Clowns für Menschen mit Demenz - Ulrich Fey - E-Book

Clowns für Menschen mit Demenz E-Book

Ulrich Fey

4,9

Beschreibung

Dieses Buch soll Wissen vermitteln und Angst nehmen. Es hilft, Menschen mit Demenz besser zu verstehen. Denn sie tun oft nicht, was wir von ihnen möchten, widersetzen sich. Die Eigenwilligkeit der Alten aber hat ihre Geschichte. Und ist manchmal voller Komik. Ulrich Fey erläutert die Grundlagen wirksamer Clownarbeit und prüft ihre Möglichkeiten im Zusammenhang mit Demenz. Er geht der Frage nach, warum gute Pflegebeziehungen in unserem Gesundheitswesen unbedingt einer Ausnahmeerscheinung wie der des Clowns bedürfen. Ein "emotionales Sachbuch" - mit Anregungen und Analysen für Professionelle in Alten- und Pflegeheimen sowie für alle, die als Clowns auf diesem Feld arbeiten wollen. Aber auch Betroffene und pflegende Angehörige können von der besonderen Sichtweise eines Clowns auf die Demenz profitieren. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage!

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Seitenzahl: 245

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Clowns für Menschen mit Demenz

Ulrich Fey war Lehrer und Redakteur, ehe er Clown wurde. Heute arbeitet er zu einem Teil freiberuflich als Journalist, Buchautor und Referent in der Journalistenausbildung. Zum anderen Teil ist er seit 1999 Mitglied der Clown-Doktoren, die kranke Kinder in Kliniken des Rhein-Main-Gebietes besuchen. Vor allem aber geht er seit vielen Jahren als Clown Albert in Alten- und Pflegeheime und besucht dort vornehmlich Menschen mit Demenz. Seine Erfahrungen gibt er auch in Kursen und Vorträgen weiter: www.clownsundmehr.de

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Dr. Rolf Dieter Hirsch

Ulrich Fey

Clowns für Menschen mit Demenz

Das Potenzial einer komischen Kunst

Mit einem Vorwort von

Prof. Dr. Dr. Rolf Dieter Hirsch

3., erweiterte und aktualisierte Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

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3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2016

© 2012 Mabuse-Verlag GmbH

Kasseler Str. 1 a

60486 Frankfurt am Main

Tel.: 069 – 70 79 96-13

Fax: 069 – 70 41 52

[email protected]

www.mabuse-verlag.de

Satz: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen

Umschlaggestaltung: Marion Ulrich, Frankfurt am Main

Umschlagfoto: privat

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN: 978-3-86321-015-1

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten

There is a crack in everythingThat’s, how the light gets in.

Leonhard Cohen

Mögen hätt’ ich schon wollen,aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut!

Karl Valentin

INHALT

VORWORT

EINBLICK

KAPITEL 1,

ALTE MENSCHEN IN SCHRÄGLAGE

KAPITEL 2,

DEMENZ – EIN PHÄNOMEN

KAPITEL 3,

AUSFLUG IN DIE GESCHICHTE

KAPITEL 4,

AUSSEN- UND INNENANSICHTEN

KAPITEL 5,

WAS MENSCHEN MIT DEMENZ HILFT

KAPITEL 6,

DIE FIGUR DES CLOWNS

KAPITEL 7,

HUMOR, KOMIK, LACHEN

KAPITEL 8,

DIE KOMIK DES CLOWNS

KAPITEL 9,

DIE WIRKUNG VON HUMOR UND LACHEN

KAPITEL 10,

DIE WIRKUNG VON MUSIK UND GESANG

KAPITEL 11,

CLOWNS BEI MENSCHEN MIT DEMENZ

KAPITEL 12,

CHANCEN UND GRENZEN DES CLOWNS

KAPITEL 13,

KOMMUNIKATION

KAPITEL 14

VONEINANDER LERNEN

AUSBLICK

DANK

ENDNOTEN

LITERATURVERZEICHNIS

BILDNACHWEIS

VORWORT

Ein Clown stellt keine Fragen. Ist bei Demenz Schluss mit lustig? Kann er verwirrte Menschen mit Humor erreichen? Ein Clown fragt nicht, ein Clown handelt, ein Clown begegnet. Er lebt im Augenblick, wie die Menschen mit Demenz. Und er versucht, mit ihnen zusammen diesen Augenblick zu genießen.

Gibt es auch über die Wirkung von Clowns auf Menschen mit Demenz wenig „evidenzbasierte“ wissenschaftliche Untersuchungen, so ist doch zumindest klar, dass ein heiteres und fröhliches Milieu die Lebensqualität verbessert. Gerade für Verwirrte ist solch ein Milieu Voraussetzung für jegliche Intervention. Der Clown wirkt hier als Initiator und als Übersetzer von (scheinbarer) In-Kompetenz, von unverständlichem und absurdem Verhalten. Auch er durchbricht Regeln und Normen, indem er sie durch sein kurioses Verhalten oder ein Lied ad absurdum führt. Betritt ein Clown einen Raum, verändert sich dieser schlagartig. Er wird bunt, lebendig und fröhlich. Diesem wohltuenden Sog kann sich auch ein Mensch mit Demenz selten verschließen.

