Clowns für Menschen mit Demenz - Ulrich Fey - E-Book

Clowns für Menschen mit Demenz E-Book

Ulrich Fey

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Beschreibung

Dieses Buch soll Wissen vermitteln und Angst nehmen. Es hilft, Menschen mit Demenz besser zu verstehen. Denn die tun oft nicht, was wir von ihnen möchten, widersetzen sich. Die Eigenwilligkeit der Alten aber hat ihre Geschichte. Und ist manchmal voller Komik. Ulrich Fey erläutert die Grundlagen wirksamer Clownarbeit und prüft ihre Möglichkeiten im Zusammenhang mit Demenz. Ein "emotionales Sachbuch" – mit Anregungen und Analysen für Professionelle in Alten- und Pflegeheimen sowie für alle, die als Clowns auf diesem Feld arbeiten wollen. Aber auch Betroffene und pflegende Angehörige können von der besonderen Sichtweise eines Clowns profitieren. In dieser Auflage mit je einem neuen Kapitel über Clownsbesuche in Zeiten von Corona und Prophylaxe wie Risiken für Demenz. "Wer glaubt, dass Clowns nur etwas für Kinder sind, glaubt auch, dass Hosenträger Hosen tragen. Was Clowns bei alten Menschen leisten können, zeigt Ulrich Fey in diesem Buch. Wir bekommen einen Einblick in seine von großer Zuneigung getragene Arbeit, die inzwischen viele Früchte trägt und einen wichtigen Beitrag leistet für eine heilsame Stimmung im Gesundheitswesen: für Pflegebedürftige, Pflegende und früher oder später für uns alle!" Dr. Eckart v. Hirschhausen, Arzt, Komiker und Gründer der Stiftung HUMOR HILFT HEILEN "Auch pflegende Angehörige können von diesem Buch profitieren. In vielen Beispielen wird ein anderer Umgang mit belastenden Situationen beschrieben. Diese lassen sich häufig heiter auflösen – nicht nur für Clowns." Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Gerontologe, Buchauto

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Ulrich Fey war Lehrer und Redakteur, ehe er Clown wurde. Seit 2003 geht er als Clown Albert in Alten- und Pflegeheime, dort vornehmlich zu Menschen mit Demenz. Vier Jahre länger schon ist er Mitglied der Clown-Doktoren, die kranke Kinder in Kliniken des Rhein-Main-Gebietes besuchen. Über diese Arbeit hat er das Buch verfasst: „Wirklich komisch – wenn Clowns Kinder im Krankenhaus besuchen“, das auch im Mabuse-Verlag erschienen ist. Seine Erfahrungen in Altenheimen und Kliniken gibt er in Kursen und Vorträgen weiter: www.clownsundmehr.de

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Dr. Rolf Dieter Hirsch

Ulrich Fey

Clowns für Menschen mit Demenz

Das Potenzial einer komischen Kunst

Mit einem Vorwort vonProf. Dr. Dr. Rolf Dieter Hirsch

4., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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4., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage 2024

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Satz: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen

Korrektorat: Inga Westerteicher, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

Umschlagfoto: privat

eISBN: 978-3-86321-223-0

ISBN: 978-3-86321-655-91

Alle Rechte vorbehalten

There is a crack in everything

That’s, how the light gets in.

Leonhard Cohen

Mögen hätt’ ich schon wollen,

aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut!

Karl Valentin

INHALT

VORWORT

EINBLICK

KAPITEL 1

ALTE MENSCHEN IN SCHRÄGLAGE

KAPITEL 2

DEMENZ – EIN PHÄNOMEN

KAPITEL 3

PROPHYLAXE UND RISIKEN

KAPITEL 4

DIE PANDEMIE UND IHRE FOLGEN

KAPITEL 5

AUSFLUG IN DIE GESCHICHTE

KAPITEL 6

AUSSEN- UND INNENANSICHTEN

KAPITEL 7

WAS MENSCHEN MIT DEMENZ HILFT

KAPITEL 8

DIE FIGUR DES CLOWNS

KAPITEL 9

HUMOR, KOMIK, LACHEN

KAPITEL 10

DIE KOMIK DES CLOWNS

KAPITEL 11

DIE WIRKUNG VON HUMOR UND LACHEN

KAPITEL 12

DIE WIRKUNG VON MUSIK UND GESANG

KAPITEL 13

CLOWNS BEI MENSCHEN MIT DEMENZ

KAPITEL 14

INNERE UND ÄUSSERE GRENZEN

KAPITEL 15

KOMMUNIKATION

KAPITEL 16

VONEINANDER LERNEN

AUSBLICK

DANK, NEU

DANK, ALT

ENDNOTEN

LITERATURVERZEICHNIS

BILDNACHWEIS

VORWORT

Ein Clown stellt keine Fragen. Ist bei Demenz Schluss mit lustig? Lassen sich verwirrte Menschen mit Humor erreichen? Ein Clown fragt nicht, ein Clown handelt. Er lebt im Augenblick, wie die Menschen mit Demenz. Und er versucht, mit ihnen diesen Augenblick zu genießen. Der Clown wirkt dabei als Initiator, Übersetzer von (scheinbarer) In-Kompetenz, von unverständlichem und absurdem Verhalten. Auch er durchbricht Regeln und Normen, indem er sie durch sein kurioses Verhalten oder ein Lied ad absurdum führt. Betritt ein Clown einen Raum, verändert sich dieser schlagartig. Er wird bunt, lebendig, heiter. Dieser wohltuende Sog erreicht auch Menschen mit Demenz.

