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Michael Magee

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Beschreibung

Mit gerade mal 22 Jahren steht Sean an einem Scheidepunkt. Aufgewachsen im von der Wirtschaftskrise erschütterten Belfast, inmitten von Arbeitslosigkeit, Tristesse und den schwelenden Nachwirkungen der Nordirland-Konflikte, scheint sein Traum, Schriftsteller zu werden, vollkommen unerreichbar. Stattdessen hängt er fest in einem Teufelskreis aus Partys und Drogen - bis er im Rausch einen jungen Mann niederschlägt und vor Gericht landet. Erst jetzt findet er die Kraft, sein Leben neu zu sortieren. Wie konnte er zu dem Menschen werden, der er ist, der ihm aber doch so fremd ist? Eine offenherzige, gleichermaßen raue wie zarte Selbsterkundung, zutiefst berührend in ihrer Verletzlichkeit.

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Seitenzahl: 425

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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungTEIL EINS123456789TEIL ZWEI1011121314151617TEIL DREI18192021222324DANKSAGUNG

Über dieses Buch

Mit gerade mal 22 Jahren steht Sean an einem Scheidepunkt. Aufgewachsen im von der Wirtschaftskrise erschütterten Belfast, inmitten von Arbeitslosigkeit, Tristesse und den schwelenden Nachwirkungen der Nordirland-Konflikte, scheint sein Traum, Schriftsteller zu werden, vollkommen unerreichbar. Stattdessen hängt er fest in einem Teufelskreis aus Partys und Drogen – bis er im Rausch einen jungen Mann niederschlägt und vor Gericht landet. Erst jetzt findet er die Kraft, sein Leben neu zu sortieren. Wie konnte er zu dem Menschen werden, der er ist, der ihm aber doch so fremd ist? Eine offenherzige, gleichermaßen raue wie zarte Selbsterkundung, zutiefst berührend in ihrer Verletzlichkeit.

Über den Autor

Michael Magee, Jahrgang 1990, ist Mitherausgeber des literarischen Magazins THE TANGERINE, für das er einige der talentiertesten jungen Autor:innen Großbritanniens entdeckt hat. Seine Texte erschienen in verschiedenen Literaturzeitschriften und einer Anthologie. Er studierte Creative Writing an der Queen’s University in Belfast.

Übersetzung aus dem Englischen vonHannes Meyer

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Zitat auf S. 11: Die Verurteilten, Regie: Frank Darabont, 1994

Zitat auf S. 253: László Krasznahorkai, Krieg und Krieg, S. Fischer Verlage 2006, S. 140 f.

Zitat auf S. 345: Milan Kundera, Der Scherz, Carl Hanser Verlag 2012, S. 7

Eichborn Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:

»Close to Home«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2023 by Michael Magee

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anne-Marie Wachs, Berlin

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Kölnnach einem Originalentwurf von Na Kim

Umschlagmotiv: © DEEPOL by plainpicture/Valentina Barreto

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4840-7

eichborn.de

Für meine Mutter und meine Brüder.

TEIL EINS

Bei dir, o HERR, habe ich mich geborgen,

lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit!

Psalm 71:1

1

Es ging ganz schnell. Ich habe zugelangt und getroffen, und er ist umgefallen. Ein Mädchen ging auf mich los und schubste mich: Warum hast du das gemacht? Der Typ lag da, und ich stand über ihm, und um mich rum waren auf einmal tausend Leute und brüllten. Als ich endlich aus dem Getümmel rauskam, waren schon zwei Land Rover vorgefahren. Ein müder Polizist mit Geheimratsecken kam auf mich zu.

Ist das Blut?, fragte er und zeigte auf einen Fleck auf meinem Hemd, der alles Mögliche hätte sein können. Er schrieb sich meinen Namen und meine Nummer auf und sagte, er werde sich melden.

Ich hielt die Hände hoch und sagte okay.

Der Typ ist auf mich losgegangen, erklärte ich. Ich wusste nicht, was ich machen soll.

Vorn an der Straße hoben sie den Kerl auf eine Trage, und die Trage hievten sie in den Krankenwagen.

Ich glaube, du gehst jetzt am besten erst mal nach Hause, sagte der Polizist.

Ich beschloss, dass er ein guter Bulle war und wirklich helfen wollte. Wir melden uns, sagte er, und ich bedankte mich.

Vielen Dank, sagte ich.

Zu Hause stapfte Ryan mit dem Handy vorm Gesicht durch unsere Wohnung und wollte unbedingt noch eine Party finden. Aber es war schon fünf Uhr morgens, und die Vögel zwitscherten. Er zog den Lamellenvorhang zu, als würde das helfen, und riss dabei fast die Halterung runter. So grell. Ich griff nach der lila Tagesdecke, die uns meine Ma zum Einzug geschenkt hatte, zog sie mir über den Kopf und starrte vom Sofakissen aus zwischen den leeren Flaschen durch. Ryan riss den Kühlschrank auf, dann den Schrank neben dem Kühlschrank. Er nahm eine Dose vom Tresen und schüttelte sie.

Ich geb auf, sagte ich.

Du gibst auf? Wir haben noch gar nicht angefangen.

Ich geh ins Bett.

Scheiße, Mann, Sean. Lass mich nicht allein hier hängen.

Ich lass dich nicht allein, bin bloß nebenan.

Dann komm wenigstens mit zu mir. Wir glotzen noch was.

Wir müssen damit aufhören.

Womit denn? Komm schon.

Das Fenster über dem Bett stand offen, und eine kalte Brise kam rein. Ich zog mich bis auf die Boxershorts aus und kroch unter die Decke, aber blieb ganz am Rand, damit ich mich in mein eigenes Bett schleichen konnte, sobald Ryan eingepennt war. Die Wand war schwarz vor Schimmel, und das roch man auch. Überall lagen Klamotten und Fast-Food-Verpackungen herum. Becher und Gläser und leere Dosen. Ryan kiffte zu viel, deshalb. Das machte ihn faul. Deshalb war ihm alles scheißegal. Ich sagte, Du rauchst zu viel von dem Zeug, und nahm ihm den Spliff ab. War ihm egal. Er ließ sich wohlig tiefer hinabsinken und machte seinen Lieblingsfilm an: Die Verurteilten. Den musste ich jedes Mal mit ihm gucken, wenn wir so versackten. Er gab ihm Hoffnung.

Guck dir das an, sagte er.

Es war die Szene, die er so toll fand, die, als Andy Dufresne im Gefängnis ankommt und die Insassen durchdrehen und ihn anbrüllen. Ihn und die anderen Neuen Frischfleisch nennen.

Ich muss zugeben, ich hab von Andy nicht viel gehalten, als ich ihn das erste Mal sah …

Das war Ryans Lieblingssatz, den fand er genial. Ich auch. Der äußere Eindruck trügt oft, sollte das heißen. Erlaub dir kein vorschnelles Urteil über jemanden, denn man kann nie wissen.

Am nächsten Morgen, oder später am selben, wie man’s nimmt, war jemand an der Tür. Ich drehte mich um und versuchte wieder einzuschlafen, aber Ryan war schon aufgestanden und schüttelte mich und sagte so was wie: Das hört sich gar nicht gut an. Ich setzte mich auf die Bettkante, besser erst mal langsam angehen lassen, und beobachtete Ryan, wie er an der Tür horchte.

Sind mehrere, flüsterte er.

Männer?

Aye. Männer.

Ich spähte aus dem Fenster und sah einen Wagen vor dem Block parken. Die Fahrertür stand offen. Ich hörte ein Rauschen. Wahrscheinlich ein Funkgerät.

