Chronik des Mauerfalls - Hans-Hermann Hertle - E-Book

Chronik des Mauerfalls E-Book

Hans-Hermann Hertle

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Beschreibung

Der Fall der Mauer war von den DDR-Funktionären weder beabsichtigt noch vorhergesehen worden. Aus unkoordinierten Einzelaktionen entwickelte sich unter dem Druck der Massen eine Situation, die ihre eigene Dynamik bekam und schließlich zu vollendeten Tatsachen führte. Den Verantwortlichen wurde erst am nächsten Tag bewußt, was eigentlich geschehen war. Sie versuchten nun, die Kontrolle über die Grenze zurückzugewinnen und trafen Vorbereitungen für eine militärische Aktion – doch dafür war es schon zu spät. Wer aber hatte jene ominöse »Reiseregelung« erarbeitet und warum wurde sie von Schabowski vorzeitig bekanntgegeben? Welche Rolle spielte die Staatssicherheit dabei? Was wußten die sowjetischen Militärs davon?
Hans-Hermann Hertle hat sechs Jahre lang daran gearbeitet, die genauen Umstände der Maueröffnung minutiös zu rekonstruieren. Er analysierte die entsprechenden Unterlagen in den Archiven, sichtete die Veröffentlichungen der Medien und befragte nahezu 100 Zeitzeugen, darunter die Entscheidungsträger jener historischen Nacht. Hertles Buch wurde zu einem Standardwerk und liegt nun in 12., erweiterter Auflage vor.

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Seitenzahl: 519

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Hans-Hermann Hertle

Chronik des Mauerfalls

Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 12. Druck-Auflage von Dezember 2009)

© Christoph Links Verlag GmbH, 1996

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von Andree Kaiser:

Die Nacht der Maueröffnung auf der Bornholmer Brücke

in Berlin-Prenzlauer Berg

eISBN: 978-3-86284-159-2

Inhalt

Vorwort: »Schabowskis Zettel«

Vorwort zur 12. Auflage

13. August 1961: Der Bau der Mauer

1961–1989: Im Bann der Mauer

Ausbau der Grenzbefestigungen

Die Ära Honecker: Verschuldung und »humanitäre Erleichterungen«

Besuchsreisen

Ausreisen

Sommer 1989: Die Öffnung derungarisch-österreichischen Grenze

Herbst 1989: Die Wende

Ausreisedruck, Demonstrationen und der Sturz Honeckers

Der Versuch eines Reisegesetzes: »In 30 Tagen um die Welt – ohne Geld«

Tauschideen: Mauer gegen West-Kredite

4. 11. 1989: Angst vor Mauerdurchbrüchen

6. 11. 1989: Empörung über den Reisegesetzentwurf

7. 11. 1989: Suche nach einer Ausreiseregelung

8. 11. 1989: Das Ultimatum der ČSSR

9. November 1989: Der Fall der Mauer

9.00 Uhr: MfS und MdI planen Reiseregelung

12.00 Uhr: Politbüro beschließt neue Verordnung

12.30 Uhr: Ministerratsbeschluß im Umlaufverfahren

15.00 Uhr: Feinarbeiten an den Durchführungsbestimmungen

15.30 Uhr: Zentralkomitee erörtert neue Reiseregelungen

17.30 Uhr: Vorbereitung der Pressekonferenz

17.45 Uhr: Einspruch des Justizministeriums

18.00 Uhr: Schabowskis Auftritt

19.00–20.15 Uhr: Fiktionen der Medien

20.30–24.00 Uhr: Der Mauerdurchbruch

Bornholmer Straße: »Wir fluten jetzt!«

Sonnenallee: Massenabfertigung

Checkpoint Charlie: Druck von Ost und West

Brandenburger Tor: Tanz auf der Mauer

Exkurs: Konfusion in der militärischen Führung

10. November 1989: Reaktionen

Handlungsunfähigkeit des Zentralkomitees

SED-Führung: Politische Maßnahmen und militärische Optionen

Gorbatschow: »Politik der Situation anpassen!«

Bush: »Entwicklung nicht vorhergesehen«

Kohl: »Das ist ja unfaßbar!«

11. November 1989: Zuspitzung und Entspannung am Brandenburger Tor

12. November 1989: Neutralität der Alliierten

13. November 1989–3. Oktober 1990: Der Abbau der Mauer

»Die wahren Helden des 9. November 1989«oder Die Medien und der Fall der MauerNachwort

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Archivverzeichnis

Übersiedlerstatistik

Verzeichnis der Gesprächspartner

Bildnachweis

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Zum Autor

Vorwort »Schabowskis Zettel«

Ost-Berlin, 9. November 1989, 18.53 Uhr: Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, teilt am Ende einer internationalen Pressekonferenz, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wird, mit, die SED-Spitze habe sich entschlossen, eine Regelung zu treffen, die »die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik«. Dann liest er die neue Reiseregelung, die der Ministerrat beschlossen habe, von einem Zettel ab. DDR-Bürger sollen ständige Ausreisen und Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. »Wann tritt das in Kraft?« fragt ein Journalist. Schabowski wirft einen Blick auf seine Papiere, dann antwortet er: »Sofort, unverzüglich!« Drei Stunden später erzwingen die herandrängenden Ost-Berliner den ersten Durchbruch, sechs Stunden später stehen alle Grenzübergänge zwischen beiden Stadthälften offen und Tausende von Berlinern tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

