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Hans-Hermann Hertle

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Beschreibung

Wie kam es am 9. November 1989 zur überraschenden Öffnung der Mauer? Wieso verlas das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer live im Fernsehen übertragenen internationalen Pressekonferenz eine neue Reiseregelung für DDR-Bürger, die eigentlich erst für den nächsten Tag bestimmt war? Weshalb löste sie dann noch in der Nacht einen Ansturm Zehntausender Menschen auf die Grenzübergänge und die Mauer am Brandenburger Tor aus?
Was sich in der Nacht des Mauerfalls tatsächlich ereignete, warum es genau so geschah und wie die Beteiligten der Grenztruppen, des DDR-Sicherheitsapparates und die Führung im SED-Politbüro die Ereignisse erlebten und darauf reagierten, wird in diesem Buch detailliert geschildert. Die Basis sind jahrelange Recherchen zum Thema und Interviews mit Hunderten Zeitzeugen. Entstanden ist eine anschauliche Chronik, spannend wie ein Krimi.

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Seitenzahl: 528

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Hans-Hermann Hertle

Sofort, unverzüglich

Die Chronik des Mauerfalls

Ch. Links Verlag, Berlin

Das Buch basiert auf der »Chronik des Mauerfalls«, die erstmals 1996 erschienen ist und bis zur 12. Auflage 2009 mehrfach kleinere Ergänzungen erhalten hat. Hier liegt nun eine überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe unter modifiziertem Titel vor.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, August 2019

entspricht der 1. Druckauflage von August 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag,

unter Verwendung eines Fotos von der Öffnung der

Berliner Mauer am 12. November 1989 am Potsdamer Platz

(Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung, Heiko Specht)

ISBN 978-3-96289-060-5

eISBN 978-3-86284-463-0

Inhalt

»Schabowskis Zettel«

Vorwort

Das Jahr 1989

Erich Honecker: »Die Mauer wird … in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen«

Erosionserscheinungen

Egon Krenz: »Wir sollten jetzt nach vorne sehen«

KSZE Wien: »Das Recht eines jeden auf Ausreise aus jedem Land, darunter aus seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land«

Erich Honecker: »Man sollte ihnen keine Träne nachweinen«

Die Herbstrevolution

Ausreisedruck, Demonstrationen und der Sturz Honeckers

Der Versuch eines Reisegesetzes: »In 30 Tagen um die Welt – ohne Geld«

Tauschideen: Mauer gegen West-Kredite

4. 11. 1989: Angst vor Mauerdurchbrüchen

6. 11. 1989: Empörung über den Reisegesetzentwurf

7. 11. 1989: Suche nach einer Ausreiseregelung

8. 11. 1989: Das Ultimatum der ČSSR

9. November 1989: Der Fall der Mauer

9.00 Uhr: MfS und MdI planen Reiseregelung

12.00 Uhr: Politbüro beschließt neue Verordnung

12.30 Uhr: Ministerratsbeschluss im Umlaufverfahren

15.00 Uhr: Feinarbeiten an den Durchführungsbestimmungen

15.30 Uhr: Zentralkomitee erörtert neue Reiseregelungen

17.30 Uhr: Vorbereitung der Pressekonferenz

17.45 Uhr: Einspruch des Justizministeriums

18.00 Uhr: Schabowskis Auftritt

19.00 – 20.15 Uhr: Fiktionen der Medien

20.30 – 24.00 Uhr: Der Mauerdurchbruch

Bornholmer Straße: »Wir fluten jetzt!«

Sonnenallee: »Alles aufmachen!«

Invalidenstraße: »Zieht euch zurück, lasst sie laufen!«

Checkpoint Charlie: »Lasst uns rein!« – »Lasst uns raus!«

Brandenburger Tor: Tanz auf der Mauer

Exkurs: Konfusion in der militärischen Führung

10. November 1989: Reaktionen

Handlungsunfähigkeit des Zentralkomitees

SED-Führung: Politische Maßnahmen und militärische Optionen

Gorbatschow: »Politik der Situation anpassen!«

Bush: »Entwicklung nicht vorhergesehen«

Kohl: »Das ist ja unfaßbar!«

11. November 1989: Zuspitzung und Entspannung am Brandenburger Tor

12. November 1989: Neutralität der Alliierten

13. November 1989 – 3. Oktober 1990: Der Abbau der Mauer

Die Medien und der Fall der Mauer

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Archivverzeichnis

Verzeichnis der Gesprächspartner

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Zum Autor

»Schabowskis Zettel«

Vorwort

Ost-Berlin, 9. November 1989, 18.53 Uhr: Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, teilt am Ende einer internationalen Pressekonferenz, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wird, mit, die SED-Spitze habe sich entschlossen, eine Regelung zu treffen, die »die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik«. Dann liest er die neue Reiseregelung, die der Ministerrat beschlossen habe, von einem Zettel ab. DDR-Bürger sollen ständige Ausreisen und Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. »Wann tritt das in Kraft?« fragen Journalisten. Schabowski wirft einen Blick auf seine Papiere, dann antwortet er: »Sofort, unverzüglich!« Wenige Stunden später erzwingen die herandrängenden Ost-Berliner den ersten Durchbruch, sechs Stunden später stehen alle Grenzübergänge zwischen beiden Stadthälften offen, und Tausende von Berlinern tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

»Wahnsinn!« war in dieser Nacht, in der sich Ost- und West-Berliner in den Armen lagen, das meistgebrauchte Wort. Katzenjammerstimmung herrschte dagegen am nächsten Morgen im SED-Politbüro.1 »Uns allen war bewußt«, erinnert sich Hans Modrow an die politische Gemütslage, »daß etwas passiert war, was eigentlich nicht im Sinne der Sache war.«2 Es wurde gerätselt, wie das Missgeschick hatte passieren können. »Wer hat uns das bloß eingebrockt?« fragte Egon Krenz ratlos auf der Suche nach einem Verantwortlichen3, bevor er sich – wie auch Günter Schabowski – nur kurze Zeit später die Entscheidung zur »Öffnung der Grenze« selbst zuschrieb.4

Wer aber hatte der SED-Führung den Fall der Mauer wirklich »eingebrockt«? Insbesondere um Schabowskis Pressekonferenz ranken sich bis heute Legenden. So wurde vielfach spekuliert, der »Zettel« sei ihm erst während der Pressekonferenz zugeschoben worden, wobei der Phantasie über die Identität des geheimen Zuträgers keine Grenzen gesetzt sind. Entgegen anderslautender Gerüchte handelte es sich bei dem »Zettel« jedoch tatsächlich um ein Dokument des Ministerrates, das Schabowski vor der Pressekonferenz von Krenz ausgehändigt worden war. Es enthielt Bestimmungen für eine Reiseregelung, die am Morgen des 10. November als Beschluss des Ministerrates verkündet werden sollten.

Doch wer hatte die Freigabe von ständigen Ausreisen und Privatreisen, die Schabowski bekannt gab, entschieden? Wirklich der Ministerrat der DDR, wie es in der als ADN-Mitteilung vorbereiteten Presseinformation hieß, und auf »Empfehlung« des Politbüros, wie Schabowski verlautbarte? Hatten Krenz und Schabowski, die Mitglieder des Politbüros und des Ministerrates überhaupt begriffen, dass dieser Beschluss nicht nur »die Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR« veränderte, wie seine Überschrift nahelegte und wie es Krenz nachmittags dem Zentralkomitee und Schabowski abends der Presse suggerierten, sondern an erster Stelle »Privatreisen nach dem Ausland … ohne Vorliegen von Voraussetzungen« ab sofort ermöglichte?

Sollte ursprünglich gar nur das Problem der »ständigen Ausreise« gelöst werden, und waren Krenz und Schabowski, ja, das ganze Politbüro, der Ministerrat und das Zentralkomitee auf einen »Etikettenschwindel« hereingefallen und von vier leitenden Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des Ministeriums des Innern (MdI) als den Autoren des Beschlusses übertölpelt oder überlistet worden? Bescherte den Deutschen ein »historischer Irrtum« den Fall der Mauer und in dessen Konsequenz die deutsche Einheit?5

Und wenn schon das Ministerium für Staatssicherheit beteiligt war: Könnte der Fall der Mauer nicht Bestandteil oder gar krönender Abschluss jenes »Opus magnum« des MfS gewesen sein, als das Henryk Broder den Umbruch in der DDR interpretiert sehen mochte?6

Handelte die SED-Spitze auf Anweisung Gorbatschows, oder in welcher Form sonst war die sowjetische Führung beteiligt? War sie am Ende überhaupt nicht über die Absichten der DDR informiert?

Bestand in der Spitze der SED die Absicht, das »Missgeschick« mit einer militärischen Aktion wieder rückgängig zu machen?

War der Fall der Mauer gar, wie der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer mutmaßte, die letzte Rache der SED, um die Bürgerbewegung um ihre Revolution zu betrügen?7

Oder war die Art der Grenzöffnung das Werk von »Polit-Dilettanten«, wie der ehemalige Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer wetterte, weil er ihretwegen »endgültig alle Hoffnung auf eine tatsächliche Erneuerung des Sozialismus und der DDR« begraben musste: »Das einzige Pfund, mit dem man hätte wuchern können, wurde weggeworfen – von einem Berliner Wichtigtuer: Günter Schabowski.«8 Die Mauer – die letzte kreditwürdige Immobilie der DDR?9

Setzte Günter Schabowski quasi als Stratege des Untergangs mit seinen Worten »sofort, unverzüglich« die Dynamik des 9. November 1989 gar absichtlich in Gang? »Wollte er«, wie der Autor Uwe Soukup fragend nahelegte, »wenn das Schiff schon nicht mehr zu retten war, es dann lieber selbst versenken?«10

Die vorliegende Chronik versucht, das dramatische Handlungsgeschehen des 9. und 10. November 1989 zu rekonstruieren – genauer gesagt, der neun Tage zwischen dem 4. und 12. November 1989. Es werden die Entscheidungsprozesse in der SED-Führung analysiert und im Detail nachgezeichnet. Es wird gezeigt, was ursprünglich beabsichtigt war, welche Veränderungen zum Fall der Mauer führten und warum dieser Schritt unumkehrbar war.