In diesem Buch beschreibt Ulrich Fey auf sehr anschauliche Weise, was Clowns in Einrichtungen tun können. Deutlich wird, dass er aus der Praxis kommt. Sehr einfühlsam vermittelt er Einsicht in sein Denken und Handeln. Er vernachlässigt dabei nicht die Schattenseiten einer Demenz mit ihren oft sehr belastenden und herausfordernden Folgen. Er geht auch auf die möglichen Auswirkungen von Krieg, Vertreibung und anderen traumatischen Lebensumständen ein, die das Erleben vieler Betroffene heute noch so mächtig prägen.

Aber: Humor ist ein menschliches Bedürfnis! Er ist eine Grundkompetenz! Diese auch bei Menschen mit Demenz zu fördern ist eines der Ziele von einem Clown. Fey schreibt nicht „über“ die Tätigkeiten eines Clowns, sondern lässt den Leser in Form von vielfältigen Vignetten miterleben, was der Clown denkt, fühlt, tut, auch wo er seine Grenzen findet. Dabei verdeutlicht er, dass die Würde eines Menschen durch einen humorvollen Umgang nicht gefährdet, sondern bestärkt wird. Fey sieht nicht nur einen verwirrten alten Menschen, sondern einen Menschen, der fühlt, der Wünsche und einen Willen hat. Als Clown ist er ihm seelenverwandt und kann ihn so in einer besonderen Intensität erleben.

Wer würde schon glauben, dass ein Mensch mit Demenz, der sich nicht mehr an den Namen seines Partners erinnert, ohne Fehler den Refrain „Simsalabimbambasaladusaladim“ singen kann? Dass mancher Verwirrte fehlerfrei vier Strophen von „Kein schöner Land“ auswendig weiß? Für einen Verstandesmenschen mag das nebensächlich sein, für einen alten Menschen sind sie aber Zeichen von Lebendigkeit. Gesang und Musik sind Humorunterstützer, die der Clown, wie Fey schreibt, selbstverständlich in seinem Repertoire hat.

Eine der Aufgaben von Narren war es in früherer Zeit, die Herrschenden auf Defizite und Widersprüche hinzuweisen und so zum Nachdenken anzuregen. Diesen Dienst können heute Clowns in Institutionen leisten. Mögen manche Mitarbeiter von Pflegeheimen, aber auch Heim- und Pflegedienstleiter skeptisch sein, sich über die „Kindereien“ von Clowns lustig machen, so vergessen sie, dass Clowns den Alltag für alle erleichtern, Stress abbauen und eine entspannte Atmosphäre schaffen. Sie können als fröhliche Chaoten und Anti-Jammerer mehr bewirken als mancher sich vorstellen kann. Wäre es vermessen als Qualitätsmerkmal zu fordern, dass kein Alten- oder Pflegeheim ohne Clown sein sollte?

Zu wünschen ist, dass die vorliegende Monografie möglichst viele in die Hand bekommen und lesen, die in der Altenarbeit und Geriatrie/Gerontopsychiatrie tätig sind, besonders Menschen in verantwortlichen Positionen. Dieses Buch ermuntert und ermutigt, Clowns in den Umgang mit Menschen mit Demenz viel mehr einzubeziehen. Es zeigt sehr gut, dass die Begegnung mit einem verwirrten Menschen ein echtes Erlebnis sein kann, heiter, skurril, hintersinnig. Beziehung beginnt mit einem Lächeln. Diese Chance sollte man Menschen mit Demenz, aber auch den Mitarbeitern von Einrichtungen ermöglichen. Vielleicht wird mancher Leser auch angeregt, mit einem Clown auf seiner Visite mitzugehen und zu erleben, was die Begegnung mit einem Clown bewirken kann!

Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch

Bonn im Oktober 2012

EINBLICK

Clowns für Menschen mit Demenz, Clowns für Menschen in Alten- und Pflegeheimen – das klingt nach Nische, das klingt nach Minderheitenprogramm. Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Wir alle haben Eltern und Großeltern, die immer älter werden, zum Teil sehr alt. Einen Großteil von uns hat die Demenz inzwischen erreicht. Fast jeder weiß in seiner Familie, seinem Bekanntenkreis jemanden mit Demenz, mit Alzheimer zu benennen. Und in absehbarer Zeit wird sich das „fast“ ganz streichen lassen. Zudem werden wir selbst in nicht so ferner Zukunft auch zu den Alten zählen – und mit dem Alter steigt das Risiko, dement zu werden. So ist Demenz ein Thema für viele. Und Clowns können in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen.