»Wahnsinn!« war in dieser Nacht, in der sich Ost- und West-Berliner in den Armen lagen, das meistgebrauchte Wort auf der Straße. Politische Katzenjammerstimmung herrschte dagegen am nächsten Morgen im Politbüro der SED.1 »Uns allen war bewußt«, erinnert sich Hans Modrow an die politische Gemütslage, »daß etwas passiert war, was eigentlich nicht im Sinne der Sache war«.2 Es wurde gerätselt, wie das Mißgeschick hatte passieren können. »Wer hat uns das bloß eingebrockt?«, fragte Egon Krenz ratlos auf der Suche nach einem Verantwortlichen3, bevor er sich – wie auch Günter Schabowski – nur kurze Zeit später die Entscheidung zur »Öffnung der Grenze« selbst zuschrieb.4

Wer aber hatte der SED-Führung den Fall der Mauer wirklich »eingebrockt«? Insbesondere um Schabowskis Pressekonferenz ranken sich bis heute Legenden. So wird vielfach spekuliert, der »Zettel« sei ihm erst während der Pressekonferenz zugeschoben worden, wobei der Phantasie über die Identität des geheimen Zuträgers keine Grenzen gesetzt sind. Entgegen anderslautender Gerüchte handelte es sich bei dem »Zettel« jedoch tatsächlich um ein Dokument des Ministerrates, das Schabowski vor der Pressekonferenz von Krenz ausgehändigt worden war. Es enthielt Bestimmungen für eine Reiseregelung, die am Morgen des 10. November als Beschluß des Ministerrates verkündet werden sollten.

Doch wer hatte die Freigabe von ständigen Ausreisen und Privatreisen, die Schabowski bekanntgab, entschieden? Wirklich der Ministerrat der DDR, wie es in der als ADN-Mitteilung vorbereiteten Pressemitteilung hieß, und auf »Empfehlung« des Politbüros, wie Schabowski verlautbarte? Hatten Krenz und Schabowski, die Mitglieder des Politbüros, des Ministerrates und des Zentralkomitees der SED überhaupt begriffen, daß dieser Beschluß nicht nur »die Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR« veränderte, wie seine Überschrift nahelegte und es Krenz nachmittags dem Zentralkomitee und Schabowski abends der Presse suggerierten, sondern an erster Stelle »Privatreisen nach dem Ausland ... ohne Vorliegen von Voraussetzungen« ab sofort ermöglichte?

Sollte ursprünglich gar nur das Problem der »ständigen Ausreise« gelöst werden und waren Krenz und Schabowski, ja das ganze Politbüro, der Ministerrat und das Zentralkomitee auf einen »Etikettenschwindel« hereingefallen und von vier leitenden Mitarbeitern des MfS und MdI als den Autoren des Beschlusses übertölpelt oder überlistet worden? Bescherte den Deutschen ein »historischer Irrtum« den Fall der Mauer und in dessen Konsequenz die deutsche Einheit?5

Und wenn schon das Ministerium für Staatssicherheit beteiligt war: Könnte der Fall der Mauer nicht Bestandteil oder gar krönender Abschluß jenes »Opus magnum« des MfS gewesen sein, als das Henryk Broder den Umbruch in der DDR interpretiert sehen möchte?6

Handelte die SED-Spitze auf Anweisung Gorbatschows, oder in welcher Form sonst war die sowjetische Führung beteiligt? War sie am Ende überhaupt nicht über die Absichten der DDR informiert?

Bestand in der Spitze der SED die Absicht, das »Mißgeschick« mit einer militärischen Aktion wieder rückgängig zu machen?

War der Fall der Mauer gar, wie der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer mußmaßte, die letzte Rache der SED, um die Bürgerbewegung um ihre Revolution zu betrügen?7

Die Chronik versucht, das dramatische Handlungsgeschehen des 9. und 10. November 1989, genauer gesagt, der neun Tage zwischen dem 4. und 12. November 1989, authentisch zu rekonstruieren. Es werden die Entscheidungsprozesse in der SED-Führung analysiert und im Detail nachgezeichnet, was ursprünglich beabsichtigt war, welche Veränderungen zum Fall der Mauer führten und warum dieser unumkehrbar war. Natürlich ist dies nur schlüssig darzustellen, wenn auch die Vorgeschichte behandelt und die Folgewirkungen dargestellt werden. Daher ist aus der »Chronik des Mauerfalls« unter der Hand eine kleine Geschichte der Mauer geworden.

Die vorliegende Dokumentation basiert auf einer umfassenden wissenschaftlichen Ausarbeitung des Autors, die im Sommer 1996 von der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen wurde.8 Schriftliche Quellengrundlage sind die Aktenbestände der DDR-Archive. Ausgewertet wurden insbesondere die Akten des Politbüros, verschiedener Politbüro-Mitglieder (insbesondere Krenz, Axen, Mittag), des Zentralkomitees, mehrerer ZK-Abteilungen sowie des Ministerrates, des Ministeriums für Staatssicherheit, Ministeriums für Nationale Verteidigung, Ministeriums des Innern und der Staatlichen Plankommission, des Präsidiums der Volkspolizei Berlin, einiger Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei sowie des Polizeipräsidenten von West-Berlin. Hinzu kommen Materialien aus Privatbesitz, die dem Verfasser im Zuge seiner Recherchen in Kopie überlassen wurden. Für ihre fachliche Unterstützung und freundliche Hilfe danke ich allen Archivaren, insbesondere in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Ergänzend zur Auswertung der schriftlichen Quellen wurden zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt: mit Mitgliedern des Politbüros, Zentralkomitees und Ministerrates, leitenden Mitarbeitern des ZK-Apparates und der wichtigsten Ministerien; Generälen, Offizieren und Soldaten der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen sowie der Paßkontrolle des MfS; Mitarbeitern des ZK der KPdSU und sowjetischen Diplomaten sowie westdeutschen und West-Berliner Politikern und Amtsträgern. Allen Zeitzeugen möchte ich dafür Dank aussprechen, daß sie mir ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben und mit ihren Erinnerungen, gelegentlich auch ihren persönlichen Aufzeichnungen, zur Rekonstruktion der Ereignisse und zum Verständnis der Abläufe beigetragen haben.