Das Buch basiert auf einer umfassenden wissenschaftlichen Studie des Autors, die im Sommer 1996 von der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen und im Westdeutschen Verlag veröffentlicht wurde.11 Schriftliche Quellengrundlage sind vor allem die Aktenbestände der DDR-Archive. Ausgewertet wurden insbesondere die Akten des Politbüros, verschiedener Politbüro-Mitglieder (insbesondere die von Egon Krenz, Hermann Axen und Günter Mittag), des Zentralkomitees, mehrerer ZK-Abteilungen sowie des Ministerrates, des Ministeriums für Staatssicherheit, Ministeriums für Nationale Verteidigung, Ministeriums des Innern und der Staatlichen Plankommission, des Präsidiums der Volkspolizei Berlin, einiger Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei sowie Akten des Senats und des Polizeipräsidenten von Berlin. Hinzu kommen Materialien aus Privatbesitz, die dem Verfasser im Zuge seiner Recherchen in Kopie überlassen wurden. Für ihre fachliche Unterstützung und freundliche Hilfe danke ich allen Archivaren, insbesondere in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Ergänzend zur Auswertung der schriftlichen Quellen wurden zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt: mit Mitgliedern des Politbüros und Zentralkomitees der SED, mit leitenden Mitarbeitern des ZK-Apparates und der wichtigsten Ministerien; mit Generälen, Offizieren und Soldaten der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen sowie der Passkontrolle des MfS; mit Mitarbeitern des ZK der KPdSU und sowjetischen Diplomaten sowie westdeutschen und West-Berliner Politikern und Amtsträgern.

Der Kreis der Gesprächspartner konnte nach der Erstauflage des Bandes schon 1996 zunächst durch die Recherchen für den 3SAT/ZDF-Dokumentarfilm »Beton und Devisen« (gemeinsam mit Lew Hohmann), 1996/97 durch die gemeinsame Arbeit mit Gerd-Rüdiger Stephan an der Edition der Wortprotokolle der letzten Tagungen des SED-Zentralkomitees12 und dann vor allem noch einmal in den Jahren 1998/99 in Zusammenhang mit den Recherchen für den ARD-/Cineimpuls-Dokumentarfilm »Als die Mauer fiel. 50 Stunden, die die Welt veränderten« (gemeinsam mit Gunther Scholz) erheblich erweitert werden.13 Zahlreiche Gespräche mit Grenzsoldaten, Passkontrolleuren und (Volks-)Polizisten, aber auch mit Spitzenpolitikern wie Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse, George Bush und James Baker, Hubert Védrine als engem Berater von François Mitterrand und Sir Charles Powell als persönlichem Berater von Margaret Thatcher, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher und vielen anderen haben das Bild vom 9. November 1989, den Abläufen und Hintergründen auf den verschiedensten Bühnen, weiter vervollständigt. Viele Erkenntnisse daraus haben nun auch Eingang in die hier vorgelegte überarbeitete und inhaltlich erweiterte Chronik gefunden. Mein Dank gilt allen, mit denen ich in diesen Projekten zusammenarbeiten durfte.

Vor allem allen Zeitzeugen möchte ich dafür meinen Dank aussprechen, dass sie mir ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben und mit ihren Erinnerungen, gelegentlich auch ihren persönlichen Aufzeichnungen, zur Rekonstruktion der Ereignisse und zum Verständnis der Abläufe beigetragen haben.

Mein besonderer Dank galt und gilt weiterhin allen Kolleginnen und Kollegen sowie allen Freundinnen und Freunden zuletzt am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und zuvor an der Freien Universität Berlin, die meine Arbeit mit kritischen Anregungen begleitet haben, vor allem Jürgen Kädtler, Andrea Fuchs und Erika Laurent, Peter Steinbach und Theo Pirker (†), M. Rainer Lepsius (†), sowie Christoph Links als Lektor und Verleger.

Das Jahr 1989

Erich Honecker: »Die Mauer wird … in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen«

»Die Mauer wird … so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben.« Sie werde »in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben«, zeigte sich SED-Generalsekretär Erich Honecker am 18. Januar 1989 in Ost-Berlin überaus optimistisch.1 Selbst der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, der als einer der wenigen den Untergang des sowjetischen Imperiums vorhersagte, war sich 1989 noch sicher, dass sich im Sowjetblock allein die DDR und Bulgarien nicht in einer Krisensituation befänden.2 Die DDR, so seine Prognose, werde für geraume Zeit ein »kommunistisches Preußen« bleiben, besonders wenn »Westdeutschland weiterhin die ostdeutsche Wirtschaft so großzügig« unterstütze.3 Weder Erich Honecker noch Zbigniew Brzezinski vermochten sich offenbar vorzustellen, wie radikal sich in kürzester Zeit die außenpolitischen Existenzbedingungen und als deren Folge die innenpolitischen Rahmenbedingungen in der DDR verändern würden – genauso wenig wie KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, US-Präsident George Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl, geschweige denn die britische Premierministerin Margaret Thatcher oder der französische Staatspräsident François Mitterrand. Nahezu allen in- und ausländischen Beobachtern in Politik und auch in der Wissenschaft galt die DDR noch wenige Monate vor ihrem Untergang als eine Insel der Stabilität.4

Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR und der Vereinigung beider deutscher Staaten gehören die Jahre 1989/90 zu den besterforschten Abschnitten der deutschen Zeitgeschichte.5 Dies ist vor allem der Öffnung der ostdeutschen Archive zu verdanken: Die Akten der SED und des DDR-Ministerrates einschließlich der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, der ostdeutschen Geheimpolizei, sind seit Beginn der 1990er Jahre ebenso frei zugänglich wie eine Vielzahl von Materialien der ostdeutschen Bürgerrechts- und Oppositionsbewegung.6 Auf westdeutscher Seite unterliegen die Regierungsakten zwar einer 30-jährigen Sperrfrist, doch wurden sehr früh Dokumente von zentraler Bedeutung in einer Sonderedition »Deutsche Einheit« veröffentlicht.7 Zudem erschien im Jahr 1998 eine vierbändige »Geschichte der deutschen Einheit«, deren Autoren ein privilegierter Aktenzugang gewährt worden war.8 Russische, amerikanische, britische und französische Akten trugen zur Erhellung der Ereignisse ebenso bei wie auf amerikanischer Seite die frühe Studie von Condoleezza Rice und Philipp Zelikow, die gleichermaßen auf Regierungsakten wie auf unmittelbarer Zeitzeugenschaft beruht.9

Ergänzt werden die offiziellen Aktenüberlieferungen durch die Erinnerungs- und Memoirenliteratur vieler beteiligter Spitzenpolitiker und Diplomaten sowie eine Fülle von Interviews mit ihnen – von Journalisten, Dokumentarfilmern und Historikern.10 Und schließlich stellt die zeitgenössische Medienberichterstattung von Presse, Funk und Fernsehen für die Zeitgeschichtsschreibung eine bedeutende Quelle dar.11

Erosionserscheinungen

Die Öffnung und Auswertung vor allem der ostdeutschen Archive führte sehr schnell zu dem allgemeinen Befund, dass sich die inneren strukturellen Krisenerscheinungen, die die Existenzgrundlagen der DDR bereits in den 1980er Jahren zunehmend untergraben hatten und die Handlungsmöglichkeiten der SED-Führung in der Finalitätskrise des Herbstes 1989 wesentlich beeinflussten, nur graduell von denen in ihren »Bruderländern«, den Staaten des sowjetischen Machtblocks, unterschieden. Die wirtschaftliche Lage in all diesen Ländern war desaströs. Ihr technologischer Rückstand war erheblich, die Arbeitsproduktivität nicht einmal halb so hoch wie im Westen, viele Produktionsanlagen waren verschlissen, die Arbeits-, Gesundheits- und Umweltbedingungen in vielen Bereichen katastrophal, die Infrastruktur war verrottet, der bauliche Verfall der Städte fortgeschritten. Die Verschuldung im Westen hatte – besonders in Polen, Ungarn und der DDR – eine dramatische Höhe erreicht. Die Ausgaben für den militärisch-(geheim) polizeilichen Apparat verschlangen einen enormen Teil des Staatshaushaltes aller kommunistischen Staaten – allein in der Sowjetunion sollen es 40 Prozent gewesen sein.12

Die Erosion der Ideologie war unübersehbar: Das Versprechen einer kommunistischen Gesellschaft, die, wie es noch der XXII. KPdSU-Parteitag im Oktober 1961 unter Parteichef Nikita Chruschtschow angekündigt hatte, bis zum Jahr 1981 einen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern und den höchsten Lebensstandard auf der Welt erreichen sollte13, war stillschweigend zurückgezogen worden. Im April 1971 hatte der XXIV. KPdSU-Parteitag unter Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnew – und in seiner Folge die Parteitage aller »Bruderparteien« – als neue »Hauptaufgabe« die »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes« beschlossen.14 In der DDR entstand für dieses Wohlfahrtspostulat die Formel von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Die menschheitsbeglückende Utopie der kommunistischen Gesellschaft schrumpfte damit auf einen profanen Konsumsozialismus als Tagesaufgabe zusammen. Sozialismus als Zielvorstellung und die Erfüllung des Wohlfahrtsversprechens waren damit quasi eins geworden – mit der zwingenden Folge, dass das Nichteinhalten des Konsumversprechens den kommunistischen Führungen als Scheitern des Sozialismus insgesamt vorgehalten werden konnte.

