Codename Eisvogel – »The Kingfisher Secret« - Anonymous - E-Book
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Beschreibung

Wem gehört der mächtigste Mann der Welt?

Ihr Codename ist Eisvogel. Ihre Mission: einen wohlhabenden, politisch einflussreichen Mann zu heiraten.

Oktober 2016: In Amerika stehen die Wahlen an. Die Journalistin Grace Elliott ist einem Knüller auf der Spur, der zum Sprungbrett ihrer Karriere werden könnte. Ein Pornostar ist bereit, über die Affäre mit dem Mann auszupacken, der der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Aber niemand will das heikle Thema anfassen. Stattdessen schickt man Grace auf Reportage nach Europa. Dort stößt sie auf eine noch größere Story, die so explosiv ist, dass sie die Präsidentschaftswahlen entscheiden könnte. Wenn Grace lange genug am Leben bleibt, die Story an die Öffentlichkeit zu bringen.

Spione, Mord und eine der größten Verschwörungen der Gegenwart – um die Quelle zu schützen, die den Thriller motiviert hat, bleibt der Autor anonym.

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Seitenzahl: 435

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DAS BUCH

Oktober 2016: In Amerika stehen die Wahlen an. Die Journalistin Grace Elliott ist einem Knüller auf der Spur, der zum Sprungbrett ihrer Karriere werden könnte. Ein Pornostar ist bereit, über die Affäre mit dem Mann auszupacken, der der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Aber niemand will das heikle Thema anfassen. Stattdessen schickt man Grace auf Reportage nach Europa. Dort stößt sie auf eine noch größere Story, die so explosiv ist, dass sie die Präsidentschaftswahlen entscheiden könnte. Wenn Grace lange genug am Leben bleibt, die Story an die Öffentlichkeit zu bringen.

DER AUTOR

Der Autor bleibt anonym, um die Quelle zu schützen, die den Roman motiviert hat.

Codename

Eisvogel

»THE KINGFISHER SECRET«

ROMAN

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel THE KINGFISHER SECRET bei McClelland & Stewart, Toronto

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der vom Autor in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.

Übersetzung: Luise Filek und Johanna Simon

Copyright© 2018 by Anonymous

Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Übersetzung in Übereinkunft mit McClelland & Stewart, Penguin Random House Canada Limited

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-24332-6V002

www.heyne.de

Spezifische Begriffe aus dem Bereich der Sexpionage sind:

– Honeytrap (»Honigfalle«): verfängliche sexuelle Begegnung oder Situation, die zu Erpressungszwecken inszeniert wird

– Raven (»Rabe«): männlicher Agent, der sexuelle Beziehungen zum Erlangen von Information nutzt

– Swallow (»Schwalbe«): weibliches Pendant des Raven

aus Wikipedia-Eintrag zu »Sexpionage«

1

MONTREAL – 2016

Grace Elliott saß auf einem fleckigen lila Sofa im billigsten Hotel im Zentrum von Montreal. Die Juniorsuite war seit den Achtzigern nicht mehr renoviert worden, als blasse Fotos von Surfern am Strand noch als Kunst durchgegangen waren. Wände und Teppichboden waren löchrig, die Decke schimmelte, und über den trüben Spiegel verliefen neonpinkrote Streifen. Sie befanden sich auf der Raucheretage, und in Zimmer 927 roch es haargenau so, wie man es nach einem Menschenalter Zigaretten-und-Bier-Brodem, Körperausdünstung und Versagen erwarten würde.

Grace fand es ganz wunderbar. Sie merkte sich jedes kleine Detail, damit sie sich später umso besser an diesen Nachmittag zurückerinnern könnte, wo ihre Karriere einen neuen Anlauf genommen hatte.

Ihr Aufnahmegerät lief und zur Sicherheit auch die App auf ihrem Handy. Beide Geräte zeichneten die Reibeisenstimme der auf der Bettkante sitzenden großen Frau auf, die unter dem Künstlernamen Violet Rain agierte. Damit das Interview überhaupt stattfinden würde, hatte Grace ihr als Teil des Deals zusichern müssen, Davidoff-Slim-Zigaretten, Juicy-Fruit-Kaugummi und eine Achtundvierzig-Dollar-Flasche Rioja zu besorgen. Im Augenblick rauchte, kaute und trank Violet gleichzeitig. Trotz der Misshandlung waren die Zähne blendend weiß. Die gelben Flipflops waren leicht ausgeblichen, ihre Frisur und die lackierten Zehennägel sahen jedoch ebenso makellos aus wie die Zähne. Violets künstliche Brüste kamen Grace wie eine wundersame, wenn auch schmerzhafte Last vor, die ihr Gegenüber mit sich herumtragen musste.