»Schabowskis Zettel«: Die Ministerratsvorlage zur Reiseregelung,die Krenz während der ZK-Sitzung an Schabowski zurVeröffentlichung auf der Pressekonferenz übergeben hat

Schabowskis »Fahrplan« für die Pressekonferenz:Die Bekanntgabe der neuen Reiseregelung sollteganz am Schluß erfolgen

Für die freundliche und hilfreiche Unterstützung der Bildrecherche danke ich der Berliner Geschichtswerkstatt und dem Museum »Haus am Checkpoint Charlie«, insbesondere seinem Begründer Rainer Hildebrandt, der unvergleichlich viel für die Dokumentation der Geschichte der Berliner Mauer geleistet hat.

Mein besonderer Dank gilt allen Kollegen und Freunden, die meine Arbeit mit kritischen Anregungen begleitet haben, vor allem Jürgen Kädtler und Erika Laurent, Peter Steinbach und Theo Pirker (†), M. Rainer Lepsius, sowie Christoph Links als Lektor.

Vorwort zur 12. Auflage

Allen Leserinnen und Lesern, die sich seit dem ersten Erscheinen der Chronik des Mauerfalls im September 1996 in Rezensionen und Zuschriften kritisch mit diesem Werk auseinandergesetzt haben, sei dafür auf diesem Wege herzlich gedankt.

Weitere Recherchen sowie die eingegangenen Hinweise haben in der 6. Auflage im wesentlichen zu zwei Korrekturen geführt. Zum einen läßt im Juli 1997 eingesehenes Dokumentations-Filmmaterial von Spiegel-TV, in das eine Standuhr eingeblendet ist, keinen Zweifel daran, daß die Einstellung aller Kontrollen am Grenzübergang Bornholmer Straße, die »Flutung« dieses Übergangs, nicht – wie bis dahin angenommen – um 22.30 Uhr erfolgte, sondern erst gegen 23.30 Uhr. Zum anderen war ein Fehler zu korrigieren, der sich in die Abschrift eines Fernschreibens des MfS eingeschlichen hatte. »Die Personalausweise der betreffenden Bürger sind mit einem Ausreisevermerk der VPKÄ versehen«, lautet der Text, der auf S. 200 abgedruckt ist, korrekt, und nicht – wie früher zitiert –: »zu versehen«. Die aus dieser Korrektur resultierende veränderte Interpretation der damit verbundenen Absichten ist auf den dann folgenden Seiten nachzulesen.

Die vorliegende 12. Auflage wurde wie schon die vorige erneut durchgesehen. Kritik und Anregungen sind weiterhin ausdrücklich erbeten.

Berlin, im November 2009

Hans-Hermann Hertle

13. August 1961: Der Bau der Mauer

»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, tat Walter Ulbricht Mitte Juni 1961 auf einer internationalen Pressekonferenz kund. Wohl keinem der anwesenden Journalisten kam in den Sinn, daß der SED-Chef mit diesen Worten genau das Gegenteil dessen erklärte, was er tatsächlich plante.1

Der Flüchtlingsstrom aus der DDR und den Ost-Sektoren Berlins in die Bundesrepublik, vor allem aber nach West-Berlin, hatte zu diesem Zeitpunkt für die Wirtschaft und damit den Fortbestand der DDR katastrophale Ausmaße angenommen. Im Juli 1961 wurden täglich über 1000 Flüchtlinge in West-Berlin registriert, in den ersten Augusttagen waren es schon 1500. Obwohl die Presse voller Spekulationen und Gerüchte über mögliche Gegenmaßnahmen des SED-Regimes war, rechnete niemand ernsthaft mit der Möglichkeit einer völligen Abriegelung der Grenze. Selbst die westlichen Geheimdienste tendierten dazu, die Möglichkeit eines Mauerbaus als zu risikoreiches Unternehmen auszuschließen. Sie übermittelten lediglich »gedämpfte Alarmsignale« in die Hauptstädte der westlichen Staaten.2 Der Westen war deshalb zwar nicht vorbereitet, aber auch nicht völlig überrascht, als Polizei und Nationale Volksarmee am 13. August 1961 um Mitternacht begannen, »die Sektorengrenze in eine Front«3 zu verwandeln:

0.00 Uhr

Erich Honecker, Mitglied des Politbüros, Sekretär des Zentralkomitees der SED für Sicherheitsfragen sowie Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, hat am Abend die Einsatzleitung der »Aktion X« im Präsidium der Volkspolizei in der Keibelstraße übernommen. Bis 1.00 Uhr übergibt sein Stab allen politisch und militärisch Verantwortlichen die Befehle zur Abriegelung der Grenze. Die Pläne sind unter größtmöglicher Geheimhaltung von einem kleinen Kreis Eingeweihter erarbeitet und von Walter Ulbricht als Vorsitzendem des Nationalen Verteidigungsrates unterzeichnet worden.

