch der Bücher“ aufschlägt, um sich in seine Aussage zu vertiefen, begibt sich somit in den Bann dieser Vorgeschichte, die sich in seiner Lektüre spiegelt, um nicht zu sagen wiederholt.

Damit gewinnt die von der modernen Rezeptionsästhetik ins Spiel gebrachte Figur des „impliziten Lesers“30 über ihre genuine Bedeutung hinaus auch eine theologische Relevanz. Sie ist ohnehin vorweggenommen in der johanneischen Figur des Lieblingsjüngers, wie zuvor schon in der der Diotima in Platons „Gastmahl“ und danach in der der Mignon in Goethes „Wilhelm Meister“. Jetzt aber bezieht sie sich auf den, der ebenso der primordiale Leser der von ihm berichtenden Schriften wie deren entscheidende Lesehilfe ist. Denn von ihm fällt immer schon das mit ihm identische und deshalb zu deren Vollverständnis verhelfende Licht auf die Berichte. Das aber nötigt zu einer Revision des zur Selbstverständlichkeit gewordenen Leseverhaltens.

Bisher wurde Jesus im Licht der neutestamentlichen Texte und ihrer Aussagen über ihn gesehen, obwohl er mit dem Satz: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), auch ihre Deutung für sich in Anspruch genommen hatte. Jetzt muß eine „kopernikanische Kehre“ in dem Sinn vollzogen werden, daß die Texte in Jesu Licht gelesen und aufgefaßt werden. Das setzt allerdings voraus, daß das von ihm ausgehende Licht, bildhaft ausgedrückt, in seine Spektralfarben zerlegt, also in seiner hermeneutischen Funktion aufgeschlüsselt wird. Doch wie wird der Gewußte dann zum Wissenden und – im Rezeptions- und Interpretationsakt des Lesens – zum Sich-selbst-Begreifenden?

Der Weg zur Beantwortung dieser Frage führt über die innovatorische Erkenntnis Karl Rahners, daß die Autoren der neutestamentlichen Schriften, so sehr es ihnen um die Bedeutung und Festigung des Gottesglaubens ging, doch keinerlei Anlaß sahen, sich der Existenz Gottes durch die Entwicklung eines wie immer gearteten Gottesbeweises zu versichern31. Eine Erklärung dieses befremdlichen Tatbestandes kann nur in der bis auf sie fortwirkenden Ausstrahlung Jesu bestanden haben, die den in deren Bann stehenden Jüngern den Eindruck vermittelte, dadurch in ein direktes Einvernehmen mit Gott gezogen, ja, von diesem in ihrem Meister angesprochen zu sein. Das aber mußte in ihnen einen Bewußtseinswandel nach sich gezogen haben, aufgrund dessen für sie nicht mehr die Welt in ihren unterschiedlichen, zumal auch sozialen und lebenspraktischen Erscheinungsformen, sondern Gott das Erstgegebene und Erstgewisse war, so daß für sie keine Notwendigkeit mehr bestand, sich der Existenz Gottes argumentativ zu versichern. Dadurch trat Jesus für die Jünger aus seiner anfänglichen Gegenständlichkeit hervor, um aktiv in deren Bewußtseinsbildung einzugreifen und sie in sein eigenes Gottesverhältnis hineinzunehmen.

In den Vorgang dieser Bewußtseinsbildung gewährt der Verstehensakt Einblick, so wie sich dieser in der augustinischen Frühschrift „Der Lehrer“ darstellt. Am Ende dieser Schrift versichert Adeodatus, der frühvollendete Sohn von Augustinus, daß man durch Worte nur einen kleinen Teil von dem enthüllen könne, was ein Sprechender denkt und mitteilen möchte. Wenn es dann aber doch verstanden wird, dann aufgrund der Intervention des „in unserm Innern“ wohnenden magister interior, des inwendigen Lehrers32. Neutestamentlich gesehen ist dieser sowohl mit dem den Herzen der Seinen einwohnende Christus als auch mit dem „anderen Beistand“ identisch, der nach einem Wort des johanneischen Jesus „nicht von sich aus redet“, sondern sagen wird, „was er hört“, um es den zu ihm Gehörenden mitzuteilen (Joh 16,13).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie man sich die Bewußtseinsbildung denken kann. Als inwendiger Lehrer zieht der als Interpretament der neutestamentlichen Schriften Begriffene den Interpretationsakt an sich, um sich – im Verstehenden – mit den Aussagen über ihn zu verständigen. So wird der Interpretationsakt zum Medium der Selbstverständigung Jesu mit der Kunde von ihm. Wenn das nicht bloßes Konstrukt bleiben soll, muß es inhaltlich verdeutlicht und entfaltet werden.