»Dann hat er Ihnen also nie Geld gegeben?«

»Was ist denn das für eine Frage? Warum hätte er das tun sollen?« Violet sah sich um, als wären noch andere im Raum, die gleichermaßen beleidigt worden sein könnten. »Ich bin keine Nutte. Ich bin Schauspielerin. War Julia Roberts etwa eine Nutte, als sie den alten Knacker in Pretty Woman gevögelt hat? Nein. Sie hat in dem Film einfach nur die Nutte gespielt.«

Das widersprach völlig der Aussage von Grace’ Quelle. »Entschuldigung.«

»Egal. Sie sind da nicht die Einzige. Meine Eltern und mein ach so frommer Bruder, der das letzte Mal mit mir gesprochen hat, da war ich neunzehn, die kapieren das auch nicht. Sie haben doch auch schon echten Sex gehabt, oder? Das ganze Gestöhne und Aufschreien? Alles nur Schauspiel. Ich bin eine Schauspielerin wie andere auch. Wenn ich nicht auf dem Filmset, sondern im ganz normalen Leben mit jemand zusammen bin, mit einem Verehrer, dann bin ich einfach nur ich, und er ist einfach nur er.«

»Wollten Sie eigentlich immer Schauspielerin werden, Violet?«

»Ich hatte schon in der Mittelstufe und dann in der Oberstufe Theater belegt. Ich hab sogar mal die Julia gespielt, also irgendwie: So süß ist Trennungswehe, ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe. Dass ich seit zwanzig Jahren hier in der dreckigen, französelnden Pornohauptstadt lebe, habe ich mir nicht selber ausgesucht. Ist einfach so gekommen. Aber jetzt habe ich endlich die Chance, den Sprung ins Fernsehgeschäft zu machen – und Sie, Grace, Sie sind mein Sprungbrett.«

Als Amerikanerin fiel es Grace nicht ganz leicht, Montreal als die Hauptstadt von was auch immer anzusehen – als die Hauptstadt der Pornografie schon gar nicht. Bevor sie selbst hatte hierherziehen müssen, war ihr nie bewusst gewesen, welche Vorurteile sie in dieser Hinsicht hegte. Zu Hause war ein wesentlicher Bestandteil ihrer psychologischen Erziehung gewesen, dass alles Moderne und Mächtige und Anständige und Unanständige selbstverständlich aus den USA stammte.

Grace stützte die Ellbogen auf die Knie und lehnte sich so weit vor, dass Violets Zigarettenrauch sich ihr ins Haar kräuselte. Anschließend müsste sie unbedingt duschen, aber natürlich keinesfalls hier. »Wenn er Ihnen kein Geld gegeben hat, was hat er Ihnen dann gegeben? Ich meine, er ist ein ganzes Stück älter als Sie. Sie sehen fantastisch aus, und er … Na ja. Er ist er.«

»Das Alter spielt keine Rolle. Im Grunde genommen sind die meisten Männer widerlich.« Violet seufzte, drückte die Zigarette aus und zündete sich die nächste an. »Ich kann es Ihnen wahrscheinlich auch einfach erzählen. Als Sie wegen dem Interview an mich rangetreten sind, habe ich Sie erst mal auf Abstand gehalten, weil ich keine Petze sein will. Das bin nicht ich – jemand andres in die Pfanne hauen. Er hat nichts Ungesetzliches oder auch nur Unnormales getan – außer man bezeichnet Fremdgehen als unnormal. Wissen Sie, warum ich mich letztlich doch noch gemeldet habe? Weil der Mann ein Lügner ist. Er hat mir versprochen – das schwör ich hoch und heilig –, dass er mich nach New York und L.A. bringt und mich ein paar Produzenten vorstellt. Er wollte für meinen großen Sprung ins Fernsehgeschäft sorgen.«

»Und das hat er dann nicht gemacht.«

»Wie wenn ich Luft wär. Wir waren fünf Mal zusammen, und es stand eigentlich schon kurz davor, also Reality-TV, Serien und so, und dann … nichts mehr. So was lass ich nicht mit mir machen.«

Eine halbe Stunde zuvor hatte Violet von ihrem strengen Elternhaus erzählt. Sie hatte die Highschool abgebrochen und war schon mit siebzehn aus dem nördlichen Ontario nach Montreal gezogen. Ursprünglich hatte sie Model werden wollen, dann nach New York oder London oder Paris gehen, Geld verdienen, die richtigen Leute kennenlernen, um schließlich ins Filmgeschäft einzusteigen. Inzwischen war sie sechsunddreißig und am Ende ihrer Pornokarriere angelangt. Bis vor kurzem hatte sie eine intime Beziehung mit einem verheirateten Versicherungsmathematiker gehabt, die dann an einer Geldstreiterei zerbrochen war.

Beim Zuhören hatte Grace der Gedanke beschlichen, dass ein Pornostar und die Redakteurin eines Klatschblatts durchaus eine Menge gemeinsam haben konnten. Beide waren sie beruflich bedingt in Montreal gelandet und hatten geglaubt, es wäre bloß vorübergehend. Beide hofften sie, dass die anderthalb Stunden hier im Hotel Clementine sie wieder auf den Weg ihrer Träume brächten, dass die Geschichte für sie alles veränderte.

In der Siebten hatte Grace in ihrer Heimatstadt Bloomington in Minnesota einen Schreibwettbewerb gewonnen. Teil des Gewinns war ein Mittagessen in Minneapolis mit einem Lokalreporter der Star Tribune gewesen. Sie konnte sich noch genau an alles erinnern. Es war ihr wie ein Wunder vorgekommen, dass sie sich aus der Karte aussuchen durfte, was immer sie mochte, Hauptspeise und Vorspeise … Ihr hatte sich eine neue Welt eröffnet.