Clowns stellen für diese Menschen eine echte Hilfe dar. Das sehen alle, die mal einen Clown im Altenheim begleiten, das belegen entsprechende Untersuchungen inzwischen eindeutig. Clowns verbessern nicht nur die Lebensqualität der alten Menschen deutlich, sie verbessern auch die Stimmung in den Einrichtungen insgesamt. Sie sind ein Gewinn für alle. Clowns sind deshalb in immer mehr Altenheimen anzutreffen, sie sind ein Indiz für Qualität.

Ich bin sehr erfreut, dass dieses wunderbare Buch von Ulrich Fey so breiten Anklang gefunden hat und nun in der vierten Auflage erscheint. Die Gründe dafür sind vielfach: Neben vielen Informationen zu Komik und Humor beschreibt er ebenso lesbar den wissenschaftlichen Stand zu Demenz. Er vernachlässigt nicht deren Schattenseiten mit ihren oft sehr belastenden Folgen. Fey geht auch auf die möglichen Auswirkungen von Krieg, Vertreibung und anderen traumatischen Lebensumständen ein, die das Erleben vieler Betroffener heute noch so mächtig prägen.

Deutlich wird aber auch, dass Fey aus der Praxis kommt, seit Jahrzehnten alte Menschen besucht als Clown. Besonders anschaulich, ja berührend, beschreibt er diese Begegnungen, in denen deutlich wird: Mit Zeit, Geduld, Offenheit, Neugier und Zuneigung lässt sich ganz viel erreichen. Zwei neue Kapitel – eines zu Corona, eines über Risiken und Prophylaxe – runden diese neue Ausgabe ab.

Ulrich Fey schreibt hier nicht über die Tätigkeiten eines Clowns, sondern lässt alle Lesenden miterleben, was ein Clown denkt, fühlt, tut, auch wo er seine Grenzen findet. Dabei verdeutlicht er, dass die Würde eines Menschen durch einen humorvollen Umgang nicht gefährdet, sondern bestärkt wird. Fey sieht nicht nur einen verwirrten alten Menschen, sondern einen Menschen, der fühlt, der Wünsche und einen Willen hat. Als Clown ist er ihm seelenverwandt und kann ihn so in besonderer Intensität erleben.

Für alle, die als Clowns Menschen mit Demenz besuchen oder besuchen wollen, ist dieses Buch inzwischen eine Art Lehrbuch geworden. Aber auch für alle anderen, die mit diesen alten Menschen arbeiten, die sich Anregungen und Hilfe erhoffen. Besonders Angehörige werden neue, heitere Sichtweisen auf ihre oft sehr belastenden Situationen kennenlernen.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch weit verbreitet wird, um dem Stigma der Demenz entgegenzuwirken und den Blick für die Komik in heiklen Situationen zu weiten. Alle, wirklich alle, die sich um alte Menschen kümmern, können von diesem Buch sehr profitieren. Ich wünsche mir besonders, dass viele Wissenschaftlerinnen dieses Buch lesen über die Beziehungsarbeit von Clowns bei Menschen mit Demenz – und die segensreichen Kräfte des Humors in ihre Forschung einbeziehen. Es lohnt sich! Humor ist nicht alles, aber ohne Humor ist alles nichts. Der Clown als Mediator ist hierbei ein großartiger Vermittler.

Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch

Bonn, aktualisierte Fassung vom November 2023

Die Gedanken sind frei,

Wer kann sie erraten?

Sie fliegen vorbei

Wie nächtliche Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen,

Kein Jäger sie schießen.

Mit Pulver und Blei:

Die Gedanken sind frei.

Ich denke was ich will

Und was mich beglücket,

Doch alles in der Still

Und wie es sich schicket.

Mein Wunsch und Begehren

Kann niemand verwehren.

Es bleibet dabei:

Die Gedanken sind frei.

Und sperrt man mich ein

Im finsteren Kerker,

Das alles sind rein

Vergebliche Werke;

Denn meine Gedanken

Zerreißen die Schranken

Und Mauern entzwei:

Die Gedanken sind frei.

Drum will ich auf immer

Den Sorgen entsagen,

Und will mich auch nimmer

Mit Grillen mehr plagen.

Man kann ja im Herzen

Stets lachen und scherzen

Und denken dabei:

Die Gedanken sind frei.

Ich liebe den Wein,

Mein Mädchen vor allen,

Sie tut mir allein

Am besten gefallen.

Ich sitz nicht alleine

Bei einem Glas Weine,

Mein Mädchen dabei:

Die Gedanken sind frei.

Der ursprüngliche Text dieses Volksliedes soll vor 1800 entstanden sein. Die meisten heutigen Fassungen beruhen auf der, die Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1842 schuf.

EINBLICK

Clowns für Menschen mit Demenz, Clowns für Menschen in Alten- und Pflegeheimen – das klingt nach Nische, das klingt nach Minderheitenprogramm. Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Wir alle haben Eltern und Großeltern, die immer älter werden, zum Teil sehr alt. Einen Großteil von uns hat die Demenz inzwischen in irgendeiner Form erreicht. Fast jeder weiß in seiner Familie, seinem Bekanntenkreis jemanden mit Demenz, mit Alzheimer zu benennen. Zudem werden wir selbst bald zu den Alten zählen – und mit dem Alter steigt das Risiko, dement zu werden. So ist Demenz ein Thema für viele. Und Clowns können da eine wichtige Rolle spielen.

In einer Umgebung, in der die betreuenden Menschen immer wieder daran scheitern, einen angemessenen Umgang mit den verwirrten Menschen zu finden, kann der Clown helfen. Denn der ist ein seltsames Wesen. Er scheitert auch, aber bei ihm ist das Programm. Er muss sich nicht anstrengen, um die Menschen mit Demenz zu erreichen, weil er sich bereits auf einer Ebene mit ihnen befindet. Sie sind wie der Clown: nicht rational, sondern emotional. Sie machen Sachen, die sonst niemand versteht, manchmal verstehen es beide, Verwirrte und Clown, sogar selbst nicht. Es ist aber auch gar nicht so wichtig, Hauptsache, sie verstehen einander.