IV. Die Lebenstat Jesu

Für diese Verdeutlichung und Konkretisierung bietet sich vor allem Kierkegaard als einer der sensibelsten Leser des Evangeliums an, der in seiner „Einübung im Christentum“ die Gesamtaussage des Neues Testaments auf die „Große Einladung“ Jesu an die Bedrückten und Beladenen (Mt 11,28) zurückführt, doch so, daß er sie mit den Worten vom Massenabfall (Joh 6,60-66) zusammenliest33. Da ihm die Zuordnung des Ausspruchs zu den originären Logien zweifelhaft ist, bezieht er sich auf die „schweigende und wahrhaftige Wohlredenheit“, auf die stille Beredsamkeit der Lebenstat Jesu als Quelle34. Denn mit ihr habe er nie etwas anderes als diese Einladung, durch die er sich als rettender Helfer des gebrochenen und geschlagenen Menschen erwies, zum Ausdruck gebracht. Noch bevor ihm ein Wort über die Lippen kommt, also noch vor jeder verbalen Äußerung, bekundet er durch die Sprache seiner ganzen Existenz, was sich verbal in der Einladung äußert. Damit kommt diese aber den übrigen Aussagen auch in dem Sinn zuvor, daß sie diese übergreift und in ihrem Sinn entweder verstärkt oder relativiert. Mag also im Evangelium noch so oft von Gerichts- und Drohworten die Rede sein, so bilden diese doch niemals einen Einwand gegenüber dieser allem andern vorgeordneten, sie gleicherweise übergreifenden und überstrahlenden Einladung. Sie rückt das ganze Christentum in einen menschenfreundlichen, hilfreichen und heilenden Aspekt. Denn Kierkegaards Christologie muß komplementär zu dessen „Krankheit zum Tode“ gesehen werden, die schon eingangs den Menschen als das gebrochene und mit sich selbst überworfene Wesen charakterisiert. Darauf bezieht sich die von Jesus angebotene und – nach dem Schlüsselsatz: „Der Helfer ist die Hilfe“35 – mit ihm selbst gegebene und identische Hilfe. Es ist die Hilfe dessen, der so sehr in seiner Zuwendung aufgeht, daß er geradezu als Hilfsbedürftiger, therapeutisch ausgedrückt, als „verwundeter Arzt“ erscheint. Zwar setzt er sich damit der – für Kierkegaard auch aus lebensgeschichtlichen Gründen wichtigen – Gefahr des Ärgernisses aus. Doch kann er gerade auf dem Höhepunkt des dadurch Erlittenen versichern: „Wenn ich erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen“ (Joh 12,32). Danach erreicht die Einladung erst dann ihr Ziel, wenn der Erhöhte alle in die Lebensgemeinschaft mit sich aufgenommen und sich ihnen darin ganz als Lebensinhalt übereignet hat.

Was die Konkretisierung des Interpretaments und die Auffächerung des mit ihm gegebenen Lichts anlangt, so leistet das auf der höchsten Reflexionsstufe des Neuen Testaments stehende Johannesevangelium dazu einen spezifischen Beitrag, sofern es sich als Zeugnis von Jesus dadurch überschreitet, daß es ihn in den es strukturierenden Ich-bin-Aussagen das „Brot des Lebens“ (Joh 6,35), das „Licht der Welt“ (Joh 8,12), den „guten Hirten“ (Joh 10,11) und die „Türe“ (Joh 10,9) nennt. In den beiden ersten Motivworten bestätigt es lediglich die bereits gewonnene Erkenntnis, daß Jesus so, wie er das „Licht der Welt“ ist, auch die Erhellung ist, die durch ihn auf die Zeugnisse über ihn fällt, und daß in diesem Licht in erster Linie deutlich wird, daß er die von ihm gleicherweise Erleuchteten in die Lebensgemeinschaft mit sich aufnehmen und zu deren Lebensinhalt werden will.

Mit dem Motivwort vom Hirten, der seine Schafe anführt und vor Gefahren bewahrt, ist aber zudem gesagt, daß die von Jesus bewirkte Lichtung zugleich Wegweisung und Führung als Gesetzgebung besagt, auch wenn sich diese von den restriktiven Gesetzesformen dadurch unterscheidet, daß sie bei allem, was auch sie an Forderungen erhebt, letztlich auf Immunisierung gegen das Böse ausgeht. Denn die darin waltende Liebe ist kein Prinzip der Anarchie und Beliebigkeit, sondern der Ordnung, wie es dem mit ihr gegebenen „ordo caritatis“ entspricht.