In einer Umgebung, in der die betreuenden Menschen immer wieder daran scheitern, einen angemessenen Umgang mit den verwirrten Menschen zu finden, kann der Clown helfen. Denn der Clown ist ein seltsames Wesen. Er scheitert auch, aber bei ihm ist das Programm. Er muss sich nicht anstrengen, um die Menschen mit Demenz zu erreichen, weil er sich bereits auf einer Ebene mit ihnen befindet. Sie sind wie der Clown: nicht rational, sondern emotional. Sie machen Sachen, die sonst niemand versteht, manchmal verstehen es beide, Verwirrter und Clown sogar selbst nicht. Es ist aber auch gar nicht so wichtig, Hauptsache, sie verstehen einander.

Verständnis für die Menschen mit Demenz zu wecken, stellt ein Ziel dieses Buches dar. Im Zentrum stehen aber die Chancen, die alle Menschen im Umgang mit Demenz haben können: die, die betroffen sind, und die, die Menschen mit Demenz betreuen. Es geht um einen Perspektivwechsel.

Wer ist hier ver-rückt?

So muss man zum Beispiel, angesichts vieler Erscheinungsformen in unserer modernen Welt, erst einmal fragen: Wer ist denn hier verrückt? Sind es die, die als Ausdruck ihrer demenziellen Veränderung nicht mehr wissen, was sie mit einem Löffel anfangen sollen oder wie ihr verstorbener Ehemann mit Vornamen hieß? Oder sind es die, die sich bei klarem Verstand sonderbar verhalten? Die mit ihren Kindern in den Zoo gehen, mit der Digitalkamera den Braunbären fotografieren und sich dann nur noch das Foto ansehen, aber keinen Blick mehr haben für den lebendigen Bären vor sich? Oder die, die ihre Frau mit dem Laptop unter dem Arm in den Kreißsaal begleiten und sich dann mehr für ihre E-Mails als die Geburt ihres Kindes interessieren – wie eine Hebamme im Radio berichtete?

Ein Perspektivwechsel bedeutet auch, die Demenz selbst anders zu betrachten. Dabei muss etwas in den Vordergrund rücken, was oft genug verdrängt und dann im Untergrund wirksam wird: die Gefühle.

Denn Demenz macht erst einmal Angst. Große Angst. Denen, die unmittelbar von ihr betroffen sind, aber auch denen, die Sorge haben, eines Tages dement werden zu können. „Demenz wird zur Projektionsfläche vieler tief gehender Ängste, da sie allen narzisstischen Selbstidealen wie Autonomie, Kraft, Stärke widerspricht.“1 Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt. Demente Menschen werden ausgeschlossen, Heime schützen die Gesellschaft vor der Konfrontation mit ihnen, auch wenn wir Jüngeren Angst davor haben, selbst einmal so ausgeschlossen zu werden2.

Die Angst des Playboys

Besonders deutlich wird diese Abwehr am Fall von Gunter Sachs. Der über Jahrzehnte gefeierte Playboy und Frauenheld (und damit Projektionsfigur vieler Männer) nahm sich im Mai 2011 das Leben, aus Angst, möglicherweise (!) an Alzheimer erkrankt zu sein. Die Reaktionen der einschlägigen Presse: „Er stirbt, wie er lebte: aufrecht und selbstbestimmt“ (Bild), „Ein Mann mit Charakter – bis zum bitteren Ende“ (Bunte), „Einer, der so stark gelebt hat, war sich am Ende wohl einen starken Abgang schuldig“ (Stern), „Es war ein männlicher Selbstmord“ (GQ)3. Die „Texte lesen sich fast wie Empfehlungen an Alzheimer-Patienten, doch denselben Weg zu gehen“4. Dass von Stärke bei Sachs’ Freitod keine Rede sein kann, vielmehr von gekränktem Narzissmus – das schreiben die Journalisten nicht. Ob aus Dummheit, Populismus oder verkappter Angst, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass solche Veröffentlichungen das angstbesetzte Bild von Demenz stützen.

Aber: „Das Leben mit Demenz bedeutet keinesfalls nur Unglück und Leiden, genauso wenig wie das Leben ohne Demenz nur Glückseligkeit und Wohlbefinden bedeutet.“5 Unbestritten ist, dass das Altern und noch viel mehr die Demenz ein Loslassen erfordern, ja erzwingen. Doch was bleibt, wenn der Urlaub auf Gran Canaria, der neue Mercedes, die beruflichen Erfolge von Kindern und Enkeln uninteressant werden, ja geradezu belanglos? Für die einen ist dies die Hölle, für andere eine Art Paradies: Menschen unabhängig von ihrem Wohlstand und Ansehen einfach für ihr Sein schätzen zu lernen, zu mögen, vielleicht zu lieben.

