City of Elements 3. Die Magie der Luft - Nena Tramountani - E-Book
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City of Elements 3. Die Magie der Luft E-Book

Nena Tramountani

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Beschreibung

"Und dann ist da noch die Sache mit … Niyol." Es kostete ihn sichtlich Überwindung, den Namen auszusprechen. "Er verwirrt dich noch immer. Das verstehe ich. Er war der Erste, für den du echte Gefühle hattest. Für mich bist du dieser Mensch." Nach Wills furchtbarem Verrat versucht Kia, ihm so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Das ist gar nicht so einfach, wenn alles in ihr nach seiner Nähe schreit. Dass ihre Ex-Affäre Niyol plötzlich wieder in ihr Leben getreten ist und mit seiner Flirterei schamlos dort ansetzt, wo die beiden vor Monaten aufgehört haben, macht die Situation nicht gerade leichter. Währenddessen greift Nero zu immer drastischeren Mitteln, um den Fortbestand der Elemententrennung zu sichern, und Kia sieht sich gezwungen, Kontakt mit dem Rebellenführer Phos aufzunehmen. Kann er ein wichtiger Beistand im Kampf gegen die Omilia werden? Auf ihrer Suche nach Vertrauten muss Kia eng mit Will und Niyol zusammenarbeiten und sich schließlich der alles entscheidenden Frage stellen, wem ihr Herz wirklich gehört. Band 3: mitreißend, temporeich, prickelnd. Romantasy at its best!

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Mabero

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Weiterhin sehr spannend vor allem das Ende des dritten Teils hat mich sehr überrascht.
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Über dieses Buch

»Und dann ist da noch die Sache mit … Niyol.« Es kostete ihn sichtlich Überwindung, den Namen auszusprechen. »Er verwirrt dich noch immer. Das verstehe ich. Er war der Erste, für den du echte Gefühle hattest. Für mich bist du dieser Mensch.«

 

Nach Wills furchtbarem Verrat versucht Kia, ihm so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Das ist gar nicht so einfach, wenn alles in ihr nach seiner Nähe schreit. Dass ihre Ex-Affäre Niyol plötzlich wieder in ihr Leben getreten ist und mit seiner Flirterei schamlos dort ansetzt, wo die beiden vor Monaten aufgehört hatten, macht die Situation nicht gerade leichter. Währenddessen greift Nero zu immer drastischeren Mitteln, um den Fortbestand der Elemententrennung zu sichern, und Kia sieht sich gezwungen, Kontakt mit dem Rebellenführer Phos aufzunehmen. Kann er ein wichtiger Beistand im Kampf gegen die Omilia werden? Auf ihrer Suche nach Vertrauten muss Kia eng mit Will und Niyol zusammenarbeiten und sich schließlich der alles entscheidenden Frage stellen, wem ihr Herz wirklich gehört.

 

Band 3: mitreißend, temporeich, prickelnd. Romantasy at its best!

 

 

 

Für Sabrina Pohl.

Weil du es schon immer wusstest.

EINSAlabaster

Ich schrie.

Ich schrie, obwohl kein Laut meine Lippen verließ.

Es spielte keine Rolle. Will hörte mich. Würde mich immer hören, ohne dass ich nur ein Wort sagen musste.

Er spürte den Krieg in meinem Inneren. Den Schock. Den Schmerz.

Wie konnte er mir das antun?

Wieso musste ich es jetzt erfahren?

Und am wichtigsten: Wie hatte ich so dämlich sein können?

Ich konnte sie nicht ansehen. Weder ihn noch ihn.

Die Wut auf Niyol war schon längst zu einem Teil von mir geworden. Brodelte im Hintergrund und machte sich bemerkbar, jedes Mal, wenn die Erinnerung zurückkehrte. Sie kam mit einem Beigeschmack von Scham und Selbstzweifeln. Die auf Will war neu.

Ich bin nicht wie er, Kiana.

Wortlos drehte ich mich um und rannte die Wendeltreppe nach oben. Die glitzernde Stadt tauchte das Schlafzimmer zusammen mit dem Mondlicht in ein silbriges Spektakel. Die Regentropfen trommelten aggressiv auf die Dachfenster. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich die zusammengeknüllte Decke auf dem Bett. Das Atmen fiel mir schwer, während unsere ineinander verschlungenen Körper vor mir aufblitzten. Wills Geruch. Das Gefühl seiner Hände auf meiner Haut.

Ich hasste ihn. Ich hasste ihn für jedes Wort, für jeden Blick und jeden Moment, der mich dazu gebracht hatte, ihm zu vertrauen, obwohl ich gedacht hatte, nie wieder jemandem vertrauen zu können. Mit Haut und Haar hatte ich mich ihm ausgeliefert. Ich hatte ihm davon erzählt, wie Niyol sich im Auftrag der Omilia in mein Herz geschlichen hatte. Ich hatte mich trösten lassen und war in seinen Armen eingeschlafen. Wieder und wieder hatte ich zugelassen, dass Will mir näherkam, obwohl ein Teil von mir immer gewusst hatte, dass seine Gefühle für mich nicht aufrichtig sein konnten, weil sie bloß meine spiegelten. Aber das? Er kannte Niyol? Hatte mit ihm zusammengearbeitet?

Verdammt noch mal, wir hatten einen Gefängniseinbruch hinter uns, ich hatte meine biologischen Eltern wiedergesehen und erfahren, dass Nero ebenfalls eine verbotene Beziehung zu einer fremden Talentierten gehabt hatte – ausgerechnet zu Gaia, der Ältesten der Choys.

Trotzdem war alles, woran ich gerade denken konnte, Wills Verrat.

Mein Blick wanderte weiter zum Kopfkissen. Ich wollte mein Gesicht hineindrücken und schreien. Diesmal wirklich. Bis ich weder mein pochendes Herz noch ihre Stimmen hören konnte. Sie riefen meinen Namen. Erst Will. Dann der andere Mistkerl.

Ich würde ihnen nacheinander den Hals umdrehen.

Meine Hände begannen zu zittern, und leichter Schwindel überfiel mich. Atmen. Ich musste atmen. Und dann raus hier!

Beim Herunterlaufen richtete ich meinen Blick stur nach vorne, schaute durch die beiden Gestalten hindurch, als seien sie unsichtbar. Ich würde ihnen nicht die Genugtuung geben, irgendeine weitere Reaktion zu zeigen. Besonders Niyol gegenüber nicht. Bei Will war jeder Versuch des Verbergens ohnehin zwecklos, wenn ich nicht bald lernte, mein Gefühlsleben zu kontrollieren.

Mein Name aus seinem Mund drang wie durch Watte zu mir durch. Ich ignorierte sie beide. Drückte mich an ihren Körpern vorbei, bückte mich nach meinen Stiefeln und stieg hinein, ehe ich in meinen Mantel schlüpfte. Ich zog das Handy aus einer der Taschen hervor. Im Gefängnis unter dem Erdboden hatten wir keinen Empfang gehabt, und nun leuchteten gleich mehrere Nachrichten auf dem Display auf, doch ich hatte jetzt keinen Kopf dafür.