Allerdings war 1998, als sie vorzeitig mit einem Master in Publizistik die Uni verließ, für die Zeitungen ein hartes Jahr. Oder zumindest für eine gewisse Grace Elliott im Zeitungswesen. Sie hatte ihren Lebenslauf an jede große Tageszeitung im Land geschickt, einschließlich die Star Tribune. Weil sie daraufhin so gar keine Antworten erhielt, danach auch an mittelgroße Zeitungen und Zeitschriften. Sie war zunächst geknickt gewesen, dann restlos am Boden zerstört. An der Uni hatte sie sich nie um einen Mentor bemüht, und der Reporter, der sie in Minneapolis zum Essen ausgeführt hatte, war mittlerweile gestorben. Die einzige Reaktion auf ihre Bewerbungen war das Angebot vom Esquire, ein unbezahltes Praktikum zu absolvieren. Allerdings erlaubte ihre finanzielle Lage kein unbezahltes Praktikum, erst recht nicht in einer der teuersten Städte der Welt. Also antwortete sie eines düsteren Wochenendes auf einen halbseidenen Aushang am Schwarzen Brett ihrer Uni, in dem weder der National Flash noch der Sitz dieser Boulevardzeitschrift namentlich erwähnt wurde. Die Konzernmutter war gerade von New York nach Kanada umgezogen, weil der Vorstand einen Mietvertrag über dreißig Jahre ergattert hatte, und zwar für einen Loft in einem alten Lagergebäude in der Altstadt von Montreal, der einen Dollar Miete pro Jahr kosten sollte. Der symbolische Deal hatte etwas mit den wirtschaftlichen Fördermaßnahmen zu tun, die man seit der Wahlniederlage der Separatisten in Quebec ergriffen hatte. Irgendwie hatte Grace nie recht verstanden, wie die Einheimischen eigentlich von all dem profitierten. Der Flash beschäftigte sage und schreibe drei Kanadier.

»Wann ist das Fotoshooting?«, fragte Violet, als sie fertig waren. »Wenn Sie niemand kennen – ich wüsste da wen. Der hat schon Werbung für Guess-Jeans fotografiert.«

»So eine hatte ich sogar schon mal.« Grace juckte es schon in den Fingern. Violet hatte in sämtlichen düsteren, erniedrigenden Einzelheiten von ihrer Affäre mit dem Mann berichtet, der womöglich der nächste Präsident der Vereinigten Staaten würde, wie einige hofften und viele befürchteten. Sie würden beide alsbald in New York ihren Auftritt haben und auf CNN Interviews geben. Noch während Grace die Aufnahmegeräte ausschaltete, hatte Violet den Rioja auf zwei Plastikbecher verteilt, und sie stießen auf all das an, was als Nächstes kommen würde. »Ich schreibe Ihnen, sobald ich die Termine weiß. Aber wir machen es so, dass die Fotos auch garantiert sexy und selbstbewusst aussehen.«

»Auf die Frauenpower!« Violet hob ihren Becher.

»Frauenpower!« Grace stieß mit dem Plastikrand ihres Bechers gegen den von Violet, und sie nahmen beide einen Schluck. Mit ihren bestimmt eins achtzig war Violet deutlich größer als Grace, und sie war wesentlich kurviger. Grace’ letzter Freund hatte sie einmal als »sehnig im positiven Sinne« bezeichnet, und sie hatte sich so verführerisch wie ein ausgemergelter Marathonläufer gefühlt. Während sie ihren Wein tranken, war es so still, dass sie das kopulierende Pärchen im Nachbarzimmer hören konnten.

»Bei ihr ist es eindeutig Fake«, flüsterte Violet. »Also, wie geht’s jetzt weiter?«

»Ich fahre erst mal direkt in die Redaktion und lasse den Vertrag für Sie ausstellen. Bis wir die Story veröffentlichen, dürfen Sie mit niemand über die ganze Sache reden.«

»Wann kriege ich mein Geld?«

»Sobald die Rechtsabteilung alles geprüft hat. Ich mache denen Dampf. Wenn mein Chefredakteur hört, um was es geht …«

»Glauben Sie, er würde auch zweihunderttausend zahlen? Statt hundertfünfzig? Ich bräuchte echt ein neues Auto.«

»Ich erzähle ihm, dass Sie auf zweihundertfünfzig bestehen. Er wird verhandeln wollen, und so landen wir eventuell bei zweihundert.«

Dass Grace in Violets Sinne argumentieren würde, war ihr herzlich egal. Der Eigentümer des National Flash finanzierte einen Großteil der schlimmsten Dinge, die in Amerika vor sich gingen. Ihre alten Unidozenten in Austin wären entsetzt, wenn sie mitbekämen, dass sie ihren Informanten für deren Storys Geld anbot. Aber im Journalismus war eben nichts so, wie Grace es sich damals in den Neunzigern vorgestellt hatte.

Sie trat in den kühlen, aber sonnigen Oktobertag hinaus. Das letzte Laub wirbelte von den Bäumen des nahen Friedhofs und verfing sich in ihrem Haar. Während Grace leicht beschwipst aus dem Stadtzentrum in südöstlicher Richtung zur Altstadt lief, fand sie alles toll, was sie sonst eigentlich immer grässlich fand: die Pfandleiher und Fast-Food-Ketten, die Kippen am Straßenrand, die Graffiti, die mehrfach gepiercten jungen Punks in ihrer schwarzen Lederkluft, die mit ihren räudigen Kötern schnorrend auf Pappkarton herumlungerten. Wie menschlich das doch alles war. Nichts würde ihrem Hochgefühl heute etwas anhaben, war sie doch drauf und dran, die größte – na ja, ehrlich gesagt, die erste – Sensationsstory ihrer Karriere zu landen. Sie war dreiundvierzig, geschieden und aus freien Stücken kinderlos geblieben, besaß eine Zweizimmerwohnung und eine Katze und hatte drei nie eingelöste Rezepte für Antidepressiva im Portemonnaie. Sie verbrachte im Schnitt fünf Abende die Woche allein mit sich und Netflix-Liebeskomödien und trank dazu Wein, der nicht annähernd an die Flasche Rioja heranreichte, die sie für Violet besorgt hatte. Violet Rain! Zwei Monate lang hatte Grace an sie hingebaggert. Selbst ihre renommierten Publizistikprofessoren an der Uni Texas hätten zugestimmt, dass es nicht einfach sei, einen Pornostar zu kontaktieren, dann ein Vertrauensverhältnis zu der Frau aufzubauen und sie mittels diverser Cafébesuche dazu zu bringen, ihre Geschichte öffentlich zu machen.