Verständnis für die Menschen mit Demenz zu wecken, stellt ein Ziel dieses Buches dar. Im Zentrum stehen die Chancen, die alle Menschen im Umgang mit Demenz haben können: die, die betroffen sind, und die, die sie betreuen. Es geht um einen Perspektivwechsel.

Wer ist hier ver-rückt?

So muss man zum Beispiel, angesichts vieler Erscheinungsformen in unserer Welt, erst einmal fragen: Wer ist hier ver-rückt? Sind es die, die als Ausdruck ihrer demenziellen Veränderung nicht mehr wissen, was sie mit einem Löffel anfangen sollen oder wie ihr verstorbener Ehemann mit Vornamen hieß? Oder sind es die, die sich bei klarem Verstand sonderbar verhalten? Die mit ihren Kindern in den Zoo gehen, mit dem Handy den Braunbären fotografieren und sich dann nur noch die Fotos ansehen, aber keinen Blick mehr haben für den lebendigen Bären vor sich? Oder die, die ihre Frau mit dem Laptop unter dem Arm in den Kreißsaal begleiten und sich dann mehr für ihre E-Mails als die Geburt ihres Kindes interessieren – wie eine Hebamme berichtete?

Ein Perspektivwechsel bedeutet auch, die Demenz selbst anders zu betrachten. Dabei muss etwas in den Vordergrund rücken, was oft genug verdrängt und dann im Untergrund wirksam wird: die Gefühle.

Denn Demenz macht erst einmal Angst. Große Angst. Denen, die unmittelbar von ihr betroffen sind, aber auch denen, die Sorge haben, eines Tages dement werden zu können.

„Demenz wird zur Projektionsfläche vieler tief gehender Ängste, da sie allen narzisstischen Selbstidealen wie Autonomie, Kraft, Stärke widerspricht.“1

Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt. Demente Menschen werden ausgeschlossen, Heime schützen die Gesellschaft vor der Konfrontation mit ihnen, auch wenn wir Jüngeren Angst davor haben, selbst einmal so ausgeschlossen zu werden2.

Hölle oder Paradies?

Aber: „Das Leben mit Demenz bedeutet keinesfalls nur Unglück und Leiden, genauso wenig wie das Leben ohne Demenz nur Glückseligkeit und Wohlbefinden bedeutet.“3 Unbestritten ist, dass das Altern und noch viel mehr die Demenz ein Loslassen erfordern, ja erzwingen. Doch was bleibt, wenn der Urlaub auf Gran Canaria, der neue Mercedes, die beruflichen Erfolge von Kindern und Enkeln uninteressant werden, ja geradezu belanglos? Für die einen ist dies die Hölle, für andere eine Art Paradies: Menschen unabhängig von ihrem Wohlstand und Ansehen einfach für ihr Sein schätzen zu lernen, zu mögen, vielleicht zu lieben.

Einfach Mensch sein

Menschen mit Demenz bringen uns mit diesem Wunsch in Verbindung. Nicht mit Absicht, sie tun es, weil sie nicht anders können. Ihr Gehirn funktioniert nicht mehr in der Weise, wie es in unserer Gesellschaft funktionieren sollte, in einer Gesellschaft mit einem geradezu katastrophal überschätzten Stellenwert des Intellekts4. Der Psychoanalytiker Arno Gruen schrieb sogar:

„Die wahren Geschädigten sind nicht die seelisch Erkrankten, die als psychiatrische Patienten von der Gesellschaft gemieden werden. Es sind diejenigen, die uns ein reduziertes Mensch-Sein suggerieren wollen. Die Kranken weisen uns unbewusst den Weg zu uns selbst zurück.“5

Als Clown habe ich das erlebt. Und ich habe es als Gewinn erlebt. Auch das ist ein Perspektivwechsel. Viele Menschen mit Demenz fordern nicht nur, sie können den Betreuenden etwas geben: ehrlichen, bedingungslosen Kontakt – immer authentisch, immer glaubhaft. Sie können nicht anders. Sie verschenken Lächeln, Umarmungen, Mitsingen, sogar Trost. Das alles kann man nicht kaufen, auch nicht online, und auch nicht bei Facebook oder Instagram posten.

Nach etwa dreißig Minuten, in denen sich Stille und Gesang abgewechselt haben, kündigt der Clown seinen Aufbruch an.

„So, jetzt packe ich ein und gehe.“

„Ooch.“

„Aber Frau Mertens, ich komme doch in zwei Wochen wieder.“

Sie hält einen Moment Ruhe, schaut und sagt dann: „Das ist das Tröstliche.“

Zu dem Wechsel der Perspektive gehört, den Blick auf die Chancen zu betonen. Nicht nur für Clowns.

„Ich habe den Eindruck, dass die Abhängigkeit und die Hilflosigkeit, die durch die Krankheit verursacht wurde, eine große Nähe zwischen meinem Mann und mir ermöglicht hat, die sonst so nicht hätte entstehen können. … Mein Mann muss nicht mehr seine männliche Rolle spielen. Er ist so arglos und vertrauensvoll, dass ich ihm ganz nah sein kann, und das ist ein großes Geschenk.“6

Menschen mit Demenz verlassen ihre klassischen Rollensysteme. Notgedrungen. Sie mögen uns zwar unberechenbar erscheinen, doch können wir gewiss sein: Sie lügen und betrügen nicht, sind nicht nachtragend. Alles Manipulative und Materielle ist ihnen fremd.7 Beim Blick auf das Ganze bedeutet das nicht, alles Schwierige auszublenden. Doch hilft es ungemein, das Schöne, das Nahe, ja das Heitere in den Blick zu rücken – der Alltag ist schon mühsam genug.

