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Die Grundlagen für das Denken, Reden und Handeln von Christoph Blumhardt, dem Jüngeren, werden in diesem Lesebuch mit ausführlichen Zitaten aus seinen Ansprachen und Predigten dargestellt. Der volle Wortlaut der Predigten ist in einem zweiten Teil des Buches dokumentiert und soll als »Kostprobe« dienen für die Beschäftigung mit den wiederaufgelegten und neuaufgelegten Dokumenten aus den Anfängen der »Blumhardt-Bewegung«.
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Seitenzahl: 471
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Hörte er,
dass Freunde dies oder jenes unrichtig wiedererzählt hatten, konnte er sagen:
»Sie verschmieret mir mei Sach!«1
»Es ist gar nicht so wichtig,
ob unsereiner etwas so oder so gesagt hat,
wichtig ist allein, was Gott durch ihn getan hat.
Merket’s euch,
ihr Nachschreiberinnen dort unten,
die ihr jedes Wort von mir aufschreibt!«2
1 Zellweger, S. 79.
2 Daran erinnerte sich Ruth Weber, die Ehefrau von Rolf Weber, dem Enkel Blumhardts. Sie hatte es in einer Predigtmitschrift gelesen.
Das Bekenntnis der Hoffnung
ist der Kirche vollständig aus den Fingern gekommen.
Wer es bekennt,
wird leicht schwärmerisch;
deswegen ist es besser, man lässt es schlupfen.
Was habe ich in meinem Leben
schon an Bekenntnissen der Hoffnung gehört?
Diese haben uns die Hoffnung verderbt.
Das Bekenntnis der Hoffnung ist verderbt worden durch das
Bekenntnis der schwärmerischen Leute,
die alles in die Welt hinein sagen.
Also, es nützt nichts, wenn man’s nicht hat.
Und wer es hat, der muss still werden.
Es gibt Dinge, die kann man der Welt nicht sagen,
oder man weckt schwärmerische Geister,
die reißen es einem vom Munde weg
und machen Torheiten daraus.3
3 Text Nr. 4, Z. 6 – 17.
Vorbemerkungen
Die Heilige Schrift und das Bekenntnis des Glaubens
Gott – unser Vater Jesus Christus – unser Erlöser und Heiland Die Menschen – Gottes Kinder
Gott – der Heilige Geist
3.1 die Sicht Johann Christoph Blumhardts, des Vaters
3.2 die Sicht Christoph Blumhardts, des Sohnes
Die Vergebung der Sünden Rechtfertigung und Heiligung
Seelsorge als Wahrnehmung
5.1 Die Begegnung von Maria Stückelberger mit Christoph Blumhardt
5.2 Der Briefwechsel Von Maria Stückelberger mit Christoph Blumhardt
Seelsorge an Einzelnen – die Seelsorge an den Vielen
Leben im Glauben – die Heiligung
Leben im Glauben – Die Heilige Taufe und das Heiliges Abendmahl
Leben im Glauben – Christliches Handeln
Die Botschaft von der Versöhnung und ihre Botschafter
Der Auftrag an die Nachfolgenden – der »Missionsbefehl«
Theologie der Hoffnung
Theologie des Reiches Gottes – ein möglicher Zugang von
Manfred Josuttis
eröffnet
14.1 Theologie des Reiches Gottes »
Es komme dein Reich!
« Die Auseinandersetzung
Karl Barths
Mit der Botschaft der beiden Blumhardts
14.2 »Exkurs ohne Überschrift« von
Karl Barth
Text 1 Morgenandacht 28. Mai 1898
Text 2 26. Dezember 1898
Text 3 15. März 1899
Text 4 10. April 1899
Text 5 23. Mai 1899
Text 6 10. Juni 1899
Text 7 29. November 1908
Text 8 3. Januar 1909
Text 9 6. Januar 1909
Text 10 20. Juni 1909
Text 11 19. September 1909
Text 12 23. Januar 1910
Text 13 8. Mai 1910
Text 14 17. Dezember 1911
Text 15 28. Januar 1912
Text 16 23. Februar 1913
Text 17 26. September 1913
Text 18 3. Oktober 1913
Text 19 5. Oktober 1913
Text 20 13. November 1914
Text 21 Das »Pünkle« in Predigten
Brief 1 an Eugen Jäckh 4. Dezember 1911
Brief 2 von M. Stückelberger an Christoph Blumhardt
Brief 3 an Maria Stückelberger
Abkürzungen der biblischen Bücher
Literaturverzeichnis
Hinweise auf Neuerscheinungen
Ausgehend von einer sprachanalytischen Untersuchung der Seelsorge Christoph Blumhardts in seinen Briefen4 habe ich mich mit dessen Einfluss auf zwei wesentliche Strömungen der evangelischen Theologie im vergangenen Jahrhundert beschäftigt. Sowohl die religiös-sozialen Frauen und Männer um Leonhard Ragaz5, wie auch Karl Barth6 und Eduard Thurneysen7 als die Begründer der dialektischen Theologie empfingen von Blumhardt wesentliche Impulse. Er gab ihnen grundlegende Gedanken und oftmals auch Sprache und prägnante Formulierungen, um die neuen Ansätze zum Ausdruck zu bringen.8 In einem weiteren Schritt wandte ich mich der Frage zu, wie er zu dem Mann geworden ist, der einen so großen Wirkungskreis aufbauen konnte.9 Daran anschließend und darauf aufbauend, will ich versuchen, mit einigen Erläuterungen die Grundlagen seines Denkens, Redens und Handelns aufzuzeigen. Von einer »Systematik« seiner Theologie verbiete ich mir zu sprechen, weil er selbst eine Abneigung gegen eine solche lehrmäßige Analyse seines Denkens hatte.
Das heißt mit Christus sterben. Und dann sind wir auf einer neuen Basis angekommen, sehet, dann erleben wir. Wie einfach macht es uns der Heiland, seine Zeichen zu verstehen mit dem Gleichnis vom Feigenbaum; so einfach kommt das Reich Gottes. Wie merkwürdig nimmt sich dagegen das verschraubte Studieren der Leute aus. Ich habe dicke Bücher über die Zukunft Jesu Christi, – ich wollte einmal darin studieren, man hats mir gesagt von allen Seiten – ach! da werde ich so müde dran! ich verstehe die Hälfte gar nicht, ich bin viel zu dumm dazu. Da machen sie ellenlange Rechnungen und haben ganz eigentümliche Vorstellungen, man muss sich schon vergewaltigen, bis man diese Geschichten alle nachempfindet und sich auch vorstellen kann, so dass ich allemal denke: Ach Gott, wenn das deine Zukunft ist, dann kann ich nicht mit!10
Blumhardt erläutert den Satz aus dem Timotheusbrief: »Weil du von Kind auf die Heilige Schrift weißt, kann dich dieselbe unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Jesus Christus.«11:
Das ist ein bisschen »lutherisch« übersetzt. Der Sinn ist ungefähr der: »Du weißt, von wem du gelernt hast. Und weil du von Kind auf die heilige Wissenschaft hast, kannst du klug sein zum Heil, durch den Glauben an Christus Jesus.« Es gehört nämlich ein heiliges Wissen dazu, es gehört Erfahrung und aus Erfahrung ein heiliges Wissen her, – nicht bloß Glauben. Mit dem Glauben kann man arg dumm werden. Und die meisten Leute liefern fast den Beweis, dass man mit dem Glauben dumm wird. Wir [Christen] sind deswegen auch in Misskredit gekommen bei der Wissenschaft – man nennt uns »Finsterlinge« und macht der Kirche sogar den Vorwurf, sie wolle das Volk dumm halten, damit es hübsch fein ordentlich in der Kirche bleibe. Das ist natürlich keine angenehme Sache. Mir ist es deswegen bitter sauer geworden, Theologie zu studieren mit der Aussicht, Pfarrer zu werden. Es ist auch wirklich keine Kleinigkeit. Bis so ein Pfarrer in der Gesellschaft aufgenommen wird, dauert’s wochenlang – zuerst verhält sich jeder Mensch ablehnend. Ich lasse es mir drum bei meinen Leuten ein großes Anliegen sein, dass sie gescheit werden, dass sie erfahren, was wir wissen. Wir sind stolzer als die Wissenschaft. Unser Wissen muss größer sein als alles andere. Darum müssen auch wir uns in allem finden lassen, damit wir zu dieser heiligen Wissenschaft kommen, so dass der alte dumme Satz: »Die Theologie ist die Königin der Wissenschaft« zur Geltung kommt.12
Zum Studium der evangelischen Theologie an der Universität in Tübingen ist Christoph Blumhardt nicht durch eigenen Entschluss gekommen. Der Plan des Vaters steht hinter den biographischen »Weichenstellungen« seiner Kinder. Blumhardt Vater will besonders seine Söhne Christoph und Theophil als Nachfolger und Vertreter »seiner Sache« ausbilden lassen. Der Weg über das Theologie-Studium und die Berufung zum württembergischen Pfarrer erscheint ihm dafür geeignet. Die Briefe des jungen Blumhardt aus jener Zeit geben eindeutig Zeugnis vom Widerstreben und der Abneigung gegen dieses Studienfach mit dem zwangsläufigen Abschluss einer kirchlichen Prüfung und der Anstellung als württembergischer Pfarrer.10 Das »System Kurhaus Bad Boll«, bestehend aus den prägenden und bestimmenden Personen Johann Christoph Blumhardt13 und Gottliebin Brodersen, geborene Dittus14, sowie die Atmosphäre der Einrichtung erweisen sich als starke Mächte mit offensichtlichen und unterschwelligen Instrumenten, den Widerstand zu überwinden und Christoph Blumhardt schließlich in das System zu integrieren. Nach einer Zeit der Anpassung und demütigen Unterordnung, die bis an den Rand der Aufopferung, Selbstverleugnung und des körperlichen und seelischen Zusammenbruchs geht, emanzipiert sich Christoph Blumhardt und entwickelt eine eigenständige Position als Hausvater, Freund und Berater vieler Frauen und Männer, die bei ihm Trost, Hilfe und Rat suchen. Die Entwicklung vollzieht sich in Jahren und Jahrzehnten mit zum Teil radikalen Brüchen und Richtungsänderungen15.