Die angeblich »führende Kraft« der kommunistischen Parteien war erschöpft, der Glaube an die historisch-gesetzmäßige Sieghaftigkeit des Sozialismus über den Kapitalismus erschüttert, die Parteiführungen von jahrelangem Krisenmanagement zermürbt, viele Parteikader verschlissen, die Parteibasis, einschließlich der »bewaffneten Organe«, in weiten Teilen demoralisiert und desorientiert.

Doch bei allen gemeinsamen strukturellen Krisenerscheinungen unterscheidet sich der Fall der DDR von ihren »Bruderländern« auch erheblich. Der kommunistische deutsche Teilstaat war zum einen ein Zwangs- und Kunstprodukt der weltpolitischen Interessen und imperialen Machtansprüche der Sowjetunion. Als »Satrapie des sowjetischen Hegemonialreiches«15 hing die Existenz des ostdeutschen Staates von der Staatsgründung 1949 bis zum Jahr 1990 unmittelbar von der militärischen, ökonomischen und politischen Unterstützung der Sowjetunion ab und war damit zugleich in besonderer Weise unmittelbar deren Interessen unterworfen. Zum anderen stand die DDR in unmittelbarer Konkurrenz zur Bundesrepublik, dem anderen deutschen Teilstaat. Alle Versuche, eine »sozialistische deutsche Nation« oder auch nur eine »nationale DDR-Identität« zu begründen, waren kläglich gescheitert. Über 40 Jahre war die SED-Führung mit am westdeutschen Modell von Demokratie und Wohlstand ausgerichteten Erwartungen großer Teile der Bevölkerung und ihren gesamtdeutschen Orientierungen konfrontiert.

Zwar hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Zuge der Entspannungspolitik und nach dem Abschluss des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages 1972 im Zuge einer »Politik der kleinen Schritte« nahezu »normalisiert«. Für die Gewährung sogenannter humanitärer Erleichterungen (Verbesserung der Reisemöglichkeiten, Öffnung neuer Grenzübergänge, Verkauf von politischen Häftlingen16, Erleichterungen im Post-, Paket- und Telefonverkehr u. a.) erhielt die DDR von der Bundesregierung finanzielle Alimentationen, um die sie ihre »Bruderstaaten« beneideten: Von 600 Mio. DM jährlich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stiegen sie auf rd. 1,5 Mrd. DM in den 1980er Jahren an.17

Und je notleidender die DDR wurde – 1981/82 stand sie erstmals unmittelbar vor dem ökonomischen Bankrott18 –, desto abhängiger wurde sie von der wirtschaftlichen Hilfe der Bundesrepublik – und desto größer wurden die politischen Zugeständnisse (Abbau der Minen und Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze 1983/84, Gewährung von mehr Ausreisen aus der DDR ab 1984, Genehmigung von mehr West-Reisen für DDR-Bürger ab 1986).

Alle Bundesregierungen weigerten sich jedoch bis zum Schluss, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Die »Bewohner der DDR«, wie sie in der offiziellen Sprachregelung des Westens genannt wurden, waren dem Grundgesetz der Bundesrepublik entsprechend zugleich – potenzielle – Bundesbürger mit allen Rechten auf staatliche Fürsorge; es musste ihnen nur gelingen, westdeutschen Boden zu erreichen.

Gegen die Westorientierung weiter Teile der Bevölkerung und die Flucht von etwa 3,5 der insgesamt 18 Millionen Einwohner nach Westdeutschland zwischen 1946 und Mitte 1961 hatte sich die ostdeutsche Führung nicht anders zu helfen gewusst als durch die Abriegelung der innerdeutschen Grenze (Mai 1952) und deren Verminung sowie durch den Bau der Berliner Mauer und deren militärische Sicherung (im August 1961). Zur Verhinderung von Fluchtversuchen nahm sie selbst die Tötung von Flüchtlingen billigend in Kauf. Viele Hundert Flüchtlinge verloren an der innerdeutschen Grenze, in der Ostsee oder bei der Flucht über Drittländer ihr Leben. Allein an der Berliner Mauer wurden zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen erschossen, verunglückten oder nahmen sich angesichts ihres gescheiterten Fluchtversuchs das Leben.19

Mehrere Zehntausend Fluchtwillige wurden zwischen 1961 und 1989 bereits bei der Planung oder auf dem Weg zur Grenze festgenommen. Statistiken der DDR-Generalanwaltschaft weisen von 1961 bis 1988 rund 110 000 Verfahren wegen »Republikflucht« bzw. »ungesetzlichem Grenzübertritt« aus.20 Einer Studie über politische Gefangene zufolge, die auf Stichproben aus DDR-Kriminalitätsstatistiken beruht, wurden zwischen 1960 und 1988 DDR-weit in mehr als 71 000 Fällen Freiheitsstrafen wegen »Republikflucht« verhängt.21 Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurden zudem DDR-Bürger, die einen Ausreiseantrag stellten, in der Regel ausgegrenzt, diskriminiert und kriminalisiert. Zehntausende von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt – nur weil sie das Recht auf Freizügigkeit für sich beanspruchten.

Fortwährend wurde das Grenzregime modernisiert und perfektioniert; zu keinem Zeitpunkt verschwendete die SED-Führung in den 28 Jahren nach dem Mauerbau auch nur einen Gedanken an den Abbau der Sperranlagen und die Gestaltung eines politischen Systems, das die Mauer überflüssig gemacht hätte. Dennoch gelang insgesamt etwa 40 000 DDR-Bürgern zwischen Mauerbau und Mauerfall auf zum Teil abenteuerlichen Wegen und unter Inkaufnahme lebensbedrohender Risiken die Flucht durch die Sperranlagen, mehr als 5000 davon in Berlin. In Anlehnung an einen Ausspruch des Grafen Mirabeau, Preußen sei kein Staat mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Staat, hat Stefan Wolle über die DDR gesagt: »Dies war kein Staat mit einer Grenze, sondern eine Grenze mit einem Staat.«22 Die Ausgrenzung, Inhaftierung, Verletzung oder Tötung von Menschen, die ihr Land verlassen wollten, waren Teil eines Systems, das ohne Mauer nicht existieren konnte.

Egon Krenz: »Wir sollten jetzt nach vorne sehen«

Die schwelenden inneren Krisenfaktoren mussten in den mittelosteuropäischen Staaten so wenig wie in der DDR zwangsläufig in die Umbrüche und Revolutionen des Jahres 1989 führen. Für die DDR kamen die entscheidenden Anstöße vielmehr von außen: von den Veränderungen in der Sowjetunion, deren militärischen, politischen und ökonomischen Auswirkungen und den dann einsetzenden Reformprozessen in Polen und Ungarn.

Hervorzuheben ist, dass nicht »Glasnost« und »Perestroika«, sondern »Uskorenije« – sozialökonomische Beschleunigung – am Anfang von Michail Gorbatschows »Neuem Denken« stand, mithin die wirtschaftliche Misere zu Reformen in der Sowjetunion zwang. Zu den strukturellen Problemen der sowjetischen Planwirtschaft – niedrige Arbeitsproduktivität, mangelnde Innovationsfähigkeit, rückläufige Investitionsquoten, schleichender Substanzverlust und überdimensionierte Militärausgaben – traten in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre neue Probleme wie die Erschöpfung von Rohstofflagern im Westen der UdSSR und enorm steigende Erschließungskosten in Sibirien sowie mehrere Missernten in Folge hinzu. Die sowjetische Führung unter Gorbatschow stand somit einer ernsten Wirtschafts- und Versorgungskrise gegenüber. Zu deren Behebung sollten auch die »Bruderländer« beitragen: Schon 1987 kündigte die Sowjetunion an, die Außenhandelspreise im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ab 1991 an die Weltmarktpreise anzupassen – was für die DDR auf einen Mehraufwand von 184 Mrd. Mark jährlich hinauslief und unter den Parteiökonomen blankes Entsetzen hervorrief.23

Nicht wenige Forscher tendieren dazu, die wirtschaftlichen Ursachen des Niedergangs des Kommunismus unterzubewerten. Zumindest für die DDR gehört es jedoch zu den erstaunlichen Archivbefunden nach 1989, in welchem Maße im innersten Machtzirkel der SED schon seit Mitte der 1970er Jahre offen über die zunehmenden Struktur- und Verschuldungsprobleme gesprochen und 1988/89 schließlich sogar über den bevorstehenden Bankrott spekuliert wurde24, während die SED-Propaganda nach außen für die DDR noch unverdrossen einen Rang als zehntstärkste Industrienation der Welt reklamierte und nicht müde wurde, die angeblich »politisch stabile, wirtschaftlich dynamische Entwicklung auf ansteigender Linie«25 anzupreisen. »Wir müssen den Zusammenbruch verhindern«, appellierte Honecker hingegen schon im Juni 1988 an das Politbüro.26 Im kleinen Kreis von Wirtschaftsexperten äußerte Günter Mittag, der für die Wirtschaft zuständige Sekretär des Zentralkomitees, im November 1988 die düstere Zukunftsprognose: »So, wie es jetzt ist, geht es an den Baum, Totalschaden!«27 Und im Mai 1989 gab Gerhard Schürer, Politbürokandidat und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, im kleinen Kreis der für die Wirtschaft verantwortlichen Mitglieder des Politbüros bekannt, dass die Westverschuldung monatlich um 500 Millionen Valutamark zunehme und »bei Fortsetzung dieser Entwicklung die DDR 1991 zahlungsunfähig ist«.28 Die bereits eingeleiteten Kürzungen müssten dringend »mit einer Reihe ökonomischer Maßnahmen im Bereich der Konsumtion« verbunden werden.29 Doch niemand im engeren Kreis der SED-Führung wollte sich der Aufgabe stellen, den Lebensstandard der Bevölkerung einzuschränken. »Was sagen wir dann dem Volk, wie treten wir dann dem Volk gegenüber auf?« fragte der Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch.30 Und Egon Krenz, im Politbüro für Sicherheitsfragen zuständig, gab als richtungweisende Parole aus: »Wir sollten jetzt nach vorne sehen. Es ist für mich gar keine Frage, ob die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik fortgeführt wird. Sie muß fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR!«31 Im Juni 1989 wurde Plankommissions-Chef Gerhard Schürer bei Erich Mielke vorstellig, um dem Stasi-Minister die Lage der Wirtschaft und besonders der Zahlungsbilanz unter vier Augen zu erläutern. Er habe Mielke drastisch verdeutlicht, so Schürer, »dass die DDR, für deren Sicherheit er als Minister die Verantwortung trägt, in kürzester Zeit bankrott gehen wird, wenn nichts Grundsätzliches in der politischen Führung des Landes verändert wird«.32