Einfach Mensch sein

Menschen mit Demenz bringen uns mit diesem Wunsch in Verbindung. Nicht mit Absicht, sie tun es, weil sie nicht anders können. Ihr Gehirn funktioniert nicht mehr in der Weise, wie es in unserer Gesellschaft funktionieren sollte, in einer Gesellschaft mit einem geradezu katastrophal überschätzten Stellenwert des Intellekts6. Der Psychoanalytiker Arno Gruen schreibt sogar: „Die wahren Geschädigten sind nicht die seelisch Erkrankten, die als psychiatrische Patienten von der Gesellschaft gemieden werden. Es sind diejenigen, die uns ein reduziertes Mensch-Sein suggerieren wollen. Die Kranken weisen uns unbewusst den Weg zu uns selbst zurück.“7

Als Clown habe ich das erlebt. Und ich habe es als Gewinn erlebt. Auch das ist ein Perspektivwechsel. Viele Menschen mit Demenz fordern nicht nur, sie können den Betreuenden etwas geben: ehrlichen, bedingungslosen Kontakt – immer authentisch, immer glaubhaft. Sie können nicht anders. Sie verschenken Lächeln, Umarmungen, Mitsingen, sogar Trost. Das alles kann man nicht kaufen, auch nicht online, und auch nicht bei Facebook posten.

Nach etwa dreißig Minuten, in denen sich Stille und Gesang abgewechselt haben, kündigt der Clown seinen Aufbruch an.

„So, jetzt packe ich ein und gehe.“

„Ooch.“

„Aber Frau Mertens, ich komme doch in zwei Wochen wieder.“

Sie hält einen Moment Ruhe, schaut und sagt dann: „Das ist das Tröstliche.“

Zu dem Wechsel der Perspektive gehört, den Blick auf die Chancen zu betonen. Nicht nur für Clowns.

„Ich habe den Eindruck, dass die Abhängigkeit und die Hilflosigkeit, die durch die Krankheit verursacht wurde, eine große Nähe zwischen meinem Mann und mir ermöglicht hat, die sonst so nicht hätte entstehen können. … Mein Mann muss nicht mehr seine männliche Rolle spielen. Er ist so arglos und vertrauensvoll, dass ich ihm ganz nah sein kann, und das ist ein großes Geschenk.“8

Menschen mit Demenz verlassen ihre klassischen Rollensysteme. Notgedrungen. Sie mögen uns zwar unberechenbar erscheinen, doch können wir gewiss sein: Sie lügen und betrügen nicht, sind nicht nachtragend. Alles Manipulative und Materielle ist ihnen fremd.9 Beim Blick auf das Ganze bedeutet das nicht, alles Schwierige auszublenden. Doch hilft es ungemein, das Schöne, das Nahe, ja das Heitere in den Blick zu rücken – der Alltag ist schon mühsam genug.

Emotionales Sachbuch

Dieses Buch soll zwar auch ein Sachbuch sein, zuerst aber ist es ein Buch über und voller Emotionen. Denn Gefühle sind der entscheidende, oft der einzige Zugang zu Menschen mit Demenz. Und der Clown agiert vor allem auf dieser Ebene.

Den Innenansichten eines Clowns stehen indes Außenansichten gegenüber, die häufig geprägt sind von Klischees. Clowns sind doch diese bunten Kerle aus dem Zirkus, die Eimer voller Wasser umstoßen oder mit Torten werfen. Clowns sind etwas für Kinder, allenfalls noch im Krankenhaus vorstellbar – das wird inzwischen akzeptiert. Aber für Demente? Die Sorge vor einer „Verarschung“ (so ein Heimleiter) der Menschen mit Demenz liegt an einem vorurteilsbehafteten Blick der vernunftgesteuerten Menschen auf den Clown – Menschen mit Demenz haben diese Sorge fast nie. Sie würden auch schnell spüren, ob sie ernst genommen werden oder nicht. Denn das ist keine Frage an die Großhirnrinde. Dabei sind Menschen mit Demenz selbst manchmal so komisch, wie ein Clown es kaum sein kann. Daran darf man sich erfreuen, sogar lachen darüber, aber, und das ist ganz wichtig: Niemals darf der Clown einen Menschen – ob mit oder ohne Demenz – auslachen.

„Wie geht es Dir, Papa?“

„Also, ich muss sagen, es geht mir gut. Allerdings unter Anführungszeichen, denn ich bin nicht imstande, es zu beurteilen.“10

Die rote Nase

Um einen Clown und seine Arbeit zu verstehen, muss man die Bedeutung der roten Nase verstehen. Die sogenannte „kleinste Maske der Welt“ verhilft dem Privatmenschen zu einem Rollenwechsel, zu einer anderen Identität. Diese ist natürlich auch Teil seines privaten Selbstverständnisses, aber noch weit mehr.