Emotionales Sachbuch

Dieses Buch soll zwar auch ein Sachbuch sein, zuerst aber ist es ein Buch über und voller Emotionen. Denn Gefühle sind der entscheidende, oft der einzige Zugang zu Menschen mit Demenz. Und der Clown agiert vor allem auf dieser Ebene.

Den Innenansichten eines Clowns stehen indes Außenansichten gegenüber, die häufig geprägt sind von Klischees. Clowns sind doch diese bunten Kerle aus dem Zirkus, die Eimer voller Wasser umstoßen oder mit Torten werfen. Clowns sind etwas für Kinder, allenfalls noch im Krankenhaus vorstellbar – das wird inzwischen akzeptiert. Aber für Demente? Die Sorge vor einer „Verarschung“ (so ein Heimleiter) der Menschen mit Demenz liegt an einem vorurteilsbehafteten Blick der vernunftgesteuerten Menschen auf den Clown – Menschen mit Demenz haben diese Sorge nie. Sie würden auch schnell spüren, ob sie ernst genommen werden oder nicht. Denn das ist keine Frage an die Großhirnrinde. Dabei sind Menschen mit Demenz selbst manchmal so komisch, wie ein Clown es kaum sein kann. Daran darf man sich erfreuen, sogar lachen darüber, aber, und das ist ganz wichtig: Niemals sollte der Clown einen Menschen – ob mit oder ohne Demenz – auslachen.

„Wie geht es Dir, Papa?“

„Also, ich muss sagen, es geht mir gut. Allerdings unter Anführungszeichen, denn ich bin nicht imstande, es zu beurteilen.“8

Die rote Nase

Um einen Clown und seine Arbeit zu verstehen, muss man die Bedeutung der roten Nase verstehen. Die sogenannte „kleinste Maske der Welt“ verhilft dem Privatmenschen zu einem Rollenwechsel, zu einer anderen Identität. Diese ist natürlich auch Teil seines privaten Selbstverständnisses, aber noch weit mehr.

Der Mann, der als Clown arbeiten will, muss sich heute in einem leeren Bewohnerzimmer umziehen. Frau Schuster, eine demenziell sehr eingeschränkte Frau mit starkem Bewegungsdrang, kommt in das Zimmer. „Frau Schuster, Sie sind falsch, das ist nicht Ihr Zimmer.“

Doch Frau Schuster setzt sich unbeeindruckt aufs Bett, verharrt einen Moment, schiebt dann ihren Rollator wieder hinaus. Der Nochnicht-Clown atmet auf. Wenige Minuten später öffnet sich die Tür abermals, Frau Schuster kommt wieder herein.

„Frau Schuster, das ist nicht Ihr Zimmer.“ Das klingt schon etwas genervter. Frau Schuster dreht eine Runde in dem kleinen Raum und verlässt ihn wieder. Kurze Zeit später kommt sie ein drittes Mal. Inzwischen hat sich der Mann komplett umgekleidet, nur die rote Nase fehlt noch. Er schaut Frau Schuster verärgert an. Dann setzt er die rote Nase auf und sagt (zu seiner eigenen Überraschung): „Guten Tag, Frau Schuster. Wie schön, dass Sie mich besuchen kommen.“

Eine Reihe von ähnlichen Beispielen wird in diesem Buch beschrieben, und immer wird von dem Clown in der dritten Person gesprochen, auch wenn ich viele der Szenen selbst erlebt habe. Denn ich schildere diese ja als Autor, nicht als Clown. Und die rote Nase verwandelt jeden Menschen, der sie aufzieht. Als Clown traue ich mich Dinge, die ich als Privatmensch so nicht täte. Der große Clown Oleg Popov sagt dazu: „Als Mensch bin ich kontrolliert, mit Maske bin ich frei.“9

Die von mir geschilderten Szenen stellen im Übrigen mehr dar als nur nette Anekdoten. Sie zeigen, wie unmittelbar, wie herzlich, wie – unwissentlich – umwerfend komisch Menschen mit Demenz sein können, wie innig der Kontakt sein kann. Daran erfreue ich mich immer wieder bei meiner Arbeit und frage mich manchmal: Wer erheitert hier eigentlich wen?

Anneliese Messerschmidt hat die achtzig Jahre überschritten und ist immer wieder sehr müde. Zudem immer wieder recht verwirrt. Kommt der Clown, zeigt sie sich aber oft orientiert. Auch heute besucht er sie. Frau Messerschmidt sitzt versunken im Rollstuhl vor dem kleinen Tisch, auf dem eine Kaffeetasse steht und ein letztes Stückchen Weißbrot mit Erdbeermarmelade. Als sie den Clown erkennt, strahlt sie. „Das ist aber schön, dass Sie mich besuchen.“ Der Clown strahlt auch und setzt sich. Sie plaudern. Da sieht er, wie ein Tropfen an ihrer Nase entsteht. Also nimmt er ein Papiertaschentuch, faltet es auseinander und reicht es ihr. Sie schaut dies lange ruhig und konzentriert an. Dann reicht sie es ihm zurück und sagt: „Ich kann das nicht lesen.“ Der Clown ist verblüfft, legt das Tuch aber zurück auf den Tisch. Dann sagt Frau Messerschmidt: „Lies du doch.“ Der Clown lächelt, schaut auf das Papiertaschentuch und erwidert: „Ich kann das auch nicht lesen.“ Und beide lachen.