Plankommissions-Chef Gerhard Schürer bei Stasi-Minister Erich Mielke, Juni 1989:

»Mach’ dir keine Sorgen, Gerhard, man wird uns schon unterstützen«

»Erich Mielke hat mich in seinem Arbeitszimmer empfangen und hat mich eine Stunde reden lassen. Er war nicht uninformiert über die ökonomische Lage, das kann man nicht sagen, er war bestens informiert. Er hat dann gesagt: ›Ist gut, Gerhard, dass du zu mir gekommen bist, das Vertrauen gehabt hast. Mach’ dir keine Sorgen, man wird uns schon unterstützen.‹

In diesem ›man wird uns schon unterstützen‹ habe ich die Hilfe des großen Bruders aus Moskau gesehen – und da hatte ich schon gar keine Hoffnungen mehr. Die haben doch selber ökonomisch auf dem letzten Loch gepfiffen. Der Bevölkerung ging es doch viel dreckiger als der in der DDR. Die haben doch im Rüstungswettlauf alle Mittel verbraucht. Die Verhandlungspartner der Sowjetunion haben, wenn ich etwas für die DDR gefordert habe, manchmal zu mir gesagt: ›So wie ihr möchten wir auch mal den Krieg verlieren, euch geht es doch besser als uns!‹«

Interview mit Gerhard Schürer, 3. 9. 1996

KSZE Wien: »Das Recht eines jeden auf Ausreise aus jedem Land, darunter aus seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land«

Es war nicht nur der fortschreitende ökonomische Verfall, der im Sommer 1989 die SED-Führung zermürbte. Ohnmächtig verfolgte sie schon seit 1987 die Verbesserung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, die im Juni 1989 während eines Staatsbesuches von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow bei Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn in der Unterzeichnung einer »gemeinsamen Erklärung« mündete. Darin anerkannten beide Seiten das Recht eines jeden Staates, »das eigene politische und soziale System frei zu wählen« und die »Achtung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker« als unumstößliche Prinzipien ihrer Politik zu betrachten.33 Nur drei Wochen später brachen die Staaten des Warschauer Paktes auf Initiative der sowjetischen Führung im Juli 1989 auf der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses (PBA) in Bukarest in einem offiziellen Dokument mit dem Superioritäts- und Hegemonieanspruch der Sowjetunion und damit auch mit der Panzerphilosophie der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten (»Breschnew-Doktrin«). Im Kommuniqué der Tagung bekundeten die Partei- und Staatsführer der Ostblock-Länder, dass es »keinerlei universelle Sozialismus-Modelle« gebe und »niemand das Monopol auf die Wahrheit« besitze. Sie unterstrichen die Notwendigkeit, die Beziehungen untereinander »auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechtes eines jeden, selbständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten, zu entwickeln«.34 Im Unterschied zu ihren Nachbarstaaten betrachtete die Führung des ostdeutschen Teilstaates das den »Bruderparteien« damit eingeräumte Recht auf Selbstbestimmung weniger als Gewinn denn als Existenz-Bedrohung. Entfiel die sowjetische Bestandsgarantie für das SED-Regime, so war dieses vor die Aufgabe gestellt, seine Herrschaft fortan mit eigenen Mitteln vor »seinem Volk« zu legitimieren – und dies angesichts des drohenden ökonomischen Bankrotts. Dass SED-Chef Erich Honecker während der Bukarester Tagung eine Gallenkolik erlitt und noch vor der Unterzeichnung des Abschlussdokuments nach Ost-Berlin ausgeflogen werden musste, war von hoher symbolischer Aussagekraft.

Einen weiteren Schock versetzte der SED-Führung schließlich die Außenpolitik Moskaus gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika. Um Fortschritte bei den Abrüstungsverhandlungen mit den USA zu erreichen, erklärten sich Gorbatschow und der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse – ohne Abstimmung mit ihren Verbündeten und, wie die SED-Führung meinte, vornehmlich auf deren Kosten – zu weitgehenden Zugeständnissen in Menschenrechtsfragen bereit. Im Januar 1989 nötigte die Sowjetunion die DDR-Führung regelrecht zu ihrer Unterschrift unter das Wiener KSZE-Abkommen. Darin verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten unter anderem, das Recht eines jeden »auf Ausreise aus jedem Land, darunter aus seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land uneingeschränkt« zu achten. Ähnliche internationale Abmachungen hatte selbst die DDR schon mehrfach unterzeichnet, ohne sie je in innerstaatliches Recht umzusetzen. Doch in Wien verpflichtete sie sich erstmals, dieses Recht – also uneingeschränkte Reisefreiheit – gesetzlich zu garantieren und die Einhaltung dieser Verpflichtung beobachten zu lassen.35

Die Außenpolitik der Sowjetunion zwang somit insbesondere dem Verbündeten in Ost-Berlin innenpolitische Verpflichtungen auf, deren Umsetzung nicht nur die politische Stabilität der DDR, sondern deren Existenz bedrohen konnten: Mit der Durchlässigkeit der Grenze drohte die allmähliche Staatsauflösung.

Die schlimmsten Befürchtungen der SED über das »Einmischungsinstrumentarium« des Wiener Schlussdokuments wurden nach kurzer Zeit noch übertroffen: Die westlichen Staaten setzten die DDR wegen ihrer restriktiven Ausreisepraxis, dem Schießbefehl an der Grenze und immer wieder wegen der Berliner Mauer insgesamt auf internationalen Foren und Konferenzen auf die Anklagebank – und die Sowjetunion und die anderen Ostblockländer gingen zu ihrem »Bruderstaat« zunehmend auf Distanz.

Die Tötung von Chris Gueffroy bei einem Fluchtversuch in Berlin am 5. Februar 1989 und die Schüsse auf drei Flüchtlinge am 10. März 1989, bei denen ein junger Mann verletzt wurde, verstärkten die Proteste gegen die DDR: Es drohte die Isolierung der auf internationale Anerkennung – und Wahrung ihrer Kreditwürdigkeit – bedachten SED-Führung. In dieser Situation wurden die DDR-Grenztruppen auf Befehl Honeckers am 3. April 1989 angewiesen, »die Schußwaffe im Grenzdienst … zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen nicht anzuwenden«. Nur bei Bedrohung des eigenen Lebens dürfe die Schusswaffe noch eingesetzt werden. Diese Befehlsgebung ist am 4. April 1989 bis hinunter zum letzten Grenzposten bekanntgemacht worden und wurde seitdem praktiziert. »Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schußwaffe anzuwenden«, hatte der SED-Generalsekretär und Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates seinen Militärs über den ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, Egon Krenz, ausrichten lassen, wie es der Stabschef der DDR-Grenztruppen in einer Niederschrift festhielt.

Doch am 8. April 1989 stoppte ein Passkontrolleur erneut mit einem Schuss zwei Flüchtlinge, die den Grenzübergang Chausseestraße zu überrennen versuchten – eine Szene, die von West-Berlin aus fotografiert wurde und um die Welt ging. Hintergrund dieses Zwischenfalls war, dass die Passkontrolleure lediglich zur Täuschung die Uniformen der Grenztruppen trugen, tatsächlich aber Angehörige des MfS waren. Das MfS aber war über die Aufhebung des Schießbefehls nicht informiert worden – was nun schleunigst nachgeholt wurde. Auch an den Grenzübergängen in Berlin – wie etwa in der Bornholmer Straße – und an allen Grenzübergängen der DDR zur Bundesrepublik galt fortan für alle bewaffneten Kräfte der Befehl, Grenzdurchbrüche nur noch »ohne Anwendung der Schusswaffe« zu verhindern.

Chronik

Ungarn 1989: Das erste Loch in der Mauer

15. Januar: Unterzeichnung des KSZE-Folgeabkommens in Wien. Der sowjetische Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, gibt später als Äußerung Honeckers wieder: »Wir geben Weisung, dieses Dokument zu unterzeichnen, werden es aber nicht erfüllen.«

2. Mai: Ungarische Grenzsoldaten beginnen mit dem Abbau des Stacheldrahtzaunes zu Österreich.

12. Juni: Der Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention wird rechtswirksam. Danach ist es untersagt, Flüchtlinge in den Staat zurückzuschicken, aus dem sie geflohen sind.

12.– 14. Juni: Der ungarische Staatssicherheitsdienst versichert einer Delegation des MfS: DDR-Bürgern werde auch künftig »eine Ausreise nach der BRD/Österreich oder einem anderen Staat eigener Wahl (…) nicht gestattet«; Grenzverletzer würden an der ungarisch-österreichischen Grenze nach wie vor festgenommen.

13. Juni: Staatsbesuch von Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik, Unterzeichnung der »Gemeinsamen Erklärung«.

27. Juni: Der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock durchschneiden in Anwesenheit der internationalen Presse ein Stück Stacheldrahtzaun bei Sopron am Neusiedlersee.

7. Juli: Der Warschauer Pakt bricht in Bukarest erstmals in einem offiziellen Dokument mit der Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der Mitgliedsländer.

14. Juli: Stasi-Bilanz zu Ungarn: Vom 1. 1. – 12. 7. 1989 haben 618 DDR-Bürger einen Fluchtversuch von Ungarn nach Österreich (oder anderen Staaten) unternommen, 406 wurden verhindert, 212 waren erfolgreich. 148 DDR-Bürger, die eine Flucht über Ungarn planten, wurden bereits in der DDR festgenommen.