Sind keine Bullen, sagte Ryan.

Wieso?

Die hätten gebrüllt. Machen sie immer.

Das Klopfen hörte auf. Im Flur hallten Schritte, dann waren sie weg.

Im Wohnzimmer herrschte Chaos. Alles war voller Kippen und Getränkelachen. Irgendein Penner hatte in Kronkorken geascht, und die Kronkorken waren auf den Boden gefallen. Ich schrubbte und wischte und brachte die Dosen raus, dann setzte ich mich ein bisschen hin und schaute aus dem Fenster. Wir hatten einen schönen Blick, die Wohnung lag im vierten Stock, sodass man über die Dächer bis zum Casement Park sehen konnte. Und der Berg, der Berg ist sowieso immer da. Er ist überall, wo man hingeht, in jeder Straße und Ecke von West-Belfast, man kann ihm nicht entkommen. Wer auch immer diese Botschaften da oben hinschreibt, weiß das ganz genau, eine bessere Stelle gibt es gar nicht. Heute prangte dort eine riesige irische Flagge, und darunter hatten sie geschrieben:

ENDINTERNMENT

Was meinst du, wer das war?, fragte Ryan.

Keine Ahnung. Dissidenten?

Warum sollten denn Dissidenten bei uns klopfen?

Ich dachte, du meinst den Berg.

Ryan schaute aus dem Fenster. Das sind doch keine Dissidenten, du Spinner.

Wer denn dann?

Keine Ahnung. Könnte was-weiß-ich-wer sein, sagte er, dann klatschte er in die Hände.

Die Illuminaten. Die Illuminaten haben die IRA unterwandert.

Er öffnete den Kühlschrank und starrte in die leeren Fächer. Die Akne auf seinem Rücken war schlimmer geworden. Die Pickel hatten sich lila verfärbt und blähten sich unter der Haut. Das kam von sechs Monaten Fitnessstudio und den Steroiden, die er sich alle zwei Tage von mir in die Arschbacke jagen ließ. Man sah es ihm auch am aufgedunsenen Gesicht an. An der hochgeputschten Rötung um Hals und Schultern.

Wir brauchen was zu beißen, sagte er.

Hast du Kohle?

Am Arsch. Gestern Abend alles rausgehauen.

Ich auch.

Ich machte im Kocher Wasser heiß, kippte es im Bad ins Waschbecken und ließ kaltes dazulaufen. Der Boiler war kaputt. Die Heizung funktionierte nicht, warmes Wasser gab es auch nicht, aber wir konnten nicht einfach den Vermieter anrufen, damit er das reparieren ließ; er war pleitegegangen und nach Spanien abgehauen, und jetzt sollte hier ein Haufen Häuser gepfändet werden. Deshalb hatten wir an dem Morgen die Tür nicht geöffnet – es hätten Leute sein können, die uns rauswerfen wollen.

Ich fing mit den Haaren an und massierte ordentlich Shampoo ein. Mit einem Becher spülte ich mir den Schaum raus, dann besprenkelte ich mir die Eier und den Oberkörper mit Wasser. Danach setzte ich mich auf den Badewannenrand und sah mir meine Hand an. Die Knöchel waren nicht geschwollen, und an den Fingern war auch nichts zu sehen. Ich machte eine Faust, starrte sie an und ließ den Blick meinen Arm hoch bis zur Schulter wandern. Die dünnen schwarzen Linien meines Tribal-Tattoos waren so dunkel, dass sie fast blau schimmernd wirkten.

Ich muss hier raus, dachte ich.

Ich wusste bloß nicht, was hier war.

Zur Arbeit ging es am schnellsten mit der Bahn. Am Ende unserer Straße war eine Haltestelle. Ich setzte mich auf eine Bank in der Mitte des Bahnsteigs und zählte nach, wie viel Geld ich noch hatte: Mit neun Pfund musste ich bis Ende nächster Woche auskommen, und es war erst Samstag. Die Bahn hielt. Ich stieg ein, suchte mir aber keinen Sitzplatz, sondern versteckte mich ein paar Stationen auf dem Klo vor dem Kontrolleur und konnte mich so an der Central Station mit dem billigsten Ticket durch die Sperre schummeln. Das El Divino befand sich gleich auf der anderen Straßenseite. Es war einer dieser Läden, in die man früher kaum reingekommen war. Jetzt wimmelte es dort von Studenten. Ein klares Zeichen dafür, dass es mit einem Club bergab geht. Dann werden an fünf Abenden die Woche irgendwelche Sonderaktionen angeboten, die exklusivere Klientel zieht weiter, der Laden macht nicht mehr genug Umsatz, und nach ein paar Monaten rasseln endgültig die Gitter runter. Bald würden wir alle unsere Jobs verlieren. Das wussten wir, aber wir blieben trotzdem; es gab nichts anderes, wo wir hätten arbeiten können.

Am Hintereingang wartete eine Lieferung auf mich: fünf Paletten. Ich nahm mir das Cuttermesser, das auf der Fensterbank bereitlag, schnitt die Plastikverpackung auf und schob einen Getränkekasten nach dem anderen ins Lager. Ich ging hoch in den Club, schrieb mir ins Notizbuch, was ich brauchte, ging wieder ins Lager und lud all die Schnäpse und Getränke zum Mischen in den Warenaufzug. Ich musste ihn dreimal befüllen und brauchte dann eine halbe Stunde, um die Bar zu bestücken, was ich auf eine Dreiviertelstunde streckte. Ich hatte alle Flaschen säuberlich mit dem Etikett nach vorn aufgereiht, als eine Gruppe von PR-Schnöseln aus dem Backstagebereich kam. Sie trugen schwarze Steppwesten mit dem Clublogo auf dem Rücken und kamen sich sehr wichtig vor, wie sie so mit ihren beigefarbenen Chinos und Ralph-Lauren-T-Shirts herumstolzierten. Einer von ihnen drückte den Knopf für die Nebelmaschine, und der Nebel waberte über die Tanzfläche. Unser Chef war bei ihnen. Er hieß Dee. Er war jung, nur ein paar Jahre älter als ich, und angeblich hatte sein Vater, ein stinkreicher Bauunternehmer aus Holywood, County Down, ihm den Club zum Geburtstag geschenkt. Er hatte noch nie im Leben an der Bar gearbeitet. Hatte von nichts eine Ahnung, gab aber den großen Macker, weil das hier alles seine Show war, weil er das Sagen hatte, obwohl wir den Laden am Laufen hielten. Er lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tresen und sah mir zu, wie ich warmes Wasser ins Becken ließ und die Ausgießer spülte.

Und, was sagst du?, fragte er und nickte Richtung Boden.

Ich beugte mich über den Tresen, weil ich nicht wusste, was er meinte – da saß ihm ein kleiner schwarzer Mops zu Füßen.

Ist der nicht Bombe?

Aye, Zucker.

Er machte mit dem Handy ein Foto, zeigte es mir und sah mich dann an, als sollte ich gefälligst weiterarbeiten. Ich kniete mich hin und putzte Zentimeter für Zentimeter die Regale unter dem Tresen. Es war verdammt staubig da unten, und die Flaschenböden klebten fest. Ich holte mir Handfeger und Kehrblech, fegte die Kronkorken auf, und als ich mich umdrehte, um mit den Kühlschränken anzufangen, ging die Musik aus. Ich hörte, wie die PR-Typen mit dem kleinen Hund spielten und wie der kleine Hund wild herumrannte.

Hey, bring uns mal nen Müllbeutel rüber, sagte Dee.