»Kia, wo willst du hin? Es ist mitten in der Nacht.« Wills Stimme klang drängend und angsterfüllt zugleich.

Für eine Sekunde erlaubte ich mir, die Augen zu schließen.

Reiß dich zusammen.

»Lass uns einfach wie erwachsene Menschen miteinander reden«, meldete sich Niyol zu Wort. Sein arrogantes Grinsen war bei jedem Wort heraushören. »Was passiert ist, ist passiert, wir müssen jetzt –«

Okay. Das war’s. Ich wirbelte herum. »Halt die Klappe. Halt einfach deine dumme Klappe.«

Die Wut half dabei, seinem Blick standzuhalten. Sein Lächeln gefror. Er hatte mich noch nie wütend erlebt. In den wenigen Momenten, in denen wir nicht nur hinter Sophias Rücken miteinander geschrieben oder telefoniert, sondern uns tatsächlich getroffen hatten, war ich immer ein kleines naives Mädchen gewesen. Zerfressen von schlechtem Gewissen und berauscht von der verbotenen Nähe zu ihm.

Kaum zu glauben, dass seine dunklen Augen vor nicht allzu langer Zeit mein Herz in Aufruhr versetzt hatten.

Für den Bruchteil eines Moments wünschte ich mir das Herzklopfen zurück. Schmetterlinge, rosarote Verliebtheitsgefühle – die ganze Palette. Will sollte es fühlen, wie meine Beine wegen eines anderen Kerls zu Pudding wurden. Er sollte an allem zweifeln, was ich je getan und zu ihm gesagt hatte, was ihn hatte glauben lassen, dass meine Gefühle für ihn aufrichtig waren. Ich wollte jedes Wort und jede Berührung in den Dreck ziehen. So wie er es getan hatte.

Leider wallte nur das Bedürfnis in mir auf, dem Typen vor mir die hübschen Augen auszukratzen.

»Kiana …«

Mein Blick flackerte zu Will. Er trat vor und berührte meine Schulter. Reue zeichnete sich in seiner Miene ab.

Ich zuckte zusammen und riss mich los. Dann tastete ich mit einer Hand hinter mich und griff nach der Türklinke.

»Fass mich nicht an.« Viel zu oft hatte ich mich von ihm berühren lassen. Das würde jetzt ein Ende haben.

Niyol hatte sich offensichtlich von meiner Reaktion erholt. Sein Grinsen war zurück, er schaute zwischen uns hin und her. »Oh, oh, habe ich einen wunden Punkt getroffen? Sag bloß, aus der Inventi-Schützling-Beziehung ist bei euch mehr geworden?«

»Fahr zur Hölle!« Meine Stimme zitterte bedrohlich. Um zu vermeiden, vor ihren Augen in Tränen auszubrechen, glitt ich durch die Tür und knallte sie hinter mir zu. Ich hastete die Wendeltreppe herunter und klickte mich auf meinem Handy bis zu Darias Nummer durch, während ich zu rennen begann.

Atemlos presste ich mir das Handy ans Ohr. Erst als das Freizeichen ertönte, dachte ich daran, dass sie bestimmt schon schlief. Aber meine Befürchtung war umsonst, schon nach dem zweiten Klingeln klickte es.

»Kia!«

Eine Welle der Zuneigung überkam mich. »Hey, Daria.«

»Hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Ich habe tausend Mal versucht, dich zu erreichen! Waren sie schon bei euch?«

Automatisch verlangsamten sich meine Schritte. Ihre Stimme klang gehetzt. »Was meinst du?«

»Na, ganz Tessarect ist wegen uns in Aufruhr. Ich glaub, mich haben sie nicht gesehen, aber Nate und dich … und Will und seinen Dad. Geht’s euch gut?!«

Wir hatten uns vor wenigen Stunden verabschiedet, nachdem sie zusammen mit dem Gondoliere erst Casper und Will und dann Nate und mich mit dem Boot gerettet hatte. Wills Vater war zurückgeblieben – ob er entdeckt worden war oder nicht, wussten wir nicht.

»Bei uns war noch niemand. Niemand von der Omilia, jedenfalls.«

Oh Gott, was, wenn Nero Niyol zu uns nach Hause geschickt hatte?

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wieso er bei uns war. Ich wollte nie mehr einen Gedanken an ihn verschwenden. Genauso wenig wie an meinen Verräter-Inventi.

»Daria, hör zu, ich weiß, es ist spät, kannst du mich vielleicht trotzdem abholen? Oder mir beschreiben, wie ich zu dir komme?«

»Was ist passiert?«

»Ich erzähl’s dir gleich, wenn wir uns sehen, okay?«

Die Neugier in ihrem Schweigen war nicht zu überhören. »Ich kann sowieso nicht schlafen. Wo bist du?«

Ich würde sie umarmen und nie mehr loslassen.

Hastig beschrieb ich ihr meinen Standort, und wir verabschiedeten uns. Gerade wollte ich mich in Bewegung setzen, als mein Handy erneut vibrierte.

Zähneknirschend drückte ich den Anruf weg, sobald ich den Namen sah. Es nutzte nichts – wenige Sekunden später rief Will erneut an. Wir wiederholten das Spiel so lange, bis mein Geduldsfaden riss und ich das Gespräch annahm.

»Hör auf, mich anzurufen!«, rief ich, während ich losrannte.

»Kia, du kannst nicht einfach abhauen.« Seine Stimme war ruhig, doch darunter brodelte es. Wie ich ihn kannte, musste er sich gerade beherrschen, nicht loszuschreien. Als wäre er derjenige, der ein Recht darauf hatte!

»Ich schlafe heute bei Daria«, brachte ich hervor. »Mir wird nichts passieren, und du wirst die ganze Zeit wissen, wo ich bin. Das sollte ausreichen.«

»Hör mir zu, wir müssen reden. Wir können jetzt nicht voneinander getrennt sein. Nero wird irgendwann auftauchen, und du solltest dir anhören, was –«

»Einen Scheiß werde ich mir anhören. Wenn Nero auftaucht, sag ihm, es war alles meine Schuld. Ich habe euch alle überredet, ins Gefängnis einzubrechen. Schieb es auf mich. Es ist mir egal.«

»Kia …«

Ich drückte ihn weg, stellte das Handy auf lautlos und lief weiter. Die Girlanden zwischen den grauen Häusern wirbelten im Wind über mir, und der Nachthimmel wurde von Blitzen zerrissen. Regen tröpfelte auf mein Gesicht.

Er hatte es nicht geleugnet. Er hatte nicht geleugnet, Niyol geholfen zu haben. Ihm Informationen über mich gegeben zu haben, damit dieser mich leichter manipulieren konnte.

Und jetzt wollte er, dass ich ihm zuhörte?

Ich würde nicht heulen. Nicht seinetwegen. Nicht, wenn er jede Regung in meinem Inneren miterlebte.

Niemand begegnete mir, und das Gewitter tobte immer heftiger über mir. Ich verlor jedes Zeitgefühl, während ich die schmale Straße entlanglief. Ich hielt den Kopf gesenkt und schaute erst auf, als ein lautes Hupen sich unter das Donnern mischte.