Die Herde des guten Hirten existiert aber keineswegs in einem Ghetto, in dem man sich wie in einer Festung gegen alles Andersartige und Fremde abschirmen kann. Deshalb spricht die johanneische Hirtenrede von der „Tür“, durch welche die Schafe ein- und ausgehen, um Weide zu finden. Zusammen mit dem Wort vom Vaterhaus mit den vielen Wohnungen (Joh 10,9) ist diese Tür, anders als die Tür in Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, kein Symbol der Abschreckung, die das, was sie verspricht, zugleich verweigert, sondern ein Symbol der Offenheit und Freiheit. Das gilt vor allem dem modernen Menschen: Er schreitet – nach einer Wendung Paul Valérys – „ ‚der Zukunft im Krebsgang entgegen‘, mit dem Rücken zu ihr“36. Er wird durch die Tür, die Jesus für ihn ist, in aller Form umgedreht und zukunftswillig, zumindest aber zukunftsfähig gemacht. Denn das Christentum steht auf der Basis eines zukunftsorientierten Geschichtskonzepts. Mit seiner Hinordnung auf das Kommende hat es das zyklische Geschichtskonzept der Antike, das Nietzsche mit seiner Lehre von „der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wiederherzustellen suchte37, aufgebrochen und den Blick in die Zukunft freigegeben. Damit erweist es dem zukunftsfähigen Menschen dieser Zeit den denkbar größten Dienst. Denn für ihn ist alles daran gelegen, daß er seine retrovertierte Skepsis überwinden und den Glauben an seine von der Vision und Lebensleistung Jesu eröffnete Zukunft zu gewinnen lernt.

 

 

 

     1H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35), hrsg. v. J. Ferner, Stuttgart 1997, S. 90.

     2M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (1943), in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 4/1963, S. 193–247, S. 246f.

     3J. Bernhart, De profundis, mit einem Vorw. v. E. Biser zur Neuausgabe, Weißenhorn 5/1985, S. 191.

     4S. Weil, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, aus dem Franz. übs. u. hrsg. v. F. Kemp, München 1990, S. 18.

     5 Dazu die Abschnitte „Der Klageruf“ und „Der Leidenston“ in meinem Jesusbuch: Das Antlitz. Eine Christologie von innen, Düsseldorf 1999, S. 58ff.

     6S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe, aus dem Dän. übs. u. hrsg. v. E. Hirsch u.a., Bd. 2: Einübung im Christentum. Der Augenblick, Düsseldorf u.a. 1971 [im Folgenden abgekürzt: Werkausgabe Bd. 2], S. 9–307, S. 102.

     7Nikolaus von Kues, Sermo XXVIII, pars 2, in: ders., Opera omnia, Bd. 17: Sermones II, Fasc. 1, hrsg. von R. Haubst u.a., Hamburg 1983, S. 15–16, S. 16.

     8Augustinus, Enarrationes in Psalmos, in: ders., Opera omnia, hrsg. v. J.-P. Migne, Bd. 4 (Patrologia Latina, Bd. 36), Paris 1861, Sp. 476.

     9M. Machoveč, Jesus für Atheisten (Jezus za ateiste, 1977), aus dem Tschechischen übs. v. P. Kruntorad, Stuttgart 5/1977, S. 93.

   10 Dazu die Ausführungen meines Jesusbuchs: Der Freund. Annäherung an Jesus, München 2/1989, S. 22ff.

   11 Dazu: G. Langenhorst, Jesus im Spiegel seiner Autobiographie. Schriftsteller schreiben das Evangelium aus der Perspektive Jesu neu, in: Stimmen der Zeit 2l6 (1998), S. 842–852, insbes. S. 844–850; K.-J. Kuschel, Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen, Düsseldorf 1999, S. 370–441.<Es handelt sich bei den von E. Biser genannten „Jesusbüchern“ um J. Saramagos Roman: Das Evangelium nach Jesus Christus (O evangelho segundo Jesus Cristo, 1991), aus dem Portug. übs. v. A. Klotsch, Reinbek b. Hamburg 1993, und N. Mailers fiktionale Autobiographie: Das Jesus-Evangelium (The Gospel According to the Son, 1997), aus dem Amerik. übs. v. A. Starkmann, München 1998. E. Biser nimmt Bezug auf diese literarischen Zeugnisse und „leiht“ selbst im Verlauf seiner Ausführungen seine Stimme zunächst dem Lieblingsjünger (S. 146–151 dieser Abhandlung), dann Paulus (S. 169–172) und schließlich Jesus (S. 176–182).>

   12 Ignatius von Antiochien, Die sieben Briefe, in: Die Apostolischen Väter, aus dem Griech. übs. v. F. Zeller (Bibliothek der Kirchenväter – im Folgenden abgekürzt: BKV –, 1. Reihe, Bd. 35), München 1918; ferner: K. Berger u. C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzung und Kommentar, Frankfurt a. M. u.a. 1999, S. 775–814.