31. Juli: In mehreren diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik im Ostblock, darunter auch in Budapest und Ost-Berlin, halten sich mehr als 150 ausreisewillige DDR-Bürger auf.

7. August: Die SED-Führung kündigt die sogenannte »Anwaltszusage« auf. Rechtsanwalt Vogel teilt dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen mit, dass er Zufluchtsuchenden in den Vertretungen der Bundesrepublik nur noch Straffreiheit bei Verlassen und Rückkehr in die DDR, nicht aber mehr wie bisher eine schnelle positive Entscheidung des Ausreiseantrags zusagen könne.

8. August: Die Bonner Vertretung in Ost-Berlin wird geschlossen. Sie ist von 130 ausreisewilligen DDR-Bürgern besetzt. Die DDR weigert sich, den Besetzern mehr als nur Straffreiheit zu gewähren.

13. August: Die Bonner Botschaft in Budapest, in der sich 180 DDR-Bürger aufhalten, wird geschlossen, am 24. August auch die Botschaft in Prag. – Bis zu 100 DDR-Bürgern gelingt täglich die Flucht von Ungarn nach Österreich, Hunderte werden jedoch noch festgenommen.

19. August: Das Ungarische Demokratische Forum und weitere ungarische Oppositionsgruppen laden unter Schirmherrschaft des Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg und des ungarischen Reformpolitikers Imre Pozsgay, Mitglied des Politbüros der USAP und Staatsminister, zu einem »paneuropäischen Picknick« an die ungarisch-österreichische Grenze bei Sopron ein. Dort soll durch die symbolische Öffnung eines Grenztores und eine »einmalige, okkasionelle Grenzüberschreitung« für einen Abbau der Grenzen und ein geeintes Gesamteuropa demonstriert werden. Über 600 DDR-Bürger reißen ein Grenztor nieder und stürmen nach Österreich. Nach wenigen Stunden wird das Loch wieder geschlossen.

Die gefahrlose Grenzüberquerung, so wird später bekannt, soll durch ein Stillhalteabkommen zwischen Staatsminister Pozsgay, dem Innenminister und dem Chef der Grenztruppen ermöglicht worden sein – auch als Test, wie die Sowjetunion auf derartige Aktionen reagiert.

22. August: Der DDR-Bürger Kurt-Werner Schulz wird bei einem Fluchtversuch nach Österreich im Handgemenge von einem ungarischen Grenzposten erschossen.

24. August: In Polen wird Solidarność-Mitbegründer Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten gewählt.

DDR-Bürger, die bis dahin die bundesrepublikanische Botschaft in Budapest besetzt haben, können mit Papieren des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes per Flugzeug nach Österreich ausreisen. Im Gegenzug schließt die Bundesregierung ihre Botschaft auf unbestimmte Zeit für den Besucherverkehr.

25. August: In Bonn kommen der ungarische Ministerpräsident, Miklos Németh, und Außenminister Gyula Horn mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu einem Geheimtreffen auf Schloss Gymnich zusammen. Miklos Németh eröffnet das Gespräch nach seinen Angaben mit den Worten: »Herr Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben. Wir haben uns dazu vor allem aus humanitären Gründen entschieden.« Horst Teltschik zufolge versichert Kohl seinen Gesprächspartnern, die Nachteile auszugleichen, die Ungarn durch eventuelle Vergeltungsmaßnahmen der DDR entstehen würden. Die Bundesregierung gewährt Ungarn im Gegenzug, aber zeitlich versetzt, einen zusätzlichen Kredit über 500 Millionen DM und verspricht die Aufhebung des Visazwangs und politische Hilfe beim angestrebten EG-Beitritt.

31. August: 150 000 DDR-Bürger halten sich zu dieser Zeit in Ungarn auf, darunter mindestens 10 000 mit Ausreiseabsichten in die Bundesrepublik. Dies teilt der ungarische Außenminister, Gyula Horn, DDR-Außenminister Oskar Fischer sowie Honecker-Vertreter Günter Mittag mit und kündigt an, die ungarisch-österreichische Grenze ab dem 11. September für DDR-Bürger zu öffnen.

8. September: Aufgrund von Zusicherungen von DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel verlassen alle DDR-Bürger die Ständige Vertretung in Ost-Berlin. Sie wird anschließend für den Besucherverkehr geschlossen.

10./11. September: Der ungarische Außenminister, Gyula Horn, gibt die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger ab 0.00 Uhr schon um 19.00 Uhr im ungarischen Fernsehen bekannt – so rechtzeitig, dass bereits die »Tagesschau« um 20.00 Uhr darüber berichten kann. Zehntausende von DDR-Bürgern reisen in den nächsten Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik aus.

In Polen und Ungarn wurden demokratische Reformen hin zu einem Mehrparteiensystem eingeleitet – von unten erzwungen, aber im Unterschied zur DDR auch von Partei-Reformern von oben vorangetrieben. Vier Tage bevor der Sejm am 24. August 1989 mit dem Oppositionellen und Solidarność-Berater Tadeusz Mazowiecki den ersten Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen wählte, der nicht der kommunistischen Partei angehörte, schlug der rumänische Machthaber, Nicolae Ceaușescu, in Ost-Berlin und den anderen Ostblock-Hauptstädten Alarm und zeigte, dass er die jüngsten Beschlüsse des Warschauer Vertrages nicht verstehen wollte. Der DDR-Botschafter in Bukarest, Herbert Plaschke, meldete Honecker die Ansicht Ceausescus, dass die Entwicklung in Polen die Macht der Arbeiterklasse gefährde und ein Abgehen von sozialistischen Prinzipien bedeute. Die Situation gefährde die Interessen des Sozialismus einschließlich des Warschauer Vertrages und diene den Interessen der NATO. Es müsse alles für die Bildung einer Regierung durch die polnische kommunistische Partei getan werden. Das war nicht weniger als eine kaum verhüllte Aufforderung zu einer gemeinsamen Intervention des Warschauer Paktes in Polen. In Ost-Berlin landete die Kriegserklärung an die polnische Opposition nicht bei Honecker, der erkrankt war, sondern bei Günter Mittag, der ihn vertrat und der das Telegramm kommentarlos an die Politbüro-Mitglieder zur Lektüre weiterreichte.36 Eine Reaktion der SED-Führung darauf ist nicht bekannt.

Zu diesem Zeitpunkt stand die SED-Führung längst mit dem Rücken an der Wand, was zu der ihr vielfach bescheinigten Verunsicherung und der daraus resultierenden »Sprachlosigkeit« führte. Zwar wuchs innerhalb der Parteimitgliederschaft der Unmut über die Führung, doch zeichnete sich keinerlei nennenswerte Strömung gegen die Parteispitze ab, von einer innerparteilichen Opposition ganz zu schweigen.37

Die Dynamik für die weitere Entwicklung bis zum Herbst 1989 ging in der DDR zunächst von dem Flüchtlingsstrom – und vor allem der Fernsehberichterstattung darüber38 – aus: von den mehr als 100 000 Antragstellern auf eine Ausreise aus der DDR und ihren Besetzungsaktionen bundesdeutscher Botschaften in Warschau, Prag und Budapest.39

Plankommissions-Chef Gerhard Schürer:

»Wir sind doch das Einflußgebiet der mächtigen Sowjetunion«

»Es war ein Zeichen der Auflösung. Es war nicht einfach ein Flüchtlingsstrom, die ganze Entwicklung ging dem Ende zu. Ich habe eigentlich gesehen, was kommt, ich habe es nur nicht glauben wollen. Ich habe mir immer eingeredet, die DDR kann doch nicht untergehen, immer wieder von dem Gedanken aus, wir sind doch das Einflußgebiet der mächtigen Sowjetunion.«

Interview mit Gerhard Schürer, 3. 9. 1996

Zwar hatte die Anzahl von systemkritischen und oppositionellen Gruppierungen in der DDR seit Mitte der 1980er Jahre zugenommen.40 Frieden und Umwelt, Demokratie, Menschenrechte und insbesondere auch Freizügigkeit waren ihre Themen. Nicht wenige Pfarrer waren engagiert; die evangelische Kirche diente vielen Gruppen als Schutzraum. In den runden Jubiläumsjahren der Herbstrevolution entstand gelegentlich in der Öffentlichkeit der Eindruck, als sei der von diesen unabhängigen und Bürgerrechtsgruppen organisierte Protest während des Jahres 1989 stetig angeschwollen: von den Protesten gegen die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse im Mai über Aktionen gegen die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Studentenunruhen im Juni und der Gründung der Oppositionsbewegung Neues Forum am 9./10. September, weiterer Gruppen danach und schließlich der Sozialdemokratischen Partei (SDP) bis hin zu den Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Plauen, Karl-Marx-Stadt und Berlin im September und Anfang Oktober 1989.

Aber dieser Eindruck trügt. Die oppositionellen Gruppen blieben bis in den Sommer 1989 hinein weitgehend unter sich und vermochten breitere Teile der Bevölkerung kaum zu erreichen.41 Bei öffentlichen Protestaktionen waren bis dahin selten mehr als einige Hundert Menschen zusammengekommen – und dies auch nur an wenigen Orten.

Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit, Ost-Berlin, 31. 8. 1989:

»Wir haben die Sache fest in der Hand«

»Genosse Minister [Erich Mielke]: Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht? Genosse Oberst Dangrieß: Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da. (…)

Genosse Generalleutnant Hummitzsch: Ansonsten, was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minister, wir haben die Sache fest in der Hand, sie ist stabil.« [Quelle: Auszug aus einer Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit, Berlin, 31. 8. 1989, zit. nach: Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe Euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar bis November 1989, Berlin 1990, S. 125 ff.]