Um 0.00 Uhr wird für die gesamte Nationale Volksarmee der Befehl »Erhöhte Gefechtsbereitschaft« erteilt. Das bedeutet, daß die gesamte Bewaffnung einsatzbereit gemacht wird, Verbindungsoffiziere zu den benachbarten Stäben der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland eingesetzt werden, alle beweglichen Vorräte in den Truppenteilen auf Kraftfahrzeuge verladen und alle Flugzeuge der Luftstreitkräfte aufmunitioniert und auf den Gefechtsstart vorbereitet werden.

Zur gleichen Zeit treffen auf fast allen West-Berliner Bahnhöfen nach wie vor Flüchtlinge aus der DDR und aus Ost-Berlin ein. Sie erkundigen sich nach den Verkehrsverbindungen zum Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde.

1.00 Uhr

3150 NVA-Soldaten der 8. Motorisierten Schützendivision aus Schwerin setzen sich mit 100 Kampfpanzern und 120 Schützenpanzerwagen in Richtung Stadtmitte in Bewegung. Ihr Gefechtsstand ist der Magerviehhof in Friedrichsfelde. 4200 Mann der 1. Motorisierten Schützendivision in Potsdam mit 140 Panzern und 200 Schützenpanzerwagen marschieren an den Außenring um West-Berlin. Die Truppen haben den Auftrag, im Hintergrund eine zweite Sicherungsstaffel in einer Tiefe von 1000 Metern zur Grenze zu bilden und Durchbrüche zu den Sektorengrenzen zu verhindern.

1.11 Uhr

Die DDR-Nachrichtenagentur ADN verbreitet eine Erklärung der Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten. Der entscheidende Passus lautet: »Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR, an alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins, einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin, eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird.«

Ergänzend sendet ADN kurze Zeit später den Text eines Ministerrat-Beschlusses vom 12. August 1961. Darin heißt es: »Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den Westberliner Grenzen eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen. Diese Grenzen dürfen von Bürgern der DDR nur noch mit besonderer Genehmigung passiert werden. Solange Westberlin nicht in eine entmilitarisierte neutrale Freie Stadt verwandelt ist, bedürfen Bürger der Hauptstadt der DDR für das Überschreiten der Grenzen nach Westberlin einer besonderen Bescheinigung.« Der Widersinn dieses Beschlusses springt ins Auge: Um die westliche Wühltätigkeit in der DDR zu unterbinden, wird der DDR-Bevölkerung der Zugang zu West-Berlin verwehrt.

1.40 Uhr

Für alle Einheiten der Ost-Berliner Volkspolizei und die »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« wird Gefechtsalarm ausgelöst. Die Sektorenübergänge werden von der Volkspolizei nach und nach geschlossen.

2.00 Uhr

Die West-Berliner Polizei erhält die ersten Meldungen über Absperrungen des Ost-Sektors. Der S-Bahn- und U-Bahnverkehr im Ostteil ist eingestellt. An den Sektorengrenzen ziehen schwerbewaffnete Kräfte auf: Grenzpolizisten, Volkspolizisten und Betriebskampfgruppen. In ihrem Schutz beginnen Pioniereinheiten, Stacheldrahtverhaue anzulegen und Spanische Reiter aufzustellen.

2.15 Uhr

In der Friedrich-Ebert-Straße beginnt das Hämmern der Preßluftbohrer: Das Straßenpflaster wird aufgerissen, Asphaltstücke und Pflastersteine werden zu Barrikaden aufgeschichtet, Maschinengewehre in Stellung gebracht. In den Seitenstraßen am Potsdamer Platz werden Betonpfähle eingerammt und Stacheldrahtverhaue gezogen.

2.30 Uhr

Die West-Berliner Polizei wird in Alarmbereitschaft versetzt.

3.00 Uhr

Wie am Potsdamer Platz sind inzwischen auch Unter den Linden Militärlastwagen und Kolonnen von Schützenpanzerwagen aufgefahren.

3.25 Uhr

Der RIAS unterbricht sein Nachtprogramm und meldet die militärischen Absperrmaßnahmen in Ost-Berlin.

3.30 Uhr

Entlang der gesamten Sektorengrenze werden Erdwälle aufgeworfen sowie Straßensperren und Stacheldrahtverhaue errichtet. Panzer rollen durch die Straßen Ost-Berlins und beziehen an strategischen Verkehrsknotenpunkten Stellung.

4.00 Uhr

Alle für den Einsatz vorgesehenen Ost-Berliner Volkspolizei-Bereitschaften und der größte Teil der Kampfgruppen-Bataillone haben ihre Einsatzorte entlang der Grenze erreicht und Stellung bezogen.

4.45 Uhr

Von den 60 innerstädtischen Straßenübergängen, die gesperrt werden sollen, sind 45 geschlossen, eine Stunde später sind alle 60 Straßenverbindungen unterbrochen. Der Stacheldrahtverhau entlang der Sektorengrenze wird immer dichter, die Kolonnen der Militärfahrzeuge nehmen kein Ende. Hier und dort durchbrechen Flüchtlinge die Absperrketten; vor allem an unübersichtlichen Ruinen- und Trümmergrundstücken ist dies noch möglich.