   13 Näheres dazu in dem Kapitel „Zugänge“ meines Sammelbandes: Die Entdeckung des Christentums, a.a.O., S. 52–104, insbes. S. 59ff.<Wie E. Biser an dieser Stelle hervorhebt, „verwies Ferdinand Hahn bereits vor Jahrzehnten auf die Notwendigkeit, dem urchristlichen Rezeptionsprozess nachzugehen und das Methodeninstrumentarium in diesem Sinn zu ergänzen.“ Daß diese Entwicklung noch nicht zustande kam, beruht nach Biser auf „einem fundamentalistischen Verständnis der Irrtumslosigkeit der biblischen Schriften […], das sich der nur allzu offenkundigen Tatsache widersetzte, dass diese Schriften aus der Rezeption der Botschaft durch ihre Hörer, Tradenten und Autoren hervorgingen, und dass sich dabei auch Missverständnisse und Fehldeutungen einmischten“ (ebd.).<

   14K. Löwith, Nietzsches antichristliche Bergpredigt (1962), in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, S. 467–484; ders., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 4., durchges. Aufl. 1986, S. 28f.

   15F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral III, § 27, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u.a., München u.a. 1980 [im Folgenden abgekürzt: KSA], Bd. 5, S. 408–410, S. 410.

   16 Dazu der titelgleiche Abschnitt meiner Programmschrift: Glaubenserweckung, a.a.O., S. 38–43.

   17 Dazu: K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, a.a.O., S. 113–126.

   18 Näheres dazu in meiner Schrift: Einweisung ins Christentum (1997), Düsseldorf 2004, S. 170ff.

   19F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen I, Zarathustra’s Vorrede 3, in: ders., KSA 4, S. 14–16, S. 15.

   20G. Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, in: ders., Freiheit und Weltverwaltung. Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, Freiburg u.a. 1958, S. 11–69, S. 42.

   21Nikolaus von Kues, De visione Dei – Die Gottes-Schau, c. 5, n. 16, in: ders., Philosophisch-theologische Schriften, lat.-dt., hrsg. v. L. Gabriel, übs. v. D. u. W. Dupré, Bd. 3, Sonderausgabe Wien 1989, S. 112f.

   22F. Nietzsche, Nachgelassenes Fragment (Winter 1884 – 85), 31 [32], in: ders., KSA 11, S. 369; dazu ferner meine Schrift: Der schwere Weg der Gottesfrage, Düsseldorf 1982, S. 61f.

   23 Dazu mein Beitrag: Der visionäre Durchblick, in: K. Hurtz (Hg.), „Faust“ in der Seele. Zeitgenossen meditieren Goethe, Regensburg 1995, S. 19–24.

   24D. F. Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, Leipzig 1864, S. 4f.

   25 Dazu: H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (One-Dimensional Man, 1964), aus dem Amerik. übs. v. A. Schmidt, ungek. Sonderausgabe, Neuwied u.a. 1970, S. 76–102.

   26 Dazu: K. Prümm, Christentum als Neuheitserlebnis. Durchblick durch die christlich-antike Begegnung, Freiburg 1939.

   27F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Geist der Schwere, in: ders., KSA 4, S. 241–245.

   28 Dazu: W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4/1994.

   29Augustinus, Bekenntnisse VIII, 12, 29, aus dem Lat. übs. v. A. Hofmann (BKV, 1. Reihe, Bd. 18; Augustinus Bd. VII – im Folgenden abgekürzt: 1. Reihe, Bd. 18, VII), München 1914, S. 183.

   30W. Iser, Der Akt des Lesens, a.a.O., S. 50–67: Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers.

   31K. Rahner, Theos im Neuen Testament (1942), in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 1, Einsiedeln u.a. 1954, S. 91–167.

   32Augustinus, Der Lehrer – De magistro liber unus, 14,46, aus dem Lat. übs. u. hrsg. v. C. J. Perl, Paderborn 1959, S. 77.

   33 Dazu: H. Gerdes, Søren Kierkegaards ‚Einübung im Christentum‘. Einführung und Erläuterung, Darmstadt 1982, S. 15f.

   34S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe Bd. 2, S. 18.

   35 A. a. O., S. 19.

   36 Zitiert nach: K. Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971, S. 99.

   37 Dazu: ders., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 4/1986.

Erstes Kapitel

Im Gegenlicht

Eine Besinnung auf das Verhältnis Jesu zu seiner Botschaft, wie sie durch die neutestamentlichen Schriften dokumentiert wird, muß mit einem Blick auf die Methode einsetzen. Der zur Alleingeltung gelangten historisch-kritischen Methode gestand Albert Schweitzer zwar zu, daß es ihr gelungen sei, Jesus „vom Felsen der Kirchenlehre“ loszuketten und Leben und Bewegung in seine Gestalt zu bringen, dies jedoch mit der entscheidenden Einschränkung:

Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück1.

Das aber bedeutet auch: Er entwand sich ihrem Zugriff und behauptete sein Eigenrecht gegenüber jedem an ihn herangetragenen Schlüssel. Damit ist ein Stichwort gefallen, das Jesus im Streitgespräch mit seinen Gegnern selbst aufgegriffen hat, wenn er ihnen vorwirft:

Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst geht nicht hinein; ihr laßt aber auch die nicht hinein, die hineingehen wollen (Lk 11,52).