Daria hatte das Dach ihres dunkelblauen Cabrios nur zur Hälfte hochgefahren. Im Schein der Straßenlaterne glänzten ihre kurzen Haare feucht. Lächelnd beugte sie sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür für mich auf.

In zwei Schritten war ich bei ihr und rutschte auf den Sitz. Sie ließ den Motor aufheulen und fuhr mit quietschenden Reifen los.

»Bist du irre?« Ich deutete auf die Öffnung über unseren Köpfen und musste lachen, obwohl mir gar nicht danach zumute war.

»Wenn du damit ›Danke, dass du mich mitten in der Nacht aufgabelst‹ sagen möchtest, gern geschehen!«, rief sie. »Es geht doch nichts über das Gefühl von Regentropfen auf dem Gesicht, oder?«

Genießerisch warf sie einen Blick in den Himmel.

»Danke, dass du mich mitten in der Nacht aufgegabelt hast«, wiederholte ich aus tiefstem Herzen und tastete nach dem Gurt. »Ich weiß, die letzten Stunden waren auch für dich stressig genug.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe ja dank Casper und Nate nicht die Nacht im Knast verbracht. Solche Spielverderber …« Sie klang ernsthaft beleidigt.

»Glaub mir, auf diese Erfahrung hätte ich auch getrost verzichten können. Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, wieso die beiden überhaupt dabei waren.«

»Weil sie sich genauso wenig ein Abenteuer entgehen lassen wollen wie ich. Aber ich bin natürlich zu jung dafür.«

»Daria, wir wären fast alle erwischt worden.« Ich runzelte die Stirn. »Ich wäre niemals freiwillig in das Gefängnis eingebrochen, wenn ich nicht meine Eltern hätte finden müssen.«

»Ja, ich weiß. Und im Endeffekt hatte es ja auch was Gutes, dass ich rechtzeitig rausgekommen bin, um ein Fluchtfahrzeug zu organisieren.« Sie zwinkerte mir zu. »Also, spuck’s aus. Das letzte Mal, dass ich deinen heißen Inventi und dich gesehen habe, hat er dich im Arm gehalten, als wollte er dich nie wieder loslassen. Was ist passiert?«

Ich starrte geradeaus auf die Straße. »Niyol ist aufgetaucht.«

»Niyol …?«

»Der Ex von meiner ehemaligen besten Freundin, mit dem ich etwas angefangen habe«, platzte es aus mir heraus. »Ich habe dir ja schon mal gesagt, dass mein Männergeschmack zu wünschen übrig lässt. Jedenfalls hat er sich als Pnoe herausgestellt, der was mit Aria am Hut hat. Und höchstwahrscheinlich nach Leeds geschickt wurde, um mich zu manipulieren und von meinen Freunden zu distanzieren.«

»Bitte was?«

Offensichtlich hatte Eve ihr nie von meinem katastrophalen Liebesleben erzählt. Ich holte Luft und schilderte ihr die Geschichte in knappen Sätzen.

Sie unterbrach mich kein einziges Mal, nickte nur. Nachdem ich fertig war, warf sie mir einen verwirrten Blick zu.

»Und was hat das mit Will zu tun?«

»Wie’s aussieht, haben sie zusammengearbeitet. Will scheint ihm Informationen über mich geliefert zu haben, damit er mich leichter um den Finger wickeln kann.«

»Ist das dein Ernst?«

»Mhm.«

Kurz schien sie zu überlegen, dann schnaubte sie. »Was für ein Vollpfosten!«

Es klang so nüchtern, dass ich lachen musste.

»Okay … damit ich komplett im Bilde bin«, begann sie nach einer Weile vorsichtig. »Da geht doch was zwischen euch, oder? Deshalb ist sein Verrat besonders schlimm?«

Ich seufzte tief. »Ja«, gab ich schließlich zu. »Da ging was.«

Vergangenheitsform. Und die Untertreibung des Jahrhunderts.

Sie quietschte auf. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Sorry, sorry! Es ist nur so: Casper und ich haben gewettet.«

»Das macht es jetzt besser.« Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht versuchte, jedes Detail aus mir herauszubekommen.

»Und was wollte dieser Niyol bei euch? Wollte er dir nur unter die Nase reiben, dass sie unter einer Decke stecken?«

Ich schaute auf. »Keine Ahnung.«

»Wie jetzt?«

»Ich bin abgehauen.«

Sie hob eine Braue. »Er ist ein Pnoe, meintest du? Glaubst du, er will mit uns zusammenarbeiten?«

»Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen.«

»Okay. Lassen wir das Thema. Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Ablenkung gebrauchen.«

Das Auto wurde langsamer, und erst jetzt achtete ich auf die Umgebung. Die dunkelgrauen Fassaden im Straßenlaternenlicht verrieten, dass wir uns immer noch bei den Ydor befanden.

»Es gibt da jemanden, der heute Nacht auch kein Auge zukriegt. Und es kaum erwarten kann, dich kennenzulernen.«

Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Steintreppen vor mir führten einen kleinen Hügel hinauf und endeten an einem Wintergarten. In diesem Moment wurde dessen Tür mit einem Quietschen aufgestoßen, und ein Glockenspiel ertönte. Kurz darauf kam uns eine Frau mit schlurfenden Schritten die Treppen herunter entgegen. Sie schien sich genauso wenig wie Daria am Regen zu stören.

»Freunde der Nacht«, rief die Frau und breitete ihre Arme aus. Sie trug eine Strickjacke mit Fledermausärmeln, die bis zu den Knöcheln reichte, ihre dunkelroten Rastalocken waren zu einem Zopf geflochten.

Daria hüpfte zu ihr und umarmte sie. Die Frau stand seelenruhig barfuß in einer schlammigen Pfütze.

Sie wandte sich mir zu. »Kiana. Endlich lerne ich dich persönlich kennen! Ich bin Arielle Lagarde. Nenn mich ruhig Elle.«

Lagarde?!

Wie in … Eve und Nero Lagarde?

Bevor ich reagieren konnte, zog sie mich in eine Umarmung. Der Duft von Vanille stieg mir in die Nase.

Sie gab mich frei und wedelte mit einer Hand in Richtung ihres Hauses. »Los, los, rein da.«

»Du hast uns erwartet?«, fragte Daria und strahlte. Sie zog mich die Treppe nach oben und duckte sich unter dem Ast einer Schlingpflanze hindurch, um in den Wintergarten zu gelangen.

Verdattert ließ ich meinen Blick über die schimmernden Blüten an der Decke wandern. Arielle stieß die Tür hinter sich zu und drehte den großen goldenen Schlüssel doppelt um, bevor sie einen Blick über ihre Schulter warf. »Ich habe von Evelyn geträumt. Sie saß in einer Baumkrone und hat nach mir gerufen. Nachdem ich sie endlich gefunden hatte, hat sie mich gedrängt, den Kontakt zu euch zu suchen.« Mit ihren hellgrünen Augen fixierte sie mich eindringlich. »Wie fühlst du dich?«

»Gut … ich meine …« Ich brach ab. Tausend Gefühle durchzuckten mich gleichzeitig, keines davon gut. Außerdem war sie eine Fremde. Die Neros Nachnamen trug.