Der Mann, der als Clown arbeiten will, muss sich heute in einem leeren Bewohnerzimmer umziehen. Frau Schuster, eine demenziell bedingt sehr eingeschränkte Frau mit starkem Bewegungsdrang, kommt in das Zimmer. „Frau Schuster, Sie sind falsch, das ist nicht Ihr Zimmer.“

Doch Frau Schuster setzt sich unbeeindruckt, verharrt einen Moment, schiebt dann ihren Rollator wieder hinaus. Der Noch-nicht-Clown atmet auf. Wenige Minuten später öffnet sich die Tür abermals, Frau Schuster kommt wieder herein.

„Frau Schuster, das ist nicht Ihr Zimmer.“ Das klingt schon etwas genervter. Frau Schuster dreht eine Runde in dem kleinen Raum und verlässt ihn wieder. Kurze Zeit später kommt sie ein drittes Mal. Inzwischen hat sich der Mann komplett umgekleidet, nur die rote Nase fehlt noch. Er schaut Frau Schuster verärgert an. Dann setzt er die rote Nase auf und sagt (zu seiner eigenen Überraschung): „Guten Tag, Frau Schuster. Wie schön, dass Sie mich besuchen kommen.“

Eine Reihe von ähnlichen Beispielen wird in diesem Buch beschrieben, und immer wird von dem Clown in der dritten Person gesprochen, auch wenn ich viele der Szenen selbst erlebt habe. Denn ich schildere diese ja als Autor, nicht als Clown.

Die rote Nase verwandelt jeden Menschen, der sie aufzieht. Als Clown traue ich mich Dinge, die ich als Privatmensch so nicht täte. Der große Clown Oleg Popov sagt dazu: „Als Mensch bin ich kontrolliert, mit Maske bin ich frei.“11

Menschen mit Würde bis zuletzt

Der letzte und entscheidende Perspektivwechsel gilt den Menschen mit Demenz. Nicht der Blick von außen, des Clowns, des Pflegepersonals, der Ärztin oder des Arztes ist maßgeblich, sondern der Blick von innen. Dafür muss man sich bemühen, die zu verstehen, die erst nicht zu verstehen sind, denen zu verzeihen, die einen verletzt haben, auf die zuzugehen, vor denen man weglaufen will. Das ist nicht einfach, aber notwendig. Die Menschen mit Demenz mögen vielleicht schwach sein und hilfsbedürftig, aber selbst dann bleiben sie Menschen mit Gefühlen, Würde und Vergangenheit. Gerade so wie wir.

Noch etwas zu diesem Buch

Menschen mit Demenz stellen ebenso wenig eine homogene Gruppe dar, wie Menschen ohne Demenz. Deshalb sind Verallgemeinerungen immer heikel und fast nie zutreffend. Wenn ich in diesem Buch von Menschen mit Demenz spreche, versuche ich – soweit es geht – zu präzisieren und zu differenzieren. Alle in diesem Buch erwähnten Namen von alten Menschen sind verändert und frei erfunden. Die Gedichte und Liedtexte, die am Anfang der Kapitel stehen, stellen eine Auswahl dar, auf die alte Menschen mit Demenz oft positiv reagieren.

Ännchen von Tharau

Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt,

Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.

Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz

Auf mich gerichtet in Lieb’ und in Schmerz.

Ännchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,

Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!

Das samländisch-niederdeutsche Original aus Ostpreußen von Johann Simon Dach (1636) wurde ins Deutsche übertragen von Johann Gottfried Herder (1778). Die erste Melodie stammt von Heinrich Albert (1642), die zweite, heute gebräuchliche, von Friedrich Silcher (1827).

KAPITEL 1,ALTE MENSCHEN IN SCHRÄGLAGE

Um heute als alter Mensch verwirrt zu sein, muss man keine „demenziellen Veränderungen“ aufweisen. Wer auf die Welt schaut und einen Vergleich zu den fünfziger oder sechziger Jahren zieht, sieht einen enormen Wandel. Und das gilt nicht nur für den elektronisierten Alltag mit Handy, Internet und E-Book. Vor allem sind Säulen der Vergangenheit zusammengebrochen oder ins Wanken geraten: ob Familie, Nachbarschaft, Kirche, Gewerkschaften, überall massive Erosionen. Nicht, dass all diese Säulen immer glänzend gewesen wären, aber sie gaben Halt in schweren Zeiten.12