Wie er mit dem Vorwurf, die Gegner bürdeten den Menschen Lasten auf, ohne auch nur einen Finger zu rühren, um diese zu erleichtern, sich selbst als den die Last aller auf sich Nehmenden bezeichnet, so hier als den leibhaftigen Schlüssel, der nach einem Wort der Apokalypse „öffnet, so daß niemand mehr zuschließen, und der schließt, so daß niemand mehr zu öffnen vermag“ (Apk 3,7). Schlüssel in dieser Doppelfunktion ist er zunächst hinsichtlich des durch ihn heraufgeführten Reiches. Wenn er in seinem Vorwurf aber vom „Schlüssel der Erkenntnis“ spricht, gilt das nicht weniger von der Heilsbotschaft, deren Erschließung er damit für sich in Anspruch nimmt. Doch wie kann ein Schlüssel eine erschließende Funktion, Erkenntnis zu vermitteln, ausüben? Nur dadurch, daß er Licht ins Dunkel wirft, also daß er leuchtet.

In diesem Zusammenhang sind die entsprechenden Aussagen der Evangelien zu sehen, zunächst die des Matthäusevangelisten, der das Wirken Jesu in Galiläa mit den Worten kommentiert: „Das Volk, das im Finstern lebte, sah ein großes Licht“ (Mt 4,16), ein Wort, das Jesu Wirken insgesamt als das einer epochalen Erleuchtung deutet. Sodann die lukanischen Sprüche vom Licht, die in der Mahnung gipfeln: „Sieh zu, daß das Licht in dir nicht verfinstert werde“ (Lk 11,35), aber auch in der Vision eines „von Lichtglanz ganz durchstrahlten und erfüllten Menschen“ (Lk 11,36). Kaum würden diese Sprüche Eingang ins Evangelium gefunden haben, wenn sie nicht als Folgen der Begegnung mit Jesus verstanden worden wären. So gesehen stehen sie dann aber im engsten Zusammenhang mit der Ernennung der Jünger zum „Licht der Welt“ (Mt 5,14), mit der Jesus eine johanneische Selbstbezeichnung beziehungsreich vorwegnimmt. Denn in dieser reißt er, zusammen mit andern Prädikaten, auch das des „Lichtes“ in einer Weise an sich, daß er als dessen letzter Sinngrund erscheint.

Schlüssel der Erkenntnis ist er somit insofern, als durch ihn das Dasein insgesamt der ihm angestammten Finsternis entrissen und in die von ihm ausgehende Klarheit geführt wird. Damit greift er auf den Prolog zurück, in dem er ausdrücklich das jeden Menschen erleuchtende Licht (Joh 1,4) genannt wird. Als solches kommt er jeder Deutung zuvor, auch jeder Interpretation der von ihm handelnden Schriften. Das sah Schweitzer, als er von der im historisch-kritischen Sinn forschenden Wissenschaft sagte, daß sie die Gestalt Jesu zwar aus dem System der Kirchenlehre herauslösen und Leben in sie bringen, ihn aber nicht festhalten konnte, so daß er sich ihrem Zugriff entwand, um in seine eigene Welt und Zeit zurückzukehren. Was er dabei verschwieg, war die Tatsache, daß sie die Fessel der Kirchenlehre mit dem Versuch vertauschte, Jesus ihrem eigenen Methodenzwang zu unterwerfen, daß sie es bei ihrem Befreiungsversuch nur zu einem Teilerfolg brachte und es schließlich hinnehmen mußte, daß sich der Gesuchte auf sich selbst zurückzog. Darin war es begründet, daß die Bilanz der mit dem Instrumentarium der historischen Kritik erarbeiteten Jesusbücher im Unterschied zu denen, die als Spätfrucht des Konzils entstanden waren, aufs ganze gesehen negativ ausfällt.

I. Die Perspektivendrehung

Wenn darin Abhilfe geschehen soll, dann nur mit Hilfe einer Perspektivendrehung, die der Tatsache Rechnung trägt, daß Jesus auch in dem Sinn „das Licht der Welt“ (Joh 9,5; 8,12) ist, daß er als der letztlich kompetente Deuter und damit als das vollgültige Interpretament der von ihm handelnden Schriften zu gelten hat. Denn diese wurden bisher nur im Licht der Kirchenlehre und in dem der historischen Kritik und damit auf ihn hin gelesen. Doch diese Lesart stieß sich mit der fundamentalen Tatsache, daß Jesus als Inbegriff der in ihm an die Welt ergangenen Gottesoffenbarung seine Botschaft in leibhaftiger Verkörperung ist. Daraus ergibt sich als unabdingbare Konsequenz, daß fortan der Versuch unternommen werden muß, die Botschaft von Jesus in Gestalt des Evangeliums umgekehrt in seinem Licht und mit Hilfe des in ihm gegebenen Interpretaments zu lesen. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Feststellung kann das Recht der erhobenen Forderung nur mit der Entstehung des Neuen Testaments begründet werden. Wie Ferdinand Hahn in Erinnerung rief, war anfänglich das Alte Testament die „Bibel des Urchristentums“. Daß ihm eine, aus mündlichen Traditionen hervorgegangene, schriftliche Urkunde gegenübergestellt und sogar übergeordnet wurde, hatte unterschiedliche Gründe. Defensive Gründe zunächst, die im Judentum, vor allem unter dem Eindruck des versiegenden Prophetismus und der Katastrophe von Jerusalem, das Bedürfnis nach einer „klar abgegrenzten Lehrgrundlage“ aufkommen ließen, das zusätzlich durch die Skepsis gegenüber angeblichen „Neuoffenbarungen“ stimuliert wurde. Ungleich schwerer fiel jedoch der „prospektive“ Grund ins Gewicht, der sich aus dem Glauben an das „neue Gotteshandeln in Jesus Christus“ und aus der Gewißheit ergab, daß damit eine neue Heilszeit, biblisch ausgedrückt, „die Zeit der Erquickung“ und des Aufatmens (Apg 3,20), angebrochen war2.

Daß sich daraus der Anreiz zur schriftlichen Dokumentation ergab, war jedoch durch ganz anderes veranlaßt. Darauf verwies Martin Luther mit der Feststellung, daß es die „Not“ ihrer Situation war, die die Autoren des Neuen Testaments zu dem nach Luther als „Gebrechen des Geistes“ empfundenen Medium der Schriftlichkeit greifen ließ. Es war sowohl die Not, die mit dem Tod der „anfänglichen Augenzeugen“ (Lk 1,2) eingetreten war und die Gefahr des Vergessens oder der Verfälschung ihres Zeugnisses heraufbeschwor, als auch die Not des sich rapide vergrößernden Aktionsradius, der nur durch schriftliche Kommunikation zu überbrücken war.

Der zweite und entscheidende Anlaß bestand jedoch in jenem „Anfang“ (Joh 1,1; 1Joh 1,1), den es zu bezeugen galt und der auf weltweite Promulgation drängte: das für das Christentum konstitutive, form- und inhaltbestimmende Ereignis der Auferstehung Jesu, mit dem das in dieser todverfallenen Welt Niedagewesene und sie in ihrer Grundstruktur Ergreifende geschehen war. Wenn Paulus von dem „Zwang“ spricht, der ihn zur Verkündigung der Evangelien nötige (1Kor 9,16), so geht dieser eindeutig von seinem Ostererlebnis aus, durch das er sich nach Phil 3,12 von Christus ergriffen und in Pflicht genommen wußte.

Tatsächlich hätte für die durch den Kreuzestod Jesu völlig verstörte Jüngergemeinde nicht der geringste Anlaß bestanden, sich auf die Botschaft dieses scheinbar kläglich gescheiterten und zudem nach Gal 3,13 von Gott Verworfenen zurückzubesinnen, seiner Lebensgeschichte nachzugehen, seine Worte zu sammeln und all dies schließlich sogar schriftlich zu dokumentieren, wenn nicht das Unausdenkliche seiner Auferstehung eingetreten wäre. Sie bedingte deshalb die Entstehung, dann aber auch den ganzen Inhalt der neutestamentlichen Schrift, so daß sie, wie dies James M. Robinson von der Spruchquelle behauptet, selbst als das literarische „Osterwunder“ zu gelten habe3.

Wenn aber Jesus zumal durch das Endereignis seines Lebens so sehr der zentrale Entstehungsgrund der neutestamentlichen Schriften ist, gewinnt er im Verhältnis zu ihnen so sehr das Übergewicht, daß er geradezu zu ihrem Sinngrund wird, während die ihn dokumentierenden Schriften nur noch als sein Epiphänomen erscheinen. Das kann und darf bei ihrer Lektüre nicht unberücksichtigt bleiben. Insofern ist es nicht nur angezeigt, sondern geradezu gefordert, diese Schriften in seinem Licht zu lesen und sich ihm als ihrem entscheidenden Interpretament anzuvertrauen. Alles spricht somit für das Recht, ja für die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Perspektivendrehung.

II. Die Auffächerung

Wenn die Perspektivendrehung zu neuen Einblicken führen soll, muß das Licht jedoch in seine Spektralfarben zerlegt werden, so daß die Texte in unterschiedlichen Beleuchtungen lesbar werden. Diesem Interesse kommt das Johannesevangelium, das auch darin als die höchste Reflexionsstufe des Neuen Testaments erscheint, dadurch entgegen, daß es der Aussage: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), andere gleichrangige gegenüberstellt, von denen für die Erschließungsfrage vor allem „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35), „Ich bin der gute (rechte) Hirt“ (Joh 10,11) und „Ich bin die Tür“ (Joh 10,9) in Erwägung zu ziehen sind. Doch worin besteht das hermeneutische Erträgnis des Lichtmotivs?