»Ein Pnoe ist bei Kia aufgetaucht«, kam mir Daria zu Hilfe, als die Sekunden vergingen und ich immer noch nichts gesagt hatte.

Verwirrt sah Elle zu ihr. »Ein Pnoe?«

Ich räusperte mich. »Sorry, wer sind Sie?« Mein Blick wanderte zu Daria. »Was tun wir hier?«, fügte ich etwas leiser hinzu.

»Ich bin Neros kleine Schwester«, antwortete Arielle prompt und sah mir fest in die Augen. »Ich werde dir auf all deine Fragen antworten, aber bitte sag Du zu mir.« Sie wies mit einem Schmunzeln zur Holztür vor uns. »Lasst uns erst mal reingehen, ja?«

Neros kleine Schwester. Mein Gehirn ratterte vor sich hin. Evelyns Mutter konnte sie nicht sein, oder? Sie war allerhöchstens Mitte dreißig.

Wohlriechende Rauchschwaden kamen uns im Inneren entgegen. Duftkerzen erleuchteten den Raum. Sie standen nicht nur auf den Stufen der gigantischen Wendeltreppe, die sich in der Mitte des Raumes zur zweiten Ebene hochschraubte, sondern auch auf gestapelten Büchern und der Fensterbank. Dazwischen brannten Räucherstäbchen und verbreiteten den Duft von Zimt, Vanille und Nelken. Oder vielleicht stammte dieser Geruch auch von dem dampfenden Topf auf dem Herd.

Wir ließen uns auf drei fellüberzogenen Hockern nieder.

Ich starrte Arielle an. An ihren Armen baumelten unzählige bunte Armreife, und unter der Strickjacke kamen grün glitzernde Pumphosen zum Vorschein. Die einzige Ähnlichkeit zu Evelyn konnte ich in dem dunkleren Teint erkennen. Von Nero fand ich nichts in ihrem Gesicht.

»Sie sind … du bist … Eves Tante?«, traute ich mich zu fragen.

Freundlich nickte sie mir zu. »Sie ist die beste Nichte, die man sich wünschen kann. Nicht zuletzt, weil sie meinen Bruder in regelmäßigen Abständen auf die Palme bringt. Sie hat mir einiges über dich erzählt, Kiana. Besonders während ihrer Zeit in Leeds haben wir regelmäßig telefoniert. Ihr habt euch ziemlich angefreundet, was?«

Ich runzelte die Stirn. Warum hatte Eve mir noch nie etwas über sie erzählt? »Bist du auch eine Ydor?«, fragte ich sie, statt zu antworten.

»Oh nein, mir war dieses Glück leider nicht vergönnt.« Die Ironie war nicht zu überhören. »Ich habe meine gesamte Kindheit damit verbracht, mich zu fragen, was ich falsch gemacht habe – warum es nach Nero und Yara nicht auch mich getroffen hat –, bis ich verstanden habe, dass es Wichtigeres im Leben gibt, als in der Omilia herumzustolzieren und sich wie Gott zu fühlen, weil man in der Zeit herumpfuschen kann.«

Ihr abfälliger Tonfall war mir sofort sympathisch. »Yara ist Evelyns Mutter?«, hakte ich nach.

Eve hatte mir mal an einem besonders alkoholfreudigen Abend in unserer Stammkneipe erzählt, dass sich ihre Mutter aus dem Staub gemacht hatte, als sie keine sechs Jahre alt gewesen war.

Elle schnaubte. »Jedenfalls was das Biologische angeht. Evelyn ist hauptsächlich bei mir aufgewachsen. Nero kam nicht infrage, das wollte ich der Kleinen nicht antun. Unsere herzallerliebste Schwester hat es nie verkraftet, dass sie durch die Schwangerschaft mit Eve ihr Talent verloren hat, und ist irgendwann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgehauen. Es hat lange gedauert, aber ich habe meine Lektion gelernt – dieser ganze Elementen-Unfug ist nicht nur gefährlich, er hält die Menschen auch davon ab, das Wesentliche zu sehen. Ich meine, Zeitsprünge hin oder her, welche Mutter lässt ihr Kind zurück?«

Mir kam kein Wort über die Lippen. Ich hatte keine Ahnung, wie Evelyns Kindheit gewesen war, sie hatte nie gern darüber gesprochen, und ich hatte sie nie drängen wollen. Gott, wie taktlos ich gewesen war. Immer und immer wieder hatte ich mich bei ihr über meine Eltern beschwert. Immerhin hatte ich Eltern gehabt.

Elle erhob sich und lief zu der kleinen Küchennische. Mit einem Holzlöffel rührte sie im dampfenden Kessel.

Ich schaute Daria an, die sich sehr still verhielt. Noch immer wusste ich nicht genau, wieso sie mich hierhergebracht hatte, doch die Art, wie Arielle über ihren Bruder und über Evelyn sprach, weckte mein Vertrauen.

»Warum stellst du uns jetzt erst vor?«, raunte ich Daria zu. »Sie kann uns doch bestimmt mehr über Nero erzählen!«

Wir konnten jede Info gebrauchen, wenn wir es mit ihm aufnehmen wollten.

Daria deutete auf zwei große Koffer, die unter der Wendeltreppe standen. »Sie war auf Reisen. Nachdem Nero Eve auf die Insel verschleppt hatte, hat sie sich bei mir gemeldet, weil Eve plötzlich nicht mehr zu erreichen war. Ich habe Elle seitdem auf dem Laufenden gehalten, und als meine Inventi-Verbindung zu Eve weg war, hat sie sich dazu entschlossen, zurück nach Tessarect zu kommen. Nero nimmt sie nicht ernst, weil sie keine Talentierte ist. Wir können ihr vertrauen, das verspreche ich. Sie würde alles für Eve tun.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, schaltete Arielle den Herd aus und drehte sich zu uns. Sie bückte sich und griff nach einer schwarzen Katze, die hinter einem hohen Bücherstapel hervorgesprungen war und ihr um die Beine strich. Langsam kam sie auf uns zu und ließ sich im Schneidersitz auf dem Hocker uns gegenüber nieder. Die Katze schmiegte sich mit einem Schnurren an ihren Oberkörper, während sie ihr den Kopf kraulte.

»Wo waren wir vorhin stehen geblieben? Was hat es mit diesem Pnoe auf sich?« Elle schaute zwischen Daria und mir hin und her. »Hat mein Bruder ihn gesendet? Wegen eures Einbruchs?«

Die letzte Frage stellte sie ganz neutral. Als sei es selbstverständlich, dass wir ins Gefängnis eingebrochen waren.

»Ich kenne ihn … aus Leeds«, brachte ich schließlich hervor. »Er hat irgendetwas mit Aria zu tun. Ich vermute, dass er zu mir geschickt wurde, um mich von meinen Freunden zu distanzieren, bevor Will mich nach Tessarect gebracht hat.« Ich hob den Kopf und sah Arielle an. »Ich glaube, Nero steckt hinter der ganzen Sache.«

Ihre Lippen bildeten eine schmale Linie. »Für heute Nacht seid ihr hier sicher. Nero wird es nicht wagen, herzukommen. Falls ihm in dem Trubel überhaupt aufgefallen ist, dass ich wieder in der Stadt bin.« Sie nahm mich ins Visier. »Möchtest du mir erzählen, was genau im Gefängnis passiert ist? Was dir deine Mutter über meinen Bruder erzählt hat?«, fragte sie mit schmerzerfüllter Stimme.

Ich schluckte. Daria nickte mir aufmunternd zu.

»Sie meinte, er ist es, der meine Eltern eingesperrt hat, obwohl sie vollkommen gesund sind.« Ich schüttelte kurz den Kopf, um die Erinnerung an Agnia zu verscheuchen, wie sie mit aufgerissenen Augen die Gitterstäbe umklammert hatte. »Er macht Jagd auf mich. Weil er … weil er mich hasst. Und sie. Dafür, dass sie etwas hatten, was ihm weggenommen wurde.«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das alles nach Schwachsinn klingt. An den Haaren herbeigezogen. Dass deine Mutter durch die Jahre in Gefangenschaft tatsächlich verrückt geworden ist.« Sie seufzte leise und gab der Katze einen Kuss zwischen die kleinen Ohren. »Leider klingt es exakt nach meinem Bruder.«

»Also stimmt es?«, wisperte Daria und lehnte sich näher. »Nero und Gaia waren zusammen?«

Wir hatten heute Mittag keine Gelegenheit mehr gehabt, uns richtig zu unterhalten, nachdem sie und der Gondoliere uns aus dem Choys-Bezirk gerettet hatten. Casper und Will hatten sie in die Geschehnisse der Nacht eingeweiht, während ich mich zitternd an meinen Inventi geklammert hatte. Bei dem Gedanken wurde mir übel.

Hastig lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Arielle. Ein wehmütiger Ausdruck lag in ihren Augen.

»Ich war damals noch jung. Dennoch ist der Skandal auch an mir nicht vorbeigegangen, obwohl ich nie direkt etwas mit der Omilia zu tun haben durfte. Inzwischen ist es für mich unvorstellbar, doch zu der Zeit habe ich zu Nero aufgeschaut. Ihn bewundert. Meine Schwester war eher von der arroganten Sorte. Sie hat mir immer unter die Nase gerieben, dass ich nicht dazugehöre, weil sie die Elite sind und ich nur ein gewöhnliches Mädchen. Nero war anders. Liebevoll. Hat sich nach den Unterrichtsstunden in mein Zimmer geschlichen und mir Geschichten von der geheimnisvollen Elementenwelt erzählt. In jungen Jahren wollte ich einfach nur ein Teil davon sein, und er hat es mir ermöglicht, soweit er das konnte. Er war mein Held, der beste Bruder, den man sich wünschen konnte. Aber nach dem Skandal … nach Gaia …« Sie stockte und schlug die Augen nieder. Die tanzenden Sommersprossen in ihrem Gesicht schienen innezuhalten. »Am Anfang war er fuchsteufelswild. Er hat getobt, gebrüllt, war außer sich vor Wut. Es war ihm vollkommen egal, was meine Eltern oder die Leute in der Omilia sagten, er hat alles darangesetzt, Gaia wiederzusehen, ist sogar meinem Vater gegenüber handgreiflich geworden, als dieser ihn davon abhalten wollte, das Haus zu verlassen. Und dann plötzlich hörte sein Protest auf. Wir erfuhren nie, was geschehen war. Er kehrte zurück zu uns, nachdem er eine ganze Nacht lang verschwunden war und nicht einmal seine Inventi ihn finden konnten, verkroch sich ein paar Tage und verließ sein Zimmer nicht. Sein Schmerz war allgegenwärtig, er schwebte über dem ganzen Haus, auch wenn unsere Eltern und Yara taten, als wäre alles beim Alten. Ich habe ihn nachts schreien hören. Er hat sich nicht beruhigt, und er hat niemanden an sich herangelassen. Nachdem er das erste Mal wieder sein Zimmer verließ, war er nicht mehr mein Bruder. Er hat mir Angst gemacht. Äußerlich war er wie immer, er ist weiterhin in die Omilia gegangen, saß mit uns am Esstisch. Doch plötzlich umgab ihn diese Dunkelheit. Er hat aufgehört, zu mir ins Zimmer zu kommen. Überhaupt richtig mit mir zu reden. Stattdessen hat er mich von oben herab behandelt, so wie Yara.«

Elle verstummte und wischte sich fahrig mit dem Ärmel über die Augen. »Plötzlich war es das Wichtigste für ihn, die Aufmerksamkeit der Ältesten zu bekommen. Er hat seine Zeit nur noch in der Omilia verbracht, obwohl er sich zuvor immer über ihr Gehabe lustig gemacht hatte. Nachdem er deine Eltern ausgeliefert hatte, haben sie ihn vollständig akzeptiert, und sein Fehltritt war vergessen.«

Sie lächelte bitter. »Ein einziges Mal, Monate später, hat Yara im Streit Gaias Namen erwähnt. Er ist auf sie losgegangen und hat ihr die Kehle zugedrückt. Sie hat keine Luft mehr bekommen, ist krebsrot angelaufen, trotzdem hat er nicht nachgelassen. Kein Wort hat er gesagt. Da war nur Schwärze in seinen Augen. Die tiefste Nacht. Unser Vater konnte eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich ihn für immer verloren hatte.«

Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. »Also hat er sich verändert, nachdem man ihn gezwungen hatte, den Kontakt zu Gaia abzubrechen? Weiß man, was in dieser einen Nacht passiert ist, bevor er sich von allen isoliert hat? Hat er versucht, Gaia zu erreichen?«, fragte ich stirnrunzelnd.

Elle schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat sich selbst in die Psychiatrie eingewiesen und sich einer Konversionstherapie unterzogen, um von seinen Sünden geheilt zu werden. Als sei Liebe etwas, wovon man geheilt werden müsste! Ich habe meinen Eltern nie verziehen, was sie aus ihm gemacht haben. Die Omilia … in Ordnung, die ist voller hirnverbrannter, machtbesessener Idioten, aber unsere Eltern? Als Nero ihnen von seiner Liebe zu Gaia erzählt hat, haben sie nicht mit der Wimper gezuckt und sind zu den Ältesten gerannt, um ihnen Neros schmutziges Geheimnis zu beichten.«

»Eure Eltern haben Gaia und Nero verraten?«, zischte Daria.

Elle erwiderte ihren Blick voller unterdrückter Wut, dann schaute sie zu mir. »Verstehst du jetzt, wieso ich heilfroh bin, dass Evelyn bei mir aufgewachsen ist und ich sie, so gut es ging, vor diesem Humbug bewahren konnte? Die Ansichten der Omilia sind nicht nur schwachsinnig und menschenverachtend – sie haben ein Monster aus einem liebenswerten jungen Mann gemacht.«

Mit jedem weiteren Satz breitete sich heftiges Mitleid in mir aus. Oder war es Wut? Hilflosigkeit?