Christoph Blumhardt wartet nicht auf eine neue Lehre. »Wir haben Lehren genug.16 Und so schreibt er kein »wissenschaftliches« Buch. Von ihm liegen »nur« mitgeschriebene und später gedruckte Predigten17 und gesammelte Briefe18 aus vier Jahrzehnten seines Wirkens vor. Daher ist man bei der Darlegung der Grundlagen seines Denkens, Redens und Handelns auf diese Primärquellen und auf Sekundäruntersuchungen aus der Blumhardt-Bewegung angewiesen.
»O heilige Einfalt!«19, möchte wohl manch einer oder manch eine bei der Lektüre der Blumhardt-Worte ausrufen. Von allem Anfang an waren die beiden Blumhardt mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Botschaft sei zu wenig wissenschaftlich und zu einfältig. Dem setze Blumhardt entgegen:
Das dürfen wir aber mit Loben und Danken bekennen: Es ist etwas Einfältiges bei uns geschaffen worden, schon in Möttlingen in jenen Tagen, in denen ich geboren wurde. Wer hereinzusehen Gelegenheit gefunden hat, der weiß es: die Kraft zum Siegen war Einfalt. Es war eine Gabe und zuletzt ein persönliches Eigentum unseres seligen Vaters, das überall hervorleuchtete: einfältig zu sein, oder – wie eine gewisse Vornehmheit der Welt es ausdrückt – ›e bißle dumm und ungeschickt‹ zu sein im Vergleich mit anderen. Aber diese Einfalt, die hat immer gesiegt und ist immer unter dem Schutz Gottes geblieben, auch in Zeiten, da man geglaubt hat, es gehe rückwärts. Die Einfalt hat es gewonnen, – die Einfalt gewinnt es bis auf den heutigen Tag.20
Ja, auch dem Vorwurf der Lächerlichkeit begegneten die kindlich Glaubenden in der Blumhardt-Bewegung:
Warum wird denn der liebe Gott immer geschmäht? Und warum müssen die, die Gottes sind, immer ein bisschen lächerliche Leute sein auf der Welt? Je göttlicher, je geringschätziger wird man behandelt! Warum denn aber auch das? Sonderbar! In der Philosophie macht man Gott zum Allerhöchsten, – sei aber ein wenig göttlich, dann wird es für das Dümmste gehalten. In der Bibel bewundert man alle Gottesmänner; wenn du aber einer bist, dann bist du ein Esel.21
Wer ist jetzt tauglich? Da kann man in eine menschliche Gesellschaft kommen – es ist nicht ein Kind dabei. Ja, ich sage euch, ich habe früher schon in Kirchen gepredigt, wo Tausende gesessen sind, und habe gedacht: Ist jetzt auch ein einziges Kind da drin? Ich habe manchmal das gedacht, weil ich so ein bisschen einfältig gepredigt habe. Ich bin eigentlich ein einfältiger Mensch und habe so einfältig geredet; ich habe geglaubt, die Menschen wollen in der Kirche nichts Hohes und Weises hören. Dann ist nach mir einer gekommen, der hat gepredigt so hoch und weise, namentlich einmal ein einer großen Stadt, und dann haben die Leute gesagt: »Der Blumhardt versteht es nicht, aber das war eine gebildete Rede«; und so sind sie alle mit Wissenschaft vollgepfropft wieder fort.22
Aber Blumhardt unterscheidet die »heilige Einfalt« von »sträflicher Dummheit«:
Bleibe ein Kind Gottes bei allem, was dir begegnet! Dann hörst du oft eine Stimme: »Geh dorthin! Tu dies, tu das! Bete dies und bete jenes!« Und siehe da, die Tür geht auf den Kindern, den einfältigen Kindern, die folgen. – Nur darf man nicht gar zu einfältig sein. Man kann auch töricht und dumm werden. Und Dummheit ist auch eine Sünde.23
Innerhalb eines so großen Zeitraumes von vier Jahrzehnten eines Menschenlebens entwickeln und verändern sich selbstverständlich die Persönlichkeit und die Anschauungen eines Predigers Hausvaters und Seelsorgers. Diese Veränderungen, Weiterentwicklungen und Akzentverschiebungen müssen berücksichtigt werden.24 Ebenso haben auch die verschiedenen Hörerinnen und Hörer seiner Ansprachen, die Empfängerinnen und Empfänger seiner Briefe Einfluss auf seine Worte und Formulierungen. Das Zeitgeschehen, politische Ereignisse in der kleinen und der großen Welt wirken auf die Äußerungen Blumhardts. Wörtliche Rede, Aufzeichnungen von gesprochenem Wort, authentische persönliche Briefe und allgemeine Antwortschreiben sind mit größter Vorsicht im Blick auf eine generalisierende Gesamtschau zu behandeln. Schon in den ersten Jahren nach Blumhardts Tod kam der Verdacht auf, dass bei der Wiedergabe seiner Gedanken »Scheren« im Kopf der Tradierenden die Auswahl seiner Worte maßgeblich bestimmt hätten.25 Leonhard Ragaz erklärt bei seiner Beschäftigung mit Blumhardt-Büchern, die von Eugen Jäckh, dem ersten Biographen und Herausgeber von Ansprachen und Predigten Blumhardts, in Druck gegeben wurden, dass ihm diese »Tendenz« besonders aufgefallen sei an zwei wesentlichen Punkten: »in der Stellung zur Kirche und zum Krieg«. »Gewiss hat Blumhardt darüber all das gesagt und geschrieben, was Jäckh zitiert – aber er hat auch Anderes gesagt, was Jäckh nicht zitiert, und zwar durchaus Entgegengesetztes. Das weiß ich genau. Und zwar bis in die letzten Tage hinein! Man müsste um den ganzen Blumhardt zu bekommen, beides zitieren. Dann könnte man ja versuchen, die einheitliche Wurzel dieser scheinbar sich widersprechenden Haltung aufzuzeigen – was freilich nicht jedermanns Sache wäre! – aber es käme auf alle Fälle ein ganz anderes, und zwar nach meiner Ansicht unvergleichlich gewaltiges Bild Blumhardts heraus.«26 Ragaz belegt dann seine Behauptung mit Beispielen des »wirklichen« Blumhardtstiles aus dem zweiten Band der von Robert Lejeune herausgegeben Sammlung.27
4 Mohr: Seelsorge.
5 Ragaz, Leonhard (1868 – 1915), Pfarrer u. Professor, Herausgeber der NEUEN WEGE (1906 – 1945).
6 Barth, Karl (1886 – 1968) Pfarrer u. Professor: Verf. Der Kirchlichen Dogmatik.
7 Thurneysen, Eduard (1888 – 1974) Pfarrer u. Professor.
8 Mohr: Studientexte.
9 Mohr: Macht.
10 Predigten 2, S.325, Z.30 - 326, Z. 8.
11 2 Ti 3, 15.
12 Text Nr. 5, Z. 6 – 29. Mohr: Macht, Studium und Vikariat, S. 40ff; besonders: Vikariat und aufkommende Zweifel an der Eignung, S. 56 ff.
13 Blumhardt, Johann Christoph (1805 – 1880).
14 Dittus, Gottliebin verh. Brodersen (1815 – 1872).
15 Siehe dazu: Hübner, Jörg: Christoph Blumhardt, Prediger, Politiker, Pazifist – eine Biographie, Leipzig 2019.
16 Text Nr. 10, Z. 146 – 149.
17 Predigten 1 – 7.
18 Briefe 1 – 5.
19 »Ich habe immer eine Verehrung empfunden, nicht für wortreiche Weitschweifigkeit, sondern für heilige Einfalt!« Hieronymus rühmt die schlichte Sprache der Jünger im Neuen Testament. Epistolae 57, 12.