BND-Lageeinschätzung zur DDR, Pullach, 27. 9. 1989:

»… eine explosive Mischung … ist nicht zu erkennen«

»Die spektakulären Fluchten von DDR-Bürgern über Ungarn haben nach ersten Hinweisen das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Resignation in der Bevölkerung stark vertieft und verbreitet. Selbst SED-Mitglieder stehen fassungslos dem Phänomen gegenüber, daß Angehörige einer Generation, die im Sozialismus aufgewachsen ist, massenhaft die DDR verlassen.

Eine explosive Mischung, die zu Entwicklungen vergleichbar dem 17. Juni 1953 führen könnte, ist jedoch nicht zu erkennen. Gefährliche Massendemonstrationen dürften die Sicherheitsorgane bereits im Zeitpunkt des Entstehens erkennen und zerschlagen. (…)

In der durch den Massenexodus über die ungarisch-österreichische Grenze entstandenen Stimmungslage kam es in der DDR zur Gründung neuer ›oppositioneller‹ Gruppen, deren Bedeutung in der westlichen Presse z. T. weit überschätzt wird. (…)

Eine Verbindung oder gar Unterstützung der sozialkritischen Gruppen durch die Sowjetunion ist nicht bekannt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich um Randgruppen handelt, die über keine politische Machtbasis verfügen.«

Bundesnachrichtendienst/Ref. 32C, betr.: PKK-Sitzung am 27. 9. 1989, hier: DDR, BA, B 206/587, Bl. 70–75, hier Bl. 73 f.

Erst nach der Gründung des Neuen Forums am 9. /10. September 1989 und weiterer Gruppen wie dem »Demokratischen Aufbruch« und »Demokratie Jetzt« trat ein sprunghafter Zulauf ein, den nicht nur der DDR-Staatssicherheitsdienst und der Bundesnachrichtendienst, sondern auch die Oppositionellen selbst nicht vorhersahen. Im Gegenteil: Die Gründungsmitglieder des Neuen Forums waren trotz der massiven Ausreisebewegung vom Stillstand der Verhältnisse in der DDR so überzeugt, dass sie ihr Folgetreffen erst auf den 2. Dezember 1989 festlegten.42 Mitte September 1989 rechneten demnach auch die Bürgerrechtsaktivisten nicht mit den schon wenige Wochen später einsetzenden revolutionären Ereignissen: ein Indiz dafür, »dass die Opposition den Entwicklungen praktisch ebenso hinterhereilte wie alle anderen politischen Handlungsträger im In- und Ausland«.43 Wie diese wurden sie von dem Ausbruch der Großdemonstrationen überrascht. Der Anfang Oktober schnell anschwellende und auf zahlreiche Städte überspringende, offene Protest folgte auf die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger am 10. /11. September 1989.44

Michail S. Gorbatschow:

»Sie taten es einfach«

»Daß die ungarische Führung uns anrief und um Erlaubnis fragte, die Grenzen zu öffnen – solch ein Gespräch fand gar nicht mehr statt. Sie taten es einfach. Sie begriffen, daß die Situation schon weit genug fortgeschritten war, um diesen Schritt zu vollziehen. Und daß dieser Schritt verstanden werden würde.«

Interview mit Michail S. Gorbatschow, 8. Dezember 1998

Zehntausende euphorisierte Deutsche aus der DDR reisten in den nächsten Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik aus. Die Moskauer Führung war über diesen Schritt, mit dem die Ungarn ihre Rolle als Hilfsgrenzpolizei vor allem für die DDR aufkündigten und mit der Demontage der Sperranlagen das erste große Loch in den Eisernen Vorhang zwischen den Staaten des Warschauer Vertrages und der NATO schlugen, von der ungarischen Regierung nicht konsultiert worden. Die sowjetische Vormacht, so erklärten später Ministerpräsident Miklos Németh und auch Außenminister Gyula Horn, sei erst am letzten Tag informiert worden: »Es war offensichtlich, daß sie schon lange von unserem Vorhaben wußten. (…) Da wir uns bis zum letzten Moment in Schweigen gehüllt und die Sowjets nicht in die Sache einbezogen hatten, kamen sie umhin, dazu Stellung nehmen zu müssen.«45

Der Ernst der dadurch für die DDR entstandenen Lage blieb Moskau allerdings nicht verborgen. Schon in der Lagebesprechung der sowjetischen Botschaft am 6. September in Ost-Berlin hatte Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow die Situation als die vielleicht »brisanteste in der Geschichte der DDR« bezeichnet. Es gehe »nicht nur um die DDR, sondern um die ganze sozialistische Gemeinschaft. Der Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen, Ungarn, Bulgarien ist offensichtlich. Die DDR destabilisieren würde bedeuten, die Situation in der sozialistischen Gemeinschaft völlig zu modifizieren.«46 Vierzehn Tage später, nach seiner Rückkehr aus Moskau, wo er an der Plenarsitzung des Zentralkomitees der KPdSU teilgenommen hatte, berichtete Kotschemassow den Botschaftsangehörigen, dass Gorbatschow ihm gegenüber zwar betont habe, die DDR sei für die Sowjetunion ein so wichtiges Land, »daß wir ihre Destabilisierung unter keinen Umständen zulassen können. (…) In Moskau herrsche eine große Beunruhigung wegen der Situation in der DDR. Es gebe nur eine Aufgabe – die DDR zu halten.« Die Generallinie Gorbatschows jedoch sei: »Wir unterstützen die DDR, aber nicht auf Kosten unserer Interessen in der BRD und in Europa insgesamt.«47

Es ist mehr als fraglich, ob sich Michail Gorbatschow noch von vertraulichen Mitteilungen wie denen der britischen Premierministerin Margaret Thatcher beeindrucken ließ, die ihm am 23. September 1989 in Moskau versicherte, Großbritannien und Westeuropa seien »nicht an der Vereinigung Deutschlands interessiert«. Die in der NATO-Erklärung niedergeschriebenen Worte klängen zwar anders – aber Gorbatschow möge sie einfach ignorieren. Thatcher: »Wir wollen die Vereinigung Deutschlands nicht. Dies würde zu Veränderungen der Nachkriegsgrenzen führen, und das können wir nicht zulassen, da eine solche Entwicklung die Stabilität der gesamten internationalen Lage beeinträchtigen und zu einer Bedrohung unserer Sicherheit führen könnte. Wir sind auch nicht an der Destabilisierung Osteuropas oder der Auflösung des Warschauer Paktes interessiert.«48 Relevanter für Gorbatschow waren zu diesem Zeitpunkt möglicherweise unter anderem die Berichte des KGB: »Alle unsere besten Quellen«, so Sergej Kondraschow, damals Chefberater von KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, hätten im Sommer 1989 berichtet, »dass die deutsche Teilung nicht länger aufrechtzuerhalten sei«.49

Erich Honecker: »Man sollte ihnen keine Träne nachweinen«

Das Bündnis ihres Bruderlandes Ungarn mit dem imperialistischen Klassenfeind BRD und die Zuschauerhaltung der Sowjetunion musste die SED-Spitze als schlimme Demütigung empfinden. Sie reagierte zutiefst verärgert und gereizt. Auf die eigene Kraft verwiesen, stand auf der Politbüro-Sitzung vom 12. September, in der Günter Mittag den erkrankten Honecker vertrat, als erste zu behandelnde Frage, wie »das Loch Ungarn zuzumachen«50 sei, denn die Beantragung von Reisen nach Ungarn war überall in der DDR sprunghaft angestiegen. Und nicht nur der Abteilung Pass- und Meldewesen im Volkspolizei-Kreisamt Magdeburg fiel auf, dass die Reisezeit mit drei bis vier Tagen häufig auffällig kurz war und selbst im Oktober noch als Campingurlaub angegeben wurde.51 Um »schwere Einbußen« an Bürgern zu vermeiden, schlug Mittag vor, »die Ausreisen nicht mehr so global durchzuführen wie bisher. Wieso müssen die wackligen Kandidaten fahren? Diese interne Regelung darf allerdings nicht unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Wir würden sie verärgern. MfS und MdI sollen diese Maßnahmen durchführen.«52 Auf diese Weise halste die SED-Führung die Lösung ihres politischen Dilemmas letztendlich den Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden auf.

Die ratlosen Aktionen des Politbüros waren nicht geeignet, die Situation zu beruhigen, geschweige denn das Ausreiseproblem zu lösen. In der zweiten Septemberhälfte setzte sich nicht nur die Fluchtbewegung über Ungarn fort, sondern ausreisefordernde DDR-Bürger besetzten erneut auch die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau.

Um die Lage in Polen und in der ČSSR zu bereinigen, ließ die SED-Spitze am 30. September und erneut in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober etwa 14 000 ausreisewillige DDR-Bürger aus den Prager und Warschauer Botschaften der Bundesrepublik in verriegelten Zügen der Deutschen Reichsbahn in die Bundesrepublik reisen.53 »Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt«, schleuderte ihnen das »Neue Deutschland« in einem von Erich Honecker redigierten hasserfüllt-bitteren Kommentar nach. »Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.«54 Der Transport erfolgte nicht auf direktem Weg über die tschechoslowakisch-bayerische Grenze, sondern über das Territorium der DDR. Damit sollte die Souveränität der DDR und ihre Verfügungsgewalt über die Flüchtlinge demonstriert werden. Den Flüchtlingen wurden in den Zügen die Personaldokumente abgenommen, um sie nachträglich ausbürgern zu können. Außerdem war es den DDR-Behörden nur in Kenntnis der Personalien möglich, sich des Eigentums der »Abtrünnigen« zu bemächtigen sowie Sperrmaßnahmen über die Ausgereisten zu verhängen und Besuchsreisen in die DDR sowie die Benutzung der Transitstrecken zu verhindern.