Menschen mit Würde bis zuletzt

Der letzte und entscheidende Perspektivwechsel gilt den Menschen mit Demenz. Nicht der Blick von außen, des Clowns, des Pflegepersonals, der Ärztin oder des Arztes ist maßgeblich, sondern der Blick von innen. Dafür muss man sich bemühen, die zu verstehen, die erst nicht zu verstehen sind, denen zu verzeihen, die einen verletzt haben, auf die zuzugehen, vor denen man weglaufen will. Das ist nicht einfach, aber notwendig. Die Menschen mit Demenz mögen vielleicht schwach sein und hilfsbedürftig, aber selbst dann bleiben sie Menschen mit Gefühlen, Würde und Vergangenheit. Gerade so wie wir.

Und zuletzt: Menschen mit Demenz stellen ebenso wenig eine homogene Gruppe dar, wie Menschen ohne Demenz. Deshalb sind Verallgemeinerungen immer heikel und fast nie zutreffend. Wenn ich in diesem Buch von Menschen mit Demenz spreche, versuche ich – soweit es geht –, zu präzisieren und zu differenzieren. Alle in diesem Buch erwähnten Namen von alten Menschen sind verändert und frei erfunden. Die Gedichte und Liedtexte, die meist am Anfang der Kapitel stehen, stellen eine Auswahl dar, auf die Menschen mit Demenz oft positiv reagieren.

Ännchen von Tharau

Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt,

Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.

Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz

Auf mich gerichtet in Liebe und Schmerz.

Ännchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,

Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!

Das samländisch-niederdeutsche Original aus Ostpreußen von Johann Simon Dach (1636) wurde ins Deutsche übertragen von Johann Gottfried Herder (1778). Die erste Melodie stammt von Heinrich Albert (1642), die zweite, heute gebräuchliche, von Friedrich Silcher (1827).

KAPITEL 1ALTE MENSCHEN IN SCHRÄGLAGE

Um heute als alter Mensch verwirrt zu sein, muss man keine demenziellen Veränderungen aufweisen. Wer auf die Welt schaut und einen Vergleich zu den Fünfziger- oder Sechzigerjahren zieht, selbst zu den Siebzigern, sieht einen enormen Wandel. Und das gilt nicht nur für den elektronisierten Alltag mit Handy, Internet und E-Book. Vor allem sind Säulen der Vergangenheit zusammengebrochen oder ins Wanken geraten: ob Familie, Nachbarschaft, Kirche, Gewerkschaften, überall massive Erosionen. Nicht, dass all diese Säulen immer glänzend gewesen wären, aber sie gaben Halt in schweren Zeiten.10

Alte Menschen müssen heute mit einem völlig anderen Rollenbild zurechtkommen. Verkürzt gesagt, haben sich viele von Ratgebenden zu einer Art Ballast entwickelt. Vor vierzig, fünfzig Jahren lehrte man die Kinder „Respekt vor dem Alter“. Theoretisch, aber auch ganz praktisch: „Frag mal die Oma“, war keine ungewöhnliche Auskunft. Davon kann heute fast keine Rede mehr sein. Denn die Oma ist nicht da oder wird kaum gefragt. Mit all diesen Neuerungen kennt sie sich auch nicht aus. Das Diktat der Technisierung überfordert oft. Selbst wenn die Alten PC-Kurse in der Volkshochschule besuchen und mit (altengerechten) Handys für ihre Enkel erreichbar sind – die Siebzig- bis Achtzigjährigen hecheln einer rasenden Entwicklung hinterher, der sie kaum folgen können. Mit weitreichenden Folgen. „Die entfesselte Marktgesellschaft beseitigt [die] Möglichkeit zur Weisheit und dem daraus erwachsenden Respekt.“11

„Krankheit des Jahrhunderts“

So einiges geriet durcheinander in unseren nachindustriellen Gesellschaften. Angesichts der enormen Differenzierung des Alltags ging der Überblick verloren. Lebte in den Sechzigerjahren bei uns nur eine überschaubare Anzahl von Menschen, die gebürtig aus anderen Ländern kamen, so weiß heute kaum noch jemand, wie viele Nationalitäten in einer deutschen Kleinstadt vertreten sind. Bei Konsumgütern stehen wir einer schwindelerregenden Vielfalt gegenüber. Schließlich: „Pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.“12

Aber nicht nur symbolisch, sondern ganz real hat sich die Demenz zum bedeutsamen Phänomen entwickelt. Der Grund ist einfach: Wir werden alle immer älter und das Alter stellt das größte Risiko dar, dement zu werden.13 Schon jetzt zählt Deutschland zu den zehn Ländern mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Demenz weltweit.14 Daran wird sich aller Voraussicht nach nichts ändern. Ein paar Fakten und einige Annahmen verdeutlichen das: Die Zahl der über Sechzigjährigen hat sich im zwanzigsten Jahrhundert verdreifacht, die Zahl der über 85-Jährigen verzehnfacht.15 Diese Entwicklung hält weiter an.

Das Risiko, dement zu werden, ist gegenüber früher jedoch nicht gestiegen – im Gegenteil. Die Zahl der Menschen, die neu an Demenz leiden, steigt zwar in vielen westlichen Ländern, das liegt aber vor allem daran, dass sie immer älter werden. Der Anteil im Vergleich zu anderen alten Menschen indes sinkt, denn viele bleiben länger gesund. Ende des Jahres 2021 lebten rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland mit Demenz, davon über zwei Drittel Frauen.16 Dieser hohe Anteil liegt vor allem an ihrer höheren Lebenserwartung, die zudem an ihren sozialen Status gekoppelt ist. Denn Menschen mit niedrigem Einkommen sterben deutlich früher: Frauen mehr als acht Jahre, Männer sogar mehr als zehn Jahre.17 Alte Frauen besitzen oft noch die alte Hypothek einer sozialen Benachteiligung: schlechtere Ausbildung und Berufe, niedrigere Gehälter und Renten, häufiger belastende Lebenssituationen mit verlorener Selbstsicherheit und geringem Selbstwert, wiederkehrende körperliche und depressive Erkrankungen.18

Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft vermutet, dass sich die Zahl der Menschen mit Demenz in Deutschland bis zum Jahr 2050 auf etwa 2,4 bis 2,8 Millionen Menschen erhöhen wird.19 Die sogenannte Prävalenz, also der Anteil der Menschen, die neu an Demenz leiden, steigt zwar mit Alter, doch ist diese Steigerung nicht linear. Bei Hundertjährigen endet die Prävalenz bei etwa sechzig Prozent. Es muss also noch andere Risikofaktoren geben als das Alter.