20 Lejeune: L1, S. 250. »Der 31. Juli ist ein Gedächtnistag für uns. 1838 ist an diesem Tage unser seliger Vater in Möttlingen eingezogen, als dürftiges Männlein, schmächtig, klein und unansehnlich, – ›das Blumhärdtle ist jetzt da‹, hat Dr. Barth gesagt. (1852, am selbigen Tag, war dann der Abschied in Möttlingen und der Einzug hier). Jetzt sind’s siebenundvierzig Jahre sei 1838, und noch sind wir nicht fertig, – vielleicht gilt’s erst noch das Schwerste durchzumachen. Der Herr aber hat viel getan, hat große Dinge uns sehen und erleben lassen, – so fürchten wir uns auch nicht auf die Zukunft, denn er bleibt im Regimente.« Lejeune: L1, S. 194
21 Lejeune: L1, S. 173
22 Lejeune: L3, S. 433.
23 Harder: H3, S. 123.
24 »Einmal wird also der jüngere Blumhardt an seinem verzerrten Bild seines Vaters gemessen, das andere Mal fällt umgekehrt der ältere Blumhardt einer verzeichneten Darstellung seines Sohnes zum Opfer. Verstehen wir dagegen Chr. Blumhardt als ›Ausleger‹ der Verkündigung seines Vaters, in seiner eigenen, neuen Zeit, dann ist grundsätzlich ein Werturteil weder gefordert noch möglich, denn es handelt sich bei beiden um das gleiche Thema (die Gottesherrschaft), das beide nur verschieden auslegen – grundsätzlich- theologisch – der Vater, prophetisch-aktuell der Sohn.« Sauter, Gerhard: Die Theologie des Reiches Gottes, S. 89.
25 Leonhard Ragaz sprach von der »pietistischen Schere« und von »Tendenzen«.
26 Ragaz, Leonhard: Blumhardt und wir, Neue Wege 1929, Heft 1, S. 8.
27 Predigten 2.
1866 wird Christoph Blumhardt nach seinem Theologiestudium an der Universität in Tübingen zum Pfarrdienst in der Württembergischen evangelischen Landeskirche berufen und durch »Handtreue an Eidesstatt« verpflichtet, »sich an die Heilige Schrift zu halten und sich keine Abweichungen von dem evangelischen Lehrbegriffe, so wie derselbe vorzüglich in der Augsburgischen Confession enthalten ist, zu erlauben«28 Damit ist die Voraussetzung gegeben, wie sein Vater im System »Kurhaus Bad Boll« von der Kirchenleitung zum Pfarrer dieser Sondergemeinde berufen zu werden. Seine Berührung mit sozialdemokratischem Gedankengut und öffentlichen Solidaritätsbekundungen führen dreißig Jahre später zu einem Bruch. 1899 entspricht er dem Wunsch der württembergischen Kirchenleitung und verzichtet auf die Rechte eines württembergischen Pfarrers.29 Das bedeutet gleichzeitig auch die Befreiung von der Amtsverpflichtung und den Verzicht auf den Titel eines Pfarrers der Landeskirche. Von seinem Selbstverständnis her und in der Sicht seiner Hörerinnen und Hörer ist Christoph Blumhardt aber weiterhin »der Pfarrer« im System »Kurhaus Bad Boll«, auch wenn er diesen Titel nicht mehr für sich beanspruchen kann. Ungebrochen wird die Tradition fortgeführt, ihn so anzureden.
Bei seinen Ansprachen und Predigten bezieht sich Christoph Blumhardt weiterhin auf die Aussagen der Bibel. Er legt Bibelworte und Abschnitte der Heiligen Schrift, die Losungen und Lehrtexte der Herrnhuter Brüdergemeine aus. In großer Freiheit interpretiert er aber die Bibel als ein durch und durch menschliches Buch.
Warum lesen wir denn die Bibel so gerne? Weil es Menschen sind! Was ist der Joseph für ein natürlicher Mensch! Abraham und David – was sind das für natürliche Menschen! Wenn sie dann auch Fehler machen – das macht nicht so viel, es sind ja Menschen! Darum kann jedermann die Bibel lesen, weil jedermann sich angesprochen fühlt und denken kann: es geht mich gerade so gut an wie den Abraham.30
Blumhardt wehrt sich gegen den Vorwurf, er sage etwas anderes, als was in der Bibel steht. Seiner Schriftauslegung fügt er seine Erfahrungen hinzu. So wird die Botschaft der Apostel erweitert31:
Es sieht fast so aus, als wenn ich etwas anderes sagen würde, als was in der Bibel steht. Allein, ich sage das Gleiche, nur natürlich haben wir unsere Erfahrungen hinzuzufügen zu denen, die die Apostel gemacht haben. Wir sehen: Gott ist sachte. Er sucht und sucht, bis er etwas hat, wo es [das Bekenntnis der Hoffnung] sich entwickeln kann. Mein Vatter hatte das Bekenntnis der Hoffnung in einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes. Er dachte sich, der Heilige Geist werde herniederfahren und alles zusammenschlagen, natürlich in der Liebe Gottes, dass es anders wird. Er hat sich getäuscht. Und doch hat er sich nicht getäuscht. Recht hat er doch gehabt bis ins Mark hinein. Wenn mein Vater nicht diese Kanone losgeschossen hätte, es wäre nicht so geworden, wie es heute ist. Heute ist seine Hoffnung insoweit erfüllt, als es anfangen kann, dass da, wo die Menschen sind, die sich Gott erwählt hat, der Geist Jesu Christi neu die Herzen bewegt. Sonst kann Jesus nicht kommen.32
Der »evangelische Lehrbegriff«, wie er zusammengefasst im Augsburger Bekenntnis33 verbindlich von Generation zu Generation weitergegeben wird, hat für Blumhardt nicht mehr den verpflichtenden und bindenden Charakter. Seinem Freund Emil Wilhelm Frommel34 bescheinigt er, dass dieser ein »glänzender Stern« gewesen sei, »sehr kirchlich, aber doch innerhalb derselben kolossal frei.« Und diese Freiheit nimmt er auch für sich in Anspruch:
Mir wär’s eben lieber, wenn man überhaupt mehr vom Reich Gottes als von der Kirche reden würde, von der Weisheit, die wir haben, von der heiligen Wissenschaft des Reiches Gottes, als vom Glauben. Denn wir haben einen solchen Glauben, dass schließlich unsere Intelligenz davonspringen muss. Ich würde mir’s doch nicht einfallen lassen, bloß das zu glauben, was ein paar Kirchenväter so aufgestellt haben. Ich will nicht bloß glauben, ich will wissen.35
Das trägt ihm letztlich auch den gravierenden Vorwurf Friedrich von Bodelschwinghs36 ein, dem man Aussagen Blumhardts zugetragen hat wie diese:
Und da mag in der Bibel stehen, was will, – da bin ich größer als die Bibel, aber schließlich muss ich wissen, was aus Gott wahr ist, nicht was ein Mann einmal vor 2000 Jahren so und so ausgedrückt hat.37
Christoph Blumhardt sieht sich hier auch in der Tradition mit seinem Vater, dem ebenfalls der »Religionshass«, wie er selbst zwischen Lutheranern und Reformierten unter den Gästen von Bad Boll geherrscht habe, zuwider gewesen ist. Er erinnert sich:
So war die Zeit, und ich bin noch in meiner Jugend Leuten begegnet, die sind ganz rasend geworden, wenn mein Vater und ich gesagt haben: »Diese Unterschiede gehören nicht zum Evangelium!« Die Zeit war voll von religiösem Hader. Wer wagt es heute noch, in jener Zeit zu leben? In den Winkeln können sie noch herumkriechen, die religiösen Hasser, Verflucher und Verdammer. In den Winkeln kann man noch die Bücher finden der Bekenntnisse, in denen es heißt: »wir verdammen«. Aber das mag man heute nicht mehr.38
Dem alten Bekenntnis übergeordnet ist für Blumhardt, dass die Menschen einander als Menschen in Liebe begegnen sollen. Für ihn sind alle Menschen ein Volk unter dem Angesicht eines Gottes, der aller Menschen Leben in Liebe umfasst.
Für Blumhardt besteht die Wirkung des göttlichen Wortes, wie es in der Bibel bezeugt wird, darin, dass das menschliche Wort in eine Wolke von göttlicher Kraft eingehüllt ist, wenn es unser Herz trifft.39 Er spricht davon, dass das Schriftwort zum himmlischen Wort wird, das Wunder tut an unserem Herzen, Wunder an unserem Gefühl, an unserem Denken, an allem, was wir sind.40 Hier findet er sein Unterscheidungsmerkmal für den rechten Gebrauch einer Dogmatik.