Der National Flash mochte für ihre Exkommilitonen, die – noch keine dreißig – bei diversen ehrwürdigen Medien untergekommen waren, für alle Zeiten ein Witz bleiben, aber alle würden zugeben müssen, dass Grace’ Erfolg auf hartnäckigem, geduldigem, ethisch einwandfreiem Investigativjournalismus beruhte. Wenn die Geschichte erst einmal einschlug, fand sich vielleicht irgendwo ein Chefredakteur, der ein bisschen Fantasie aufbrachte und Lust am Risiko hatte, und dann würde sie, Grace, den »großen Sprung« machen. Sie würde endlich das sein, was sie schon als Zwölfjährige hatte werden wollen: eine richtige Journalistin.

Grace bedachte Wildfremde mit einem Lächeln. Sie blieb stehen, um einen Golden Retriever zu streicheln. In der nach Vanille riechenden Boutique eine Straße von der Redaktion entfernt probierte sie den Kaschmirschal für dreihundert Dollar an sich aus, um den sie schon seit Monaten herumschlich. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich nicht getraut, ihn auch nur anzufassen. Wer Bildunterschriften für Fotos von aufgedunsenen Promis an Mittelmeerstränden verfasste, verdiente es nicht, Kaschmir anzulangen. Vor dem Spiegel drückte sie die Schultern durch, zerzauste ihr braunes Haar, damit es weich über Schal und Jacke fiel, nahm die Brille ab, setzte sie wieder auf, nahm sie wieder ab.

»Sieht edel aus«, sagte die Verkäuferin.

Sie kaufte den Schal, weil die alte Grace, die Vor-Violet-Grace, ihn sich nie geleistet hätte. Das hier war der Wendepunkt, der Moment ihrer Neuerfindung.

Am Lagergebäude angekommen, rief sie dem Concierge im Erdgeschoss einen Gruß zu und nahm dann zum Loft hinauf die Treppe anstelle des Aufzugs. Ihr Arbeitgeber Steadman Coe, Herausgeber und Chefredakteur des National Flash in Personalunion, saß in seinem verglasten Büro und telefonierte. Er lümmelte in seinem Sessel und hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt, und seine laute Stimme und das aufgesetzt dröhnende Lachen waren selbst durch die Glasscheiben zu hören. Obwohl es draußen kühl war, steckten Coes Füße barfuß in seinen Mokassins. Er trug einen himmelblauen Anzug und dazu eine schwarze Krawatte. Er rasierte sich zwar allmorgendlich den Schädel, aber zu dieser Tageszeit zeichneten sich rund um die Ohren bereits wieder die ersten Stoppeln ab. Die Zeitschrift war tags zuvor in den Druck gegangen, daher waren sie quasi allein im Büro – einmal abgesehen von den Gamedesignern, die zur Untermiete im nordwestlichen Eckchen residierten. Grace drehte Coe den Rücken zu und übte im Stillen, was sie ihm sagen würde. Im Spiegelbild in der Scheibe, mitsamt dem neuen Schal, sah sie, wie sie mit den Lippen die Worte formte. Sie stand krumm da. Warum stand sie eigentlich immer so krumm da? Sie richtete sich gerade auf und drückte die Schultern wieder durch. Das hier wird die größte Story meiner Karriere – und deiner auch.

Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter. Die Wolken über dem Sankt-Lorenz-Strom leuchteten pink und lila. Immer wieder berührte sie den neuen Schal, der auch jetzt noch leicht nach der Vanille aus der Boutique roch. Bei ihren letzten drei Arztbesuchen anlässlich der typischen Ängste einer Frau mittleren Alters – irgendwas in der linken Brust fühlte sich komisch an, ein Knötchen in der rechten Kniekehle, Kopfschmerzen, die nichts mit dem Weinkonsum zu tun haben konnten – hatten die Laborbefunde nichts, nichts und wieder nichts ergeben. Die anschließende Fragestunde zu ihrem seelischen Wohlbefinden war dann nicht ganz so erfreulich verlaufen. Grace würde sich selbst nie als depressiv bezeichnen, auch wenn der Arzt genau das behauptet hatte. Erst jetzt, wo sie im zweiten Stock des annähernd verwaisten Lagergebäudes stand und Steadman Coe hinter Glas ins Telefon kläffte und brüllte, stellte sie ihre Selbstdiagnose: Sie fühlte sich schlicht und ergreifend unerfüllt. Sie schöpfte ihr Potenzial nicht voll aus. Sie hatte sich in Selbstmitleid gesuhlt, als hätten der Journalismus, ihr Exmann und die Weltwirtschaftsordnung dieses Leben für sie vorherbestimmt. Wie hatte ihr das – die zugrunde liegende Wahrheit – in all der Zeit entgehen können? Sie hatte doch alles selbst in der Hand.