Ich zog einen aus dem Knäuel, das zwischen Wand und Geschirrspüler steckte, und wollte ihn Dee geben, aber er trat mit erhobenen Händen zurück und schüttelte den Kopf.

Regel du das mal eben für mich, ja?, sagte er.

Was denn regeln?

Die Scheiße. Der kleine Stinker hat hier gerade reingekackt.

Er klopfte dem Hund auf die Seite, und der Hund fiel um.

Wirklich. Guck, da.

Ich konnte es sehen, ein Häufchen wie aus aufeinandergeschichteten, kaffeefarbenen Kieselsteinen mitten auf der Tanzfläche.

Das mach ich nicht weg, sagte ich.

Nicht?

Auf keinen Fall, ist doch dein Hund.

Okay, dann verpiss dich sofort aus meinem Club.

Ich starrte ihn an. Im Ernst?

Ich mach keine Witze. Hol deine Sachen, du bist gefeuert.

Scheiße, Mann, Dee. Mach doch keinen Aufstand deshalb.

Keinen was? Ich hab gesagt, räum die Scheiße weg, also räumst du die Scheiße weg.

Die PR-Typen hatten sich das T-Shirt über die Nase gezogen. Ich sah ihnen an den Augen an, dass sie lachten.

Mach hin, es stinkt langsam.

Ich zog mir den Beutel über die Hand, wie ich es bei anderen gesehen hatte, und hob schnell die Scheiße auf, ohne hinzusehen. Ich war überrascht, wie warm sie war, wie schwer. Dee nahm den Hund auf den Arm, als wollte er ihn vor dem jämmerlichen Anblick beschützen, wie ich den Beutel wie eine dreckige Socke durch den Club trug, die Treppe runter und zum Hintereingang raus. Draußen feuerte ich ihn, ohne zu überlegen, so weit in den Fluss, wie ich konnte. Ein Stück stromabwärts, Richtung Brücke, tauchte der Beutel wieder auf. Ein Starenschwarm machte Formen am Himmel.

Ich schaute aufs Handy. Eine halbe Stunde hatte ich noch.

Später am gleichen Abend, um zehn, würde meine nächste Schicht beginnen. Um die Zeit bis dahin totzuschlagen, fiel mir nichts Besseres ein, als mich an einen Tisch in der Ecke des Außenbereichs von Kelly’s Cellars zu setzen und so lange wie möglich an dem Pint Guinness zu schlürfen, das ich mir noch gerade so leisten konnte. Am Tisch gegenüber saß eine Gruppe Touristen. Amerikaner, nahm ich an. Sie waren ganz begeistert von den langhaarigen Typen, die vor dem Pub ihre lustige Fidelmusik spielten, aber sosehr sie auch mit den Füßen im Takt wippten und zu jedem Lied, das sie zu kennen meinten, den Text mitbrummten, waren sie doch nicht mit ganzem Herzen dabei. Sie warfen sich ihre Rucksäcke über, zogen weiter Richtung Castle Street und ließen einen Tisch voller halb ausgetrunkener Pints zurück, in denen das restliche Bier in der Hitze vor sich hin dümpelte.

Ich rief Ryan an. Ich erklärte ihm, wo ich war und was ich im Sinn hatte, und er sagte, Gib mir eine Viertelstunde. Bis dahin ging ich schon mal rüber an den Tisch, wo die Touristen gesessen hatten, kippte ihre Bierreste zu zwei ganzen Pints zusammen und machte es mir gemütlich. Die Sonne brannte inzwischen nicht mehr ganz so heiß, die Brise ging den spärlich bekleideten Leuten etwas an die Nieren, aber es war ein brauchbarer Abend, die Leute waren gut drauf. Ich beobachtete sie weniger, als dass ich ihnen zuvorkommen wollte. So ist es immer, wenn ich allein unter Leuten bin, dann meine ich jedes Mal, dass mich alle anstarren. Daher diese Nervosität: Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen, wie ich mich verhalten soll. Ich brauche jemanden, mit dem ich quatschen kann, sonst muss ich mich die ganze Zeit so merkwürdig verstellen. Das war der Grund, warum ich Ryan anzickte, als er endlich kam.

Wo bleibst du denn? Ne Viertelstunde, hast du gesagt.

Jetzt bin ich doch da, oder nicht?

Er trug Jeansshorts und seine Aviator und sah aus wie so ein Animateur, der dir ständig High Five gibt und sagt, was du für ein cooler Typ bist, während er gleichzeitig versucht, deine Freundin klarzumachen. Er ließ ein Guinness vom Nachbartisch mitgehen und setzte sich mir gegenüber.

Du sammelst jetzt also Hundescheiße ein, hab ich gehört?, sagte er.

Wer hat dir das denn erzählt?

Niemand, man hört eben dies und das.

Er war mit den PR-Jungs befreundet und hatte sie ein paarmal mit nach Hause gebracht, und ich wusste, dass der, mit dem er am meisten zu tun hatte, Simon hieß.

Hast du’s von ihm?, fragte ich, und Ryan lachte.

Simon ist einer von den Guten, der kümmert sich um seine Jungs.

Das musste man ihm tatsächlich lassen, und er legte auch hin und wieder ein gutes Wort bei Türstehern für uns ein, die uns schon mal rausgeworfen hatten. Das war zwar noch nicht sehr oft passiert, aber wir waren hier und da in der Stadt schon mal in die eine oder andere Prügelei geraten und hatten schon so unseren Ruf weg. Dass wir beide im selben Club arbeiteten, machte es auch nicht besser. Barpersonal redet eben miteinander. Servicepersonal auch. Sogar die Türsteher, aber vor allem die Betreiber. Die tratschen miteinander wie alte Tanten an der Haustür, sie waren alle Kumpels, und das verhieß nichts Gutes für jemanden, der in Ungnade gefallen war. Wir kannten eine Menge Leute, die bei einem Laden rausgeworfen worden waren und dann in der ganzen Stadt keinen Job mehr fanden. Einen Vertrag hatte kaum jemand. Die wenigen, die doch einen hatten, gehörten zu denen, die eben alles machen, um sich einzuschleimen, und deshalb wollte ich wissen, wer das Maul aufgerissen hatte – damit ich dafür sorgen konnte, dass er es in Zukunft gefälligst hielt.

Ryans Augenbrauen tauchten hinter der Sonnenbrille auf.

Hast du was von deinem Mann gehört?

Wem?

Dem Mann, den du ausgeknockt hast.

Das war kein Mann, der war so alt wie wir.

Wir sind zweiundzwanzig, Sean. Wir sind Männer.

Das stimmte. Aber aus irgendeinem Grund kam mir das Wort immer noch falsch vor.

Was wollen wir jetzt machen?, fragte Ryan.

Keine Ahnung, worauf hast du Bock?

Wir sahen uns um. Es war schon lange her, dass jemand gegangen war, und noch länger, dass einer nicht vorher sein Glas geleert hätte. Und es wurde langsam spät. Die Geschäfte machten bald zu, und auch wenn wir wussten, dass es vernünftig wäre, Schluss zu machen und ans andere Ende der Innenstadt zur Arbeit zu laufen, wäre es doch eine Schande gewesen, das verbliebene schöne Wetter bei einer Samstagabendschicht zu verplempern, erst recht nachdem der vorige Abend so unbefriedigend geendet war – ohne Stoff, ohne Party, mit uns beiden zusammen in einem Bett statt jeweils mit jemand anderem. Wir brauchten das jetzt, und wenn wir es wirklich durchziehen wollten, gab es nur einen Weg: nämlich den zu Ryans Granny nach Divis, wo Ryan sie um achtzig Pfund anpumpte, die er ihr für nächste Woche zurückversprach. Seine Granny warf ihm die Scheine über den Küchentisch.