Wenn dieses göttlich Wunderbare nicht auch unsere Dogmatik umgibt, was ist sie dann? Aber mir ist es schon so gegangen mit dogmatischen Worten, die sehr angefochten werden, dass mir vieles wie von einer göttlichen Wolke umgeben in den Sinn kam, und was man heute abschaffen will, ist mir wie von einem göttlichen Duft umgeben erschienen. Da steigt mit einem Mal so ein Lutherwort aus dem Katechismus oder ein Wort aus dem alten Glaubensbekenntnis auf: das gewaltige »Geboren aus der Jungfrau Maria«, – für die Welt eine merkwürdige Torheit, und für uns umgeben von einer göttlichen Klarheit, dass wir aufjauchzen möchten und sagen: »Wie wunderbar ist doch Gott, der auch einfältige Worte der Menschen, einmal aus dem Glauben gesprochen, immer wieder erneuern kann, ihnen immer wieder eine Macht geben kann! Das Äußere verschwindet, es berührt einen eine Kraft.«41
An dieser Stelle bekennt Blumhardt, dass er in dieser Kraft leben und diese Kraft nicht aufgeben will. Er hält sich für verpflichtet, »in der Treue an allem festzuhalten, was aus redlichen, gläubigen Herzen in irgendeiner Weise einmal herausgeschrien ist in die Welt. Das Glauben der Armut, des Elends, dieses einfache Glauben an Gott, das halten wir fest in der Treue.«
28 Siehe dazu Mohr: Macht, S. 55.
29 Siehe dazu Mohr: Macht, S. 187 ff.
30 Text Nr. 1, Z. 118 – 124.
31 Text Nr. 4, Z. 12 – 15.
32 A.a.O., Z. 19 – 27.
33 Siehe in Auswahl EG, Nr. 835 ff
34 Emil Wilhelm Frommel (1828 – 1896) war ein deutscher Theologe und Volksschriftsteller, Dichter, Hofprediger, Militäroberpfarrer und Erzieher der kaiserlichen Prinzen in Plön.
35 Text Nr. 5, Z. 191 – 197.
36 Friedrich Christian Carl von Bodelschwingh (1831 – 1910) war evangelischer Pastor und Theologe in Deutschland. Er arbeitete in der Inneren Mission. Siehe dazu: Angriffe von außen in: Mohr: Macht, S.159ff.
37 Text Nr. 3, Z. 112 – 116.
38 Text Nr. 8, Z. 151 – 159. Die Herausgeber des Evangelischen Gesangbuchs (EG) erklären zwar: »Theologische Lehrgespräche in neuerer Zeit haben zu der Einsicht geführt, dass die Lehrverurteilungen der Reformationszeit in wichtigen Punkten die Lehre der genannten Kirchen und Glaubensgemeinschaften heute nicht mehr treffen; nach wie vor trennende Lehrdifferenzen werden zudem heute nicht mehr als ›Verdammungen‹ ausgesprochen.« EG 835, S. 1495). Dennoch findet sich weiterhin die Formulierung: »Deshalb werden alle verdammt, die anders lehren.« (a.a.O. S. 1497)
39 Siehe dazu, was Rudolf Bohren von der Theonomen Reziprozität gesagt hat: Texte 4, Mohr: Macht; S. 440.
40 Text Nr.15, Z. 112 – 116.
41 Text Nr.15, Z. 138 – 151. Manfred Josuttis hat darauf hingewiesen, dass der homiletische Akt mehr ist als eine Verständigungsbemühung. Er erklärt: »Das Evangelium ist eine dynamische Größe Gottes, die Glauben schafft… …die ungeschaffenen Energien Gottes müssen das Sprachgeschehen erfüllen.« Josuttis: Leben, S. 104 ff.
Gott hat sich den Menschen als ihr himmlischer Vater zu erkennen gegeben. Für Blumhardt ist dies Voraussetzung von Erfahrungen mit Gott und seinem Sohn Jesus Christus, dass alle, »die wirklich mit dem Heiland verbunden sind, die er in die Höhe gehoben hat, dass sie etwas empfinden durften von dem Kindesbewusstsein: ›Ich habe einen Vater im Himmel!‹«42
In sprachlicher und inhaltlicher Verknüpfung aktualisiert er für seine Hörerinnen und Hörer so auch seinen Glauben an Jesus Christus43:
Jesus Christus immer, auch wenn er zu schlafen scheint, der Mächtige, Starke, Lebendige vor unseren Augen! So lasst uns hineingehen in unsere Zeit, in unser Leben, alles ergreifen, was uns angeht! So lasst uns hineinschauen in die ganze Weltgeschichte! Jesus Christus, mit ihm der allmächtige Gott, der Wunderbares tut, damit das erreicht werden kann, was Gott will: das allen Menschen geholfen werde durch sein wunderbares Tun auch in den natürlichen, irdischen Dingen.44
In seiner Predigt vom 5. Oktober 191345 nimmt Blumhardt Fragestellungen auf, die seit einem Jahrhundert von der historischkritischen Jesus-Forschung (früher: Leben-Jesu-Forschung) gestellt wurden: »Wer ist denn Jesus? Woher stammt er? Wie hat er gelebt?
Was sollen wir von ihm denken? Für was sollen wir ihn halten?«46 Blumhardt bezeichnet diese Fragen als »hölzern«.
Nur wenige seien es, die »mehr denken«. Doch ihre Antworten hätten sie nicht von den Universitäten und von den dort lehrenden Professoren.
Ja, auf den Universitäten können wir es nicht holen und auf den Schulbänken auch nicht. Da redet man uns von Jesus liebe und nette Sachen. Und wir freuen uns auch, dass wir so viele nette Geschichten von ihm wissen. Und doch brennt das Feuer: »Er ist Christus!« noch nicht in den Herzen. Er ist Christus! Unter »Christus« war etwas Höheres verstanden, als was die Propheten waren. Unter »Christus« war etwas Neues verstanden, das zwar verheißen war, aber noch nie in Erscheinung gekommen war. »Christus!«. Und was kann Christus anders sein als Gottes Sohn.47
Für Christoph Blumhardt ist dies auch eine Erkenntnis, die dem historischen Jesus selbst erst überraschend aufgegangen sei: »diese Offenbarung Gottes in einem Menschen zu seinen [Jesu] Gunsten«. Blumhardt verbindet das Offenbarungswort Gottes mit dem Bekenntnis des Petrus. Und diese Verknüpfung wird dann zur Offenbarung für Jesus:
Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Du bist der Herr, du bist der Sieger, du bist der Letzte, wie du der Erste gewesen bist. Auf dich hin haben wir gelebt. Von der Zukunft des Messias haben wir gesprochen. Daran haben wir geglaubt. Darum haben wir gebetet und gerungen. Wir haben am Reich Gottes festgehalten in der Hoffnung, dass du kommst. Und nun bist du da.48
Die Gottessohnschaft Jesu findet bei Blumhardt die Begründung:
Voller Gott und göttlicher Erhabenheit steht Jesus vor uns. Aber das ist es nicht allein, was ihn zum Heiland macht. Es ist eine selige Hoffnung, die uns jederzeit beleben kann, weil wir in ihn, den wahrhaftigen Gottessohn, alle Kräfte gelegt sehen, die uns helfen können, auch in der wunderbarsten Weise, dass wir unser Leben aus dem Schlamm herausbringen und uns wachsen sehen in die Größe eines ewigen Menschentums.49
Diese Tatsache sei der Grund, dass Menschen bis auf den heutigen Tag an den Heiland glauben können. »Meint ihr, das könne nur so durch menschliche Erinnerung erreicht werden zweitausend Jahre lang, oder bloß, weil es in der Bibel steht? Meint ihr?«50 Wenn die Offenbarung Gottes und das Bekenntnis von Jesus Christus als dem Gottessohn einen Menschen treffe und er die darin liegende Wahrheit erkenne, dann geschehe ein Wunder an seinem Herzen, an seinem Gefühl, an seinem Denken, ein Wunder an allem, was er ist.
Ja, meine Lieben, das erhält, wenn ich so sagen soll, unser Christentum, – keine äußere Einrichtung, keine menschlichen Worte und noch so schöne Glaubensätze. Wenn dieses göttlich Wunderbare nicht auch unsere Dogmatik umgibt, was ist sie dann?51
42 Text Nr.15, Z. 94 – 98.
43 Ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn… EG 834, S. 1487.
44 Text Nr.15, Z.302 – 309.
45 Text Nr. 19.
46 A.a.O., Z. 38 – 41. Ernest Renan (1823–1892). In seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« bezeichnete Albert Schweitzer 1896 das Buch als »ein Ereignis in der Weltliteratur« und kritisierte gleichzeitig dessen Stil als für einen Historiker kaum verzeihliche »romanhafte Phrasen«.