Alte Menschen müssen mit einem anderen Rollenbild zurechtkommen. Verkürzt gesagt, haben sich viele vom Ratgeber zum Ballast entwickelt. Vor vierzig, fünfzig Jahren lehrte man die Kinder „Respekt vor dem Alter“. Theoretisch, aber auch ganz praktisch: „Frag mal die Oma“, war keine ungewöhnliche Auskunft. Davon kann heute fast keine Rede mehr sein. Denn die Oma ist nicht da oder wird gar nicht mehr gefragt. Mit all diesen Neuerungen kennt sie sich auch nicht aus. Das Diktat der Technisierung überfordert. Selbst wenn die Alten PC-Kurse in der Volkshochschule besuchen und mit (altengerechten) Handys für ihre Enkel erreichbar sind – die Siebzig- bis Achtzigjährigen hecheln einer Entwicklung hinterher, der sie nicht folgen können. Mit weitreichenden Folgen. „Die entfesselte Marktgesellschaft beseitigt [die] Möglichkeit zur Weisheit und den daraus erwachsenden Respekt.“13

„Krankheit des Jahrhunderts“

So einiges geriet durcheinander in unseren nachindustriellen Gesellschaften. Angesichts der enormen Differenzierung des Alltags ging der Überblick verloren. Lebten in den sechziger Jahren lediglich einige ausländische Mitbürger aus Italien oder der Türkei in Deutschland, so weiß heute kaum noch jemand, wie viele Nationalitäten in einer deutschen Kleinstadt vertreten sind. Bei Konsumgütern stehen wir einer Schwindel erregenden Vielfalt gegenüber. Schließlich: „Pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.“14

Aber nicht nur symbolisch, sondern ganz real wird sich die Demenz zum bedeutsamen Phänomen entwickeln. Der Grund ist einfach: Wir werden alle immer älter und das Alter stellt das größte Risiko dar, sich in Richtung Demenz zu entwickeln.15 Ein paar Fakten und einige Annahmen verdeutlichen das: Die Zahl der über 60-Jährigen hat sich im zwanzigsten Jahrhundert verdreifacht, die Zahl der über 85-Jährigen verzehnfacht.16 Und diese Entwicklung hält weiter an.

Das Risiko, dement zu werden, ist gegenüber früher jedoch nicht gestiegen. Der erhöhte Anteil liegt allein an der wachsenden Zahl der Älteren.17 In Deutschland wird die Gruppe der Menschen mit Demenz im Jahr 2015 auf etwa 1,2 Millionen geschätzt.18 Die Deutsche Alzheimergesellschaft vermutet, dass sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 auf etwa drei Millionen erhöhen wird.19 Denn laut verschiedener Untersuchungen (und Schätzungen) verdoppelt sich die Rate der von Demenz Betroffenen vom 65. Lebensjahr an etwa alle fünf Jahre. Liegt bei den 65- bis 69-Jährigen die Rate noch bei 1,2 Prozent, wächst sie von 2,8 Prozent bei den 70- bis 74-Jährigen auf etwa sechs Prozent bei den 75-bis 79-Jährigen und verdoppelt sich immer weiter.20

Doch sind diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten. Denn dabei handelt es sich um Berechnungen und Schätzungen eines ebenso komplexen wie medizinisch diffusen Phänomens. Dazu passt, dass das Alzheimer-Risiko vom 90. Lebensjahr an wieder abnimmt. Wer lange genug lebt, bekommt also nicht auf jeden Fall eine Demenz, nein, er überlebt das Risiko. Man vermutet, dass diese Hochbetagten eine besonders robuste Psyche und Physis besitzen.21

Verdrängen hilft nicht

Allerdings: Wer wird schon neunzig und älter (auch wenn diese Zahl zunimmt)? Für alle anderen lässt sich ein gewisses Risiko nicht von der Hand weisen. Angst zu bekommen jedoch, wäre bei diesen (teils nicht neuen) Nachrichten wenig hilfreich. Verunsicherung dagegen könnte helfen, vom Verdrängen und Ignorieren wegzukommen. Wenn auch das Bild eines in sich zusammengesunkenen, völlig unselbstständigen Alten die öffentliche Wahrnehmung von Demenz zu Unrecht prägt – unbestritten braucht ein Mensch mit Demenz zunehmend Betreuung. In Deutschland erhalten sie heute etwa drei Viertel der Betroffenen zu Hause. Und dort in der Regel von Frauen – Ehefrauen, Töchtern und Schwiegertöchtern.22 Eben das dürfte in Zukunft seltener werden.

Es werden einfach weniger Frauen dafür zur Verfügung stehen. Immer mehr von ihnen werden berufstätig sein, und das länger als früher.23 Zudem haben sich die Lebensformen sehr verändert. Lebte um 1900 lediglich ein Viertel der alten Menschen allein oder nur mit dem Ehepartner zusammen,24 wohnten etwa hundert Jahre später schon rund sechzig Prozent in einem Zweipersonenhaushalt und etwa dreißig Prozent allein. Und die Tendenz geht weiter in diese Richtung.25 Das bedeutet, Töchter oder Schwiegertöchter leben nicht mehr im gleichen Haushalt.