Das ist das letzte Mal, sagte sie.

Ich kannte Ryan, seit ich klein war, wir waren in derselben Straße aufgewachsen. Außerdem gingen wir auf dieselbe Grundschule und dann auf dieselbe Secondary School, nur dass Ryan schon mit sechzehn abging. Das tat er nur, weil man ihm nahelegte, es sei seine einzige Möglichkeit, die Schule hatte ihn in die Richtung gelenkt, obwohl er genauso schlau war wie alle anderen. Er hätte bleiben und problemlos seine A-Levels machen können. Aber weil er ständig auffiel und sich nicht gut konzentrieren konnte, verfuhr die Schule mit ihm nach Schema F und steckte ihn zu den ganzen anderen Bekloppten in die langsame Klasse. Er prügelte sich, brüllte Lehrer an, und als Mr O’Hare ihn einmal nachsitzen lassen wollte, schmiss er einen Stuhl quer durch den Raum und zerschmetterte eine Fensterscheibe. Dann kam er nicht mehr, und damit meine ich nicht bloß normales Schwänzen. Er kam einfach überhaupt nicht mehr zur Schule. Die Schule wollte ihn zurücklocken. Sie sagten ihm, er müsse das GCSE nicht mehr in acht Fächern machen, sondern bloß in drei, das absolute Minimum. Ryan sagte ihnen, sie könnten sich ihr GCSE sonst wo hinstecken, ging an die Fachschule, suchte sich einen Ausbildungsplatz und wurde Stuckateur.

Zwei Jahre später schlug die Rezession zu. Ryan wurde entlassen. Das war scheiße, denn eigentlich war alles so gut gelaufen, er mochte die Arbeit und hatte nur noch ein Jahr bis zum Abschluss der Ausbildung. Auf einmal kamen ihm all die Monate, in denen er sich für einen Hungerlohn um sieben Uhr früh aus dem Bett gequält hatte, wie die absolute Zeitverschwendung vor. Manchmal, wenn er sich mal wieder den Kopf über all das zermarterte, sprach er davon, nach Australien zu gehen. Viele von unseren Freunden waren da unten, genossen das Leben, und wir saßen in Belfast fest und malochten vier Abende die Woche in einem Club, ohne jegliche Perspektive, ohne Aussichten oder Chancen auf irgendetwas Besseres. Nur die Wohnung war gut. Keine Miete zahlen zu müssen war großartig. Aber es war nicht Bondi Beach. Oder die Gold Coast. Wenn es mal richtig gut lief und wir das Glück hatten, uns eine Flasche Wodka leisten zu können, ließen wir es krachen, aber auch das wurde langsam öde. Man kann nicht ewig nur Party machen, und wenn immer weniger Kumpels zum Mitfeiern da sind, kommt es einem vor, als käme man nie mehr da raus. Als ob man für den Rest seines Lebens mit denselben drei oder vier Leuten in irgendeinem Loch hockt, säuft, kokst, im Pub abhängt, bis keiner mehr zum Reden da ist.

An der Albert Street winkte ich ein Taxi ran. Es war eins von den klapprigen alten, die sich eher wie eine Waschmaschine anhören als ein Auto, alles klapperte und schepperte, und als wir eine Steigung hochfuhren, stieß der Motor nur noch ein heiseres Röcheln aus. Dafür sind die schwarzen Taxis billig und verdammt praktisch, wenn man irgendwo festhängt. Für zwei Pfund kommt man aus der Stadt bis ganz raus nach Twinbrook, und unterwegs kann man aussteigen, wo man will. Aber es ist auch immer ein kleines Glücksspiel, denn man weiß nie, neben wem man am Ende sitzen muss; solange noch Platz ist, kann jeder so ein schwarzes Taxi anhalten, und wenn sich hinten fünf Leute zusammendrängeln, kann es schon mal heikel werden, vor allem wenn einer davon ein paar Pints intus hat und mal den Kopf aus dem Fenster stecken muss. An diesem Tag hatten wir Glück. Es waren nur wir beide und zwei Frauen, die auf den äußeren Plätzen der Rückbank saßen. Die eine hatte einen Blumenstrauß dabei. Sie klopfte an die Glastrennwand zum Fahrer und stieg am Milltown Cemetery aus. Ich sah ihr nach, wie sie durchs Tor ging, während hinter ihr langsam die Sonne sank, und fragte mich, wen sie wohl besuchte.

Also vierzig für jeden?, fragte Ryan.

Aye, wie du meinst.

Er gab mir zwei Zwanziger von den achtzig Pfund, die ihm seine Granny geliehen hatte. Ich faltete sie und steckte sie ins Portemonnaie.

Ich besorg das Essen, du die Getränke, sagte ich.

Boah, die Kleine geht mir auf den Sack.

Wer?

Er zeigte mir die Textnachrichten auf seinem Handy. In einer stand: Dein Kumpel ist ein Arschloch.

Ich lachte. Ist die etwa mit diesem Kerl befreundet?

Nee, kennt ihn bloß irgendwie. Haben ihn wohl über Nacht dabehalten, im Krankenhaus.

Schlimm?

Aye, sagt sie jedenfalls.

Wir stiegen am Kreisel am Kennedy Way aus und gingen zu Asda. Es war rappelvoll. Überall Kinderwagen. Schreiende Babys. Kross gebräunte junge Mädchen in Trägertops. Bei den Kühlregalen belud ich meinen Korb mit allem möglichen Zeug, Steaks und alles, dann ging ich zu den Nudeln und zum Porridge, Milch, Schinken und Käse, die Kekspackungen, die wir innerhalb eines Tages leer haben würden, dann traf ich mich mit Ryan an den SB-Kassen. Er nickte zu dem Jungen hin, der aufpasste. Sah aus, als wäre er vielleicht sechzehn.

Pillepalle, sagte Ryan.

Der Trick war, mit den billigsten Sachen anzufangen: Ich scannte ein Brot, eine Milch, ein Glas Marmelade und stellte sie vorschriftsmäßig in den Einpackbereich. Dann nahm ich das Steak, ganze sieben Pfund wert, zog den Scanner knapp am Strichcode vorbei und warf es in die Tüte.

Hinter mir hörte ich Ryans SB-Kasse:

Unerwarteter Artikel im Einpackbereich …

Der Aufpasser machte, was jeder Mitarbeiter machen würde, und wischte mit seiner Karte über Ryans Bildschirm, ohne nachzusehen, was der unerwartete Artikel war. Die Stimme verstummte. Einen Augenblick später machte der Junge das Gleiche bei mir, und ich bedankte mich. Auch die Kasse neben mir ging los, und bevor der Junge zurück an seinem Posten war, beschwerte sich wieder die von Ryan, und dann noch mal meine. Vorn in der Schlange fragte ein Mann nach einer Einkaufstasche. Ich schmuggelte ein halbes Kilo Hühnchen in die Tüte. Der Junge stapfte zu mir und wischte mit seiner Karte. So einfach war das, und am Ende gingen wir mit einem Einkauf für fünfzig Pfund aus dem Laden und hatten keine zwanzig bezahlt. Die Security-Typen hatten keinen Schimmer. Die waren zu sehr damit beschäftigt, auf ihren Bildschirmen zu kontrollieren, ob jemand sich irgendwas direkt in die Tasche steckte. Deshalb war es ja so genial. Selbst wenn man erwischt wurde, musste man sich nur blödstellen und behaupten, man hätte die Sachen doch gescannt, und da es genauso auf dem Überwachungsvideo zu sehen war, konnten sie einem nichts. Sie mussten einen laufen lassen.