47 Text Nr. 19, Z. 41 – 50.
48 A.a.O., Z. 64 – 70.
49 Text Nr.11, Z. 37 – 44.
50 Text Nr. 15, Z. 119 – 122.
51 A.a.O., Z. 135 – 138.
Seinen Glauben an Gott den Heiligen Geist erklärt Blumhardt in einer Pfingstpredigt so:
Morgen feiern wir Pfingsten, das ist das Fest der Taten Gottes, der Werke des Vaters. Der Heiland beruft sich auch auf die Werke Gottes: »Glaubt ihr mir nicht, so glaubt doch den Werken des Vaters.« Der Heilige Geist hat für uns keine Bedeutung, außer in den Werken Gottes. Es muss etwas geschehen. Es muss die Möglichkeit sein, dass Gott als Schöpfer unter uns ist, dass wir schöpferische Werke Gottes sehen dürfen.52
Für die Theologie von Blumhardt Vater und Blumhardt Sohn hat Gott der Heilige Geist die »Schlüsselfunktion«. Hier jedoch geraten beide in einen Widerspruch zur kirchlichen Lehre. Sie unterscheiden die Zeit der jungen Kirche, die Apostelzeit, von der Jetztzeit ihrer Gegenwart. In der Apostelzeit wirkte Gottes Geist durch und mit den Aposteln, in ihrer Gegenwart vermissen sie Gottes heiligen Geist und können ihn nicht selbstverständlich als gegeben voraussetzen. Das bringt sie in Gegensatz zur Lehrmeinung der verfassten Kirche.
Johann Christoph Blumhardt wollte die Apostel beerben, er wollte wie sie wieder den Heiligen Geist in sich spüren und in dessen Vollmacht wirken. Hier bedarf es für die Erklärung eines Rückblicks auf die Anfänge der Blumhardt-Bewegung.
1873 sagt Johann Christoph Blumhardt in einer Morgenandacht:
Weil wir da so ungesucht an diese Sachen hingekommen sind, lasset mich doch einiges Weitere reden. Ich bin es fest überzeugt, dass eine Gnadenzeit mit völliger Ausgießung des Heiligen Geistes, wie sie vormals stattfand53, wieder eintreten werde, wie und wann es nun unser Heiland, der Herr, der Gemeinde geben werde. Fragt man mich nach einem Schriftgrund, so meine ich, was Joel voraussagte54, habe nach dem Zeugnis des Petrus mit dem Pfingstfest angefangen; und weil Joel von allem Fleisch rede, über das der Heilige Geist kommen werde, so müsse das eben noch nachkommen, und es könne nicht eine Verheißung schon mit einem kleinen Anfang erfüllt sein. Die völligere Erfüllung aber, schließe ich weiter, muss noch vor der Zukunft Gottes geschehen; denn sonst hätte ja auch der Anfang zur Zeit der Apostel nicht geschehen können. Auch verheißt’s Joel ausdrücklich auf die Zeit, »vor dem großen und schrecklichen Tag des Herrn.« Dass dieser aber schon mit dem nächsten Kommen des Herrn in Seiner Majestät, wenn auch noch manches bis zum letzten Gerichtstag, wie das tausendjährige Reich, dazwischen fällt, erscheine, kann niemand leugnen, der die sonstigen Aussprüche des Herrn über Seine Zukunft erwägt. Muss doch eben der Heilige Geist auf den großen Tag des Herrn die Menschen zubereiten. In keiner Zeit aber wird Er nötiger sein als eben in der Zeit der letzten Kämpfe, wie Joel selbst andeutet.
Warum wollen wir uns sträuben, diese klare Sache uns an’s Herz kommen zu lassen? Freilich man glaubt eben auch an die erste Ausgießung des Heiligen Geistes nicht recht, und nimmt sie mehr nur als einen Anflug hoher Begeisterung, gehobener Stimmung, wie man’s auch bei uns öfters sehen kann, nicht als eine wirkliche Gabe vom Himmel. Darum ist man so schnell bei er Hand, solche gehobenen Stimmungen wie bei den sogenannten Erweckungen eine Ausgießung des Geistes zu nennen, wie wenn’s das auch bei der Lydia schon gewesen wäre, als ihr der Herr das Herz öffnete, Acht zu haben auf das, was von Paulus geredet wurde (Apg 16,14). Damit beweist man aber geradezu, dass man an gar keine Ausgießung des Geistes glaube.
Wenn man aber sonst die Wiederkehr des Heiligen Geistes eine erneuerte, gleichsam zweite Ausgießung zu nennen pflegt, so stoßen sich viele an dem Worte Erneuerung, und meinen, für eine zweite Ausgießung sollte man bestimmtere Stellen haben. Aber es ist ja mehr nur eine Fortsetzung der ersten Ausgießung; und im Grunde war’s schon im Anfang immer wieder eine Erneuerung, so oft der Geist mitgeteilt wurde. So war’s eine Erneuerung in Samaria (Apg 8,15), dann bei Cornelius (Apg 10,44), dann bei den Zwölfen, die zunächst nur von der Johannistaufe gewusst hatten (Apg 19,6), überhaupt bei jeder einzelnen Person, die unter der Taufe den Heiligen Geist erhielt. Indessen wars stets nur eine Fortsetzung des Angefangenen; und wenn jetzt die Gabe fast 2000 Jahre geruht hat, so ist’s doch nur eine Fortsetzung, wenn sie wieder kommt, also stets die eine Joel’sche Verheißung, und das eine Pfingsten von Anfang her.
Freilich haben mit dergleichen Hoffnungen schon viele argen Missbrauch getrieben; und da ich kürzlich etwas von der Geschichte der sogenannten Propheten im Reformationszeitalter gelesen habe, welche entsetzliche Gräuel getrieben haben und stets dabei von der Ausgießung des Geistes redeten, so wollte mir’s, in Erinnerung auch des vielen Verkehrten in unsrer Zeit fast grauen, von einem Glaubenspunkt ferner viel zu reden, der schon so gräuliche Verheerung angerichtet hat. Aber um der Lügenpropheten willen kann ich die Wahrheit nicht aufgeben; und um ihrer willen tritt auch der Herr mit Seinen Gaben nicht zurück. Hüten wir uns nur vor verkehrten Ausschreitungen, und hoffen wir in Einfalt und Geduld, bis der Herr Seine Sachen macht nach Seinem Wohlgefallen. Er aber wird’s recht hinausführen; und den Sieg wird er behalten.55
Dieter Ising listet die für das Wirken von Johann Christoph Blumhardt grundlegenden Ereignisse auf und nennt nach Krankheit und Heilung der Gottliebin Dittus die Erweckung des ganzen Dorfes, die Heilungen seelischer und körperlicher Gebrechen, das Ausstrahlen der Erweckung und das Werden der großen Hoffnungen.56 Diese Erfahrungen werden von Blumhardt Vater interpretiert und in sein persönliches »theologisches System« eingeordnet, dem er den Namen »meine Sache« gibt. Als Pfarrer der evangelischen Landeskirche in Württemberg hat auch er den üblichen Ausbildungsgang durchlaufen und ist auf die Bekenntnisse der Reformation verpflichtet worden.57
In den Folgejahren verfestigt sich sein Verstehensmodell und der Interpretationsrahmen. Es kommt zu Kollisionen mit dem ihn umgebenden lokalen System der Pfarrerschaft im nördlichen Schwarzwald, mit dem Zentrum »Dekanat Calw« und dem übergeordneten System der Landeskirche58. Vater Blumhardt berichtet bei Pfarrertreffen von seinen Erlebnissen und stößt auf für ihn unerklärlichen Widerstand59. Aus der Fülle der Briefe, die Vater Blumhardt an Christian Gottlob Barth60 schreibt, wird der vom April 1844 zitiert, weil er die wesentlichen Konfliktpunkte bereits in nuce enthält. Blumhardts Interpretationsmuster ordnet die Möttlinger Erfahrungen in seinen festen Glauben an den fürsorgenden Gott ein. Er bekennt dem Freund: »…ich ruhe nicht; nur warte ich, wie mich der Herr täglich vorwärts führt…«. Vorwurfsvoll schreibt er nach Calw:
Was ist denn störend an meiner Sache? Ach! wenn doch die besten Freunde und Brüder so zurückhaltend sind! Du weißt es, wie sehr es über mich hereingeht und wie vieles mir noch bei der Bewegung bevorstehen dürfte; und ich darf mich nur auch gar nichts von deiner Seite erfreuen. Da ist ewiges Misstrauen und immer neues Misstrauen, und wenn ich alles überlege, so kann ich mir immer nichts Andres sagen, als ich sei ganz evangelisch und schriftgemäß und müsste ein Wehe über mich ausrufen, wenn ich irgendetwas anders machte… …Endlich hast du dir einflüstern lassen, als habe oder wolle ich Offenbarungen haben, und daraus sei meine Praxis entstanden und meine Seelsorge wie auch meine dogmatische Ansicht über die Testamentsworte Jesu etc.61
Vater Blumhardt müht sich mit der Abfassung seines Berichts über die Möttlinger Ereignisse an die Kirchenleitung in Stuttgart. Sein sogenannter »Consist[orial] Aufsatz« macht ihm große Unruhe, doch er fühlt, dass er reden muss und dem Herrn wohlgefälliger reden werde, wenn er eher zu viel als zu wenig sagt.62 Es geht ihm nicht um einen »Konfessionsstreit« oder um »dogmatische Zänkerei«. In seinen Augen und nach seinem Verständnis ist seine Position »ganz biblisch« und »kirchlich«. Er spricht von den »Kleinodien des Evangeliums«. In einem weiteren Brief an Barth versucht er eine theologische Rechtfertigung dafür, dass er zurecht bei den Pfarrern der Landeskirche eine Berufung vermisst, die mit der apostolischen Beauftragung und Befähigung durch Jesus Christus zu vergleichen wäre.63
Er wirbt beim Freund um Verständnis und beklagt die mangelnde Akzeptanz.64 Darüber hinaus muss er sich gegen üble Verleumdungen und Verfälschungen »seiner Sache« wehren.65 Schließlich eskaliert 1851 der Konflikt an einer Veröffentlichung des Calwer Verlagsvereins. Blumhardt erkennt eine für ihn schwerwiegende Diskrepanz zwischen der veröffentlichten
Grundsatzerklärung im Wortlaut der Vorrede zum »Handbuch der Bibelerklärung«66 und »seiner Sache«. Er präzisiert seine Anfragen:
1) Mit welchem Recht wird so dezidiert angenommen, dass die Geistbegabung der Apostel eine
außerordentliche
gewesen sei, d.h. eine solche, die
nur
bei den Aposteln der ersten Zeit stattfinden sollte, während doch die Gründe alle, die nach der Vernunft Seite XI angegeben werden, teils vollkommen, teils nach wichtigen Beziehungen für eine
Fortdauer der Geistbegabung
ebenso sprechen könnten?