»Ich hab es selbst in der Hand.«

»Du führst Selbstgespräche, Gracie.« Steadman Coe stand in der geöffneten Bürotür. Im Mundwinkel hing eine unangezündete Zigarre.

Gerade stehen, Schultern zurück.

Coe setzte sich in den Sessel und legte die Beine wieder auf den Tisch, und noch ehe Grace die Gelegenheit hatte, ihm ihre Geschichte zu erzählen, schwadronierte er bereits von dem kleinen Sieg in Sachen Anzeigenwerbung, den er am Telefon soeben errungen habe. Während anderen Printmedien die Werbeeinnahmen ausgingen, könnten sie selbst dank dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf immerhin zulegen.

»Na ja, das ist ja dann bald vorbei.«

»Nicht, wenn er gewinnt«, sagte Coe. »Die ganzen Meinungsforscher, die unterschätzen und missverstehen unsere Leserschaft, deine Leserschaft, Gracie …«

Unwillkürlich ließ sie die Schultern wieder nach vorn sacken. »Steadman …«

»Es ist fast sechs. Was machst du überhaupt noch hier?«

»Ich bin da seit zwei Monaten an einer Sache dran …«

»Du solltest zusehen, dass du öfter mal rauskommst. Urlaub machen. Yoga oder so einen Mist. Oder einem Verein beitreten.«

»Ich mache bereits Yoga. Und jetzt hör mir bitte zu!«

»Ich hör doch zu.«

»Ich komme gerade von einem längeren Interview mit einem Pornostar namens Violet Rain.«

»Schön. Hast du mir ein Autogramm mitgebracht?«

»Die vor vier Jahren eine Affäre mit Anthony Craig hatte.«

Coe nahm die Beine vom Tisch und legte die Zigarre in die leere Kaffeetasse vor ihm. Das Lächeln war mitsamt der restlichen Sommerbräune aus dem Gesicht verschwunden.

Grace erzählte ihre Geschichte bis zu der Stelle, wo sie im Hotel Clementine mit einem Glas Rioja angestoßen hatten. Ja, zweihundertfünfzigtausend Dollar seien eine Menge Geld, aber in nicht einmal einem Monat fänden die Wahlen statt. Und mit der Story würden sie, kurz und gut, den größten Knüller der Welt landen.

Als Coe das Wort ergriff, klang er ungewöhnlich kleinlaut. »Jeder weiß, dass er Affären hat. Seine Scheidungen …«

»Aber mit Pornodarstellerinnen? Du willst einen Präsidenten, der Affären mit Pornostars hat?«

Er zuckte die Achseln. Sein Gesichtsausdruck war nicht annähernd der, mit dem sie gerechnet hatte. Grace wusste, dass Coe in dem leise vor sich hin brummenden kleinen Kühlschrank in der Büroecke flaschenweise Veuve Clicquot aufbewahrte. Sie war davon ausgegangen, dass er an diesem Punkt längst eine geköpft hätte. Das hier war der Coup des Jahres, und es gäbe sogar Onlinematerial. Violet hatte haufenweise Bilder auf ihrem Handy: schlüpfrige Beweise!

»Gibst du mir eine Minute? Ich rufe schnell Jack an.« Er erhob sich langsam aus dem Schreibtischsessel.

»Steadman, ich weiß, dass er im Prinzip einer der Unsren ist, weil praktisch alle unsere Leser hinter dem Mann stehen. Aber das hier …«

»Gib mir eine Minute. Und mach die Tür hinter dir zu.«

Sie ging aus dem Büro und steuerte ihren Schreibtisch an, ließ sein Gesicht hinter der Glasscheibe aber nicht aus den Augen. Jack Dodson war der Eigentümer des National Flash und besaß daneben auch diverse Casinos und Hotels und eine aufsteigende Hamburger-Kette mit evangelikalen Wurzeln. Er war einer der Hauptsponsoren von Anthony Craigs Wahlkampfkampagne und dessen Partei. Dann wieder war Dodson selbst Journalist gewesen; er würde es begreifen.

Es dauerte doch keine Minute, dass Steadman Coe sie wieder zu sich winkte.

»Setz dich«, sagte er, kaum dass sie zur Tür herein war.

»Ich bleibe lieber stehen. Schieß los.«

»Von wem hast du das Ganze?«

Grace war nicht verpflichtet, ihm das zu verraten. Ein richtiger Chefredakteur von einer richtigen Zeitung würde so etwas auch nie fragen. Sie seufzte. »Wieso?«

»Es könnte dein Verhältnis zu Elena aufs Spiel setzen.«

Grace hatte sich das mehrfach durch den Kopf gehen lassen, vor allem weil Elena tatsächlich ihre Quelle war. Die Sache war ihr nach ein paar Gläsern Champagner einfach so herausgerutscht, aber eine richtige Journalistin fackelte da nicht lange. »Das kann gut sein, aber …«

»Wir kaufen die Story.«

»Echt jetzt?« Sie klatschte in die Hände. »Ehrlich, Steadman, ich habe schon mit dem Schlimmsten gerechnet.«

»Wir zahlen ihr zweihundert.«

»Das wird sie freuen. Die Story habe ich morgen Abend im Kasten. Wir müssen den Fototermin erst noch machen, aber die vom Layout sollen ruhig schon mal …«