6.00 Uhr

An vielen U-Bahnhöfen Ost-Berlins stehen die Menschen vor verschlossenen Eingängen. »Heute kein Zugverkehr« steht auf provisorisch angebrachten Schildern.

7.30 Uhr

West-Berliner und Ost-Berliner finden sich in kleineren Gruppen fassungslos auf beiden Seiten an den Sektorengrenzen ein; am Brandenburger Tor wird erregt diskutiert.

8.00 Uhr

Jeweils über 5000 Grenzpolizisten und Volkspolizisten sowie über 2000 Angehörige der Betriebskampfgruppen halten die Sektorengrenzen besetzt. Die NVA-Truppenteile mit einer Gesamtstärke von über 7000 Soldaten haben im Stadtzentrum und am Außenring ihre Stellungen bezogen und sichern die Abriegelung der Grenze im rückwärtigen Raum.

Am Brandenburger Tor, am Potsdamer Platz, in der Köpenicker Straße/Ecke Bethaniendamm, in der Bernauer Straße/Ecke Ackerstraße stehen sich Berliner gegenüber, getrennt durch bewaffnete Grenz- und Volkspolizisten.

9.30 Uhr

Auf einer Sondersitzung des Senats, an der der Polizeipräsident teilnimmt, erstattet Innensenator Lippschitz einen Lagebericht. Im Kommuniqué über die Sitzung heißt es: »Der Senat von Berlin erhebt vor aller Welt Anklage gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker Ost-Berlins und der Bedroher West-Berlins. Die Abriegelung der Zone und des Sowjetsektors von West-Berlin bedeutet, daß mitten durch Berlin die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen wird. Senat und Bevölkerung von Berlin erwarten, daß die Westmächte energische Schritte bei der sowjetischen Regierung unternehmen werden.«

11.00 Uhr

Bundeskanzler Konrad Adenauer wird in Bonn seit den Morgenstunden über die Abriegelungsmaßnahmen in Berlin informiert. Nach einer Beratung mit Staatssekretär Hans Globke und dem Vorsitzenden der CDU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, gibt der Bundeskanzler gegenüber einem RIAS-Rundfunkreporter als politische Linie der Bundesregierung aus: »Im Verein mit unseren Alliierten werden die erforderlichen Gegenmaßnahmen getroffen. Die Bundesregierung bittet alle Deutschen, auf diese Maßnahmen zu vertrauen. Es ist das Gebot der Stunde, in Festigkeit, aber auch in Ruhe der Herausforderung des Ostens zu begegnen und nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern kann.«

12.00 Uhr

In der Alliierten Kommandantur in der Kaiserswerther Straße in Berlin-Dahlem wird eine Sitzung der drei westlichen Stadtkommandanten beendet, zu der der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, Bürgermeister Franz Amrehn und der Chef der Senatskanzlei, Heinrich Albertz, hinzugebeten worden sind. Die Stadtkommandanten haben keine eigene Handlungsbefugnis, und ihre Abstimmungs- und Beratungswege sind kompliziert. Politisch unterstehen sie den Außenministerien, militärisch den Verteidigungsministerien ihrer Länder, den Befehlshabern der in Deutschland stationierten Streitkräfte und dem NATO-Oberbefehlshaber. Weisungen ihrer Regierungen liegen ihnen noch nicht vor. So lehnen sie die Forderung Brandts ab, den DDR-Kräften an den Sektorengrenzen alliierte Patrouillen gegenüberzustellen. Statt dessen befehlen sie dem Regierenden Bürgermeister, der West-Berliner Polizei den Schutz der Grenze – auch vor Angriffen aus West-Berlin – zu übertragen.

Um 12.00 Uhr amerikanischer, 18.00 Uhr Berliner Zeit erklärt der amerikanische Außenminister Dean Rusk nach Abstimmung mit Präsident John F. Kennedy: »Die zur Verfügung stehenden Informationen deuten darauf hin, daß die bisher getroffenen Maßnahmen gegen die Einwohner Ost-Berlins und Ost-Deutschlands gerichtet sind und nicht gegen die Position der Alliierten in West-Berlin oder den Zugang dorthin.«

Vorgeschichte

Das Leben in Berlin pulsierte vor dem 13. August 1961 trotz der zwölf Jahre zuvor vollzogenen politischen und wirtschaftlichen Teilung der Stadt immer noch über die Sektorengrenzen hinweg. 500 000 Berliner hatten bis zum Mauerbau täglich die Sektorengrenze in beide Richtungen passiert; allein den Bahnhof Friedrichstraße fuhren Tag für Tag 285 Züge aus West-Berlin mit über 50 000 Fahrgästen an. Über 50 000 Ost-Berliner arbeiteten im Westteil, 12 000 West-Berliner im Ostteil der Stadt. 20 bis 30 Prozent der Studenten an den West-Berliner Hochschulen hatten ihren ersten Wohnsitz in der DDR oder Ost-Berlin, die West-Berliner Kinos zählten Millionen von Ostbesuchern. Auch Theater, Volkshochschulen, Büchereien wurden in hohem Maße von Ost-Berlinern frequentiert.