2) Mit welchem Recht wird so dezidiert behauptet, dass die Stelle Jh 14,12
67
nur auf die Apostel
sich beziehe und
unter den größeren Werken die
Wunder ausschließe
?
3) Mit welchem Recht schließt man aus dem Vorhandensein des Absprungs
68
zwischen der apostolischen und nachapostolischen Zeit, dass derselbe sein musste und also Gottes Wohlgefallen war und nicht vielmehr Strafe, da er doch ganz unerwartet kam?
4) Mit welchem Recht wird so bestimmt behauptet, dass die Absolutionskraft (Vollmacht nenne ich’s nicht)
nur
den Aposteln verliehen war? Und mit welchem Recht kann man sagen, die Kirche tue recht daran, wenn sie’s anders mache, als der Herr es wollte?
69
Johann Christoph Blumhardt scheidet aus dem Redaktionskreis der Männer um Christian Gottlieb Barth aus. Er will von seinem Glauben nicht abrücken und zeigt an, dass er bei künftigen Calwer
Missionsfesten keinen Jahresbericht mehr vortragen werde.70 Er könne mit seiner Unterschrift sich nicht mit den gedruckten Erklärungen des Bibeltextes identifizieren. Er wird das den Mitgliedern des Ausschusses auch mitteilen. Die Bibelerklärung formuliert ausdrücklich Kritik an seinen theologischen Überzeugungen. Er vergleicht sich mit Martin Luther, der auch keine »Privatansichten« veröffentlichte und damit die Reformation auslöste. Die von ihm verlangte Selbstverleugnung käme ihm einer »Verleugnung Christi« gleich. Selbstbewusst stellt er Barth die Frage: »Sollte dir’s nicht schon klar geworden sein, dass der Herr mit mir ist?«71 Blumhardt spürt den Angriff auf seine Grundüberzeugung und erläutert drei Tage später noch einmal ausführlich die drei vorhergehenden Briefe72 Er fragt den Freund und die Mitglieder des Herausgeberkreises: »Warum lässt man die Bibel nicht mehr so reden wie früher?« Seine Verzweiflung ist dem Geschriebenen abzuspüren:
Wenn bei mir der Lebensnerv dran hängt, so musst du dran denken, dass meine Ansichten nicht sowohl theoretischer als praktischer Natur sind. Wenn’s weiter nichts wäre, als dass ich dächte, so und so wird’s noch gehen, so könnte ich allerdings getrost zuwarten und denken, der Herr wird’s schon machen. Da ich aber zugleich die Überzeugung habe, dass von Seiten der Gläubigen darauf hingearbeitet werden muss und deren Gebet und Glaube darauf hin durchaus notwendig ist, wenn das Verheißene kommen soll, so muss mir meine Privatansicht wichtig sein und darf ich sie nicht unter den Scheffel legen.73
Brüsk erklärt er den Calwer Freunden, er könne doch nicht sie und ihre Ansichten zu seiner Bibel machen. Befremdlich ist für ihn, dass keiner sich auf eine theologische, exegetische Diskussion mit ihm einlasse. Die verweigerte Auseinandersetzung fließt in andere Briefwechsel ein. Vater Blumhardt hofft, hier mehr Gehör zu finden:
Indessen ist meine Überzeugung, dass es allgemeiner wieder werden muss und dass man überhaupt um die Erneuerung der ursprünglichen Kräfte in deren ganzem Umfang bitten darf. Bei mir wird vor der Hand eigentlich nur der Beweis geliefert, dass man diese Bitte tun darf. Aber ehe gleichsam der Himmel sich wieder auftut, wird’s nicht; und es ist eine falsche Meinung, als ob man wieder glauben dürfte, um sogleich alles wieder zu haben, was die apostolische Zeit hatte. Nein, diese Kräfte sind in Wahrheit zurückgenommen worden und können nur langsam wieder erlangt werden. Der Unglaube und Abfall der Christen seit mehr als einem Jahrtausend hatte eine Ungnade von Seiten des Herrn zur Folge wie auch einen Überschwang der satanischen Kräfte.74
Entgegen seiner Weigerung75 trägt Blumhardt doch im nächsten Jahr den Jahresbericht des Calwer Missionsverein vor. Dieser wird im Calwer Missionsblatt veröffentlicht mit der distanzierenden redaktionellen Vorbemerkung, dass man mit den »Ansichten des Vortragenden« nicht in allen Stücken einverstanden sei und die Letztverantwortung dem Verfasser überlassen habe.76
Die schmerzliche Kontroverse, ein existentieller Konflikt, taucht auch in der Erinnerung des Sohnes immer wieder auf:
Wo ist heute dieser Geist? Mein Vater hat geschrien um diesen Geist, – man hat ihn ausgelacht, und so ist er gestorben. Aber er hat doch recht gehabt! Und die Zeit rumort, – er kommt, der Geist! Ich bete nicht mehr darum, weil ich ihn schon sehe. Aber er kommt von einer anderen Seite her, heute ist’s natürlich anders als zur Apostelzeit, – es ist heute eine total andere Welt. Darum machet euch gefasst: es kommt etwas, allerdings höchst wahrscheinlich zum Ärger für alle, die es nicht verstehen. Ich bin verpflichtet es zu sagen. Darin hat mein Vater den größten Fehler gemacht, dass er geglaubt hat, nach 2000 Jahren sei’s noch gleich wie zur Zeit der Apostel, wie’s auch heute Leute gibt, die meinen, sie müssen eine apostolische Gemeinde gründen. 77
Ohne die Vergangenheit zu verherrlichen, kann der Sohn Christoph Blumhardt auf die Anfänge in Möttlingen und Bad Boll zurückblicken. Kritisch merkt er an, dass das wirkliche Leben in Bad Boll doch oft gar nicht dementsprechend gewesen sei. Das äußere Leben wurde nicht überwunden. Wieviel Unfriede und Verlegenheit, auch missliche Ereignisse, vor denen dann auch seines Vaters geistige Höhe versagt habe, lägen auch in seiner Erinnerung. Das äußere Leben brachte lauter Tränen, aber man ging den Schwierigkeiten des Lebens aus dem Wege, ähnlich wie man auch dem nahen Brausen einer fragenden Welt aus dem Wege ging.