»Wir kaufen die Story, Gracie. Aber wir bringen sie nicht. Gib mir ihre Nummer. Jacks Anwalt kümmert sich darum.«

»Was? Warum?«

»Es ist zu dicht an der Wahl. Das wäre unlauter.«

»Auf dem Cover am Freitag ist Roseanne Barr im Bikini.«

Er zuckte wieder die Achseln. »Hab nicht ich entschieden.«

»Das ist ein Fehler, Steadman. Wir machen zwar oft das Falsche, aber das wäre komplett verkehrt. Wir müssen die Story bringen. Die Leute müssen von der Sache mit Violet erfahren, mit ihm …«

»Tut mir leid, Gracie.«

Das war der richtige Moment, einen Schlussstrich zu ziehen und alles hinzuschmeißen. Sie hatte keine andere Wahl. Dann wiederum ging ein Drittel ihres Gehalts allein für die Zahlungen an ihre Mutter drauf, für das Heim in Florida, und ihre eigene Hypothek stotterte sie auch immer noch ab. Sie hatte keinerlei Ersparnisse. In ihren Augen brannte es, aber sie würde vor Steadman Coe jetzt nicht nicht nicht in Tränen ausbrechen. Stattdessen langte sie über den Schreibtisch zur Kaffeetasse, nahm die kubanische Zigarre heraus – am einen Ende war sie widerlich feucht –, brach sie in zwei Stücke und pfefferte dann alles an die Wand.

»Ich hätte da was, was dich bestimmt wieder aufmuntert.«

Anstatt Coe auch nur einen Augenblick länger ins botoxstarre Gesicht zu sehen, marschierte Grace aus seinem Büro.

»Du warst doch noch nie in Europa, oder?« Er lief ihr nach, und sie hörte die Lederabsätze seiner Mokassins über das Parkett klackern. Sonst war es in der ganzen Redaktion mucksmäuschenstill. Sogar die Spieleentwickler waren mittlerweile nach Hause gegangen.

Grace warf den neuen Schal in den leeren Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. Der Schal war jetzt nur noch ein Zeichen ihres Versagens, genau wie das als Witz gedachte Barry-Manilow-Foto an ihrem Arbeitsplatz und die einsame Gerbera in dem Champagnerglas, die sie sich selbst gekauft hatte. Sich selbst gekauft.

Was hatte sie sich eigentlich vorgestellt? Natürlich hatte das Ganze nicht gut gehen können. Für Grace Elliott oder überhaupt die Elliotts war noch nie irgendetwas gut gegangen. Sie war verflucht – genau wie ihre blinde Mutter und ihr toter Vater und ihre armen, vergessenen Großeltern und zuvor die Urgroßeltern. Auf dem Heimweg würde sie irgendwo anhalten und eines der Rezepte einlösen. Mit dem Medikament und einer Flasche australischem Billigwein ließe sich die Sache erledigen.

Coe lehnte sich vor und ließ eine edle Büttenkarte auf den Tisch fallen. Das Logo kannte sie nur zu gut: La Cure Craig. Darunter hatte Elena Craig neben ihrer ausladenden Unterschrift noch eine persönliche Notiz angefügt: Planänderung. Begleite mich, duše moje.

»Für die nächste Sitzung mit ihr fliegst du an einen weitaus exotischeren Ort als New York. Deine alte Freundin wird zwar nicht ins Weiße Haus einziehen, aber sie dürfte über ihren Exmann einiges zu erzählen haben. Gracie, denk ganz ruhig darüber nach. Wenn er gewinnt, wenn wir ihm auf unsere bescheidene Weise zu gewinnen helfen, hättest du exklusiven Zugang zu einer seiner engsten Vertrauten. Sie nennt dich bei einem Kosenamen. Du könntest glatt ein Buch über sie schreiben.« Er hielt kurz inne und tippte dann auf die Karte. »Du hast im Sommer keinen Urlaub gemacht, weil du meintest, dir keinen leisten zu können. Also dann. Hier hast du einen. Spesen gehen aufs Haus. Gracie, flieg nach Prag.«

2

NEW YORK – 2014

Ihre erste Nacht in New York seit dem Ausflug an ihrem 21. Geburtstag hatte Grace Elliott in einer Bleibe an einer lauten Ecke in der Nähe vom Times Square verbracht. Aber nicht die Sirenen oder das Geschrei irgendwelcher Verrückten hatten ihr da den Schlaf geraubt. Dagegen halfen die Ohrenstöpsel. Nein, Grace hatte nicht schlafen können, weil sie tags drauf um neun Uhr Elena Craig treffen sollte.

Als Elena sich Anfang der Neunziger von ihrem berühmten Ehemann scheiden ließ, war das in Manhattan ein Riesenskandal und machte weltweit Schlagzeilen. Sie war damit auf jedem Nachrichtensender zu sehen und stand in jeder Zeitung rund um den Globus. Sie ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt und gründete ihr eigenes Unternehmen: La Cure Craig.

Grace schrieb nun schon seit sechzehn Jahren für den National Flash über Promis, hatte aber noch nie einen ganzen Vormittag mit einem verbracht. Sie trug ihr ärmelloses schwarzes Kleid von Gap. Das mit den roten Tupfen. Das beste Stück in ihrem Kleiderschrank. Als sie sich beim Frühstück ein letztes Mal die Liste mit ihren Fragen durchlas, verschüttete sie ein bisschen Kaffee, sodass einer der Tupfen nun eher braun war.