Zu Hause zog Ryan die Literflasche Wodka aus der Tüte. Das Sicherungsetikett war noch dran. Ich fand mich ja schon ziemlich gerissen, aber Ryan war noch mal eine ganz andere Nummer. Das bewies er auch mit der Lüge, die er jetzt unserem Chef auftischte, damit wir an diesem Abend nicht arbeiten mussten.

Dee, das glaubst du mir nicht, aber bei uns in der Wohnung wurde eingebrochen …

Es war eine Klasse für sich, mehr kann ich nicht sagen. Eine richtige Darbietung. Wie er es vortrug, als wäre er gerade erst hereingekommen und hätte ein Bild der Verwüstung vorgefunden, der Schock in seiner Stimme. Unser Chef schluckte alles.

Ruft mich an, wen ihr irgendwas braucht, sagte er.

Wir knallten uns die Literflasche rein. Dann machte Ryan den Bluetooth-Lautsprecher an. Green Velvet hatte gerade Bigger Than Prince rausgebracht, und er drehte voll auf. Wir stampften durchs Wohnzimmer, Bauch rein, Brust raus, und brachten uns in Stimmung für einen großen Abend. Das ist der beste Teil, wenn man sich fertig macht, laut Musik hört, sich gegenseitig fragt, sieht das hier cool aus, oder was? Und wir ließen uns Zeit, denn es war wichtig, dass wir so gut aussahen wie möglich, also hieß es Hemden bügeln, sich am Waschbecken waschen, rasieren.

Um zehn holte Finty McKenna uns mit dem Taxi ab. Auf der Autobahn ging das Gezanke los: Wir hatten noch nicht beschlossen, wohin wir wollten. In der Box hatte Finty Hausverbot. Im Beachclub Ryan. Ins Limelight konnten wir alle drei nicht mehr, seit wir da mal Stress mit ein paar Metalfreaks gehabt hatten, die keinen Spaß verstanden. Und im Thompson’s durften wir uns auch nicht blicken lassen – da kannten zu viele unseren Chef. Blieben noch der M-Club und das Mono. Beide Läden waren ziemlich abgefuckt, aber die Getränke waren billig, die Mucke war gut, und es waren immer ein paar Leute da, die planlos rumhingen und Bock auf Party hatten. Ryan wollte ins Mono. Finty in den M-Club. Können wir nicht mal woandershin?, fragte ich.

Das Bot gäb’s noch, sagte Ryan.

Da war alles klar. Wir fuhren ins Mono.

2

Viel Nebel, viel Bass. Jeder Track war Hammer, und genau das war das Problem. Ein fetter Drop nach dem anderen, und dass sich alles gleich anhörte, machte es nicht gerade besser; wenn der Drop kam, war es immer, als wäre er gerade eben schon da gewesen. Selbst die Mädels, die neben dem DJ-Pult ihr Haar zurückwarfen, wussten irgendwann nicht mehr, ob das alles die Blasen wert war. Sie bissen die Zähne zusammen, als sie ihre High Heels auszogen, und starrten quer durch den Club ins Leere. Um Mitternacht herum konnte ich kaum noch erkennen, wer da gerade vor mir stand, bloß noch ein weißes Hemd: Ryan mitten in einer Gruppe von Typen, die oi, oi, oi fucking oi grölten. Ich wollte ihn überreden, woanders hinzugehen, das hier war doch einfach ein Scheißladen, aber das sah er vollkommen anders. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum, dann legte sich mir ein Arm um den Hals. Finty McKenna drückte mir von der Seite die Lippen ans Gesicht.

Hab ein kleines Geschenk für dich, sagte er und schleifte mich zum Klo.

Es war ein Tütchen Koks. Lupenrein. Das Zeug, das schneller durch dich durchschießt als eine Kugel.

Hammer, oder?, sagte Finty.

Aye. Astrein, Mann.

Im Raucherbereich draußen wollte ich ein bisschen Ruhe finden, einen klaren Kopf kriegen, aber als mir die frische Luft entgegenschlug, war ich kurz weg; ich ließ meinen Drink fallen. Es war ein Plastikbecher, also gab es keine Scherben, aber der Wodka spritzte irgendeinem Mädchen über die Füße. Sie starrte mich an, als sollte ich jetzt gefälligst auf alle viere gehen und es ablecken.

Hast du sie noch alle?, fragte sie.

Tut mir leid, sagte ich, das war keine Absicht, und sie wandte sich wieder ihrer Freundin zu.

Nur Idioten in dem Laden, echt, sagte sie, und alles kam zurück. Der Streit am Abend zuvor. Das Mädchen, das mich genauso angegangen war wie diese Tussi eben, arrogant wie sonst was, so dämlich hochnäsig, wie die alle immer sind, als dürften sie sich einfach alles erlauben. Ich musste da weg. Ich ging rüber in die andere Ecke des Raucherbereichs, um mich zu beruhigen, und wie ich da stand, mir die um die Heizstrahler versammelten Grüppchen anguckte und diesen einen Schönling mit hochgestyltem Pony sah, der breitschultrig herumstolzierte, wurde es mir plötzlich bewusst: Ich wusste nicht mal mehr, wie der Kerl aussah, den ich umgehauen hatte. Ich versuchte mich mit aller Macht zu erinnern, bekam aber nur seine Umrisse vor Augen, wie er am Boden lag. Das Blaulicht. Käme er jetzt auf mich zu, ich wüsste nicht, dass er es ist. Ich würde einfach den Kopf einziehen und ihm aus dem Weg gehen wie jedem anderen auch.

Vor mir tauchte Ryan mit einem Baggy voll weißem Pulver auf, das er zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln ließ.

Ein paar Bumps, wie wär’s?

Es kam mir vor, als würde ich das schon mein ganzes Leben so machen. Mich mit Wodka warmsaufen, in irgendeiner Toilettenkabine Nasen ziehen, Drinks über Mädchen kippen, die mich angucken wie den letzten Dreck, und das vollkommen zu Recht. Ich trat von einem Bein aufs andere und wollte auf andere Gedanken kommen, aber wo ich auch hinsah, waren nur Leute, die ich nicht um mich haben wollte, und das machte mich fertig. Diese ewige Anspannung, ewige Wachsamkeit. Dem Typen mit dem hochgestyltem Pony aus dem Weg zu gehen, damit er mich nicht umrannte. Ich müsste nur irgendwas sagen, mehr brauchte er nicht, mein Gott, wie gern hätte ich was gesagt. Wie gern hätte ich ihm eine Flasche über den verdammten Kackschädel gezogen.

Ich war schon halb die Treppe runter, Tunnelblick Richtung Tür, als mich jemand am Arm packte. Ich kriegte Panik und wollte mich losreißen, aber die Hand hielt mich fest, und jemand sagte meinen Namen.

Sean. Sean, wo willst du hin? Ich bin’s, Mairéad.

Ich blieb stehen und starrte sie an.

Mairéad? Mairéad Riley?

Sie lachte. Warf mir die Arme um den Hals und drückte mich.

Was machst du hier? Ist doch das letzte Dreckloch, der Laden, sagte sie.

Ryans Idee, was hast du für ne Ausrede?

Du hängst immer noch mit Ryan ab? Oh Mann.