Es blieb nur immer – und das ist das erhaltende Moment in dieser Lage – bei der Hoffnung: es wird doch einmal alles anders, wenn der Heilige Geist kommt.78
Und wie sein Vater predigt Blumhardt der Sohn:
Es ist schon eine wahrhaftige Anbetung, wenn wir so den Vater im Himmel ansehen lernen, ehe wir es recht genug verstehen, ehe der Tag kommt, der kommen muss, der Tag des Heiligen Geistes. Der wirklich heilig ist, der von den irdischen Dingen befreit, der unseren Geist losbindet von dem, was wir im Gewöhnlichen haben von Menschen und nicht von Gott, auch wir Christen. Der Heilige Geist muss uns werden! Vater im Himmel, die Zeit wird kommen – das glauben wir dir und der Stimme Jesu Christi. Das hoffen wir. Das wissen wir. – Die Zeit wird kommen, da du die dürstende Menschheit sättigst, indem du ihr den Geist gibst, der heilig ist und sie zur wahrhaftigen Anbetung führt.79
So kann auch der Sohn Christoph Blumhardt die Grundlage seiner Arbeit in Bad Boll formulieren:
Da hört also so schnell unser Durst nicht auf. Und wir dürfen im heißen Verlangen stehen, auch in dem Verlangen, dass eigentlich der Grund des ganzen bewegten Lebens von Bad Boll ist seit 50 Jahren: »Gib uns in neuer und stärkerer Weise den Heiligen Geist, Vater im Himmel, der sich unterscheidet von dem menschlichen Geist.« Der menschliche Geist kann uns nur irdische Dinge zuführen. Der Heilige Geist führt uns in den irdischen Dingen das höhere, ewige, göttliche Leben zu, zu mit dem wir erst recht Menschen werden.80
Blumhardt benennt den Widerspruch, den auch der Vater erfahren hat und der auch ihn unterscheidet von den Menschen, die glauben, im Besitz des Heiligen Geistes zu sein. Provokant fragt er:
Was wären wir denn, wenn wir heute plötzlich mit allem zufrieden wären? Ja, was sind auch die Christen, die uns oft sagen: »Wir haben alles. Wir brauchen nichts mehr. Wir sind vollständig befriedigt mit dem, was wir haben.« – was sind wir dann? Dann ist’s gerade, wie wenn wir sterben würden.81
Und so kann er auch von Jesus Christus sprechen:
Man sagt, Johannes habe dem Heiland den Weg bereiten müssen. Gott in Johannes, durch das Beben des Geistes, das er gibt, hat es getan und tut es noch, denn der Herr Jesus ist heute noch nicht da, so wie er ist. Er ist heute noch im Kampf, er ist heute noch der Getötete.82
Von seinem Gottes- und Christus-Verständnis her entwickelt Blumhardt eine wirkmächtige Anschauung von der Dreieinigkeit, von Gott dem Vater, Gott, dem Sohn, und Gott, dem Heiligen Geist.
Aber ehe die Finsternis hereinbrach, war schon ein Licht in diese Finsternis gekommen: Jesus. Gott nicht nur in Johannes, Gott nicht nur in der Bewegung des Volkes – Gott in Jesus. In diese Erschütterung hinein, in dieses Beben vom Himmel her kommt der Heiland. Klein, demütig, arm, erschüttert, hilflos, machtlos kommt er her. Er wird mitbewegt, miterschüttert, er spürt: der Himmel geht auf, und der Heilige Geist in leiblicher Gestalt kommt hernieder, also für die Erde, für das irdische Leben, für das, was der Mensch auf Erden im Namen Gottes sein soll.83
Das Wunder, die »Initialzündung« der Möttlinger Ereignisse, sahen beide Blumhardt nicht nur in der Heilung der Gottliebin Dittus, sondern hauptsächlich in der sich anschließenden Bußbewegung in der Gemeinde und weit darüber hinaus. Hier sahen sie den Geist Gottes am Werk. Als die Bußbewegung im Abklingen begriffen war, hofften sie auf eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes. So kann Blumhardt fragen:
Ist nicht die ganze Welt voll von solchen Erfahrungen des lebendigen Wassers. Sind nicht auch wir Zeugen von diesem Ausgehen des Stromes des lebendigen Wassers aus den Herzen, die unmittelbar berührt worden sind vom Geist Gottes, weil sie sich an die Persönlichkeit Jesu im Geiste anzuschließen vermocht haben? Wenn wir alle diese Erfahrungen könnten hervorziehen und vor Augen stellen, dann würden wir wahrhaftig die Wunder preisen, die in die Welt gekommen sind für die armen zerschlagenen Menschen, die Wunder, die sich gerade an den Ärmsten im Geiste beweisen, die Wunder, die die Elenden, die Zertretenen, die Verworfensten unter den Menschen zuerst berühren, dass sie zu Gottes Ehre aufleben dürfen in der Kraft des neuen Mutes, einer neuen Aussicht auf ein neues erhöhtes Leben.84
In seiner Predigt über die Geschichte von der Taufe Jesu durch Johannes aktualisiert er die Volksbewegung und vergleicht sie mit Erdbeben, wie sie in jenen Jahren die Welt erschütterten:
Meine Lieben, wenn uns diese Geschichte ans Herz kommt, dann ist es etwas Erschütterndes, was uns bewegt. Und ich möchte euch gerne hineinführen in dieses Erschütternde. Denn es sind Gottestaten. Es sind Gotteswunder. Es ist eine Gottesgeschichte, die nicht der Weltgeschichte angehört. Die Weltgeschichte, die geht vorüber. Eine Gottesgeschichte geht nie, nie, niemals vorüber. Was tun zweitausend Jahre!? – Sie haben gar keine Bedeutung. Wir sind heute gerade dort im Geist, mit Seele und Leib dort, wo Gott einen Befehl gegeben hat, dass er hineindringe in alles Volk.85
Dem Erdbeben vergleichbar ist ein von Gott ausgehendes Geistesbeben. Solche Wirkungen des Geistes Gottes geschehen an den Menschen, die durch die Hand Gottes geleitet werden, sie sind die wahren Jünger Jesu.86 Blumhardt hofft auf neue Wunder durch Gottes mächtiges Handeln.
Das Wunder muss geschehen auf Erden, und je mehr wir in die letzten Zeiten kommen, desto mehr muss das Wunder geschehen, dass sich auch mit uns Menschen das Wunderbare Gottes so tief verbinden kann, dass es aus unserem Leib und unserer Seele herausströmt in die Welt, die Gottes bedarf und die nicht zu Gott kommen kann, ehe das, was wir Gemeinde Jesu Christi nennen, verbunden ist mit den Wundern Gottes.87
52 Text Nr.1, Z. 146 – 151.
53 Diese Gnadenzeit nennen die Blumhardts »Die Apostelzeit«.
54 Joel 3, 1ff.
55 Sammlung von Morgen=Andachten nach Losungen und Lehrtexten der Herrnhuter Brüdergemeine von Pfarrer Blumhardt, S. 182 -183.
56 Möttlinger Briefe III/3, S.7.
57 Siehe dazu auch: Mohr, Macht, S. 55- 56.
58 Blhdt. berichtet vom Besuch des Konsistorialdirektors Knapp: »Am Ostermontag war Knapp da und brachte die Karli. Ich machte mich gleich ans Hauptgeschäft und deklarierte meine Satansgeschichte. Er schauderte, und auf meine Äußerung: ›Diese Dinge kann ich doch wohl nicht schriftlich machen!‹ sagte er: ›Nein, das können sie nicht!‹ Somit bin ich einer schriftlichen Erklärung darüber gegen das Konsistorium überhoben, wie ich denke. Noch mehr! Er sah das Gedränge und Gelaufe, namentlich der Fremden, dass ich immer wieder von ihm wegspringen musste und kaum eine Viertelstunde einmal ungeniert bei ihm sein konnte. Das gab Anlass zu einer festen Erklärung über meine Praxis und die Gebrechen der Kirche in solcher Hinsicht. Er wollte Anfangs nicht recht dran, denn das katholische Absolvieren oder das Päpsteln fürchtete er natürlich auch.« Brief an Christian Gottlob Barth, 10.4.1844, Brief Nr. 1206 Möttlinger Briefe III/3, S. 217 – 218.
59 Der Brief von Calcutta enthält ja auch wieder eins vom Puseyismus[Der Anglokatholizismus (auch als High Church oder Puseyismus bekannt) ist eine Strömung innerhalb der Church of England, die den Anglikanismus katholisch, d. h. sakramental und in bruchloser Tradition mit der Alten Kirche interpretiert. Das schließt das katholische Eucharistie- und Amtsverständnis ein. Anm.J.M.]. Der wird mir noch zu schaffen machen. Es hat mich dieser Tage fast schwermütig gemacht. Denn ich fürchte, man werde auch meine Sache, deren Verbreitung mir mit jedem Tage notwendiger erscheint, als scheinbar ins katholische Gebiet zurückschlagend, obgleich ich selbst unter unsern Bekenntnisschriften bleibe, in einen Hafen [Topf] mit jenem [Vorwurf des Puseyismus] werfen und als eine Ketzerei bezeichnen, die wie jener desavouiert werden müsse. Ach! was ist es doch um die Menschen! Aus Furcht vor dem einen Pol fallen sie in den andern, d.h. aus Furcht, man mache das geistliche Amt päpstlich, wirft man es lieber ganz weg; und da darf auch kein Bibelwort mehr gelten, so schlagend dieses auch redet. Indessen gehe es, wie es wolle: ich ruhe nicht; nur warte ich, wie mich der Herr täglich vorwärtsführt, wiewohl mich’s schmerzt, gerade in euerem Kreise so wenig Anregung, ich möchte fast sagen Interesse, dafür zu finden. Nicht einmal reden mag man von der Sache, wie das letzte Kränzchen beweist.« Brief an Christian Gottlob Barth, 13.4.1844, Möttlinger Briefe, Nr. 1208 a.a.O. S. 218 – 219.