Bevor ich die Emotion richtig benennen konnte, die meinen Körper erbeben ließ, schob sich das Bild meiner brennenden Wohnung in mein Bewusstsein. Es folgten meine Adoptiveltern auf dem Friedhof. Und meine richtigen, unter dem Erdboden. »Wir müssen ihn stoppen«, hörte ich mich mit krächzender Stimme sagen. »Wir müssen meine Eltern befreien, und wir müssen dafür sorgen, dass diese verdammte Stadt die Wahrheit erfährt.«

Zu meiner Überraschung zuckte ein grimmiges Lächeln über Arielles Gesicht. »Ja, Liebes. Das müssen wir.«

Sie stand auf, gab die Katze frei und lief zurück zum Herd, wo sie sich daranmachte, das Gebräu in drei Tassen zu füllen.

Ich drehte mich zu Daria. Sie schaute bedrückt zu Boden. Gerade, als ich etwas sagen wollte, hämmerte ihr Techno-Klingelton los. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und nahm den Anruf an.

»Nate? Was ist los?«

Abgehackte Laute drangen durch den Lautsprecher. Lautes Atmen … oder Schluchzen.

»Beruhig dich. Erzähl’s mir von Anfang an.«

Mein Körper ging sofort in Alarmbereitschaft. Es war seltsam genug, dass Daria in die vernünftige, besonnene Rolle schlüpfte. Noch untypischer war es, dass Nate wohl gerade dabei war, die Nerven zu verlieren.

Ich rutschte mit meinem Hocker näher zu Daria und lehnte mich zu ihr herüber. »Was ist los?«, formte ich mit den Lippen, doch sie war zu abgelenkt, um auf mich zu achten.

»Und wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte sie drängend, jetzt nicht mehr ganz so ruhig.

Das Schuldbewusstsein traf mich augenblicklich. Ich biss mir auf die Lippe, bis der Schmerz alles übertönte. Bevor ich wusste, was ich da tat, hatte ich ihr das Telefon aus der Hand gerissen.

»Nate? Was ist passiert? Ist was mit Casper?«

Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, dann erklang ein Räuspern. »Die Wächter haben Casper und Will erkannt. Sie … sie waren gerade in der Omilia und haben meine Mutter davon in Kenntnis gesetzt. Waren sie schon bei euch?«

Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich wollte nicht an Will denken. Und vor allem nicht daran, dass ich der Grund für dieses Desaster war. »I-ich weiß nicht.« Ich schloss die Augen. »Erzähl deiner Mutter, dass es meine Schuld ist. Sag ihr, ich habe euch gezwungen.«

»Kia …« Er klang ruhiger, auch wenn jedes Wort von Tränen getränkt war.

»Nate, es ist mir egal, was mit mir passiert. Es ist alles meine Schuld. Ohne mich wärt ihr niemals in dieses Gefängnis –«

»Hör auf, das bringt uns nicht weiter«, fiel er mir ins Wort. »Ich werde dich da nicht reinziehen. Wir kannten alle das Risiko. Und unabhängig davon wäre es kontraproduktiv, wenn meine Mutter von unserer Freundschaft wüsste. Du musst mir nur sagen, wie die Lage bei euch ist. Ich werde ihr erzählen, dass ich verantwortlich bin und Cas überredet habe. Sie wird nicht zulassen, dass Nero mich wegsperrt.« Er lachte bitter auf. »Ich bin ihr Goldjunge. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich jemals wieder den Bezirk verlassen soll.«

»Das ist jetzt egal«, wisperte ich. »Am besten verlasst ihr nie mehr den Bezirk.«

Ich bekam seine Antwort nicht mehr mit, denn Daria riss das Handy an sich. Sie verdrehte die Augen und klemmte es sich zwischen Ohr und Schulter, während sie eine dampfende Tasse entgegennahm, die Arielle ihr hinhielt.

Ich tat es ihr nach und umklammerte das heiße Porzellan. In goldener, an manchen Stellen abgesplitterter Farbe blitzte das auf dem Kopf stehende Dreieck unter meinen Fingern auf.

Eves Tante sah zwischen uns beiden hin und her, ihr Blick war abwesend, während sie sich immer wieder mit dem Zeigefinger über die Unterlippe fuhr.

»Ja, Selbstmitleid bringt uns jetzt auch nichts«, sagte Daria mit einem energischen Nicken in meine Richtung. »Nein … ja, ich schreib dir. Kümmere du dich jetzt um Casper. Es wird schon gut gehen.«

»Es ist alles meine Schuld«, stöhnte ich, als sie das Telefonat beendet hatte.

»Nein, ist es nicht. Du hast sie nicht gezwungen, mitzukommen. Natey wird für Cas in die Bresche springen, und es wird nichts Schlimmes geschehen. Viel wichtiger ist jetzt, was wir gegen Nero unternehmen.«

Arielle nickte und griff nach meiner Hand. »Talentierten wird nichts angetan.« Sie schien dank unserer Wortfetzen eins und eins zusammengezählt zu haben. »Ich mache mir eher Sorgen um die Inventi, die an der Sache beteiligt waren.«

»Ich … ich werde auch für Will aussagen«, murmelte ich, ohne die beiden anzusehen. Meine Rachegelüste waren auf einen Schlag im Keim erstickt. Ich würde ihm nie verzeihen, wie er mich hintergangen hatte, doch das hieß nicht, dass ich ihn ins Verderben stürzen wollte. Obwohl der Gedanke gerade ziemlich verlockend war.

»Ja, das solltest du. Und darüber hinaus musst du dich kooperationswillig zeigen.«

Mein Kopf ruckte hoch. »Was?«

»Die Gefängniswächter haben vielleicht nur Casper, William und seinen Vater identifizieren können, aber Nero ist nicht dumm. Ihr seid am helllichten Tag in einer Gondel getürmt. Nero weiß, dass du da warst, Kiana. Also wirst du von dir aus zu ihm gehen und Reue zeigen.«

Ich riss mich von ihr los und konnte mich gerade noch davon abhalten, aufzuspringen. »Reue?«

Entweder bemerkte Elle meine Wut nicht, oder sie beschloss, sie zu ignorieren. Voller Überzeugung sah sie mich an. »Du wirst ihm sagen, du hast Gerüchte darüber gehört, dass deine Eltern weggesperrt wurden. Außerdem warst du verwirrt, weil du nicht wusstest, wem du vertrauen kannst. Daher bist du auf eigene Faust eingebrochen.«

»Ich …« Mein Mund war staubtrocken. Hatte sie den Verstand verloren?

»Kiana, es ist nur logisch. Du musst ihn in Sicherheit wiegen. Eine andere Möglichkeit bleibt euch nicht.«

»Und … dann? Ich mache in der Omilia auf heile Welt, während ich jeden Augenblick damit rechnen muss, dass er mich umbringt?«

Ich nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse, um mich zu beruhigen. Hustend erwiderte ich Elles festen Blick. Eine heiße Mischung aus Waldfrüchten, Zimt und Hochprozentigem floss meine Speiseröhre hinab.

»Er wird dich nicht umbringen.«

»Wie können wir uns da sicher sein?«

»Er will unbedingt das Geheimnis deines Talents lüften, oder?«, mischte sich Daria ein. »Wahrscheinlich denkt er, du könntest noch wertvoll für ihn sein.«

Arielle wandte den Blick nicht von mir ab. »Wenn mein Bruder dich wirklich tot sehen wollte, würdest du nicht hier sitzen.«

Die Gänsehaut beschränkte sich nun nicht bloß auf meine Arme. Na, das waren ja herrliche Aussichten.

Ich bekam keine Gelegenheit, näher darauf einzugehen, denn in dem Augenblick ertönte ein lautes Poltern aus Richtung des Wintergartens. Es machte dem Donner alle Ehre und klang, als würde jemand mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmern.

Arielle schlang ihre Strickjacke enger um ihren Körper und setzte sich in Bewegung. »Ist ja gut, ist ja gut, sie gibt gleich nach!«

Daria biss sich auf die Lippe, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Sie erntete einen bösen Blick von mir.

»Hör auf, so zu gucken«, zischte ich.

»Hab mich nur schon gefragt, wo er bleibt.«

Zugegeben, Will hatte ungewöhnlich lange gebraucht. Ein naiver Teil von mir hatte gehofft, dass er mir den Abstand geben würde, den ich so dringend brauchte. Aber wem machte ich etwas vor? Wann hatte er mich je in Ruhe gelassen?

Er stürmte an Arielle vorbei. Seine Augen glühten, und seine Schuhe hinterließen matschige Spuren auf dem knarzenden Holzboden. Schnell schaute ich weg. Seine blonden Haare waren heillos zerzaust. So wie vor wenigen Stunden. Als ich meine Hände hineingekrallt hatte, während er … Stopp. Wie bescheuert war ich eigentlich?

»Kia.«

Ich würde ihn nicht ansehen, ich würde ihn nicht ansehen, ich würde ihn nicht ansehen.

»Du hast gesagt, du schläfst bei Daria.«

Ich stellte meine Tasse so aggressiv ab, dass das Gebräu darin überschwappte. Dann baute ich mich vor ihm auf. Wie konnte er es wagen, hier reinzustürmen und wütend auf mich zu sein?

»Und du hast gesagt, du hast keine Ahnung, wer Niyol ist«, sagte ich und rang mir ein falsches Lächeln ab.

Er stöhnte auf und packte mich an den Schultern. »Wir müssen reden.«

Ich wollte zurückweichen, sein Griff blieb eisern.

»Schau mich an.«

»Lass mich los.«

»Schau. Mich. An.«

Ich hasste mich dafür, dass ich den Blick hob. Und ihn hasste ich dafür, dass er mich so flehend ansah. Dieses verdammte Dunkelblau, vermischt mit hellem Braun. Wie konnte man nur solche Augen haben?

»Lass mich los, oder ich schwöre bei Gott, ich …«

»Schicke Hütte!«

Ich verstummte sofort.

Will war nicht allein gekommen.

»Du hast ihn mitgebracht?«, fuhr ich Will an. Für einen kurzen Moment lockerte er seinen Griff, und ich schaffte es, mich zu befreien.

»Hey, Hübsche, wieso bist du so überstürzt abgehauen?«

Niyol war genauso durchnässt wie Will. Allerdings schien er deutlich bessere Laune zu haben. Seelenruhig zog er sich die von Regentropfen benetzte Lederjacke aus und zwinkerte mir zu, ehe er Daria ins Visier nahm. Dann krempelte er sich die Ärmel seines weißen Hemds hoch und streckte ihr eine Hand entgegen.

»Gehörst du auch zum Team?«

Darias Augenbrauen wanderten abrupt in die Höhe, während sie ihn abschätzig von oben bis unten musterte.

Er nahm ihre Hand in seine und hauchte ihr einen Kuss auf.

»Ich bin Niyol. Und du?«

Daria schien es die Sprache verschlagen zu haben. So viel Dreistigkeit hatte nicht einmal ich ihm zugetraut. In Leeds hatte er zwar auch immer auf Teufel komm raus vor mir mit Sophia geflirtet, doch damals war er nicht so arrogant gewesen. Oder vielleicht hatte ich die Augen davor verschlossen, weil er in unseren privaten Gesprächen seinen ganzen Schmerz rausgelassen hatte und er mir leidtat.

Ich riss mich von seinem Anblick los und funkelte Will an. »Ihr seid also beste Freunde, und du nimmst ihn überallhin mit?«

Mein Inventi biss die Zähne zusammen. »Ich habe nicht wirklich eine Wahl.«

Diese Formulierung … Hitze schoss mir ins Gesicht.

»Nee, stimmt ja, du hast nie eine Wahl. Wurdest du auch angewiesen, mir schöne Augen zu machen und mich zu manipulieren?«

»Ich habe dich nicht …«, begann er, aber Niyol kam ihm zuvor. Daria hatte sich von ihm losgemacht, ohne ihm zu antworten, und ihm ihre Tasse entrissen.

Er wandte sich wieder mir zu. »Kia, du hast so viel Feuer wie eh und je.«

Gott, ich würde mich wirklich nicht mehr lange zusammenreißen können.

»Was soll das?«

Wir drehten uns alle zu Arielle um, die im Türrahmen lehnte und ihre Arme verschränkte, während sie uns betrachtete. Ich hatte sie ganz vergessen.

»Wie unhöflich von mir!« Niyol reichte auch ihr die Hand, wagte es angesichts ihres Gesichtsausdrucks allerdings nicht, sie wie Daria zu begrüßen. »Sie sind die kleine Schwester von Nero Lagarde, nicht wahr?« Er zeigte auf sich. »Niyol Festida. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Mit einem ironischen Lächeln wanderte sein Blick zu dem Aquarium, den schimmernden Pflanzen und den willkürlich herumstehenden Bücherstapeln. »Schön haben Sie es hier.«

Elle rührte sich nicht. »Ich bin mindestens zehn Jahre älter als du, Schätzchen, also schalt ’nen Gang zurück.« Sie wandte sich Will zu. »Was geht hier vor sich? Du bist Kianas Inventi, nicht wahr?«

»Und wieso hast du den mitgebracht?«, fügte Daria naserümpfend hinzu und deutete auf Niyol.

Will verdrehte die Augen. »Wir können ihm vertrauen. Er ist hier, um uns zu helfen. Die Frage ist, wieso du Kiana mitten in der Nacht zu einer völlig Fremden bringst.«

Heiße Wut pulsierte durch meine Adern.

Mit dem letzten bisschen Selbstbeherrschung, das ich aufbringen konnte, trat ich einen Schritt zur Seite, weil ich Angst hatte, handgreiflich zu werden, wenn ich ihm zu nahe war. Vertrauen. Wie konnte er dieses Wort überhaupt noch in den Mund nehmen?

»Er ist ein Pnoe«, erklärte Will. »Und er weiß, wo die verfeindete Organisation steckt. Inklusive Evelyn.«

Arielles Miene wandelte sich in Sekunden. Sie ging auf Niyol zu und bohrte ihm einen Finger in die Brust, bis er zurückwich.

»Wo ist sie?«

»Hey, jetzt mal ganz langsam. Ich hab gehört, ihr seid in den Knast im Norden eingebrochen? Wie krass seid ihr denn drauf?« Belustigt schaute er über die Schulter zu uns.

Elle packte sein Kinn und drehte es zu sich, zwang ihn so, ihren Blick zu erwidern. »Ich wiederhole mich nur noch ein einziges Mal: Wo ist meine Nichte?«

Ihre Augen funkelten, und die Sommersprossen tanzten bedrohlich. Obwohl sie einen guten Kopf kleiner als Niyol war, schien er einigermaßen beeindruckt.

»Na schön, bleiben Sie locker. Sie ist bei Phos. Er hat sie rekrutiert, und ihr geht es gut.«

Rekrutiert? Die Gegner der Omilia rekrutierten Talentierte?

»Und wo ist Phos?«, fragte Elle gefährlich leise, ohne ihn freizugeben.

Niyol lächelte triumphierend. »In luftiger Höhe. Über den Dächern der Oststadt.«

Daria war aufgesprungen. Ihr Gesicht war bei der Erwähnung von Eve ganz weiß geworden. »Die verfeindete Organisation befindet sich bei den Pnoe?«

»Und warum kommt Eve nicht selbst her, um uns das zu sagen? Warum ausgerechnet du?«, zischte ich.

»Evelyn wird gerade noch mit den Lokalitäten vertraut gemacht und geschult. Und es wäre für sie ein zu großes Risiko, nachdem Nero«, ein schneller Blick zu Elle, »ein gesondertes Interesse an ihr hat.« Er befeuchtete seine Unterlippe mit der Zunge. »Ich war die logische nächste Wahl. Ich habe mich natürlich freiwillig gemeldet, dich einzuweihen und von unserem Plan zu überzeugen.«

»Was für ein Plan?«, hakte Daria nach, aber ich schüttelte den Kopf. Wen scherte es, was dieser Mistkerl zu sagen hatte? Wieso sollte ich auch nur ein einziges Wort davon glauben?

»Das ist alles Bullshit. Wieso sollte ich dir plötzlich vertrauen?« Ich warf Will einen abfälligen Blick zu. »Wieso sollte ich noch irgendjemandem vertrauen?«

»Ist mir egal, ob man ihm vertrauen kann«, raunte Daria mir zu. »Wenn er einen Hinweis hat, wo Eve sein könnte …«

»Ich kann dich hinbringen, Kia!«, rief Niyol. »Lasst uns keine Zeit verschwenden.«

Arielle stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre Nase berührte fast seine. »Ich möchte Details. Sofort.«

»Nichts lieber als das«, erwiderte er. »Phos hat mir genau erklärt, wem ich in dieser Stadt trauen kann und wem nicht. Dank Evelyn wissen wir auch, dass Sie wenig von den Machenschaften Ihres Bruders halten.«

Oh, wie gerne ich ihm dieses arrogante Grinsen aus dem Gesicht schlagen würde …

Ich wurde durch kühle Finger, die sich um mein Handgelenk schlossen, aus meinen Gewaltfantasien gerissen.

Sofort zuckte ich zurück. Vergeblich. Will verstärkte seinen Griff. Er zog mich näher zu sich, jegliches Schuldbewusstsein war aus seinen Augen verschwunden.

»Wag es nicht«, zischte ich.

»Wir zwei werden jetzt miteinander reden«, sagte er bestimmt, bevor er mich mit einer Kraft, gegen die ich im Leben nichts hätte ausrichten können, durch die Tür in den Wintergarten zerrte.

Mir blieb die Luft weg. Die Wut trieb mir Tränen in die Augen.

Unter trompetenartigen blauen Knospen blieb er stehen, machte allerdings keine Anstalten, mich loszulassen.

»Kia. Du verschwendest gerade unsere Zeit.«

»Du …«

»Bitte, hör auf«, verlangte er mit einem Stöhnen.

Ich blinzelte. Ein schmerzhafter Kloß nahm in meinem Hals Form an. Ich musste mich schleunigst auf die Wut konzentrieren.

»Du hast jedes Recht, mich zu hassen, okay? Du kannst mich beschimpfen, du darfst sogar auf mich einschlagen. Alles, damit es dir besser geht. Ich habe es verdient. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn Nero alle zwei Sekunden versucht, mich zu erreichen, und jeden Moment hier auftauchen könnte.«

»Es ist mir egal, ob er hier auftaucht«, brachte ich hervor, ohne ihn anzusehen.

»Wir brauchen einen Plan. Und er … Niyol kann uns helfen. Er kann uns zur Organisation bringen. Mit ihrer Hilfe können wir vielleicht deine Eltern befreien.«

»Seit wann interessiert dich das?«, schoss es aus mir heraus. »Ich dachte, es geht nur um mein Wohlbefinden?« Ich schluckte mehrmals, um den Kloß loszuwerden. »War das auch gelogen?«

»Ich … ich weiß auch nicht, was mit meinem Dad ist. Ich glaube, sie könnten ihn erwischt haben.«

Mein Widerstand wankte. Er klang mit einem Mal ganz verletzlich.

Für den Moment ließ ich mich davon ablenken. »Wieso glaubst du das?«

»Er geht nicht ans Handy.« Da war er wieder, der flehende Blick. Will beugte sich zu mir herunter, und ich stolperte automatisch nach hinten, als mir sein Geruch in die Nase stieg.

»Bitte. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber hör ihm zu. Hör dir bloß an, was er zu sagen hat.«

»In Ordnung.« Ich drehte mich von ihm weg, starrte angestrengt auf die überwucherte Glaswand, die vor meinen Augen verschwamm. »Wenn du mich endlich loslässt.«

Meine Stimme brach, doch das spielte keine Rolle. Denn er gehorchte endlich.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Nicht nur, dass er es nicht geleugnet hatte – er hatte keinen einzigen Versuch unternommen, sich zu erklären.

Du hast jedes Recht, mich zu hassen.

Es war nicht nur meine Stimme, die brach.

ZWEIMarmor

Mit schnellen Schritten lief ich zurück zu den anderen.

Konzentration. Ich sollte froh um die Ablenkung sein, auch wenn sie in Form meiner Ex-Affäre daherkam.

Arielle, Daria und Niyol saßen inzwischen in ein Gespräch vertieft auf drei Hockern, jemand hatte noch zwei weitere dazugestellt.

Unwillkürlich blieb ich mit dem Blick an Niyols Unterarm hängen. Sehnig, mit leicht hervortretenden Adern. Er war gerade dabei, die schulterlangen Haare zu einem Knoten nach hinten zu binden. Sein Tornado-Tattoo blitzte bei der Bewegung unter dem Ärmel hervor. Mein Blick wanderte zu seinem Gesicht. Er sah aus wie immer. Lange Wimpern, tief liegende Kohleaugen, markante Kinnlinie. Nur dass er damals glatt rasiert gewesen und jetzt einen Dreitagebart trug.

Es schien ihm gut zu gehen – von der tiefen Verzweiflung, die er ausgestrahlt hatte, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, war nichts zu sehen. War er wirklich ein derart guter Schauspieler?