Um uns herum stauten sich die Leute. Drängelten. Mairéad nahm mich bei der Hand und brachte mich an die Bar. Sie kannte jemanden, der da arbeitete, besorgte uns kostenlose Wodkas und führte mich dann zu einer Sitzecke hinten im Club. Wir setzten uns nebeneinander, weil die Musik so laut war; Mairéad war heiser und konnte nicht brüllen. Sah aber gut aus. Die kürzeren Haare standen ihr; auch der Pony reichte ihr nicht mehr bis zu den Augenbrauen. Jetzt sah man mehr von ihrem Gesicht. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch und fragte mich nach Liverpool. Ich erzählte ihr, dass ich gleich nach dem Abschluss letzten September wieder nach Belfast gezogen war, und sie schlug mir auf den Arm.

Warum hast du dich denn nicht gemeldet?

Hab nicht gedacht, dass es dich interessieren würde.

Sie war an die Queen’s University gegangen. Ihr Social-Media-Feed war voller Bilder, auf denen sie mit ganz anderen Leuten in irgendwelchen Biergärten abhing. Als ich ihr das sagte, verzog sie das Gesicht.

Ich kann ja wohl auch andere Freunde haben, sagte sie.

Sie sagte Freunde statt Leute. Ich weiß nicht, warum mir das so auffiel, aber es war, als spräche sie eine andere Sprache.

Es gibt doch wohl bessere Läden für einen Samstagabend, oder?, meinte sie.

Sie sagte bessere, als müsste ich es doch besser wissen.

Finty ist dabei, rechtfertigte ich mich. Der kommt nirgendwo anders mehr rein.

Finty McKenna? Oh mein Gott.

Was denn?

Nichts, ich …

Sie trank einen Schluck und schaute weg. Irgendetwas war falsch, die Musik war zu laut, und es gab diese stillen Momente, in denen alles irgendwie langsamer wurde. Der ganze Wahnsinn um uns herum und wir beide als Zuschauer, die alles beobachteten. Als wir ausgetrunken hatten, fragte ich sie, ob sie noch einen Drink wolle, und rechnete fest damit, dass sie ablehnen würde. Sie fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas und nahm ihn in den Mund.

Für mich nen Doppelten, sagte sie.

Ich bestellte zwei Doppelte, und als der Barkeeper sich umgedreht hatte, quetschten sich zwei Mädchen neben mich. Die eine sah mich an, und ich sah sie an, und sie kniff die Augen zusammen. Sie raunte ihrer Freundin etwas ins Ohr, und die warf mir einen bösen Blick zu. Ich entschuldigte mich und rutschte ein Stück zur Seite, weil ich glaubte, ich hätte mich zu breit gemacht.

Du warst das doch gestern Abend auf der Party, oder?

Welcher Party?

Du hast unseren Freund angegriffen. Mitten ins Gesicht geschlagen.

Wen? Wovon redest du überhaupt?

Ich war da. Ich hab dich gesehen.

Sie war klein, ging mir selbst in ihren High Heels nur bis zur Schulter, doch die Wut in ihrem Gesicht ließ mich wie angewurzelt stehen.

Da kriegst du was durcheinander, Kleine. Ich war auf keiner Party.

Nenn mich nicht Kleine, du Arschloch!

Die Leute sahen sich um. Unterbrachen ihre Gespräche. Beobachteten uns. Das merkten die beiden, also gaben sie Vollgas und schrien mich an. Drängten mich mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Ecke.

Du hättest ihn umbringen können, okay? Er wär fast gestorben!

Sorry, sagte ich. Ich wollte nicht …

Dann warf Ryan sich dazwischen, hackenstramm, und sagte den beiden, sie sollten sich vom Acker machen und mich in Ruhe lassen. Jetzt drehten die beiden durch.

Er hat unseren Freund angegriffen! Sich von hinten angeschlichen und ihn geschlagen!

Drauf geschissen, sagte Ryan. Hat er verdient, und jetzt verpisst euch.

Das eine Mädchen schubste ihn. Die andere wollte ihm ihren Drink überschütten, der ging aber daneben. Finty kam dazu, um die Lage zu beruhigen, aber es war zu spät: Ryan kippte der Kleinen sein Pint über den Kopf. Lautstarke Empörung. Ein Kerl, der nichts damit zu tun hatte, wollte den edlen Ritter spielen und holte zum Schlag aus. Ryan duckte sich weg und rammte ihn gegen den Tresen. Eins von den Mädchen sprang ihm auf den Rücken. Ich wollte sie runterzerren, aber dann war ihre Freundin schon auf ihm und kratzte ihm mit ihren Mörderfingernägeln durchs Gesicht. Die Türsteher kamen angeschrankt. Sie nahmen die Mädchen bei den Armen und Ryan und den anderen Typen in den Schwitzkasten. Ich dachte, ich wäre fein raus, ich hatte ja niemanden geschlagen, aber schon hatte ich einen Arm um den Hals. Ich sah Lichtschlieren durch den Rauch, das Exit-Schild über der Tür, und dann lag ich auf dem Boden in der Gasse hinter dem Club.

Ryans Nase blutete, aber die brauchte man nur anzustupsen, und sie blutete. Das war schon sein ganzes Leben so, und er wusste immer noch nicht, was man dagegen machen konnte. Was war denn überhaupt los da drin?, fragte er.

Die waren bei der Party gestern Abend.

Rotzfrech, die beiden. Er wischte sich mit dem Arm die Nase ab und grinste blutige Zähne. Thompson’s?, fragte er.

Keine Chance. Da kommst du nicht rein.

Wieso?

Guck doch mal, wie dein Hemd aussieht.

Er sah an sich runter und verzog das Gesicht. Und dann auch noch mein Lieblingshemd, sagte er.

Mairéad wartete mit Finty am Ausgang der Gasse. Ryan erkannte sie nicht. Er glaubte, sie wäre irgendein Mädchen, das ich abschleppen wollte, also existierte sie nicht für ihn. Dann sah er noch mal genauer hin.

Mairéad Riley, Scheiße, echt? War die schon den ganzen Abend bei uns?

Ich stehe direkt vor dir, du kannst auch mit mir reden, sagte Mairéad.

Aber Ryan war zu überdreht, voll auf Adrenalin und Koks. Er hatte eine Menge gezogen. Beim Burgerwagen vor dem Mono kaufte er sich eine Flasche Wasser und wusch sich damit das Blut aus dem Gesicht. Dann zog er Fintys Jacke über, um das blutige Hemd zu verbergen, und begutachtete sich im Schaufenster vom Urban Outfitters hinter dem Victoria Square. Er lachte, schüttelte den Kopf und erzählte in allen Einzelheiten nach, was im Mono passiert war. Gott sei Dank ließ er aus, dass die Mädchen am Abend vorher bei der Hausparty gewesen waren, und er sagte auch kein Wort über den Typen, den ich geschlagen hatte. Das verschwieg er. Allerdings nicht etwa, um mir beizustehen; er war bloß zu sehr damit beschäftigt, mit seiner eigenen Schlägerei zu prahlen, als dass er von meiner hätte reden wollen.

Mairéad schaute auf ihr Handy. Hast du noch was vor?, fragte ich.

Nee, eigentlich nicht. Ich müsste mal was essen.

Ich auch. Sollen wir uns was holen?

Klar, wieso nicht?

Wir begleiteten Ryan und Finty bis zum Thompson’s. Es dauerte ewig, die beiden blieben immer wieder stehen und pfiffen sich noch eine Nase rein. Als Ryan auch mir den Schlüssel hinhielt, sagte ich: Nein, mir reicht’s für heute. Er sah mich irritiert an. Dann riss er die Augenbrauen hoch und nickte in Richtung Mairéad. Na dann mal noch einen wunderschönen Abend euch beiden, sagte er und ging weiter.