Stasi-Information, 3. 10. 1989

Gorbatschow an Honecker: »Angelegenheit Prag« lösen

»Durch zielgerichtete Indiskretionen des DDR-Rechtsanwaltes Prof. Dr. Wolfgang Vogel gegenüber dem DDR-Korrespondenten des ›Spiegel‹, Schwarz, Ulrich, wurden diesem am Morgen des 3. 10. 1989 bei einem Besuch bei dem Rechtsanwalt folgende Hinweise bekannt:

–Der Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Genosse Michail Gorbatschow, habe seinen Besuch in der DDR zum 40. Jahrestag nur unter der Bedingung zugesagt, daß die ›Angelegenheit Prag‹ bis zum 7. 10. 1989 gelöst sei.

–Genosse Honecker habe sich auf diesen Druck hin zur ersten Abtransport-Aktion von DDR-Bürgern aus Prag über die DDR in die BRD in der Nacht zum 1. 10. 1989 entschlossen, obwohl er sich über die Konsequenz, eine sehr schnelle erneute Besetzung der BRD-Botschaft in Prag durch ausreisewillige DDR-Bürger, vollkommen im klaren gewesen sei. Damit habe er Genossen Gorbatschow drastisch demonstrieren wollen, daß dieser im Unrecht sei.«

BStU, ZA, MfS-Neiber 224, Bl. 98

Am 3. Oktober 1989 ließ Honecker die DDR-Grenze zur ČSSR schließen. Bei der Durchfahrt der Züge aus Prag kam es in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober und am darauffolgenden Tag in Dresden zu teilweise brutalen Auseinandersetzungen zwischen Ausreisewilligen, die versuchen wollten, noch irgendwie in die Züge hineinzukommen, und bewaffneten Kräften. »Mit ihrer zynischen Unnachgiebigkeit«, kommentiert Pollack, »trug die Führungsriege der SED selbst zur Formierung des Protests auf den Straßen bei.«55 Statt den ungestörten Ablauf der Festlichkeiten der Partei- und Staatsführung zum 40. Jahrestag der DDR zu gewährleisten, leiteten die Durchfahrt der Züge aus Prag und die Grenzschließung zur ČSSR den Übergang zum offenen Protest in der DDR ein.

Herbstrevolution

Ausreisedruck, Demonstrationen und der Sturz Honeckers

Es war die Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn, die das Machtverhältnis zwischen Regime und Bevölkerung in der DDR auf entscheidende Weise verschob.1 Die Ausreisebewegung erzeugte eine breiter werdende Gegenbewegung derjenigen, die in der DDR bleiben wollten und zum ersten Mal seit dem Volksaufstand von 1953 die Chance sahen, dafür dem Regime Bedingungen zu stellen: »Wir bleiben hier, aber nur, wenn es nicht so bleibt, wie es ist«, lautete eine frühe Leipziger Demonstrations-Losung. Die neu eröffnete Möglichkeit der Ausreise über Ungarn ließ sich als Druck- und Drohmittel einsetzen, um für das Dableiben in der DDR einen politischen Preis zu verlangen. Die Flucht- und Ausreisebewegung schwächte das politische Widerstandspotenzial im Land nicht länger, sondern gab ihm eine gesellschaftliche Berechtigung. Die Massenausreise über Ungarn unterminierte in nie dagewesener Weise die Staatsautorität und wurde zur Voraussetzung und Bedingung des sich entfaltenden Massenprotests.2

In Leipzig versammelten sich am 18. September mehr als 1000 Menschen zum Friedensgebet in der Nikolaikirche, mehrere Hundert demonstrierten auf der Straße, 31 wurden vorläufig verhaftet. »Wir bleiben hier!« lauteten die Sprechchöre jetzt und nicht mehr, wie in den zurückliegenden Wochen: »Wir wollen raus!«3

Die Synode des Evangelischen Kirchenbundes verabschiedete am 19. September in Eisenach einen Beschluss, in dem sie eine pluralistische Medienpolitik, demokratische Parteienvielfalt, Reisefreiheit für alle Bürger, wirtschaftliche Reformen und Demonstrationsfreiheit als »längst überfällige Reformen« einklagte. Gewerkschaftsmitglieder aus dem VEB Bergmann-Borsig, einem Berliner Großbetrieb, verliehen gegenüber FDGB-Chef Harry Tisch ihrer Empörung Ausdruck, »die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen«. Wie Rockmusiker und Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler und selbst Vertreter der Blockparteien forderten sie die Partei zum öffentlichen Dialog mit allen Kräften in der Gesellschaft auf. Am 19. September griff das Neue Forum als erste der unabhängigen Gruppen das Organisationsmonopol der SED an und beantragte offiziell seine Zulassung als Vereinigung.

In der letzten Septemberwoche, 14 Tage vor dem als festliche Großveranstaltung geplanten 40. Jahrestag der DDR, meldete sich Erich Honecker, der seit Juli krankheitsbedingt ausgefallen war, in der Führung zurück. Fest entschlossen, all diesen »Provokationen« ein schnelles Ende zu bereiten, wies er am 22. September die Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen in einem Fernschreiben an, »daß diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen, daß keine Massenbasis dafür zugelassen wird«. Zugleich sei Sorge dafür zu tragen, »daß die Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden«.4

Doch schon die Leipziger Montagsdemonstration am 25. September, an der sich mehr als 5000 Menschen beteiligten und die Zulassung des Neuen Forums forderten, ließ sich aufgrund der verbreiterten Massenbasis nicht mehr »im Keime ersticken«. Am gleichen Tage erhielten Bärbel Bohley und Jutta Seidel als Gründungsmitglieder im Innenministerium den Bescheid, dass ihr Antrag auf Zulassung des Neuen Forums als Vereinigung abgelehnt wurde. Das Politbüro bestätigte diese Entscheidung und bekräftigte ihre Endgültigkeit.5 Mielkes Stellvertreter, Rudolf Mittig, rief am 26. September die stellvertretenden Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zusammen und gab als Parole aus, die »feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse« mit dem Ziel der Zerschlagung »operativ zu bearbeiten«. Das MfS sollte in diesen Gruppen – nicht zuletzt mit Hilfe seiner darin vertretenen inoffiziellen Mitarbeiter – Grabenkämpfe forcieren, Misstrauen säen, die Mitglieder aufsplittern und versuchen, die Politisierung der Gruppen durch das Aufwerfen von Organisations- und Strukturfragen zu stoppen.6

Ebenfalls am 26. September befahl Honecker zur »Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung« und »zur Verhinderung von Provokationen unterschiedlicher Art« am Jahrestag der DDR die Herstellung der Führungsbereitschaft der Bezirkseinsatzleitung Berlin sowie der Kreiseinsatzleitungen der Berliner Stadtbezirke.7 Auf der Grundlage dieses Befehls des Vorsitzenden des NVR brachte Verteidigungsminister Heinz Keßler am nächsten Tag vorsorglich Truppenteile der Nationalen Volksarmee für die Zeit vom 6. bis zum 9. Oktober befehlsmäßig für einen Einsatz in Berlin in Stellung.8

Am Abend des 2. Oktober skandierten rund 20 000 Menschen auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Von Sondereinsatzkräften wurde ein Teil der Demonstranten eingekesselt. Es gab zahlreiche Verletzte und »Zuführungen«. Als Volkspolizisten eine Durchsage über Lautsprecher mit »Hier spricht die Volkspolizei« begannen, entgegnete die Menge: »Wir sind das Volk!«, wie sich der Schriftsteller Martin Jankowski erinnert. Gegenüber der Volkspolizei sollte damit klargestellt werden, so Jankowski, »dass sie gerade diejenigen bekämpften, die zu schützen sie dem eigenen Namen nach eigentlich den Auftrag hatten – das Volk«9. Die Parole »Wir sind das Volk« sollte den Aufstand bis zu den Tagen des Mauerfalls befeuern.

Der militärische Ernstfall trat für die SED-Führung weder in Berlin noch in Leipzig ein, sondern am Abend des 4. Oktober in Dresden. Dort stürmten überwiegend Ausreisewillige aus der ganzen DDR den Hauptbahnhof mit der Absicht, auf die Züge aufzuspringen, mit denen die Prager Botschaftsflüchtlinge durch die DDR in die Bundesrepublik transportiert werden sollten. Nach der Grenzschließung zur ČSSR symbolisierten die Züge für viele die letzte Hoffnung auf eine freie Ausfahrt aus der DDR. Rund um den Dresdener Hauptbahnhof kam es, so ein Bericht des MfS, »nach Ansammlungen von bis zu ca. 20 000 Personen zu tumultartigen Ausschreitungen (…), so daß die Gefahr einer vollständigen Besetzung des gesamten Bahnhofgeländes bestand«.10

Als Erich Mielke und Hans Modrow, dem Dresdener SED-Chef, an diesem Abend gemeldet wurde, dass die Situation in Dresden außer Kontrolle zu geraten drohte, wandten sie sich zwischen 22.00 und 23.00 Uhr mit der Bitte um Unterstützung an die NVA-Führung. Der Auftrag der NVA war in der DDR-Verfassung auf den Schutz vor äußeren Angriffen beschränkt, doch jetzt wurde sie gegen die eigenen Bürger mobilisiert. Verteidigungsminister Keßler löste sofort für den gesamten Militärbezirk III (Leipzig) der Landstreitkräfte die Alarmstufe »Erhöhte Gefechtsbereitschaft« aus und befahl, aus den strukturmäßigen Einheiten der NVA Hundertschaften zu bilden. Mit der Aufgabe, die Polizeikräfte im Raum Dresden zu unterstützen, erhielten die Soldaten ihre Maschinenpistolen und scharfe Munition.11 In der Nacht vom 4. auf den 5. und vom 5. auf den 6. Oktober wurden NVA-Truppenteile mit einer Stärke von etwa 2000 Mann in Dresden in Einsatzbereitschaft versetzt. Drei der am 5. Oktober formierten 21 Hundertschaften wurden an diesem Tag, fünf der 17 bereitgehaltenen Hundertschaften am 6. Oktober mit polizeilichen Aufgaben in praktische Einsätze geführt.