60 Barth, Christian Gottlob (1799 – 1862) war ein deutscher evangelischer Pfarrer, Pietist, Schriftsteller und Verleger (Calwer Missionsverlag).
61 Brief Nr. 1215, a.a.O., S. 225 - 226
62 Brief Nr. 1237, a.a.O., S. 238.
63 »Der [Brief] von Hochstetter ist mir zu gelehrt, als dass ich viel drauf antworten könnte, und meine Sache viel zu praktisch, als dass ich je so viel dogmatische Untersuchungen darüber machen mag. Ich will gar nichts als den Leuten 1) womöglich zum Frieden verhelfen; und mag man nun vom allgemeinen Priestertum noch so viel reden, faktisch benützt es niemand, und also muss der Pfarrer dran, 2) wo möglich den Verband mit der allgemeinen christlichen Kirche (nach dem Symbol)[Bekenntnis] in Gegensatz zu selbstischem Separatismus bei jedem Einzelnen zu erhalten; und da dies durch den Anschluss an den Pfarrer, der schon vermöge des Anteils am H[eiligen] Ab[endmahl] Statt findet, geschieht, so kommt man eben wieder an das Amt. – Sonst ist jedenfalls der Gedanke biblisch, dass eine Berufung das Charakteristische des Amtes ist. Wo aber haben wir eine unmittelbar göttliche Berufung, dass wir berechtigt wären, es als solche zu nehmen. Ant[wort]: nirgends. Was bleibt übrig? Wenigstens das Amt, das Wort und Sakrament verwaltet und einstweilen die persönliche Berufung ersetzt, bis eine bessere Zeit eintritt, die der ersten apostolischen Zeit wieder gleichkommt. Ich denke, du wirst mich verstehen.« Möttlinger Briefe, Nr. 1248, a.a.O., S. 243.
64 »Wenn ich etwas von einem außerordentlichen Einschreiten von Seiten des Herrn berührte, so bitte ich euch, doch das nicht von vorn herein als Täuschung, als notwendige Täuschung anzusehen. Es kann tausend Mal Täuschung sein, vielleicht einmal nicht; und wenn ihr bedenket, in welchem Kampf ich stand, so ist es wenigstens in diesem einen Fall möglich, wahrlich nicht absolut notwendig Teufelsbetrug-… …Ich bedaure freilich, gegen das Konsistorium offener sein zu müssen als gegen meine besten Freunde, weil diese es nicht annehmen wollen.« Brief Nr. 1262, a.a.O., S. 255.
65 Er erwägt die Teilnahme am Treffen der regionalen Pfarrerschaft, dem Pfarrkranz, zögert aber, weil unter den Pfarrern das Gerücht aufgekommen sei, er habe gesagt, »das 1000jährige Reich fange in M[öttlingen] an.« Er wisse nicht, wie es komme, dass »in Gewisser Mund alles verdreht wird und das Wunderlichste sich bildet.« Er trage es eben und lasse es, aber verteidigen wolle er sich nirgends mehr…Brief Nr. 1335, a.a.O., S. 285.
66 Handbuch der Bibelerklärung für Schule und Haus. Die wichtigsten Abschnitte der Heiligen Schrift in geschichtlichem Zusammenhange ausgelegt. Zweiter Band, das Neue Testament. Calw/Stuttgart, 1850.
67 »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.« Jh 14,12.
68 großer Unterschied.
69 Brief Nr. 1891, a.a.O., S. 527.
70 Brief Nr. 1892, a.a.O., S. 528
71 Brief Nr. 1893, a.a.O., S. 528ff.
72 Siehe Fußnote 13,14,15.
73 Brief Nr. 1894, a.a.O., S. 530 ff.
74 Brief Nr. 1964, a.a.O., S. 553 -554. Siehe zum ganzen Zusammenhang auch die Erläuterungen: Möttlinger Briefe III/4, S.436ff.Ising zitiert die entsprechenden Stellen aus dem „Handbuch der Bibelerklärung“. sowie Mohr: 20.3 Neue Ausgießung des Heiligen Geistes, Macht, S. 251 - 255.
75 Brief Nr. 1892, a.a.O., S. 528.
76 Anmerkungen in Möttlinger Briefe III/4, S. 440 – 441.
77 Predigten 3, S. 333, Z. 21 ff.
78 Text Nr. 21, Z. 53 – 55.
79 Text Nr. 12, Z. 317 - 326.
80 Text Nr. 13, Z. 162 – 170.
81 A.a.O., Z. 137 – 141.
82 Text Nr. 14, Z. 90 – 94.
83 A.a.O., Z. 327 – 335.
84 Text Nr. 13, Z. 264 – 276.
85 Text Nr. 14, Z. 44 – 53.
86 Text Nr. 15, Z. 11 ff.
87 A.a.O., Z. 284 – 291.
Blumhardt fragt seine Hörerinnen und Hörer, ob diese Sitte, die Jesus unter uns einführen wollte, bei uns in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Ist [bei uns] Vergebung der Sünden? Wir kommen immer wieder in die alte Art: Wir wollen die Lehrmeister sein und die Leute so herrichten, dass sie uns gefallen, und dann erst sollen sie hoffen, Gott werde ihnen ihre Sünden vergeben. Aber so ist es nicht.88
Er möchte, dass die Christen vorbehaltlos zu allen Menschen gehen können.
Und, meine Lieben, soll die Welt gewonnen werden für Gott, dann muss uns der Heiland zugunsten Gottes zu allen Menschen schicken können.89
Und so dürfen es seine Hörer und Hörerinnen hören und für sich persönlich nehmen:
Aber wenn die Sünde weggenommen ist und wir im Bewusstsein stehen dürfen: Gott lässt sich durch unsere Sünde nicht hindern, in Verbindung mit uns zu treten, in Verbindung mit den Menschen, an die wir denken müssen, vielleicht weil sie uns nahestehen und wir mit ihnen verkehren! Gott lässt sich durch keine Sünde und durch keinen Tod hindern, überall auf der ganzen Welt dem Menschenvolk nahezutreten und es zu regieren nach seinem Willen.90
Dies sollen alle Menschen wissen; und deshalb muss es allen Menschen gesagt werden.
Und die Menschenkinder alle sollen es wissen: Sei getrost, du magst sein, wie du willst, du magst getrieben haben, was du willst, sei getrost, du Menschheit! Wir haben in Christus das Amt, dir die Versöhnung zu verkündigen, dir Vergebung der Sünden zu verkündigen. Und das ist das Evangelium, das nun durch die Welt gehen soll.91
Für Blumhardt ist die Sünde des Menschen ein Zeichen, dass er unter einer Fremdherrschaft steht. Diese Fremdherrschaft muss aufhören.
Wenn es aber heißt: »Wer an Christus glaubt, sich an ihn anschließt, dem sind die Sünden vergeben«, dann kann ich auch leiden mit Christus. – Das kann ich nur auf Grund der Sündenvergebung. Mit Christus leiden kann ich nicht als ein Sünder. Dann kann man nicht sagen: »Christus hat uns ein Vorbild gelassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen, welcher keine Sünde getan hat.« Wie kann ich denn dem nachfolgen, wenn er keine Sünde getan hat, und ich habe sie getan? – So sind wir so ungleich, dass ich ihm nicht nachfolgen kann, unmöglich! Wie tief und wie groß die Vergebung der Sünden ist vor Gott und wie durchschlagend, das beweist eben das, dass wir können dem Heiland nachfolgen.92
Für Blumhardt ist die Heiligung nicht Voraussetzung der Sündenvergebung. Sie ist Folge der geglaubten Sündenvergebung:
Es gilt nichts mehr und nur noch der zu Gott gehörige Mensch, der sich in Christus zu Gott hält und den Vater anruft, der gilt. Und der Mensch leidet mit Christus. Und der Mensch kommt in diesen Strom des siegreichen ewigen Lebens und schwimmt auf dem Wasser nicht nur, sondern er fliegt auf, und kein Lethestrom93 kann ihn ins Nichts hineinreißen.94