Am 13. August 1961 war es damit vorbei. Der Durchgangsverkehr der S- und U-Bahnlinien wurde dauerhaft unterbrochen, 13 von 33 U-Bahnhöfen in Ost-Berlin geschlossen, der Intersektorenverkehr auf je einen S- und U-Bahnsteig im Bahnhof Friedrichstraße reduziert. Von den zuletzt verbliebenen 81 Straßen-Übergangsstellen wurden am 13. August 69 mit Stacheldraht abgesperrt oder zugemauert; die verbliebenen zwölf wurden am 25. August auf sieben Übergänge in der Friedrichstraße, Bornholmer Straße, Heinrich-Heine-Straße, Chausseestraße, Invalidenstraße, Oberbaumbrücke und Sonnenallee reduziert. Grenzsiedlungen, Grenzstraßen und Grenzhäuser wurden in den folgenden Tagen und Wochen von der Volkspolizei geräumt und die Bewohner zwangsausgesiedelt. Allein in der Bernauer Straße, wo die Wohnhäuser zum Teil im Osten, der Bürgersteig jedoch bereits im Westen lag, wurden etwa 2000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben und die Hauseingänge und Fenster zugemauert. Hier hatten sich buchstäblich in letzter Sekunde viele Menschen durch einen Sprung aus dem Fenster in den Westteil gerettet.

Als die Mauer in Berlin errichtet wurde und die »Eine-Stadt-Illusion« zerstörte, war Deutschland bereits seit 16 Jahren ein geteiltes Land. Nach der Kriegsniederlage, die der nationalsozialistischen Diktatur ein Ende bereitete, war das Deutsche Reich 1945 in vier Besatzungszonen eingeteilt worden. Die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung in der sowjetischen, amerikanischen, britischen und französischen Zone legten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges fest. Weil die Sowjetunion auch über das Ende des Krieges hinaus ihre militärisch errungenen Machtpositionen mit Gewalt und diktatorischen Mitteln ausbaute, brach die Anti-Hitler-Koalition schnell auseinander. Auf den von den Nationalsozialisten entfesselten Zweiten Weltkrieg folgte der Kalte Krieg.

In Deutschland gingen aus der Periode der Diktatur der Besatzungsmächte 1949 zwei Teilstaaten hervor. In den drei westlichen Besatzungszonen, der späteren Bundesrepublik Deutschland, nahmen die Westdeutschen vor dem Hintergrund steigenden Wohlstandes die ihnen von den Westmächten auf der Basis einer privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung zunächst »verordnete« Demokratie an. Der demokratische Verfassungsstaat und eine pluralistische Institutionenordnung entwickelten sich allmählich zu einem stabilen politischen Ordnungsrahmen; über die im Grundgesetz verankerten Wertvorstellungen bildete sich ein gesellschaftlicher Konsens heraus.

In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren Deutschen Demokratischen Republik, blieb der von der Besatzungsmacht oktroyierten kommunistischen Einparteienherrschaft dagegen die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung versagt. Die SED schaltete die bürgerlichen Parteien und die Gewerkschaften gleich und unterdrückte jede politische Opposition. Freie Wahlen wurden nicht abgehalten, Bildungschancen und beruflicher Aufstieg an kommunistische Überzeugungen und ideologische Anpassung geknüpft. Umfangreiche Demontagen und hohe Reparationsforderungen der Sowjetunion verlangsamten den Wiederaufbau; die wirtschaftliche Kluft zu Westdeutschland wurde tiefer.

Viele Menschen entschieden sich daher zur Flucht; zwischen 1945 und 1949 verließen etwa eine halbe Million Menschen die Sowjetzone, in den Jahren 1950 und 1951 kamen 350 000 Menschen, davon über die Hälfte jünger als 25 Jahre, nach Westdeutschland. Das SED-Regime reagierte auf diese »Abstimmung mit den Füßen« mit zunehmender Härte: Am 26. Mai 1952 wurde die Grenze zur Bundesrepublik mit Stacheldraht abgesperrt. Auf DDR-Seite richtete man eine fünf Kilometer breite Sperrzone ein, aus der politisch unzuverlässige Bewohner zwangsausgesiedelt wurden; der Schienen- und Straßenverkehr wurde unterbrochen und auf wenige stark kontrollierte Übergänge kanalisiert. In Berlin ließ man ebenfalls zahlreiche Verbindungsstraßen zwischen Ost und West sowie die direkten Fernsprechverbindungen sperren, doch wegen des alliierten Status der Stadt lief der Verkehr über die verbleibenden Sektorenübergänge weiter. So blieb West-Berlin das Tor, durch das der DDR noch am ehesten entkommen werden konnte.