Trotz der militärischen Vorbereitungsmaßnahmen und trotz der zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Volkspolizei und Demonstranten in der ersten Nacht12 – danach verliefen die Demonstrationen von Seiten der Teilnehmer friedlich, die Polizeieinsätze jedoch vergleichsweise brutal13 – hob der Verteidigungsminister am Vormittag des 6. Oktober den Befehl zur Mitführung von Maschinenpistolen und scharfer Munition auf nachhaltiges Drängen von verschiedener Seite auf; die weiterhin bereitgehaltenen NVA-Einheiten wurden ab diesem Zeitpunkt mit Gummiknüppeln ausgerüstet. Außer in Dresden kamen Kräfte der NVA auch bei Demonstrationen in Karl-Marx-Stadt und Plauen zum Einsatz.

Bis zum 7. Oktober wurden zahlreiche Demonstranten in verschiedenen Städten durch brutale Übergriffe der Volkspolizei und Staatssicherheit verletzt und mehrere Tausend Menschen bei der Auflösung von Demonstrationen polizeilich »zugeführt«. Unverkennbar war jedoch, dass die Aufgabe, die Demonstrationen »im Keime zu ersticken«, allein mit Polizeiaktionen nicht zu erfüllen war. Vor der Anwendung des letzten Mittels aber, dem Einsatz der Armee in ihren militärischen Strukturen und mit schwerer Kampftechnik, schreckte die SED-Führung offenbar zurück. Noch war die Frage offen, ob es im Hinblick auf einen Einsatz der NVA bei der »Dresdener Linie« bleiben würde oder ob sich die SED-Führung die Zurückhaltung ihres letzten Mittels einer militärischen Intervention allein im Hinblick auf den ungestörten Ablauf der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR selbst auferlegt hatte, um davon umso ungehemmter Gebrauch zu machen, sobald die DDR nicht mehr im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit stand.

Losungen wie »Vorwärts immer, rückwärts nimmer«, »Unser Arbeitsplatz ist ein Kampfplatz für Frieden und Volkswohlstand« und »Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes eigen sein« schmückten die vom Politbüro bestätigte Festansprache Honeckers zum 40. Jahrestag. Wie die anderen sozialistischen Länder, tat er kund, würde die DDR »die Schwelle zum Jahr 2000 mit der Gewißheit überschreiten, daß dem Sozialismus die Zukunft gehört. (…) Seine Existenz gibt nicht nur unserem Volk neue Hoffnung, sondern der ganzen Menschheit.«14

Demgegenüber hatte Michail Gorbatschow sowohl in seiner Grußansprache wie in einer internen Beratung mit dem Politbüro reformorientierte Akzente gesetzt. Er hob die »wachsende Vielfalt der Formen der Produktionsorganisation, der sozialen Strukturen und der politischen Einrichtungen« als charakteristisch für die sozialistische Welt wie für die gesamte Zivilisation hervor. »Die Versuche der Unifizierung und Standardisierung in Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, einerseits der Nachahmung, andererseits der Aufzwingung von irgendwelchen verbindlichen Mustern«, so seine Lektion, »gehören der Vergangenheit an. (…) Die Auswahl der Entwicklungsformen ist eine souveräne Angelegenheit eines jeden Volkes. (…) Vor allen Dingen sollten unsere westlichen Partner davon ausgehen, daß die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden.«15 In einem spontanen Interview an der Ost-Berliner Neuen Wache ließ Michail Gorbatschow den Satz fallen: »Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren!« Vor dem SED-Politbüro variierte er diesen Satz: »Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.« Nicht Gorbatschow, sondern sein Pressesprecher, Gennadi Gerassimow, machte daraus am Abend den Ausspruch »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!« – ein dezenter Hinweis an die SED-Spitze, endlich auch in der DDR einen Erneuerungsprozess einzuleiten.

Michail S. Gorbatschow:

»Honecker blieb hart wie die Berliner Mauer«

»Krenz, Stoph, Modrow und nicht nur sie, sondern fast die Hälfte der Führung Honeckers war auf Veränderungen geistig vorbereitet, auf eine gewisse Synchronisation des Lebens und der Prozesse in Zusammenhang mit der Perestroika. Aber Honecker blieb hart wie die Berliner Mauer. Letztendlich jedoch hielt Honecker nicht stand – genauso wenig wie die Berliner Mauer […] Wir wußten, daß Honecker vor uns vieles verbarg: sowohl in der Politik als auch in Bezug auf den Zustand der Wirtschaft. Über alle Jahre hinweg trugen seine Informationen Jubelcharakter: optimistisch, übermäßig optimistisch.

Aber wir wußten, daß es nicht so war. Und in vielem machte man seitens der Regierung Honecker von dem Nutzen Gebrauch, den man aus der Zusammenarbeit mit der UdSSR zog, besonders was Energieressourcen angeht, für die man in bedeutendem Maße im Ausland Devisen realisierte; von uns hat die DDR Energieressourcen auf Clearingbasis bekommen. Warum soll man das verheimlichen! Die Regierung Honecker erhielt solide Unterstützung auch von der Regierung der BRD, so daß tatsächlich die Situation so war, wie sie sich uns darstellte. Eigenständig konnte die DDR nicht existieren, das heißt: Sie war bankrott.

Aber nichtsdestotrotz versuchte Honecker sogar, mich für dumm zu verkaufen, als ich zu den Feiertagen kam, am 7. Oktober. Ich war entsetzt, wie man so sagt. Ich war entsetzt. Drei Stunden unterhielt ich mich mit ihm.

Ich wollte, daß unser Gespräch freundschaftlich verlief. Ich ließ niemals zu, weder Honecker noch sonst jemandem irgendwelche moralischen Standpauken zu halten und noch weniger, Kommandos zu geben – das war einfach ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen. Und wenn es eine Aufzeichnung dieses Gespräches gibt, können Sie feststellen, daß es genau so war. Ich denke nichtsdestotrotz, daß er irgendwie inadäquat reagierte auf mein Gespräch. Und er fuhr fort, mich von den mächtigen Errungenschaften der DDR überzeugen zu wollen.«

Interview mit Michail Gorbatschow, 8. Dezember 1998

In den Abendstunden des 7. Oktober lösten MfS und Volkspolizei einen Demonstrationszug von mehreren Tausend Menschen in Berlin gewaltsam auf. Der Einsatz der Sicherheitskräfte, die einen massenhaften Grenzdurchbruch nach West-Berlin befürchteten, erfolgte mit großer Brutalität. Auch am nächsten Tag kam es in Berlin zu brutalen Übergriffen gegenüber Demonstranten.

Die Anwendung staatlicher Gewalt schien zu eskalieren, und die Vorbereitungen auf die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober ließen das Schlimmste befürchten. Am 8. Oktober teilte Honecker den Ersten Sekretären der Bezirksleitungen telegraphisch mit, dass die Demonstrationen des Vortages »gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres sozialistischen Staates gerichtet waren«. Es sei damit zu rechnen, dass es zu weiteren »Krawallen« käme. Für diesen Fall erteilte er den Befehl: »Sie sind von vornherein zu unterbinden.«16 Erich Mielke ordnete am gleichen Tag »volle Dienstbereitschaft« für alle Angehörigen des MfS und die Bereithaltung ausreichender Reservekräfte an, »deren kurzfristiger Einsatz auch zu offensiven Maßnahmen zur Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen zu gewährleisten ist«. Stasi-Mitarbeiter hatten bis auf Widerruf ihre Dienstwaffe ständig bei sich zu führen.

Gegen die erwarteten 50 000 Leipziger Demonstranten wurden mindestens 8000 Einsatzkräfte – Volkspolizisten, zentrale Reserven des MdI, Kampfeinheiten des MfS, Betriebskampfgruppen, Hundertschaften der NVA – aufgestellt; daneben erhielten rund 5000 »gesellschaftliche Kräfte« – Mitglieder bzw. Mitarbeiter der SED sowie staatlicher Organe – den Parteiauftrag, die Feinde ideologisch und agitatorisch zu überwältigen. Sollte es diesem Massenaufgebot wider Erwarten nicht gelingen, die Demonstranten abzudrängen und an der Bildung eines Demonstrationszuges zu hindern, war als nächste Maßnahme die Auflösung bzw. Aufspaltung des Demonstrationszuges mit anschließender Zerschlagung oder Einkesselung seiner Teile und der Verhaftung der »Rädelsführer« vorgesehen.

Der kritische Punkt für den Polizeieinsatz kam nach der Beendigung der Friedensgebete in den Leipziger Kirchen. Im Innenministerium in Berlin wurde das Geschehen auf Fernsehmonitoren verfolgt. Innerhalb einer Viertelstunde, so stellte es sich der Spitze im MdI dar – wie sich der Chef des Stabes, Generaloberst Karl-Heinz Wagner, erinnert –, seien auf einmal zigtausend Menschen zu sehen gewesen, die aus allen Ecken gekommen wären. Es war diese unerwartet große Zahl der Menschen, die den Handlungswillen der bewaffneten Organe zerbrach, keine Demonstration zuzulassen. Die Einsatzleitung im Berliner Innenministerium gab den Befehl, statt zum Angriff auf die Demonstranten zur Eigensicherung der Polizeikräfte überzugehen.17

Am Morgen nach der Kapitulation der Staatsmacht in Leipzig brach im Politbüro ein Machtkampf aus. Über den Ernst der Lage nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Partei war zumindest der engere Führungszirkel des Politbüros bestens informiert. Die Berichte der Bezirksleitungen der SED wiesen darauf hin, dass sich überall in den Parteiorganisationen Lähmung, Vertrauensschwund, Resignation, Bedrücktheit und Ratlosigkeit ausbreiteten. Die große Mehrheit der Kommunisten bekunde zwar noch »ihre Treue zur Partei und ihre Bereitschaft zum Kämpfen – wartet aber auf Signale von oben, auf Antworten auf die brennenden Fragen«. Ein ausschließlich für Erich Mielke bestimmter Lagebericht des MfS zeichnete ein düsteres Bild: