Clé de l'amour - Christel Siemen - E-Book
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Christel Siemen

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Beschreibung

"Clé de l'amour" ist ein fesselndes Liebesdrama. Gibt es etwas Schlimmeres, als schamlos betrogen zu werden? Die Pariser Garten- und Landschaftsarchitektin Eve reist in die Pampa von Bordeaux, um davon Abstand zu gewinnen. Dort läuft ihr der charismatische Winzer Philippe über den Weg. Er ist seit zwei Jahren Witwer und Vater des neunjährigen Luc. Die Umstände führen dazu, dass sie für eine Weile bei ihm auf seinem Château die Betreuung seiner Mutter übernimmt. Ganz gegen ihren Plan entwickelt Eve Gefühle für Philippe. Ausgerechnet in diesem Gefühlschaos steht eines Tages ihr Ex François bei ihr auf der Matte und versucht, sie mit allen Mitteln zurückzugewinnen. Für wen wird sie sich entscheiden? Für den Mann, der ihr den beruflichen Erfolg garantiert oder für den Weingrafen, der ihr Herz berührt, für den sie aber ihr altes Leben komplett aufgeben muss? Kann sie sich darauf einlassen? Philippe steckt immerhin noch in einer komplizierten Beziehung zu Maxime, die seinem Sohn in den letzten Jahren ein guter Mutterersatz war. Dann überschlagen sich die Ereignisse und Eve wird in ein altes Geheimnis aus Tagen des Zweiten Weltkrieges verstrickt.

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Seitenzahl: 288

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Christel Siemen

Clé de l'amour

Schlüssel der Liebe

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Eve lag in ihrem kleinen Zelt und lauschte den Geräuschen der Nacht. Durch die hochgeschlagene Zeltplane am Eingang konnte sie den Sternenhimmel beobachten. Weiße Waben schwebten vor dem funkelnden Meer am Firmament. Sie wurden dichter und dichter und die Lichtung auf der sie übernachtete, wurde zu einem riesigen, schwarzen Loch. In den Baumwipfeln rauschte es. Gerade noch rechtzeitig schloss Eve den Reißverschluss ihres Zeltes, bevor ein Regenguss einsetzte. Irgendwo raschelte es im hohen Gras. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Nur mit sich und der Natur im Einklang zu sein. Endlich einmal war genügend Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Mit verschränkten Armen blickte Eve gegen das dunkle Zeltdach. Im Gleichklang der Regentropfen schweiften ihre Gedanken ab und wanderten zurück in ihre Jugend. Sie war noch ein junges Mädchen, als ein Jahrmarkt in ihr Dorf kam und seine Zelte aufschlug. Ganz genau konnte sie sich erinnern, dass sie mit ihren Freundinnen darum gewettet hatte, wer sich traute, von einer Wahrsagerin die Zukunft Voraussagen zu lassen. Das Los war auf sie gefallen. Ein mulmiges Gefühl hatte sie überkommen, als die Jugendlichen sie rigoros in den alten Wohnwagen schoben. Aber bevor Eve ihre Feigheit vor den Freunden zugegeben hätte, hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben. Eine alte, runzlige Frau hatte sie gebeten, auf einem Schemel Platz zu nehmen. Lange, schillernde Ohrringe baumelten an ihren Ohren. Wenn Eve sich erinnerte, war sie mit einem langen bunten Kaftan bekleidet. Ihre Haare waren bereits schneeweiß. Es roch eigenartig nach irgendwelchen Räucherstäbchen. Da kaum Tageslicht in das kleine Refugium fiel, wirkte der Ort recht mystisch. Die Alte hatte Karten mit Engelsfiguren vor sich auf einem kleinen Tisch ausgebreitet und hatte Eves zitternde Hand in die ihre genommen. Mit leiser durchdringender Stimme sprach sie irgendetwas, was Eve nicht recht verstanden hatte. Dann sagte sie: „Du wirst ein langes Leben haben. Du wirst viel Geld verdienen. Aber pass auf, dass dich das nicht vereinnahmt. Hüte dich davor, dass dich dein Ehrgeiz auffrisst. Aber du kannst dich wieder erholen, denn du bist fleißig und klug. Pass gut auf deine Hände auf. Du brauchst sie für deine Arbeit.“ Nach einer kurzen Pause sprach sie: „Ich sehe verschiedene Männer in deinem Leben. Auch sehe ich Kinder. Ein Kind ist nicht dein Eigenes …“ So ungefähr waren die Worte der Alten. Doch erst heute, viele Jahre später, fielen ihr diese wieder ein. Ob es daran lag, dass ihre Beziehung zu François gerade in die Brüche gegangen war? Der Begriff Ehrgeiz war ihr nicht fremd. Davon hatte es in der letzten Zeit mehr als genügend gegeben. Eve bezog jedoch den Ehrgeiz mehr auf ihren Lebensgefährten, als auf sich selbst. François war es, der von Ehrgeiz besessen war. Ständig mussten neue Aufträge her, immer größer und anspruchsvoller sollten die Projekte sein. Die Arbeit in Frankreich reichte ihm schon lange nicht mehr aus. Er nahm Aufträge im Ausland an, die sie ständig an die Grenzen der Belastbarkeit trieben. Das Geld, das sie bisher verdient hatten, war ihm noch nicht genug. Immer neue Höhenflüge schossen ihm in den Kopf. Damit er sich diese leisten konnte, trieb er Eve ständig zu weiteren Höchstleistungen an. Denn zur Umsetzung seiner Projekte benötigte er sie. Sie zeichnete die Pläne, sie entwickelte die Konzepte und leitete die Baustellen vor Ort. Sie war die Praktikerin und er übernahm den kaufmännischen Teil und den Vertrieb.

Eve dachte an ihr schönes geerbtes Haus in Paris. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten François hatte sie es zu ihrem Lebensmittelpunkt umgestaltet. Unten im Haus befanden sich ihre Büros und darüber gab es eine wunderschöne Altbauwohnung. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie genau das Leben führte, was sie sich erträumt hatte. Wieso sah sie sich nicht mehr darin? Das Einzige was noch schwieriger war als zu bleiben, war zu gehen. Sie wollte keine heftigen Auseinandersetzungen und Streit. Es war nicht ihre Art, Porzellan zu zerschlagen. Sie wollte nur noch leise durch die Hintertür stehlen und nonstop im Dauerlauf davonrennen – vor der Enttäuschung ihres Lebens.

„Merde!“ Eve kniete sich in den Matsch und inspizierte ihren Fahrradreifen. „Da haben wir ja den Übeltäter!“ Ein kleines spitzes Stöckchen steckte im Reifen. Vorsichtig zog sie ihn heraus. Es zischte und die restliche Luft entwich nun auch noch. Jetzt war der Reifen endgültig platt. Eve fluchte leise vor sich hin und griff aus der Hocke heraus nach dem kleinen Reparaturtäschchen, welches hinter dem Sattel angebracht war. In Gedanken überlegte sie bereits, wie das Flicken eines Fahrradreifens noch mal ging. Es war lange her, dass sie als Kind ihrem Vater dabei zugeschaut hatte. Sie kratzte sich mit der Hand an den Hinterkopf. Sie hatte noch nie einen Fahrradreifen gewechselt. „Auch das noch!“ Bei dem Blick in das Täschchen entdeckte sie enttäuscht, dass dieses leer war. Da stand sie nun, mitten im Nirgendwo in der Aquitaine mit einem schwer bepackten Fahrrad und einem platten Reifen. Sie war in der Gegend von Bordeaux unterwegs, nur wenige Kilometer vom Atlantik entfernt. Nach Auskunft ihres Routenplaners wusste sie, dass sie sich in einem großen Weinanbaugebiet befand, fernab von irgendeiner Ortschaft. „Der Tag fängt ja gut an!“ Fluchte sie laut vor sich hin.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Erschrocken ruderte Eve mit ihren Armen. Sie wähnte sich alleine inmitten der Weinreben und hatte nicht damit gerechnet, hier überhaupt jemandem zu begegnen. „Hoppla!“ Der Mann griff ihr rasch unter die Arme als sie sich aufrichten wollte. Fast wäre sie hintenüber in den aufgeweichten Matsch gefallen. Aus der Überraschungssituation heraus streifte sie wütend die männlichen Arme von ihrem Oberkörper. „Was müssen Sie mich auch so erschrecken! Unverschämtheit! Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Es blitzte temperamentvoll aus ihren graublauen Augen. Sie war rot angelaufen und musste hochschauen als sie direkt vor dem Unbekannten stand. Er war einen Kopf größer als sie und trug ein grünes Regencape. Noch während sich ihre Gedanken überschlugen, drückte sich auf einmal etwas Weiches von hinten gegen ihre Kniekehlen. Eve wandte ihren Kopf zur Seite. „Nanu, wer bist du denn?“ Ein Golden Retriever stand dort und blickte sie aus treuherzigen Augen an. Eve war von einer Sekunde auf die andere besänftigt. Sie beugte sich zu dem Hund hinab und kraulte ihn. Ihre Tierliebe gewann die Oberhand. „Das ist Filou“ mischte sich der Mann ein. „Guten Morgen Filou, du bist ja ein ganz Braver.“ Eve beschäftigte sich weiter mit dem Tier, welches sie ausführlich beschnupperte. „Was ist denn nun? Ihr Fahrrad? Soll ich Ihnen helfen oder nicht?“ „Ach ja, Entschuldigung.“ Eve blickte erneut auf den Mann. Er wirkte leicht ungeduldig. „Tatsächlich könnte ich Hilfe gebrauchen. Ich kann mein Rad nicht reparieren. Leider habe ich kein Flickzeug dabei. Können Sie mir sagen, wo ich so etwas bekommen kann? Soweit ich weiß, ist es noch ein gutes Stück bis zur nächsten Ortschaft.“ „Ich zeige es Ihnen!“ Der Mann setzte sich in Bewegung. „Filou, hier bei Fuß!“, befahl er seinem Hund. Eve beeilte sich und versuchte ihr schwer beladenes Rad zu schieben, um dem Helfer zu folgen. Doch das ging mit dem platten Reifen nicht gut. Der Abstand zwischen ihr und dem Mann wurde rasch größer. „Hey, nicht so schnell!“ Rief sie. Der Mann blickte sich um und murmelte etwas was Eve nicht verstehen konnte. Mit Sicherheit waren es keine freundlichen Worte. Trotzdem kehrte er zu ihr zurück. Kurzerhand zog er mit einem Ruck die schweren Satteltaschen aus ihren Verankerungen, schulterte sie wie ein leichtes Kleidungsstück und stapfte erneut davon. „Nicht schlecht, Herr Specht.“ Eve staunte. Zweifellos, der Mann besaß Kraft und Ausdauer. Eve beeilte sich, ihm weiter zu folgen.

Schweigend setzten sie ihren Marsch fort. Nach gut zwanzig Minuten verließen sie den Weg, der sie durch die Weinberge geführt hatte. Vor ihnen eröffnete sich ein groß angelegter Park. In der Ferne fiel das helle Morgenlicht auf ein riesiges Anwesen. Ein Château! Die vielen Fenster blitzten in der Morgensonne. Einige Erker und Türme erhoben sich majestätisch über dem Gebäude und eine riesige Freitreppe bildete den Mittelpunkt vor dem imposanten Bauwerk. Eve rief begeistert aus: „Wie malerisch!“ Wo war sie denn hier gelandet? Die Begeisterung der Garten- und Landschaftsarchitektin war sofort geweckt. Ihre Augen schweiften umher und nahmen die Eindrücke der vielfältigen Bepflanzungen wahr. Sie liefen nun über die weitläufigen Rasenflächen und bogen nach rechts auf einen Weg ab. Hinter hohen Eichen lag ein ringförmig angelegter Wirtschaftshof. Etliche Gebäude reihten sich aneinander. In der Mitte öffnete sich ein Torbogen und gab den Blick frei auf das Schloss. „Was machen wir hier?“ Eve blieb stehen, als der Mann vor einer Remise hielt und die Tür öffnete. „Ihr Rad reparieren, was sonst?“ Kam es erstaunt zurück. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen und zuckten kaum merklich. „Was dachten Sie denn?“ „Wenn Sie mir bitte Flickzeug geben könnten. Mit dem Reifen komme ich dann schon alleine klar. Das wäre sehr freundlich“ beeilte sie sich noch anzufügen. „Ach was, geben Sie schon her.“ Rigoros griff er in ihren Lenker und zog das Fahrrad an sich heran. Überrumpelt ließ Eve rasch los. Wie eine Feder hob er das Fahrrad hoch und drehte es auf den Kopf, um es dann wieder auf einer Werkbank abzustellen. Er knipste die Deckenlampe an. „Da wollen wir doch mal sehen.“ Nachdem er eine Zeit lang in einigen Schubladen gesucht hatte, zog er triumphierend das Gesuchte heraus. „Da haben wir es ja!“ Eve blieb im geöffneten Türrahmen stehen und beobachtete stumm das Geschehen. Was sollte sie auch machen. Wenn der Vorgang die Rettung ihres Radausfluges bedeuten sollte, dann musste sie hoffen, dass der schöne Fremde wusste, was er tat. So ruppig er auch war. Scheinbar arbeitete er auf dem Gutshof. Er kannte sich hier gut aus. Sie gab sich ihren Mutmaßungen hin. Während sie wartete, schaute sie sich den Hof genauer an. In einer Ecke standen einige große Holzfässer und in einer offenen Scheune befand sich eine Weinpresse. Auf der gegenüberliegenden Seite verlief ein gepflasterter Weg sanft in die Tiefe. Ob es dort in einen Weinkeller hineinging? Vieles deutete darauf hin, dass sie sich auf einem Cave à vin, einem Weingut, befand.

„Et voilà. Halten Sie einmal fest.“ Er drückte ihr das Fahrrad in die Hand, schnappte sich eine Luftpumpe und pumpte den Reifen wieder auf. „Fahren Sie mal eine Runde“, forderte er sie auf. Eve schob ihr Rad wieder hinaus in die Sonne, schwang sich auf ihren Drahtesel und radelte zwei Runden über das Kopfsteinpflaster. Sie drückte die Bremse und blieb vor der Remise stehen. „Sie sind mein Retter! Merci beaucoup! Alles wieder in Ordnung“ strahlte sie ihn an. Vergessen waren ihre Vorbehalte. Vor lauter Freude, dass der Tag gerettet war, fragt sie ihn „Was bin ich Ihnen schuldig?“ Sie angelte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. „Lassen Sie stecken“, winkte er lässig ab. „Aber ich möchte mich gerne erkenntlich zeigen. In dieser Einöde hätte ich alleine keine Hilfe gefunden.“ „Ist schon gut“, brummelte er. „Aber wenn ich es recht bedenke …“ Auf einmal grinste er schelmisch. Es entstand eine Pause. „Tatsächlich könnte ich helfende Hände gebrauchen.“ „Ja, klar, was kann ich tun?“ Eve war sofort einverstanden, sich zu revanchieren. „Sie können ihr Rad und ihr Gepäck hier hineinstellen. Dann kommen Sie mal mit.“

Ohne zu verraten, was er mit ihr vorhatte, trabte er bereits wieder voran. Das schien eine Masche von ihm zu sein, sich in Rätseln auszudrücken und davon zu marschieren. Er pfiff nach seinem Hund, der sofort wieder zu seinem Herrchen zurücklief, nachdem er auf dem Hof herumgetollt hatte. Eve hätte fast laut aufgelacht. „Meint er auch mich mit dem Pfiff? Oder nur seinen Hund?“ Sie beeilte sich, ihm zu folgen. Schließlich hatte sie ihm ihre Hilfe angeboten. Wenn Eve einmal etwas versprach, dann hielt sie es auch. Obwohl dieser Mann so ruppig und einsilbig zu ihr war, war da etwas, was sie an ihm faszinierte. Sie war sich sicher, dass sich unter dieser rauen Schale ein weicher Kern verbarg. Weshalb dies so war, konnte sie sich selbst nicht beantworten. Es war mehr ein Gefühl. Auf alle Fälle strahlte er ein unglaubliches Charisma aus. Sie gingen nun durch den Torbogen schnurstracks auf das Château zu. Unten an der Freitreppe zog sich der Mann seine dreckigen Stiefel aus. Eve tat es ihm nach und entledigte sich ihrer verschmutzten Turnschuhe und stieg die erhabene Treppe hinauf. Sie betraten das Gebäude durch eine uralte, mit Eisen beschlagene, reichlich verzierte Eichentür. Nur mit Mühe konnte sie die Tür hinter sich wieder schließen, so schwer war sie. Vor ihr lag eine riesige Eingangshalle. Der Fußboden war mit wunderschönen Terrazzo Fliesen ausgelegt. An der rechten Seite befand sich ein in dem Boden eingelassener Kamin. Davor standen einige Korbsessel, auf denen weiße Schaffelle lagen. Einige antike Truhen und Vitrinen säumten die Wände. Für Filou befand sich in der Ecke ein Hundekorb, ausgelegt mit einer Decke. Ihm wurde befohlen dort Platz zu nehmen. „Kommen Sie, hier entlang“ sagte der Mann und schritt eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock. An den Wänden hingen Ölgemälde mit Porträtbildern, vermutlich die Ahnen, die in diesem alten Gemäuer gelebt hatten. Eve kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie war beeindruckt. Sie wunderte sich sehr darüber, dass der Mann sich hier gut auskannte. Dachte sie noch immer, er sei ein Angestellter vom Gut. Ihre Neugierde war geweckt. Was hatte er mit ihr vor? Der Mann blieb nun vor einer zweiflügeligen Tür stehen und drehte sich zu ihr um. „Trauen Sie es sich zu, der Comtesse beim Ankleiden zu helfen?“, sagte er auf einmal völlig unverblümt. „Ihre Pflegerin hat sich heute Morgen abgemeldet.“ „Wie …?“ Eve war perplex. Ihr Gegenüber verstand es aber auch, sie zu überrumpeln. „Der Comtesse? Ich kenne sie nicht! Ich kann doch nicht einer wildfremden Person …“ stotterte sie. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Allerdings will sie sich nicht von einem Mann beim Ankleiden helfen lassen. Da ist sie eigen. Sie müssen wissen, dass die Comtesse im Rollstuhl sitzt und bei einigen Handgriffen auf Hilfe angewiesen ist. Es ist keine große Sache. Kommen Sie, Sie würden mir wirklich einen Gefallen tun.“ Eve war es etwas mulmig zumute. Der Morgen hatte es aber auch in sich. So hatte sie sich ihren Fahrradurlaub nicht vorgestellt. Aber was konnte schon passieren? Mehr als hochkant wieder aus diesem schönen Märchenschloss hinausgeworfen zu werden, war nicht möglich. Außerdem war sie viel zu gut erzogen, als dass sie einer hilfsbedürftigen Person ihre Hilfe verwehren würde. „Auf Ihre Verantwortung!“, lenkte sie ein. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fiel es ihrem Gegenüber noch schnell ein. „Eve.“ Und schon klopfte der Mann an die Tür. „Ja“, ertönte eine Stimme von innen. Er öffnete die Tür und trat ein.

2. Kapitel

„Guten Morgen, Maman chérie.“ Wie verwandelt, betrat er freundlich und aufgeräumt das Zimmer, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. „Hast du gut geschlafen?“ Dann ging er zu einem großen hohen Bett und gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Er half ihr beim Aufrichten, indem er ihr ein dickes Kissen in den Rücken zurechtrückte. „Danke, mein Lieber“, bedankte sie sich. „Weißt du, wo Olga bleibt? Sie ist doch sonst immer pünktlich.“ „Wir haben heute ein kleines Problem“ antwortete er. „Olga hat mir eine Nachricht geschrieben, dass sie heute nicht kommen kann. Wir müssen deshalb etwas improvisieren. Schau, wen ich dir dafür mitgebracht habe“, damit deutete er auf die Tür. Eve stand immer noch im Türrahmen, unsicher was hier auf sie zukommen würde. „Kommen Sie, wir beißen nicht.“ Er winkte ihr aufmunternd zu, näher zu treten. „Maman, darf ich dir Eve vorstellen. Eve wird dir heute Morgen beim Ankleiden helfen.“

Von wegen, ein Angestellter des Gutes! Eve wurde rasch klar, dass sie dem Hausherrn des Schlosses begegnet war. Da hatte er sie ganz schön an der Nase herumgeführt. „Na, warte, das zahle ich dir heim“, dachte sie amüsiert. Sie trat etwas schüchtern an das Bett heran und gab der Dame ihre Hand. „Eve, meine Mutter ist die Comtesse Marie du Rivage.“ Stellte er seine Muttervor. „Guten Morgen, es ist mir etwas unangenehm hier hereinzuplatzen …“ Mit einem Blick auf ihren Sohn, sagte die Gräfin: „Das kann ich mir gut vorstellen. Ich kenne doch meinen Sohn, er wird sie überrumpelt haben.“ Eve schaute verlegen auf ihre Füße. Doch die Comtesse rettete sie aus dieser peinlichen Situation. „Machen Sie sich keine Gedanken, wir beide werden sicherlich gut miteinander auskommen.“ Dann wandte sie sich mit drohendem Zeigefinger schelmisch an ihren Sohn. „Und du mein Lieber, sieh zu, dass du Land gewinnst. Bitte komm gleich zum Frühstück dazu, ich muss mit dir die Buchführung durchsprechen.“ Dann waren die Frauen unter sich.

„Sie müssen wissen, dass ich nach einem Reitunfall im letzten Jahr auf den Rollstuhl angewiesen bin. Wenn Sie so freundlich wären, mir beim Ankleiden zu helfen? Ich werde Ihnen genau sagen, was ich benötige.“ Eve tat wie ihr geheißen und reichte ihr einige Kleidungsstücke aus dem großen Ankleideschrank. Bis auf wenige Handgriffe kam die Gräfin gut alleine zurecht. Nachdem sie im Rollstuhl saß, konnte sie auch im Bad ihre Morgentoilette ohne Hilfe verrichten. Währenddessen stand Eve an einem der großen Fenster und blickte hinaus. Von dieser Seite des Gebäudes ging der Blick auf eine breite von dicken Eichen gesäumte Baumallee. Der Vorhof war als Kreisel angelegt. In der Mitte lag ein in Stein gehauener Naturteich. Das Wasser war von Seerosenblättern übersäht. Das würde im Sommer herrlich aussehen, wenn sie in voller Blüte aufgegangen waren. Am Eingang zum Grundstück befand sich ein großes schmiedeeisernes Tor. Davor mussten sich die Mülltonnen befinden. Ein bärtiger Mann mit ergrauten Haaren und gekleidet in einen grünen Overall, überquerte die Einfahrt. Er trug einen großen Sack und außerhalb ihres Sichtfeldes füllte er laut scheppernd die Mülltonnen mit Altglas. Es hallte vor den hohen Schlossmauern. Im Hintergrund erblickte sie riesige Hänge und Felder mit Weinreben. Von innen ertönte die Stimme der Gräfin. Eve drehte sich wieder um. „Darf ich fragen, was Sie an diesem Morgen auf unser Schloss geführt hat? Sind sie eine Bekannte meines Sohnes?“ „Nein, nein“ beeilte sich Eve zu antworten. „Ich kenne Ihren Sohn eigentlich nicht.“ Bereitwillig berichtete sie, was ihr heute Morgen widerfahren war. Die Gräfin schmunzelte. „Erstaunlich. Sie müssen einen gewaltigen Eindruck auf Philippe gemacht haben.“ „Ja, meinen Sie?“ „Doch, doch, normalerweise ist er Fremden gegenüber sehr verschlossen.“ „Sehr gesprächig war er wirklich nicht“, konnte Eve es sich nicht verkneifen, zu sagen.

Die beiden Frauen kamen schnell ins Gespräch. Die Gräfin war sehr aufgeschlossen und empathisch. Fröhlich plaudernd begaben Sie sich zu einem Aufzug am Ende des Flures und fuhren ins Erdgeschoss hinab. „Haben Sie heute Morgen bereits gefrühstückt?“, fragte die Dame des Hauses. „Nein, leider noch nicht. Ich habe heute Nacht an einem See im Wald gezeltet und war mit meinem Fahrrad auf dem Weg ins nächste Dorf. Dort wollte ich mir Croissants besorgen.“ „Dann sind Sie selbstverständlich mein Gast. Machen Sie mir die Freude und frühstücken mit mir, ma chérie.“

So kam es, dass Eve noch eine Weile im Schloss verweilte. Gemeinsam mit der Gräfin und ihrem Sohn frühstückte sie in einem der Räume, den die Familie den „salon du petit déjeuner“ nannte. Während sich die beiden Frauen angeregt unterhielten, schwieg der junge Graf des Hauses beharrlich und verschanzte sich hinter seiner Zeitung. Eve sah nicht, dass er hin und wieder über das Blatt hinaus zu dem Gast blickte. Obwohl er vorgab, nicht zuzuhören, lauschte er der Stimme Eves aufmerksam. Als sein Handy klingelte, verließ er hastig den Raum. „Philippe, so warte doch, dein Frühstück …“, rief seine Mutter hinter ihm her. „Ich wollte doch noch etwas mit dir besprechen!“ Doch zwecklos, er war schon verschwunden. Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Das ist mal wieder typisch für Philippe. Er vergräbt sich in seiner Arbeit. Es kann sein, dass ich ihn den ganzen Tag nicht wieder zu Gesicht bekomme.“ Sie wirkte traurig während sie das erzählte. Es schien, als wäre sie froh einmal über dieses Problem sprechen zu können. „Sie müssen wissen, dass er nicht immer so war. Früher war er ganz anders. Erst als seine Frau vor zwei Jahren verstarb, hat er sich immer mehr zurückgezogen. Ich komme nicht mehr an ihn heran, obwohl er immer da ist, wenn ich ihn brauche. Auch kümmert er sich rührend um mich. Da kann ich nicht klagen. Doch seine Fröhlichkeit ist auf der Strecke geblieben.“ „Das tut mir leid“, sagte Eve. Die Comtesse fuhr fort „es geht nicht um mich, viel mehr mache ich mir Gedanken über meinen Enkel. Er nimmt sich viel zu wenig Zeit für ihn.“ Eve hörte aufmerksam zu. Sie besaß ein feines Gespür dafür, wenn jemand Sorgen hatte. „Ich kann das gut nachvollziehen, wie sich ihr Sohn fühlen muss“, sprach Eve. „Das ist hart auf einmal den Partner zu verlieren.“ Die Comtesse du Rivage wurde hellhörig. „Sprechen Sie aus Erfahrung?“ „Das ist wohl wahr“, antwortete Eve. „Ich bin nicht ohne Grund derzeit alleine als Radtouristin unterwegs. Das soll mir helfen, Abstand von meinem bisherigen Leben zu bekommen.“ Sie setzte gerade an, um auch aus ihrem Leben zu berichten, als es klopfte.

3. Kapitel

Es war die Köchin. Sie betrat das Frühstückszimmer. Die Comtesse schaute auf. „Ja, Antoinette was gibt es?“ „Entschuldigen Sie Madame, wenn ich störe. Aber Sie sollten sich die Nachrichten ansehen. Es gibt wichtige Neuigkeiten.“ „Neuigkeiten? Was ist denn passiert?“ Die Gräfin legte ihre Serviette auf ihren leeren Frühstücksteller und setzte ihren Rollstuhl zurück. „Lassen Sie uns unser Gespräch nachher fortsetzen“, sprach sie zu ihrem Gast. „Wenn es etwas Wichtiges im Fernsehen gibt, so sollten wir einmal nachschauen. Unser Fernseher steht drüben im Salon.“ Gemeinsam begaben sich die Damen zu einem im Rokokostil eingerichteten Zimmer. Die Köchin hatte bereits den aktuellen Nachrichtensender eingeschaltet. In großen Lettern stand über dem Nachrichtensprecher „COVID 19“ eingeblendet, während folgende Meldung verkündete wurde: „Wie aus dem Élysée-Palast vom Staatspräsidenten zu vernehmen ist, werden alle Franzosen ab sofort gebeten, ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen. Die aktuellen Fallzahlen sind über Nacht erneut gestiegen. Bereits jetzt klagen die Ärzte aus den Krankenhäusern über nicht genug Intensivbetten mit geeigneten Beatmungsgeräten zu verfügen. Im ganzen Land wurde die Infektion mit dem aus China stammenden Corona-Virus zu einer Pandemie erklärt.“ Dann wurde eine öffentliche Erklärung vom Staatspräsidenten eingeblendet: „Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich wende mich aus gegebenem Anlass heute direkt an Sie. Nach Rücksprache mit führenden Virologen hat das Kabinett beschlossen, dass wir zum Schutz aller einen sogenannten „Lock-Down“ verkünden müssen. Das bedeutet für Sie, dass Sie ab Mitternacht ihr Haus oder ihre Wohnung nur noch in dringenden Fällen, wie z. B. Arztbesuche und notwendige Einkäufe verlassen dürfen. So lange, wie das neue Corona-Virus nicht medikamentös oder mit einer Impfung beherrschbar ist, sind wir leider gezwungen diese Maßnahmen einzuleiten. In den letzten vierundzwanzig Stunden wurden erneut 8.426 neue Infektionen nachgewiesen. In diesem Zeitraum sind auch wieder 249 Menschen an dem Virus verstorben.“

Die beiden Frauen lauschten noch eine Weile den Nachrichten. Besonders Eve brachte sich auf Stand der aktuellen Gesundheitslage im Land. Dadurch, dass sie bereits einige Tage mit ihrem Rad unterwegs war, hatte sie die Nachrichten über die Verbreitung des Corona-Virus in Frankreich nicht verfolgt. Ihre letzten Informationen waren, dass diese Pandemie in China verheerende Ausmaße angenommen hatte. Das war weit weggewesen. Dass die Pandemie nun Europa erreicht hatte, bedeutete nichts Gutes. Auf dem Bildschirm erschien zum Abschluss der Nachrichten der Wetterbericht, indem verkündet wurde, dass ab dem Abend mit starken Niederschlägen gerechnet werden musste. „Auch das noch!“, sagte Eve. „Ich werde bestimmt kein Hotel buchen oder einen Zug nehmen können und bei dem Wetter zu zelten, ist unvernünftig. Was mache ich denn jetzt?“

Während die beiden Frauen noch über die neue Situation diskutierten, betrat der Sohn des Hauses wieder das Zimmer. „Entschuldige Maman, wenn ich störe, doch wir haben ein neues Problem.“ „Hast du auch die Nachrichten gehört?“, fragte ihn die Mutter. „Ja, dieses Corona verbreitet sich. Wir haben Kontaktsperre nach außen hin. Wir müssen so einiges überdenken. Aber was anderes, deine Pflegerin Olga hat mich angerufen. Sie ist auf den Weg in den Süden, um zu ihren Eltern zu fahren. Ihre Eltern sind alt. Sie möchte sie in Zeiten von Corona nicht alleine lassen“ berichtete er. „Wir werden ohne Pflegehilfe auskommen müssen.“ „Mhm.“ Die Comtesse dachte nach und blickte dann Eve an. „Ich hätte da eine Idee womit uns allen geholfen wäre. Können Sie sich vorstellen, Ihren Fahrradurlaub für einige Tage zu unterbrechen, um mir ein wenig zur Seite zu stehen? Natürlich nur so lange wie es Ihre Zeit erlaubt.“ Eve überlegte. Die Idee war nicht so schlecht. Sie benötigte wegen des Regens ein Dach über dem Kopf. Nach Hause konnte sie derzeit noch nicht. Paris, da wo sie wohnte, war weit weg. Und selbst, wenn das ginge, verspürte sie keine Lust, dort auf ihren Ex zu treffen. Der sollte sich erst eine neue Bleibe suchen. Auf keinen Fall würde sie zurück in ihr Haus ziehen, in der auch ihre gemeinsame Wohnung und das Büro untergebracht waren, bevor die räumliche Trennung geregelt war. Nach all dem was er ihr angetan hatte, wollte sie ihn nicht wiedersehen. Das Leben, das sie sich über die Jahre aufgebaut hatte, darin sah sie sich nicht mehr. Erst wollte sie ihr Gedanken neu ordnen. Wenn sie hierbliebe, hatte sie genug Zeit über alles nachzudenken und nach Perspektiven Ausschau zu halten. „Ginge das denn?“, dabei schaute sie den Hausherren skeptisch an. „Nun, ja. Wenn sie sich mit meiner Mutter einig werden. Von mir aus gerne.“

Während sie sprachen, gingen sie gemeinsam durch die große Halle. In einem Moment der Unachtsamkeit stolperte Eve plötzlich über eine Teppichkante. Sie wäre unweigerlich gefallen, hätte Philippe sie nicht in letzter Sekunde aufgefangen. „Hoppla! Nicht so eilig mit den jungen Pferden“ scherzte er und hielt sie an beiden Händen fest. Verlegen blickte Eve auf. Ihre Blicke begegneten sich. Sie meinte in einen funkelnden Bergsee einzutauchen, so blau-grün schimmerten seine Augen. Es entstand ein Moment des verlegenen Schweigens, ehe Eve sich wieder von ihm löste. Nervös zupfte sie an ihrem Shirt herum. Ihr war ganz eigenartig zumute. Ein feines Vibrieren durchlief ihren Körper. Auch Philippe trat einen Schritt zurück. Das erste Mal, seitdem sie ihm begegnet war, lächelte er sie an. „Ja, dann … Ich freue mich. Wir sehen uns.“ „Ja, bis bald.“ Eve blickte ihm lächelnd hinterher. Sie verharrte noch eine Weile in der Diele, ganz in ihren Gedanken versunken. Auch nachdem Philippe längst das Schloss verlassen hatte.

So kam es, dass Eve im Schloss einquartiert wurde. Sie würde die Gräfin einige Tage betreuen. Dafür konnte sie hier wohnen.

4. Kapitel

„Antoinette wird Ihnen im Obergeschoss eines der Gästezimmer herrichten. Sicherlich haben Sie Gepäck dabei. Ich habe in der nächsten Stunde noch etwas vor. So haben Sie genügend Zeit, sich dort einzurichten. Eine kleine Bitte hätte ich zuvor noch. Unten an der Auffahrt stehen am Teich wunderschöne Schlüsselblumen. Würden Sie mir bitte zwei Sträuße pflücken?“ Eve kam dieser Bitte gerne nach. Sie machte sich erst einmal daran, ihre Schuhe am Fuß der Freitreppe wieder anzuziehen, denn sie lief auf Socken. In Gedanken war sie bereits dabei, woher sie etwas Kleidung fürs Haus herbekommen konnte. In den Satteltaschen befand sich nur das Nötigste und praktische Radlerklamotten. Für ein Leben im Schloss war sie wahrlich nicht ausgestattet. Sie lief um das Château herum und kam dem Wunsch der Comtesse nach und pflückte zwei schöne Blumensträuße. Im Park fand sie herrliches Grün, womit sie die Sträuße dekorativ verschönerte. Die Gräfin rollte ihr bereits in ihrem Rollstuhl entgegen. Sie hatte sich entsprechende Handschuhe übergezogen und kam sehr gut mit ihrem Rolli alleine zurecht. Eve freute sich über ihre Selbstständigkeit. „Respekt Comtesse du Rivage, Sie gehen sehr geschickt mit ihrem Rollstuhl um.“ „Der Rollstuhl ist für mich kein Hindernis. Ich lasse mich doch nicht unterkriegen, nur weil meine Beine nicht mehr funktionieren. Aber bitte, nennen Sie mich Marie. Ich mag diese förmliche Anrede nicht sonderlich.“ Eve spürte bereits nach dieser kurzen Zeit des Kennenlernens, das die Begegnung mit der Comtesse eine Bereicherung für ihr Leben war. Mit ihr würde sie gut auskommen. Sie reichte ihr lächelnd die Blumen. „Sehr hübsch. Vielen Dank. Wir wollen gleich zur Grabstätte meiner Schwiegertochter und meines verstorbenen Mannes gehen, bevor es regnet. Heute jährt sich der Todestag meiner Schwiegertochter zum zweiten Mal“, klärte sie Eve auf. „Wir sehen uns später. Am besten treffen wir uns in der Küche. Ich möchte mit Antoinette den Speiseplan für die kommenden Wochen durchsprechen. Wir müssen überlegen wie wir die Einkäufe regeln, jetzt wo wir wegen Corona so wenig wie möglich die Geschäfte aufsuchen sollen.“ „Soll ich Sie nicht zum Friedhof schieben?“, bot sich Eve an. „Nein, das ist nicht nötig. Mein Sohn wird mich begleiten. Sehen Sie dort drüben?“ Sie wies auf ein kleines Haus, welches wohl aus den ehemaligen Stallgebäuden zu einem Wohnhaus umgebaut worden war. „Dort wohnt er. Ich habe mich mit ihm verabredet. Das schaffe ich leicht.“ Eve nickte und begleitete sie ein Stück des Weges, weil sie ihre Satteltaschen aus der Remise holen wollte. Dann trennten sie sich.

Als sie zum Schloss zurücklief, sah sie, wie die Gräfin, ihr Sohn und ein Junge, er mochte neun oder zehn Jahre alt sein, mit einer jungen Frau einen Weg in Richtung Süden einschlugen. Die Dame hatte eine Hand auf der Schulter des Knaben liegen. Sie wirkte sehr vertraut mit dem Kind. Wer mochte das sein? Gab es im Leben des verwitweten Grafen wieder eine Frau? Davon hatte die Comtesse nichts erzählt. Eve verwarf schnell wieder diesen Gedanken. Was ging es sie auch an. Während Eve die kleine Karawane beobachtete, registrierte sie wie sich der Mann, den sie vorhin am Müllcontainer gesehen hatte, zu der kleinen Gesellschaft gesellte. Genau in diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges. Der Junge riss sich los, drehte sich auf dem Absatz um und rannte nach Hause zurück. Eve stand nah genug, dass sie sehen konnte wie dicke Tränen über die Wangen des Knaben kullerten. Ein Kind weinen zu sehen, dass rührte ihr Herz. Der Junge verschwand im Haus. Ob er sehr um seine verstorbene Mutter trauerte?

Während sich Eve Gedanken um die Trauerprozession machte, lief sie querfeldein durch die weitläufige Parkanlage. Es war ein beeindruckendes Anwesen. Vor vielen Jahren musste hier ein wahrer Landschaftskenner viele verschiedenen Baumarten und Sträucher aus aller Herren Länder angepflanzt haben. Man sah, dass die Anlagen gepflegt wurden. Der Rasen war frisch gemäht und die Blumenbeete waren gegrubbert worden. Doch es war deutlich zu erkennen, dass man irgendwann aufgehört hatte, das ursprüngliche Arrangement der Gartenarchitektur zu vollenden. Etliche größere Flächen lagen brach und störten das schöne Landschaftsbild. Vor ihrem geistigen Auge entstanden bei Eve sofort Bilder, wie diese Lücken ausgefüllt werden konnten. Eve fiel auf, dass bei den fremdländischen Pflanzungen darauf geachtet worden war, diese nach Erdteilen anzuordnen. Das musste der Ursprungsgedanke als übergreifendes Thema für die Gestaltungsidee gewesen sein. Also existierte ein europäischer Teil im Park, ein Asiatischer und so weiter. Eve wusste, dass es in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts einen weltberühmten Garten- und Landschaftsplaner gegeben hatte, der einige der schönsten Gärten in England und Frankreich nach diesem Motto angelegt hatte. Irgendwie erinnerten die Grundzüge dieser Anlage an seine Arrangements. War er auch hier am Werk gewesen? Eve war sofort Feuer und Flamme bei dieser Idee. Das war ein interessanter Gedanke, einmal nachzuforschen, was es damit auf sich hatte. Sie musste mit der Comtesse darüber sprechen. Vielleicht wusste diese mehr darüber. An einem runden Rosenbeet blieb sie stehen. Es handelte sich um eine ganz alte Züchtung. Die Rosen waren nicht ordnungsgemäß zurückgeschnitten, deshalb waren sie verwildert und würden im Sommer mit Sicherheit nur vereinzelt blühen. Hier war dringend eine Spezialpflege vonnöten. Kontrastreiche und spannende Rosenbegleiter wären Stauden mit anderen Blütenformen, wie zum Beispiel Rispen- oder Schleierblüten, ging es ihr durch den Sinn. So würden sich die Rosen mit Salbei und Lavendel auf wundervolle Weise ergänzen. In einer Nische in der Nähe der Freitreppe konnte sie sich einen verwunschenen Pavillon vorstellen. Es wäre ein herrliches Plätzchen, um sich nach Feierabend in der Abendsonne dort aufzuhalten. So manche kreative Idee spukte in ihrem Kopf herum, während sie sich auf den Weg zur Schlossküche begab.

5. Kapitel

„Was machen wir nur mit Luc?“, fragte Philippe seine Begleiterin, nachdem sie von der Grabstätte zurück zu seinem kleinen Cottage gingen. „Ich werde nach ihm sehen“, versprach Maxime. „Er hat den Tod seiner Mutter immer noch nicht verkraftet. Hab Geduld mit ihm. Ich kann dir das nur immer wieder raten“, sagte sie. Philippe strebte an, direkt wieder in die Weinberge zu gehen. Er schnappte sich seine Stiefel und verschwand.