Verdrängen hilft nicht

Doch sind diese Zahlen mit Vorsicht zu bewerten. Denn dabei handelt es sich um Vorausberechnungen eines ebenso komplexen wie medizinisch diffusen Phänomens. Angst zu bekommen jedoch, wäre bei diesen Nachrichten wenig hilfreich. Verunsicherung dagegen könnte helfen, vom Verdrängen und Ignorieren wegzukommen. Fakt ist: Ein Mensch mit Demenz braucht Betreuung, je länger er lebt, desto mehr. In Deutschland erhalten diese heute etwa fünf von sechs der Betroffenen zu Hause.20 Und dort in der Regel von Frauen – Ehefrauen, Töchtern und Schwiegertöchtern.21 Eben das dürfte in Zukunft seltener werden. Es werden einfach weniger Frauen dafür zur Verfügung stehen. Immer mehr von ihnen werden berufstätig sein, und das länger als früher.22

Zudem haben sich die Lebensformen sehr verändert. Lebte um 1900 lediglich ein Viertel der alten Menschen allein oder nur mit dem Ehepartner zusammen,23 wohnen heute rund sechzig Prozent in einem Zweipersonenhaushalt und etwa dreißig Prozent allein. Das gilt besonders für die Altersgruppe von 85 Jahren und mehr.24 Und die Tendenz geht weiter in diese Richtung.25 Das bedeutet nicht nur mehr Risiko im Notfall, sondern auch Töchter oder Schwiegertöchter fern vom eigenen Haushalt.

Es fehlen die Kinder

Und nicht nur das: Der Arbeitsmarkt von heute erfordert Mobilität. In den vergangenen Jahren sank der Anteil der Paare, deren Kinder in der Nachbarschaft oder zumindest am gleichen Ort wohnen, von 55 auf 45 Prozent. Zudem änderte sich die Größe der Familien: Immer häufiger gibt es die Ein-Kind-Familie. So werden später die Geschwister fehlen, die sich die Betreuung der Eltern teilen können. Etwa zwanzig Prozent der Ehepaare bleiben überhaupt kinderlos. Auch sind die Familien zerbrechlicher geworden. Im Vergleich zu 1960 hat sich die Zahl der Eheschließungen fast halbiert, die der Scheidungen jedoch mehr als verdoppelt.26 Damit reduziert sich zusätzlich die Zahl der Schwiegertöchter als potenzielle Betreuungskräfte.27 Da sind Söhne und Schwiegersöhne gefordert, diese Lücke zu füllen – was sie oft genug schon tun. Aber auch ihre Zahl ist limitiert.

Und nun kommen wir, die geburtenstarken Jahrgänge der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Die Baby-Boomer. Das bedeutet von jetzt an: Eine Menge Menschen mehr erreicht das Rentenalter, wird immer älter und vielleicht pflegebedürftig. Ihre Zahl wird in Deutschland bis 2055 um fast vierzig Prozent zunehmen.28 Diese dann Alten besitzen aber nur wenige bis keine Familienangehörigen, die eine Betreuung übernehmen können. Damit wächst die Bedeutung der professionellen Hilfe.29 Zudem leiden heute schon etwa zwei Drittel der über 65-Jährigen an mindestens zwei chronischen Erkrankungen,30 zeigen sich ebenfalls etwa zwei Drittel aller Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner demenziell verändert.31 Das wird zunehmen und damit der Engpass in der professionellen Pflege. Das ist seit Jahren bekannt – aber ein anderes Thema.

Hier geht es um einen anderen Aspekt der künftig alten Menschen, die vereinsamt leben oder separiert in einem Pflegeheim. Diese Menschen werden ihren Kindern und Enkeln als Lehrkraft des Lebens und Sterbens fehlen.

Denn: „Wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein.“32

Den Menschen mit Demenz werden wiederum die fehlen, die sie am besten verstehen, die Enkel.

„Eva, die jüngste Enkelin des Vaters, war das beste Beispiel. Sie kannte ihren Großvater nicht anders als mit Alzheimer und die Zuneigung, mit der sie ihm begegnete, war von solcher Unbefangenheit, dass er ganz selbstverständlich darauf anspricht. Weil das Mädchen in ihrem Kopf frei ist, ist ihr Großvater es in ihrem Beisein auch.“33

Clowns füllen die Enkel-Lücke

Hier können die Clowns helfen. Denn sie füllen die Enkel-Lücke. Natürlich nicht vollständig, aber zumindest zeitweise. Sie kommen mit eben dieser Offenheit, Unbefangenheit und Echtheit, ohne Berührungsängste und wollen nichts von den alten Menschen als den Kontakt.

Am Brunnen vor dem Tore

Am Brunnen vor dem Tore,

Da steht ein Lindenbaum:

Ich träumt’ in seinem Schatten

So manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde

so manches liebe Wort;

Es zog in Freud und Leide

Zu ihm mich immer fort.

Ich mußt’ auch heute wandern

Vorbei in tiefer Nacht,

Da hab ich noch im Dunkel

Die Augen zugemacht.

Und seine Zweige rauschten,

Als riefen sie mir zu:

Komm her zu mir, Geselle,

Hier findst du deine Ruh!

Die kalten Winde bliesen

Mir grad in’s Angesicht;

Der Hut flog mir vom Kopfe,

Ich wendete mich nicht.