Beschlüsse der SED zum beschleunigten Aufbau des Sozialismus, Rentenkürzungen, Preiserhöhungen für Lebensmittel und schließlich die Erhöhung der Arbeitsnormen lösten die Streiks und Demonstrationen des 17. Juni 1953 aus, die in Forderungen nach freien Wahlen und der Wiedervereinigung kulminierten. Die Niederschlagung dieses Volksaufstandes durch sowjetische Panzer führte vor Augen, daß die staatliche Existenz der DDR allein auf dem Machtwillen der Sowjetunion beruhte und nur mit der ständigen Bereitschaft zur Gewalt gegen die Bevölkerung zu erhalten war. Die mögliche Wiederkehr eines 17. Juni – durch die Kette der Volksaufstände und Arbeiterunruhen in den »Bruderstaaten« 1956, 1968, 1970, 1976 und 1981 eine immer wieder aktualisierte Befürchtung – wurde zu einem Trauma der SED-Führung, das ihre Mentalität und ihre Politik prägte. Die gesamte Partei- und Staatsspitze – die Mitglieder des Politbüros, Zentralkomitees, Ministerrats, Staatsrats sowie die Leitungen der Massenorganisationen, der Parteipresse, des Obersten Gerichts und der Generalstaatsanwaltschaft – sowie die den Parteistaat tragenden entsprechenden Funktionsträger in den Bezirken und Kreisen rüsteten sich in der Folgezeit wegen der »Verschärfung des Klassenkampfs« mit Pistolen aus; mit regelmäßigen Schießübungen bereiteten sie sich auf den nächsten Angriff des Feindes vor. Zugleich wurde der Apparat der Staatssicherheit massiv ausgebaut und die Zahl der Mitarbeiter von 5000 im Jahr 1953 über 50 000 zu Beginn der siebziger auf rund 100 000 Hauptamtliche am Ende der achtziger Jahre erhöht. So entstand jenes System der flächendeckenden Kontrolle und Bespitzelung, das die grenzenlose Angst der SED-Führung vor ihrem Volk am nachhaltigsten bezeugt.

Nach dem 17. Juni 1953 verstärkte sich die Fluchtbewegung aus der DDR dramatisch; in den Folgejahren schwoll sie mit jeder Repressionsmaßnahme und jedem politischen Ereignis, das die Spaltung Deutschlands vertiefte, erneut an4: 1955 nach der Unterzeichnung des Warschauer Pakts, 1956 nach der Gründung der Nationalen Volksarmee, 1957 mit der Verschärfung des Kampfes gegen die Kirchen, 1958 mit dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows5, 1960 mit der Kollektivierung der Landwirtschaft. Bis Ende 1960 verließen jährlich zwischen 140 000 und 330 000, insgesamt 1 856 466, Menschen das Land; in den ersten sieben Monaten des Jahres 1961 kamen 133 574 Personen hinzu, so daß sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge zwischen 1946 und Ende Juli 1961 auf über drei Millionen addierte. Und mit dem Ausbau der Sperranlagen und der Verschärfung der Kontrollen an der innerdeutschen Grenze stieg der Anteil der Flüchtlinge, die der DDR über West-Berlin den Rücken kehrten: 1960 lag er bei 76 Prozent, 1961 bei 80 Prozent.

Die unmittelbare Urheberschaft für den Bau der Mauer hat der sowjetische Diplomat Julij Kwizinskij, bis 1991 sowjetischer Botschafter in Bonn, Walter Ulbricht zugewiesen. Mitte 1961 habe Ulbricht den sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin, Michail Perwuchin, zu einem Gespräch gebeten, an dem Kwizinskij in seiner damaligen Funktion als Chefdolmetscher teilnahm. Ulbricht habe mitgeteilt, »die Lage in der DDR verschlechtere sich zusehends. Der wachsende Flüchtlingsstrom desorganisiere immer mehr das ganze Leben der Republik. Bald müsse es zu einer Explosion kommen. (...) Perwuchin solle Chruschtschow mitteilen, wenn die gegenwärtige Situation der offenen Grenze weiter bestehen bleibe, sei der Zusammenbruch unvermeidlich.« Einige Tage später habe Chruschtschow sein Einverständnis übermittelt, »die Grenze zu Westberlin zu schließen und mit der praktischen Vorbereitung dieser Maßnahme unter größter Geheimhaltung zu beginnen«.6 Erst einige Wochen danach, am 5. August 1961, sei die förmliche Zustimmung der Warschauer Vertragsstaaten eingeholt worden, um die Aktion nach außen nicht als alleiniges Vorhaben der DDR erscheinen zu lassen und die Bundesrepublik und ihre Verbündeten von einer militärischen Intervention abzuhalten.

Dagegen überlieferte der Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, Hans Kroll, den Inhalt einer Unterredung mit Chruschtschow, in der sich der sowjetische Parteichef zum Befehl für den Bau der Mauer bekannt habe. Chruschtschow habe ihm gesagt: »Ich weiß, die Mauer ist eine häßliche Sache. Sie wird auch eines Tages wieder verschwinden. Allerdings erst dann, wenn die Gründe fortgefallen sind, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Was sollte ich denn tun? Mehr als 30 000 Menschen, und zwar mit die besten und tüchtigsten Menschen aus der DDR, verließen im Monat Juli das Land. Man kann sich unschwer ausrechnen, wann die ostdeutsche Wirtschaft zusammengebrochen wäre, wenn wir nicht alsbald etwas gegen die Massenflucht unternommen hätten. Es gab aber nur zwei Arten von Gegenmaßnahmen: die Lufttransportsperre oder die Mauer. Die erstgenannte hätte uns in einen schweren Konflikt mit den Vereinigten Staaten gebracht, der möglicherweise zum Krieg geführt hätte. Das konnte und wollte ich nicht riskieren. Also blieb nur die Mauer übrig. Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, daß ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu gegeben hat. Ulbricht hat mich zwar seit längerer Zeit und in den letzten Monaten immer häufiger dazu gedrängt, aber ich möchte mich nicht hinter seinem Rücken verstecken. Er ist viel zu schmal für mich. Die Mauer wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung fortgefallen sind.«7

Nur durch die hermetische Abriegelung der DDR und die militärische Sicherung der Grenze nach innen, so erkannten Chruschtschow und Ulbricht als übereinstimmendes Interesse, war die Massenabwanderung zu stoppen; nur wenn auch noch das »Schlupfloch West-Berlin« gestopft war, konnte der Sowjetunion ihr militärisches Vorfeld und dem SED-Regime das zur Herrschaftsausübung unabdingbare Staatsvolk erhalten bleiben. Der Verzicht auf den Mauerbau, räumte Honecker 1992 vor dem Berliner Landgericht ein, hätte bereits 1961 zur Aufgabe der DDR geführt.8 Zur Preisgabe der Kriegsbeute aber waren weder die KPdSU noch ihre ostdeutschen Statthalter bereit.