Der Termin mit Elena Craig fand im Vorzeigespa von La Cure Craig gleich bei der Central Park West statt. Sie hatte beschlossen, zu Fuß zu gehen, um ein bisschen herunterzukommen und gleichzeitig etwas von der Stadt zu sehen. Es war leider ein ungewöhnlich windiger Märztag. Ihre Haare wehten in alle Richtungen. Als sie ankam, war aus ihrem Taylor-Swift-Bob eine Frisur wie nach einer Küstenfahrt geworden. Ihre Gastgeberin, die auch als Model für Wikingergewänder hätte durchgehen können, hatte jede Menge schwarzen Lidschatten aufgetragen. Grace kam es wie viel zu viel vor, sie wusste aber, dass der Eindruck täuschte. Als jemand aus dem Mittleren Westen nahm sie praktisch qua Geburt an, dass der einzige modische Fehltritt in New York nur der eigene sein konnte.

La Cure Craig bestand hauptsächlich aus Glas. Neben den Lüstern und der Treppe waren selbst die Sitzmöbel aus Kristall. Dazu gab es makellos weiße Lederkissen. Der Flügel im Eingangsbereich war ebenfalls aus Kristall, und bei ihrem ersten Besuch der Wellnesseinrichtung an jenem zweiten Frühlingstag im Jahr 2014 spielte er von allein eine Chopin-Sonate. Wenn etwas im La Cure Craig nicht aus Kristall bestand, dann war es weiß.

Warum Kristall? Aus einer Netflix-Serie über die Schönen und Reichen, in der es in einer Folge um Elena Craig ging, hatte Grace erfahren, dass böhmisches Kristallglas als feinstes der Welt gelte. Bier und Glas seien Schlüsselelemente der tschechischen Kultur, so wie Sushi und Sake in Japan oder Ahornsirup und überflüssige Entschuldigungen in Kanada. Im Eingangsbereich des Spas roch es süßlich nach Kräuteraufguss. Während Grace darauf wartete, dass Elena Craig zum Kennenlerntermin erschien, konzentrierte sie sich zur Beruhigung auf den Chopin. Es gab da eine Bezeichnung für diese Art von Klavieren, die von allein spielten, aber das Wort fiel ihr momentan nicht ein. Sie war so müde und nervös, dass ihr Kopf sie im Stich ließ. Das linke Augenlid zuckte ständig.

Um exakt neun Uhr kam Elena Craig in einem derart weißen Kostüm die Kristalltreppe herabgeschritten, dass es als Tarnkleidung hätte dienen können. Grace stand zur Begrüßung auf, wobei sie sich ausgesprochen mickrig fühlte. Sie beide waren zwar ungefähr gleich groß, aber Elena hatte etwas Gigantisches an sich. Sie konnte einen Raum ganz allein füllen, was im Fernsehen so nie rüberkam. Es gab zweierlei Medienstorys über Elena Craig. In der einen Lesart war sie das Trophäenweibchen mit dem lustigen Akzent, das seinen Platz in der obersten New Yorker Gesellschaftskaste nicht verdient hatte. In der anderen war Elena eine eindrucksvolle, intelligente Frau, die kultige Luxuskarossen entwarf, eine der erfolgreichsten amerikanischen Spa-Ketten lanciert hatte und als engste Beraterin ihres Exmannes galt. Grace’ Bauchgefühl sagte ihr, dass die zweite Version stimmte und die erste von Männern erdacht worden war und vertreten wurde, die sich von Elena Craig eingeschüchtert fühlten und dabei kein Vergnügen empfanden.

»Ms. Elliott?«

»Sagen Sie ruhig Grace.« Sie streckte ihr die Hand hin.

Elena ergriff sie und drückte kräftig zu. Sie schien Grace von unten bis oben zu mustern, angefangen von den billigen Kaufhausschuhen über den Kaffeefleck auf dem Kleid bis hin zu dem abklingenden Pickel auf der Stirn. Grace bemühte sich, den Fleck mit ihrem Notizblock zu verdecken, aber Elena schien irgendwie hindurchzublicken. Noch bevor die Frau zu sprechen begann, war sich Grace sicher, dass man sie abweisen würde. Sie war nicht schlau genug, nicht modisch genug, einfach nicht genug, sich in der Gegenwart dieser Frau aufzuhalten, ganz zu schweigen davon, aus deren Blickwinkel zu schreiben.

»Wann sind Sie angekommen, Grace?«

»Gestern.«

»Ich hoffe, Steadman Coe hat Sie für das Geld, das ich ihm angewiesen habe, in einem anständigen Hotel untergebracht, ja?«

»Oh, alles bestens. Ja.«

»Wirklich?«

»Nein, Ms. Craig. Das Hotel ist schrecklich.«

»Wir werden uns beim nächsten Mal ein besseres aussuchen.« Elena lächelte, wenn auch nur leicht, und nahm Grace bei beiden Händen. »Sie sind nervös. Nicht vertraut mit New York?« Sie führte Grace in einen Privatsalon mit Blick über den Central Park. »Ich erinnere mich noch an meinen ersten Aufenthalt in der Stadt vor langen Jahren. Es ist hier wie nirgends sonst, ja? Man fühlt sich wie eine Ameise. Ja?«

»Ja.« Beinah hätte Grace ja, vielen Dank gesagt. Sie fragte sich, woher Elena all das über sie wusste, wo sie sich doch alle Mühe gegeben hatte, weltläufig und selbstbewusst zu wirken.