Nun bin ich manche Stunde

entfernt von jenem Ort,

Und immer hör ich’s rauschen:

Du fändest Ruhe dort!

Text: Wilhelm Müller (1794–1827)

Melodie: Franz Schubert (1797–1828)

KAPITEL 2DEMENZ – EIN PHÄNOMEN

Demenz – vor vielleicht fünfzig oder sechzig Jahren beschäftigte sich nur eine überschaubare Zahl von Betroffenen und Forschenden damit. In der Öffentlichkeit gab es allenfalls ein paar Witze über Alzheimer. Das hat sich geändert, zwangsläufig. Dennoch ist Demenz immer noch schwer zu fassen, wird auch in der Fachliteratur vieles im Konjunktiv beschrieben. Sicher ist – leider – nach wir vor nur eines: Eine wirkliche Heilung gibt es nicht, auch auf absehbare Zeit nicht.34 Aber am Verständnis von Demenz, am Blick auf die Menschen, die darunter leiden, und am Wissen über alles, was helfen kann, Demenzen zu vermeiden, zu verzögern oder zu lindern, hat sich viel verändert. Aber der Reihe nach.

Sammelbegriff Demenz

Der Begriff Demenz ist aus zwei lateinischen Wörtern abgeleitet: aus: „de“, das heißt „weg“, und „mens“, was „Geist“ oder „Verstand“ bedeutet. Der Geist bewegt sich weg vom Menschen, verlässt ihn. Medizinisch gesehen stellt Demenz nur einen Oberbegriff dar, der mehr als fünfzig verschiedene Symptome und krankhafte Veränderungen zusammenfasst.35 Demenz wird inzwischen nicht nur als Ausdruck kognitiver Störungen, sondern einer umfassenden Veränderung des Erlebens und Verhaltens Betroffener gesehen.36 Die Beeinträchtigungen betreffen das Kurz- und Langzeitgedächtnis, die Möglichkeiten des abstrakten Denkens und des Urteilsvermögens, die Sprache sowie die Fähigkeit, zum Beispiel eine Gabel als eine Gabel zu erkennen und zu verwenden.37 Zudem ist die räumliche und zeitliche Orientierung eingeschränkt.

Den vermutlich größten Effekt aber hat die Demenz für die Betreffenden in einem veränderten Erleben von sich selbst. Sie verlieren mehr und mehr die Kontrolle über sich, erleben sich im Fühlen und Handeln nicht mehr als Einheit, erkennen sich nicht wieder.38 Eine schwere, manchmal unerträgliche Last.

Grundsätzlich wird unterschieden zwischen zwei Formen der Demenz. Der überwiegende Teil, etwa zwei Drittel, beruht auf krankhaften Veränderungen von Nervenzellen im Gehirn.39 Bei den übrigen Formen wurde das Gehirn geschädigt durch äußere Einwirkung auf die Nervenzellen dort: durch Erkrankungen (Tumor), Verletzungen (Trauma) oder aufgrund langjährigen Missbrauchs von Drogen (Alkohol, Nikotin, Medikamente etc.).40 Auch Stoffwechselerkrankungen, Vergiftungen, Vitaminmangel oder Depressionen zählen dazu.41

Die schädlichen Veränderungen im Gehirn werden ausgelöst durch giftige Abbauprodukte des Eiweißstoffwechsels, die nicht oder nur unvollständig vom Körper entsorgt werden. Das gilt nicht nur für Alzheimer, der mit Abstand häufigsten Form der Degeneration, sondern auch für andere Demenzen (Frontallappen-Demenz und Lewy-Body-Demenz). Warum die Entsorgung nicht gelingt, ist nicht umfassend geklärt. Diese giftigen Eiweiße binden sich einerseits außen an die Nervenzellen und bilden dort sogenannte Amyloid-Beta-Plaques, die eine Reizleitung der Nervenzellen untereinander erschweren oder ganz unmöglich machen.42 Auch im Inneren der Nervenzellen finden sich abgestorbene Eiweißzellen, die ebenfalls nicht richtig abtransportiert werden und toxische Fäden bilden, die sogenannten Fibrillenbündel. Diese lassen die Nervenzellen dann von innen absterben.43

„Molekulares Rätsel“

Viele Studien weisen darauf hin, dass diese giftigen Eiweißstoffe eine zentrale Rolle bei der Alzheimerdemenz einnehmen, doch ganz gesichert ist das noch immer nicht.44 Die Ursachen und auslösenden Faktoren sind weiter unklar, letztlich ein „molekulares Rätsel“.45 Auch lassen sich bei etwa einem Drittel der Menschen mit alzheimertypischem Verhalten keinerlei Amyloid-Plaques nachweisen. Und in der berühmt gewordenen Nonnenstudie fanden sich Menschen mit völlig unauffälligem Verhalten, deren Gehirne bei der Untersuchung nach deren Tod Plaques in großer Zahl aufwiesen.46

Als Lösung wird die sogenannte „kognitive Reserve“ genannt. Das bedeutet, dass selbst starke Beeinträchtigungen von Teilen des Gehirns durch andere, besonders aktivierte Teile kompensiert werden können. Die in einem US-amerikanischen Kloster lebenden Nonnen waren zeitlebens Lehrerinnen, also kognitiv bis ins hohe Alter gefordert. Der Alltag dort besaß zudem für alle eine klare Struktur mit viel Arbeit, aber auch innerer Einkehr und viel zwischenmenschlichem Kontakt.47 Alles Elemente, die das Gehirn zur Vitalität anregen (siehe Kapitel 3: Prophylaxe und Risiken).