Der Westen wiederum hielt sich zurück. Kurz vor dem Mauerbau hatte der amerikanische Präsident John F. Kennedy drei Grundsätze für die amerikanische Berlin-Politik formuliert: die Sicherung der Lebensfähigkeit der Stadt, die uneingeschränkte Präsenz alliierter Truppen und die Sicherung des freien Zugangs auf den Land-, Luft- und Wasserwegen. Genau besehen wurden sie durch den Mauerbau nicht berührt, weil sie sich allein auf die Verteidigung des Status von West-Berlin bezogen. Um den Bau der Mauer zu verhindern oder rückgängig zu machen, standen den westlichen Alliierten schlechterdings keine geeigneten Mittel zur Verfügung – es sei denn, man hätte einen Krieg riskiert. Ein militärischer Konflikt aber, der unversehens in einen Atomkrieg der Weltmächte hätte führen können, stand nicht zur Disposition. »So ernst die Sache auch ist«, umriß John F. Kennedy in einem Schreiben an Berlins Regierenden Bürgermeister Willy Brandt fünf Tage nach dem Mauerbau die amerikanische Position, »so stehen uns doch ... keine Schritte zur Verfügung, die eine wesentliche materielle Änderung der augenblicklichen Situation erzwingen könnten. Da die brutale Abriegelung der Grenzen ein schallendes Bekenntnis des Scheiterns und der politischen Schwäche darstellt, handelt es sich offensichtlich um eine grundlegende sowjetische Entscheidung, die nur ein Krieg rückgängig machen könnte. Weder Sie noch wir noch irgendeiner unserer Verbündeten haben je angenommen, daß wir wegen dieses Streitpunktes einen Krieg beginnen sollten.«9

1961–1989: Im Bann der Mauer

Ausbau der Grenzbefestigungen

In den Tagen nach dem 13. August 1961 blieb die Lage in Ost-Berlin gespannt. Solange das Absperr- und Kontrollsystem noch provisorisch befestigt war, gelang es einzelnen immer wieder, Schlupflöcher zwischen Stacheldraht, Maschinenpistolen und Panzern zu finden. Doch der Ausbau der Sperranlagen schritt zügig voran. Nur wenige Tage nach dem 13. August begannen Bautrupps, die Stacheldrahtverhaue durch eine Mauer zu ersetzen; das Sperrsystem wurde Schritt für Schritt ausgebaut. Dort, wo Flüchtlinge in den Westen gelangten, wurden Schwachstellen umgehend beseitigt. Bis Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre entstand mitten durch Berlin ein technisch ausgebautes Grenzsicherungssystem, das fast unüberwindbar geworden war.

Von Ost nach West begannen die etwa 50 Meter breiten innerstädtischen Sperranlagen mit einer zwei bis drei Meter hohen »Hinterlandmauer«. Es folgte in kurzer Entfernung ein circa zwei Meter hoher Alarmzaun. Dieser »Kontakt-Signalzaun« war mit mehreren Reihen von Drähten versehen, die unter elektrischer Spannung standen und bei Berührung akustische und/oder optische Signale aussandten. Die technisch ausgereiftere Version dieses Zauns, die »Grenzsignalzaunanlage 80« (GSZA-80 bzw. GSA-83), ein Importprodukt aus der Sowjetunion, wurde fünfzig Zentimeter ins Erdreich versenkt, um ein Unterkriechen zu erschweren. Der Alarm wurde an dieser Zaunanlage »still« ausgelöst; während der Flüchtling sich noch sicher wähnte, war er im Führungspunkt des Grenzabschnitts bereits lokalisiert. An unübersichtlichen Stellen wurde parallel zum Signalzaun eine Laufanlage für Kettenhunde installiert. Dann folgte der Abschnitt, in dem die Beobachtungstürme und Erdbunker der Grenzsoldaten standen und ein »Kolonnenweg« für die motorisierten Streifendienste angelegt war. Eine Lichttrasse tauchte den Todesstreifen – ein geharkter, zwischen vier und fünfzehn Meter breiter Sandstreifen – in helles Licht, so daß auch nachts günstige Sicht- und Schußverhältnisse gewährleistet waren. Letztes Hindernis vor der Mauer war der KfZ-Sperrgraben, der von der DDR-Seite schräg abfiel, zur Grenzseite hin dagegen senkrecht ausgehoben und teilweise mit Betonplatten verstärkt war. Die eigentliche Mauer, eine 3,50 bis vier Meter hohe und zehn Zentimeter dicke Betonplattenwand mit einer Rohrauflage, die es erschweren sollte, beim Übersteigen mit den Händen Halt zu finden oder eine Wurfankerleine dort zu befestigen, bildete den Abschluß dieses Sperrsystems; zum Teil wurde ihre Funktion von einem ebenso hohen engmaschigen Streckmetallgitterzaun erfüllt.

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