Mairéad schaute mich fragend an. Ist ein Idiot, sagte ich, und sie stimmte mir zu.

War er schon immer, sagte sie.

Ich ging nicht weiter darauf ein. Das war es nicht wert.

Wo willst du hin?, fragte ich.

Keine Ahnung, was hat denn noch auf?

McDonald’s?

Okay, meinetwegen, sagte sie.

Das weiße Licht war eiskalt, alle sahen komplett fertig aus, und die Stimmung war aufgeladen, aggressiv, wie in der Schulkantine, bloß war hier jeder besoffen und fand sich brüllwitzig. Das meiste kriegten die armen Schweine an der Kasse ab. Die taten mir leid. Hier war es nicht wie im Club hinterm Tresen, wo die Musik alles übertönt, und Besoffene können richtig scheiße sein. Sie meinen es nicht mal böse, wollen bloß ihren Spaß, aber wenn man seit Mittag auf den Beinen ist, braucht man um zwei Uhr früh nicht noch das zehnte stramme Arschloch, das Faxen macht, weil es angeblich schon ewig auf seinen Big Mac wartet. Allein schon, sich das anzugucken, kann einen zum Menschenhasser machen.

Doch dann erlebten wir noch etwas Gutes. Die Security-Leute wollten einen Obdachlosen rauswerfen, und alle standen auf und riefen: Nein, lasst ihn in Ruhe, der tut doch keinem was, und sie ließen ihn wirklich. Das reichte, um meinen Glauben an die Menschheit wiederherzustellen, aber nicht, um auch da drinnen essen zu wollen. Wir gingen mit unserem Zeug zu der dämlichen Zwiebelringskulptur, die sie mitten auf dem Arthur Square aufgestellt hatten, wo sich am Wochenende immer die Straßenmusiker und Kleinkünstler tummelten. Wir setzten uns auf den Sockel und unterhielten uns über unsere Zeit an der Uni.

Mairéad hatte englische Literatur studiert wie ich, aber zusätzlich noch Filmwissenschaften als zweites Hauptfach genommen, das ihr eigentlich noch wichtiger war. Die ganzen durchgeknallten Arthouse-Filme mit Untertiteln, auf so was stand sie, und da wollte sie selbst reinkommen. Aber das ging nicht einfach so, wenn man da keinen kannte. Und wenn man ohne Bezahlung nichts zu essen hatte, brauchte man sich gar nicht erst um ein Praktikum oder so zu bewerben, denn da gab es kein Geld, also hatte Mairéad keine Wahl, als weiter in einem Klamottenladen in der Stadt zu jobben. Da war sie schon, seit sie angefangen hatte zu studieren, und es war das reinste Gift für ihre Seele, aber sie musste nur noch ein paar Monate durchhalten, dann würde sie nach Berlin gehen.

Ich war überrascht. Sonst gingen die Leute, die wir kannten, nach Amerika oder Australien. Sie besorgten sich ein Arbeitsvisum und blieben erst mal ein Jahr da. Manche kamen wieder. Die meisten nicht. So gesehen ergab Berlin für mich keinen Sinn. Ich tat aber so, als ob doch.

Cool, klingt gut, sagte ich.

Tja, für mich gibt’s hier eben nichts, also.

Sie tunkte ein Chicken Nugget in diese süße Currysauce und steckte es ganz in den Mund, ohne vorher die Kruste abzuknabbern, wie ich es immer machte.

Wie so ein kleines Mäuschen, sagte sie.

Ich machte Mausezähne, und sie kicherte, hob sich die Pommesschachtel über den Mund und schüttete die Krümel hinein. Sie hatte immer noch dieselben pechschwarzen Haare, die grauen Augen, zog sich jetzt aber an wie jemand, der oft auf Konzerte geht, ganz in Schwarz mit Doc Martens und einem Mandala-Tattoo auf dem linken Handrücken. Es ging den ganzen Arm hoch. Als sie merkte, dass ich es anstarrte, zog sie den Träger ihres Tops runter, damit ich auch ihre Schulter sehen konnte.

Und deins?

Ich schob meinen Ärmel hoch und zeigte ihr mein Tribal.

Auf dem Rücken hab ich noch ein keltisches Kreuz, sagte ich.

Echt jetzt? Zeig her.

Ich hatte mich kaum umgedreht, da zog sie mir schon das Hemd hoch.

Ich mag ja das Claddagh-Symbol, sagte sie. Vor Jahren hatte ich mal einen Claddagh-Ring.

Ich auch.

Wie rum hast du deinen getragen?

Mit der Herzspitze von mir weg, wie es gedacht ist.

Auch, als du mit mir zusammen warst?

Wir waren doch erst dreizehn.

Hast du mich nicht geliebt?

Doch, als ich sechzehn war, aber da wolltest du nichts mehr mit mir zu tun haben.

Mairéad lachte. Da hatte ich andere Sachen um die Ohren, sagte sie.

Sie half mir, das Hemd wieder runterzuziehen. Ich drehte mich zu ihr um, und sie sagte mir, wie schön es sei, mich zu sehen. Das hatte sie an dem Abend schon ein paarmal gesagt, meistens, wenn uns sonst nichts mehr einfiel. Ich sagte, dass ich mich auch freute, sie zu sehen, und sie lachte.

Da sitzen wir und werden ganz komisch sentimental.

Ist doch nicht komisch, sentimental zu werden.

Wenn man nüchtern ist, schon. Bist du denn nüchtern, Sean?

Kein bisschen.

Gut, hier, nimm noch ein Nugget.

Sie steckte es mir in den Mund. Ich verschluckte mich fast. Sei nicht so ein Lappen, sagte sie.

Einen Lappen hatte mich seit der siebten Klasse niemand mehr genannt, und wahrscheinlich war es auch damals Mairéad gewesen. So was sagte sie, wenn ich keine Lust auf etwas hatte, das sie sich für uns ausgedacht hatte – meistens irgendetwas Beklopptes. Wie einmal, als wir zusammen die Schule schwänzten und sie einfach mit dem Bus nach Shankill fahren wollte, um zu sehen, wie es da war. Sie konnte mich einen Lappen nennen, so viel sie wollte, aber sie war bescheuert, wenn sie wirklich glaubte, wir könnten in Schuluniform die Shankill Road entlangspazieren, ohne aufzufallen – genauso gut hätten wir uns große Pappschilder umhängen können, auf denen in grün-weiß-orangen Buchstaben ICHBINKATHOLE stand. Das sagte ich ihr auch, und sie erwiderte, ich solle nicht so ein Lappen sein. Ich forderte sie auf, mich am Arsch zu lecken, und sie sagte: Hose runter. Machte ich aber nicht. So lief es zwischen uns. Es war bescheuert, aber das gehörte bei uns dazu, so wussten wir, wo wir beim anderen standen; wir konnten uns nichts Schlimmeres mehr an den Kopf werfen, als wir es sowieso schon getan hatten. Wahrscheinlich fand sie aus diesem Grund, dass sie mir das alles einfach so erzählen konnte, von Berlin und auch davon, was sie im Mono gemacht hatte. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen zu fragen, wieso sie allein dort war; ich hatte einfach angenommen, dass ihre Leute woandershin weitergezogen waren.

Meine Freunde würden sich nie im Leben in dem Laden blicken lassen, sagte sie.

Was hast du denn da gemacht?

Shots verkauft.

Ich starrte sie an. Du bist ein Shot-Girl?

Tu nicht so überrascht, Sean.

Nee, aber …

Sie sah einfach nicht aus wie ein Shot-Girl. Klar war sie hübsch, absolut; bloß nicht so mit falschen Wimpern und nem Pfund Schminke aufgebrezelt.

Das nahm Mairéad als Kompliment.

Die Mädels, mit denen ich arbeite, sehen aber umwerfend aus. Wirklich. Und sie sind supernett. Sie hätten jeden Penny, den sie einnehmen, doppelt und dreifach verdient für die Scheiße, die sie jeden Abend ertragen müssen.

Verdient man denn gut mit dem Job?, fragte ich.

Schon, wenn man weiß, wie man’s anstellen muss.

Und, weißt du es?

Mairéad grinste. Sie beugte sich vor, öffnete ihre Tasche, und ich erkannte etwas Seidig-Schwarzes, irgendein Outfit, und High Heels. Sie holte ein Bündel Fünf- und Zehn-Pfund-Scheine heraus; neunzig Pfund zählte sie ab, für vier Stunden Arbeit. Ich glaube, ich mache mich nicht schlecht, sagte sie.

Die neunzig Pfund geisterten mir später durch den Kopf, als Mairéad sagte, dass sie nicht noch mal zurückwolle. Sie wollte noch zu jemandem in der Ormeau Road. Das war genau die falsche Richtung für mich; ein Taxi zu teilen hätte nichts gebracht. Nicht, dass ich sie ausnutzen wollte, aber wenn sie zurück nach Twinbrook gefahren wäre, hätte es sie nichts gekostet, mich zu Hause rauszulassen. Wir wohnten ja direkt an der Autobahnausfahrt, und wenn man gerade seinen letzten Zehner für ein McNugget-Maxi-Menü und einen Bacon-Double-Cheeseburger rausgehauen hat, muss man eben nehmen, was man kriegen kann.

Ich ruf uns zwei Taxis, ja?, sagte sie.

Nicht nötig, meinte ich: Ich geh rüber zur Castle Street und nehme mir da eins. Das fand Mairéad kurz merkwürdig, dann rief sie sich ihres. Während wir warteten, überlegte ich die ganze Zeit, ob ich sie bitten sollte, mir einen Zehner zu leihen; mit dem käme ich problemlos nach Hause. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Als ihr Taxi kam, umarmte sie mich.

Ich melde mich auf jeden Fall wieder, meinte ich.

Ja, mach das, sagte sie, und das war’s, dann war sie weg.

Ich ging zur Castle Street. Sie war wie ausgestorben, und die Läden wirkten unheimlich, wie ausgeräumt. Zwei Häuser weiter vom Cosgrove’s befand sich ein Taxiunternehmen, aber die Fahrer waren alle Schweine. Sie wollten mich nur gegen Vorkasse fahren. Dann verreckte mein Handy. Ich konnte mich nicht mehr mit Ryan oder Finty in Verbindung setzen und wusste nicht, wo sie steckten, ob sie schon wieder nach Hause gefahren waren oder was.

Ich setzte mich auf den Bordstein und überlegte, was ich machen könnte. Ich hatte noch zwei Pfund und einen Mordsschädel, und die schwarzen Taxis fuhren erst in ein paar Stunden wieder. Ich hätte die Finger vom Koks lassen sollen. Das sagte ich mir jedes Mal, es war mein Mantra, wenn ich runterkam. Aber ganz im Ernst, es macht einen irre. Man fühlt sich auf einmal schuldig für alles, was im Leben jemals schiefgelaufen ist. Jetzt saß ich ohne Geld in der Innenstadt fest und wusste nicht, wie ich nach Hause kommen sollte, außer zu laufen. Hätte ich wohl machen können. Aber ich schloss lieber die Augen und lauschte der Brise, die den liegen gebliebenen Müll vor den Hauseingängen hin und her wiegte. Als ich die Augen wieder aufmachte, konnte ich den Divis Tower erkennen und dahinter, als würde er dem Himmel die kalte Schulter zeigen, den Berg.

3

An einem Dienstagmorgen um elf Uhr musste ich zum Verhör auf die Polizeiwache. Sie brachten mich in ein Vernehmungszimmer und fragten mich darüber aus, was an dem Abend passiert war, als ich den Typen k. o. geschlagen hatte. Sie wollten mich drankriegen, aber ich blieb bei meiner Story. Ich hatte sie tagelang einstudiert, und es lief alles ganz gut, bis einer der Bullen, derselbe, der mich auch vor Ort schon befragt hatte, mir einen Ordner voller Aussagen von Zeugen der mutmaßlichen Körperverletzung hinlegte. Seine kleinen, blauen Bullenaugen wollten sehen, wie ich reagieren würde.

Er erklärte mir, dass fünf Leute gegen mich ausgesagt und einen anlasslosen Angriff auf das Opfer Daniel Jackson beschrieben hätten. In der Aussage von Gemma Hatfield stand: Mann, etwa einen Meter achtzig groß, kurzes, schwarzes Haar, sportliche Statur, blaues Hemd, näherte sich Daniel von hinten und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, woraufhin Daniel das Bewusstsein verlor. Eine andere, von Kirsty Malone, besagte: Er hat mich so stark geschubst, dass ich fast gestürzt bin, und dann hat er Daniel mit der Faust auf den Mund geschlagen. Daniel ist hingefallen und mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen … Joanna Porter behauptete, ich hätte eine schwarze Jacke über dem Hemd getragen und nach Daniel noch seinen Kumpel schlagen wollen. Rachel Henderson sagte dasselbe aus – die beiden waren garantiert dicke miteinander –, und Gareth Waters hatte zu Protokoll gegeben, ich hätte ihn angegriffen, bevor ich Daniel geschlagen hätte: Ich war draußen und wollte die Lage etwas beruhigen, als er anfing, auf mich einzuprügeln. Daniel hat ihn nicht kommen sehen. Er kam von hinten auf Daniel zu und schlug ihn.

Daniel Jackson war immer noch bewusstlos gewesen, als der Krankenwagen kam. Seine Aussage lautete: Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist. Ich stand mit den Händen in den Taschen da, dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht, und um mich herum standen Schwestern und Pfleger. Dem Bericht der an dem Abend diensthabenden Ärztin zufolge war der Patient von einem Fausthieb gegen den Mundbereich bewusstlos geschlagen worden: Mr Jackson erlitt eine tiefe Risswunde an der Oberlippe, die eine Muskelnaht mit resorbierbarem Faden erforderte, sowie eine Naht der darüberliegenden Schleimhaut mit resorbierbarem Faden. Die Lippe sei aufgeplatzt, und es sei sehr wahrscheinlich, dass Mr Jackson deutliche Gesichtsnarben davontragen werde. Der Bulle hielt die Blätter vor mir hoch und sagte: Aufgrund der Tatsache, dass Mr Jackson eine durchaus schwere Gesichtswunde erlitten hat, wird Ihnen eine einfache vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen. Verstehen Sie, was das bedeutet?

Ich bejahte, auch wenn es nicht stimmte.

Jeder von denen hat etwas anderes erzählt, sagte ich. Sie haben alle Sachen behauptet, die nicht passiert sind, und keiner hat auch nur ein Wort davon gesagt, dass Daniel Jackson und sein Kumpel zuerst auf mich los sind.

Der Bulle beugte sich vor und legte die Ellenbogen auf den Tisch. Mr Maguire, Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es in dieser Sache ausschließlich um die Körperverletzung von Daniel Jackson geht. Alles, was womöglich im Vorfeld der Tat geschehen ist, bleibt von untergeordneter Bedeutung, solange keine Beweise vorliegen, die anderes belegen.

Beweise?

Haben Sie Zeugen?

Kann sein. Weiß nicht. Ich kannte da keinen.