Es fehlen die Kinder

Und nicht nur das: Der Arbeitsmarkt von heute erfordert Mobilität. In den vergangenen fünfzehn Jahren sank der Anteil der Paare, deren Kinder in der Nachbarschaft oder zumindest am gleichen Ort wohnen, von 55 auf 45 Prozent. Zudem änderte sich die Größe der Familien: Immer häufiger gibt es die Ein-Kind-Familie. So werden später die Geschwister fehlen, die sich die Betreuung der Eltern teilen können. Etwa zwanzig Prozent der Ehepaare bleiben überhaupt kinderlos. Auch sind die Familien zerbrechlicher geworden. Im Vergleich zu 1960 hat sich die Zahl der Eheschließungen fast halbiert, die der Scheidungen jedoch mehr als verdoppelt.26 Damit reduziert sich zusätzlich die Zahl der Schwiegertöchter als potenzielle Betreuungskräfte.27 Da sind Söhne und Schwiegersöhne gefordert, diese Lücke zu füllen – was sie oft genug schon tun. Aber auch ihre Zahl ist limitiert.

Und nun kommen wir, die geburtenstarken Jahrgänge. In der Zeit von 1959 bis 1968 wurden pro Jahr über 1,2 Millionen Kinder geboren. Im Jahr 2010 waren es nur etwas mehr als die Hälfte.28 Das bedeutet etwa vom Jahr 2025 an: eine Menge Menschen im Rentenalter mit nur wenigen Familienangehörigen, die die Betreuung übernehmen könnten. Damit wächst die Bedeutung der professionellen Hilfe.29

Ob Menschen mit Demenz dann in Alten- und Pflegeheimen betreut werden, in Altenwohngemeinschaften, in Mehr-Generationen-Häusern oder in anderen Einrichtungen leben – es geht etwas verloren. Zum einen werden den Kindern diese Menschen als Lehrer fehlen. Denn: „Wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein.“30 Den Menschen mit Demenz werden wiederum die fehlen, die sie am besten verstehen, die Enkel. „Eva, die jüngste Enkelin des Vaters, war das beste Beispiel. Sie kannte ihren Großvater nicht anders als mit Alzheimer und die Zuneigung, mit der sie ihm begegnete, war von solcher Unbefangenheit, dass er ganz selbstverständlich darauf anspricht. Weil das Mädchen in ihrem Kopf frei ist, ist ihr Großvater es in ihrem Beisein auch.“31

Clowns füllen die Enkel-Lücke

Hier können die Clowns helfen. Denn sie füllen die Enkel-Lücke. Natürlich nicht vollständig. Aber sie kommen mit eben dieser Offenheit, Unbefangenheit und Echtheit, ohne Berührungsängste und wollen nichts von den alten Menschen als den Kontakt.

Am Brunnen vor dem Tore

Am Brunnen vor dem Tore,

Da steht ein Lindenbaum:

Ich träumt’ in seinem Schatten

So manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde

so manches liebe Wort;

Es zog in Freud und Leide

Zu ihm mich immer fort.

Ich mußt’ auch heute wandern

Vorbei in tiefer Nacht,

Da hab ich noch im Dunkel

Die Augen zugemacht.

Und seine Zweige rauschten,

Als riefen sie mir zu:

Komm her zu mir, Geselle,

Hier findst du deine Ruh!

Die kalten Winde bliesen

Mir grad in’s Angesicht;

Der Hut flog mir vom Kopfe,

Ich wendete mich nicht.

Nun bin ich manche Stunde

entfernt von jenem Ort,

Und immer hör ich’s rauschen:

Du fändest Ruhe dort!

Text: Wilhelm Müller (1794–1827)

Melodie: Franz Schubert (1797–1828)

KAPITEL 2,DEMENZ – EIN PHÄNOMEN

Demenz – vor vielleicht dreißig oder vierzig Jahren beschäftigte sich nur eine überschaubare Zahl von Betroffenen und Wissenschaftlern damit. In der Öffentlichkeit gab es allenfalls ein paar Witze über Alzheimer. Das hat sich geändert, zwangsläufig. Dennoch wird Demenz oft als Phantom wahrgenommen. Es ist schwer, sie klar zu fassen, und – so sehr man sich auch bemüht – sie ist nicht zu bändigen.

Wenig Wissen, viele Spekulationen

Diese besondere Situation liegt nicht nur an der schwierigen Diagnose und dem in der Tat teils unklaren Verlauf der Demenz. Einen wesentlichen Grund stellt die Begrenztheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse dar. Allen Fortschritten zum Trotz weiß man immer noch nicht, was Demenz genau verursacht, geschweige denn, wie sie zu heilen wäre. Mit großer Berechtigung wird inzwischen gar infrage gestellt, ob verschiedene Formen überhaupt eine Krankheit sind. Aber der Reihe nach.