Wenn man das „Licht der Welt“ auf den kardinalen Satz: „Gott ist Licht, und Finsternis ist nicht in ihm“ (1Joh 1,5), und damit auf die große Gottesentdeckung Jesu zurückbezieht, ergibt sich die Antwort fast von selbst. Dann wirkt dies Licht verstärkend auf gleichsinnige, auslöschend jedoch auf gegensinnige Aussagen ein. Logien, die der Entdeckung Jesu entsprechen, leuchten dann in einem vordem kaum geahnten Glanz und Sinngehalt auf, während andere, wie insbesondere die vielfältigen Gerichts- und Drohworte ihren Schrecken verlieren und im Sinn von ernsten Warnungen lesbar werden. Da sich die Einsicht in die zentrale Lebensleistung Jesu kaum angebahnt, geschweige denn allgemein durchgesetzt hat, ist mit paradigmatischen Zeugnissen kaum zu rechnen. Allenfalls kann die Tatsache dafür in Anspruch genommen werden, daß die von den Kirchen jahrhundertelang praktizierte Pädagogik der Einschüchterung, die ihre Ziele durch die Suggestion von Gewissens-, Sünden-, Teufelsängsten zu erreichen suchte, zunehmend an Einfluß verliert und damit diese Ziele verfehlt. Gleiches gilt dann aber auch von den Drohworten des Evangeliums, auf die sich diese Einschüchterungsversuche vornehmlich bezogen, und die nun im selben Maß ihren bewußtseinsprägenden Einfluß einbüßen.

Als positives Paradigma hat dagegen Kierkegaard zu gelten, der aus lebensgeschichtlichen Gründen dazu gelangte, die „Große Einladung“ Jesu an die Bedrückten und Beladenen (Mt 11,28) als die zentrale Botschaft des Evangeliums zu begreifen, selbst für den Fall, daß der historische Jesus dieses Wort niemals gesprochen hätte4. Für ihn wird aufgrund des zentralen Stellenwerts, der diesem Wort zukommt, dann das ganze Evangelium als eine einzige Einladung lesbar, da Jesus nicht nur wie andere Wohltäter der Menschheit den durch ihre Lebenslast Bedrückten Hilfe anbietet, sondern die von ihm gewährte Hilfe ist. Das aber hat sein einzigartiges Gottesverhältnis zur Voraussetzung, wie es sich in dem Jubelruf bekundet:

Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will (Mt 11,27).

Auch dieser Spruch kann im Licht des gefundenen Interpretaments als Schlüsselwort zum ganzen Evangelium gewertet werden, das dann als Aufforderung erscheint, mit Jesus und dem, was er von Gott zu sagen hatte, in einen unaufhörlichen Dialog einzutreten, weil das, was er aus seiner Mitwisserschaft mit dem Vater mitzuteilen hat, niemals ausgeschöpft und zuende erklärt werden kann.

Was das auf die Bibel fallende Licht bewirkt, wird überdies durch die Szene der Apostelgeschichte von der Bekehrung des äthiopischen Kämmerers (Apg 8,26-40) verdeutlicht. Als er die Botschaft von Jesus Christus hört, werden die sich ihm vorher bei der Lektüre des jesajanischen Lieds vom Gottesknecht aufdrängenden Zweifel mit einem Schlag gegenstandslos. Denn im Licht dieser Botschaft wird ihm klar, daß kein anderer als Jesus mit dem leidenden Gottesknecht gemeint sein konnte. Ihm widerfährt somit das, was Paulus mit dem Bildwort von der weggenommenen Hülle (2Kor 3,13f) meint. Sobald sie durch das befreiende Wirken des Geistes fällt, werden die alttestamentlichen Worte auf neue Weise, nämlich auf Christus hin, verstehbar. Sollte das aber nicht auch für die in dieser Bedeutung zunächst nicht ersichtlichen „sperrigen“ Stellen der neutestamentlichen Texte gelten? Wenn Paulus seine Aufgabe darin erblickt, alles Widerstrebende niederzubrechen und der Herrschaft Christi zu unterwerfen (2Kor 10,5), kann das durchaus auch auf scheinbar oder wirklich Unvereinbares und Widersprechendes im Feld neutestamentlicher Aussagen bezogen werden. Denn das von Jesus ausgehende Licht ist nicht nur Helle, sondern auch Energie, die zum kämpferischen Umgang mit dem ihm entgegenstehenden Dunkel befähigt.