Demenzschübe irritieren

Ein weiterer Aspekt, der bei der Suche nach medizinischer Eindeutigkeit Verwirrung stiftet: Neurologisch verändernde Prozesse wie bei Alzheimer vollziehen sich normalerweise stetig und langsam. Extrem schnelle Entwicklungen, sogenannte Demenzschübe, nach krisenhaften Veränderungen wie Tod des Partners oder Unfall, passen nicht ins Schema, kommen aber gar nicht so selten vor.48 Und das sogar bei Menschen, die vorher keinerlei Symptome aufgewiesen haben.49 Vieles deutet darauf hin, dass Stressfaktoren (und das durch Stress vermehrt ausgeschüttete Hormon Cortisol) den Zelltod im Gehirn beschleunigen.50

Als zweithäufigste Form der Demenz gilt die sogenannte vaskuläre Demenz. Störungen der Durchblutung in Teilen des Gehirns verursachen dort viele kleine und größere Infarkte, die oft vom Betroffenen gar nicht wahrgenommen werden, aber in der Summe große Schäden verursachen.51

Medizinisch anerkannt ist noch eine Reihe weiterer Demenzformen, diese treten jedoch eher selten auf. Es mehren sich zudem die Anzeichen, dass Alzheimerphänomene fast immer beteiligt sind. Etwa drei Viertel aller Fälle sind davon betroffen, daher ist es müßig, hier noch zu unterscheiden.52

Ausnahme Gehirn

Auch wenn es uns nicht gefällt: Wir altern. Das beginnt im Grunde schon gleich nach der Geburt. Aber etwa von dreißig, vierzig Jahren an regenerieren sich verschiedene Zellen nicht mehr so gut, werden neue mit leichten Fehlern gebildet und Abfallprodukte des Stoffwechsels nicht mehr umfassend entsorgt. Das gilt für alle Organe, die nach und nach an Leistungsfähigkeit verlieren. Für alle? Nein, nicht für alle. Die eine Ausnahme stellt das Gehirn dar. Es ist das einzige Organ, in dem Zellen lebenslang nachwachsen und neue Verbindungen eingehen können. Das nennt man „adulte Neurogenese“. Das Gehirn ist aber auch mit Abstand unser empfindlichstes Organ, was die Sache kompliziert macht.

Die kleinsten Blutgefäße des Körpers, die Kapillaren, sind im Gehirn besonders klein, machen aber 85 Prozent aller Blutgefäße dort aus. Insgesamt weisen sie gar eine Länge von etwa 644 Kilometern auf.53 Im Gehirn! Und leider: Je kleiner, desto anfälliger. Da zum Beispiel die Gifte im Tabak einen gefäßverengenden Effekt besitzen, ziehen sich mit jeder Zigarette Kapillaren im Gehirn so eng zusammen, dass Teile nicht mehr versorgt werden. Auch wenn sich das vielleicht erst nach Jahrzehnten bemerkbar macht, es hat einen Effekt. Ähnliches gilt für Alkohol oder viele kleine Kopfverletzungen zum Beispiel beim Sport.

Besonderheit Hippocampus

Ein Bestandteil des Gehirns sei hier besonders erwähnt, weil der sowohl im Alltag wie auch bei Alzheimer eine herausragende Rolle einnimmt: der sogenannte Hippocampus.54 Dieser Hippocampus (es sind zwei Teile jeweils in der Form eines Seepferdchens, daher der lateinische Name dafür) stellt nichts weniger dar als die Zentrale und Schnittstelle unserer Erinnerungen. Und wegen der ständig neuen Informationen muss er ständig wachsen. Was er auch lebenslang tut. Im Hippocampus wird entschieden, was merk-würdig ist: Vor allem Erlebnisse, die einen Bezug zum Ich haben und hochemotional besetzt sind, werden erst hier verankert und dann zum Speichern ins Langzeitgedächtnis verschoben.55 Diese Auswahl ist zwingend, denn die Masse an Erlebnissen übersteigt die Kapazität des Hippocampus bei Weitem. Das Inhaltsverzeichnis bleibt jedoch dort, sodass wir schnellen Zugriff haben.56 Interessanterweise beginnt Alzheimer eben dort, wo im Hippocampus neue Hirnzellen gebildet werden.57

Eine Ursache dafür kann unsere oft einseitige Lebensweise darstellen. Wer weder im Beruf noch daheim dem Gehirn neue Reize bietet, trägt zum Rückbau der Zellen bei.58 Denn was nicht benutzt wird, bildet unser auf Effektivität fokussierter Körper zurück – auch Gehirnzellen. Ähnlich wirkt sich mangelnde Anregung auf die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, aus. Fehlende Aktivität kann synaptische Verbindungen lösen und beteiligte Neuronen schädigen. Dabei gilt das Vermehren von synaptischen Verbindungen als Schlüssel aller Lernprozesse.59

Allerweltsbezeichnung Alzheimer

Emotionales Erleben hat also einen neurologischen Effekt. Deutlich wird das zum Beispiel bei pflegebedürftigen alten Menschen, die ihre Wohnung aufgeben müssen und in ein Pflegeheim ziehen. Sie sind in der neuen Umgebung häufig überfordert, verlieren ihren heimischen Schutzraum, fühlen sich nicht nur bei der Intimpflege durch fremde Pflegekräfte entblößt. Das kann einen Schock mit demenzartigen Folgen bewirken.60 Entscheidend ist dabei nicht die objektive Schwere der Veränderung, sondern das subjektive Erleben dieser Veränderung.61

Auch die emotionale Grundstruktur eines Menschen kann Alzheimer hemmen oder fördern. Eher zurückhaltende, sich und ihre Bedürfnisse verleugnende Menschen, vielleicht mit einem dominanten Partner zusammenlebend und in ihren sozialen Kontakten eingeschränkt, erleiden deutlich häufiger Alzheimer als psychosozial aktive Vergleichspersonen.62