Der Begriff Demenz ist aus zwei lateinischen Wörtern abgeleitet: aus „de“, das heißt „weg“, und „mens“, was „Geist“ oder „Verstand“ bedeutet. Der Geist bewegt sich weg vom Menschen, verlässt ihn. Medizinisch gesehen stellt Demenz einen Oberbegriff dar, der eine Vielzahl verschiedener Symptome und Veränderungen zusammenfasst. Demenz wird inzwischen nicht nur als Ausdruck kognitiver Störungen, sondern einer umfassenden Veränderung des Erlebens und Verhaltens bei den Betroffenen gesehen.32 Die Beeinträchtigungen betreffen das Kurz- und Langzeitgedächtnis, die Möglichkeiten des abstrakten Denkens und des Urteilsvermögens, die Sprache sowie die Fähigkeit, Gegenstände in ihrer Funktion zu erkennen und zu verwenden.33 Zudem ist die räumliche und zeitliche Orientierung eingeschränkt. Den vermutlich größten Effekt aber hat die Demenz für die Betreffenden in einem veränderten Erleben von sich selbst. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Handeln, erleben sich im Fühlen und Handeln nicht mehr als Einheit, erkennen sich nicht wieder.34 Eine schwere Last.

Grundsätzlich wird unterschieden zwischen primären und sekundären Formen der Demenz. Bei den primären, etwa neunzig Prozent der Fälle, liegt die Ursache in einer unmittelbaren degenerativen Veränderung des Gehirns. Was dies auslöst, kann noch niemand sagen. Bei den sekundären Demenzen ist die Schädigung des Gehirns Folge einer anderen Erkrankung (Tumor), eines Unfalls (Trauma) oder aufgrund langjährigen Missbrauchs von Drogen (Alkohol, Nikotin etc.). Zum Beispiel sollen allein in Deutschland 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig sein – und damit ein erheblich höheres Demenz-Risiko tragen.35 Auch Stoffwechselerkrankungen, Vergiftungen, Vitaminmangel oder Depressionen können zur Demenz führen.36 Doch da beginnt schon die Grauzone. Wo fängt eine Demenz an, wo sieht es nur so aus? Ungefähr fünfzig Erkrankungen werden aufgelistet, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können.37

Bei Alzheimer, der mit Abstand häufigsten primären Form, schien vieles geklärt zu sein – nach jahrzehntelanger Forschung. Doch der Schein trog. Als sicher kann bis heute nur gelten, wie wenig man weiß: Die Ursachen und auslösenden Faktoren von Alzheimer kennt niemand, sind ein „molekulares Rätsel“.38 Giftige Eiweiße, die als Abfallprodukte des Gehirn-Stoffwechsels nicht vollständig entsorgt werden können und größere Klumpen, sogenannte Plaques, bilden, galten bisher als wesentliche Ursache. Inzwischen weiß man, dass fast ein Drittel aller alten Menschen in unseren Lebenssystemen solche Veränderungen aufweist – aber noch lange nicht jeder Alzheimer-Symptome zeigt.39 Und schon der Entdecker, Alois Alzheimer, schrieb 1911: „Die Drusen (d. h., die Plaques) (sind) nicht die Ursache der senilen Demenz, sondern nur eine Begleiterscheinung.“40

Ähnliches gilt für die sogenannten Fibrillenbündel. Ein Transport-protein, das Gehirnzellen verklebt und fädrige Strukturen bildet, sollte zusammen mit den Plaques die Reizleitung in Teilen des Gehirns verhindern und so das Absterben nicht genutzter Nervenzellen verursachen.41 Doch tatsächlich ist die Korrelation von Plaques/Fibrillenbündeln und kognitiver Einschränkung, „wenn überhaupt, eher schwach ausgebildet“.42 Allein als „zweifelsfrei geklärt“ gilt, dass die Alzheimer-Demenz „heterogene, multifaktorielle und altersbedingte Ursachen“ aufweist.43 Dazu später mehr.

Kleine Hirninfarkte, große Wirkung

Als zweithäufigste Form der Demenz gilt die sogenannte vaskuläre Demenz. Störungen der Durchblutung verursachen viele kleine und größere Hirninfarkte, die zum Teil vom Betroffenen nicht wahrgenommen werden, aber in der Summe große Schäden verursachen können.44 Neun von zehn an Demenz Leidenden weisen Alzheimer oder vaskuläre Demenz auf, häufig in Kombination.

Außerdem gibt es noch die sogenannte Lewy-Body-Demenz. Dabei lagern sich Lewy-Körper genannte Proteine im Gehirn ab und verhindern die Produktion wichtiger Botenstoffe, ähnlich wie bei Alzheimer. Bei dieser Form sind neben dem Gedächtnis vor allem Aufmerksamkeit und Wachheit eingeschränkt, zudem erleben die Betroffenen Sinnestäuschungen.45