Was das Licht für die Augen ist, ist das Brot für das Leben. Verbleibt Jesus im Aspekt des Lichts in einer deutlichen Distanz zum Leser, so gibt er diese im Brotwort auf, da seine Zusage: „Ich bin das Brot des Lebens“, erst dann verstanden ist, wenn man das darin gemachte Anerbieten begreift, zum Lebensinhalt des Rezipienten zu werden. Das ist so neu, so überwältigend und so durchgreifend, daß sich von da aus wiederum ein Gesamtkonzept ergibt. Wie das Neue Testament für Kierkegaard zu einer einzigen Einladung an seine Leser wurde, so jetzt zu der nicht weniger umfassenden Bekundung seines Angebots, in ihm und seiner lebendigen Mitte den erfüllenden Lebensinhalt zu finden. Im Wechsel von Einladung und Anerbieten aber bestehen die Atemzüge dieser einzigartigen Schrift, die jetzt, mit diesem neuen Aspekt, erst wirklich fühlbar werden.

Demgegenüber betont der mit dem Hirtenmotiv eröffnete Aspekt, daß das Neue Testament im selben Sinn, wie es Einladung und Anerbieten ist, auch als Wegweisung und Gesetz zu gelten hat. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich Jesus von einem Gesetzgeber grundlegend dadurch, daß er als Hirte den von ihm gewiesenen Weg nicht nur zeigt, sondern auch geht. Was das besagt, wird deutlich, sobald man seine Art, den Menschen vom Bösen abzuhalten, mit der durchschnittlichen Praxis vergleicht, die dieses Ziel mit Hilfe von Geboten, Direktiven und Verboten anstrebt und oft genug das Gegenteil erreicht. Er hält vom Bösen dadurch ab, daß er sich dem Menschen als das leibhaftige Prinzip Liebe einstiftet und ihn dadurch unfähig macht, Böses auch nur zu beabsichtigen, geschweige denn, es dem Mitmenschen anzutun. Es war Paulus, der in dem durch eine politische Einschaltung verunklärten dreizehnten Kapitel des Römerbriefs diesen Königsweg der Immunisierung nachzeichnete und mit dem Satz besiegelte:

Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu, sie ist die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,10).

Er selbst ist somit, wie schon der „Hirte des Hermas“ betonte, das von ihm erlassene Gesetz5; und er ist es überdies in einer Weise, daß er zu dessen Erfüllung verhilft, sofern ihm dafür nur Raum gegeben wird. Das ist mit dem Bildgedanken gemeint, wonach er im Unterschied zu allen andern Gesetzgebern den von ihm gewiesenen Weg mitgeht.

Gegenüber diesem weg- und richtungweisenden Aspekt bezeichnete der mit dem Bildwort von der „Türe“ angesprochene die eröffnende und erschließende Perspektive, denn:

Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn waltet, da ist Freiheit (2Kor 3,17).

Dieses Wort weist insofern auf den ersten Aspekt zurück, als damit zunächst, wie sich bereits zeigte, die „enthüllende Wirkung“ des „erleuchtenden Schlüssels“ angesprochen ist. Denn der Ausspruch bezieht sich unmittelbar auf die vom Gottesgeist weggenommene „Hülle“, die zuvor über den auf Jesus voraus- und hinweisenden Bibelstellen – und nicht nur den alttestamentlichen – lag6. Doch reicht seine Bedeutung, vor dem Hintergrund der dem Apostel gestellten Aufgabe gesehen, ungleich weiter. Denn er sah sich vor eine aufreibende Doppelaufgabe gestellt, bei deren Lösung alles darauf ankam, die Botschaft Jesu unverkürzt an die Welt weiterzugeben. Einerseits galt es für ihn, sich unmißverständlich von dem gesetzeshörigen Judenchristentum abzugrenzen, andererseits aber nicht weniger, die Botschaft in die Welt der Spätantike hineinzutragen, die er nach 2Kor 10,4f von Bollwerken verbaut und von Sinngespinsten verschleiert sah. Das betraf sowohl den ängstigenden Fatalismus, der an die Stelle des verfallenden Gottesglaubens getreten war, als auch die pseudoreligiösen Kulte und Mysterien, in denen die alten Idole weiterlebten. In genialer Intuition entledigte sich Paulus dieser Aufgabe mit dem Programmwort „Freiheit“, mit dem er das jesuanische Schlüsselwort „Reich Gottes“ in eine zeit- und situationsgerechte Sprache umsetzte, mit dem er sich aber gleichzeitig auch vom Judenchristentum distanzierte und der in Fatalismus und Aberglauben verstrickten Umwelt das rettende Stichwort zurief.

Dies geschah keineswegs nur für seine eigene Zeit. Auch die Gegenwart erweist sich, auf ihre Grundbefindlichkeit hin befragt, als ein „Zeitalter der Angst“7, und sie ist nicht weniger durch eine Anfälligkeit für Esoterik und Sektierertum gekennzeichnet. Noch gravierender aber erscheint, zumal im Blick auf die Folgen, die Diagnose Paul Valérys, wonach der heutige Mensch mit dem Rücken zur Zukunft lebt8, also in einem bedenklichen Sinn zukunftsunfähig ist.