»Sie stammen aus dem Mittleren Westen?«

»Stimmt. Woran haben Sie das gemerkt?«

Anstatt die Frage zu beantworten, forderte Elena sie auf, sich zu setzen, und fragte sie, was sie trinken oder essen wolle. Ob sie jetzt oder lieber später einen Rundgang durch La Cure Craig machen wolle. Ob sie nach ihrem Gespräch vielleicht eine Massage oder eine Maniküre erhalten wolle.

Elena Craig war das Gegenteil dessen, was Grace sich vorgestellt hatte. Ihre Stärke bestand darin, andere Menschen zur Kenntnis zu nehmen, ihnen das Gefühl zu geben, wichtig und interessant zu sein, und dafür zu sorgen, dass sie sich wohlfühlten. Zehn Minuten später hatte Grace ihr Details aus ihrer Kindheit in Minnesota erzählt, dass ihre journalistischen Ambitionen an den Realitäten einer harten Branche zerschellt seien und sie keinen blassen Schimmer in Sachen Mode habe. Grace dämmerte, dass Elena nun praktisch alles über sie wusste, während sie Elena noch weniger begriff als zuvor.

Bei dem Job ging es um eine wöchentliche Ratgeberkolumne im National Flash, gesponsert von La Cure Craig und namentlich gezeichnet von Elena. Es sollte darin um Mode, Essen, Glamour, Scheidung, Mutterschaft, Wiederverheiratung und um alles gehen, was Coe unter »erschwingliche Märchenträume« verstand.

Elena Craig und Grace Elliott würden sich alle Halbjahr persönlich treffen und sich die entsprechenden Fragen nebst Antworten ausdenken. Für jede Frage würden sie den Namen einer Frau erfinden und ihr einen banalen Wohnort zuordnen. Elena würde die Flug- und Hotelkosten übernehmen und Grace außerdem jedes Mal 120 Dollar Taschengeld zustecken, von denen Coe nie erfuhr.

Schon bei ihrer ersten Begegnung wurde Grace klar, dass sie von Ghostwriting eigentlich keine Ahnung hatte. Das war etwas anderes als Journalismus. Die ersten drei Fragen hatte sie viel zu allgemein in Richtung Elenas grundsätzlicher Weltsicht gestellt.

»Niemand interessiert sich wirklich dafür, ja?«, sagte Elena. »Wollen die Leute nicht eher etwas ganz Bestimmtes wissen?«

Grace lachte.

»Was? Habe ich nicht recht, Grace?«

»Doch. Das ist witzig, aber Sie haben in allem recht.«

»Na, das ist ja witzig. Und auch ein bisschen traurig, so gesehen. Und jetzt, duše moje, bevor wir richtig loslegen, möchtest du einen Mimosa?«

Grace hatte zuvor noch nie einen probiert. »Okay. Und wie haben Sie mich gerade genannt?«

»Das war tschechisch. Heißt ungefähr meine Seele. In Pinocchio – den habe ich mit meiner Tochter gesehen – ist die Seele von dem lügenden Jungen eine Grille.«

»Jiminy Cricket.«

»Genau das bist du.« Elena orderte die beiden Champagnercocktails. »Jetzt stell dir vor, dass du eine Durchschnittsfrau bist, schon in einem gewissen Alter, in Nebraska.« Es schien Elena Spaß zu machen, Nebraska auszusprechen. »Was möchtest du von mir wissen?«

»Na ja, Sie waren mit Anthony Craig verheiratet.«

»Viele Jahre lang.«

»Er ist … prominent.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Warum haben Sie nach der Scheidung seinen Namen behalten? Das Ganze ging doch durch die Öffentlichkeit. Er hat sich Ihnen gegenüber so schrecklich benommen.«

Die Bedienstete war im Nu mit den Cocktails zurück, und Elena blickte ihr beim Bedanken vielsagend in die Augen. Die mit Saft und Champagner gefüllten Glasflöten sahen auf dem Kristalltisch recht hübsch aus. »Duše moje, danke für dein Mitgefühl. Aber das meiste war nur Theater, ja? Das Leben ist wie eine Vorstellung. Und sag mir, ob du dir den Namen Elena Klimentová merken könntest.«

»Vielleicht.«

»Du musst jetzt nicht höflich antworten. Sei ehrlich. Du würdest ihn vergessen. Du hast ihn jetzt schon vergessen, ja? Ich bin eine Geschäftsfrau. Ein Name ist eine Marke.«

Fünf Minuten später hatte Grace etwas zu Papier gebracht:

Liebe Elena,

ich habe meinen Mann erwischt, wie er mich mit einer Freundin von mir betrügt, und die ist noch nicht mal besonders hübsch. Wir lassen uns natürlich scheiden. Aber soll ich seinen Namen behalten?

Herzschmerz aus Hackensack

Nach dem ersten Treffen arbeiteten sie fortan immer spätnachmittags und mit Champagner, der nicht von Orangensaft behelligt wurde. Grace hörte Elena zu. Elena, die sich selbst spielte. Aus den Notizen verfertigte sie dann die halbseitige Kolumne, wobei sie gewisse Schlüsselsätze wörtlich zitierte, damit es authentisch klang.

Für Coe war die Leserverarsche ein Schachzug, nämlich ein äußerst lukratives Schleichwerbungsprojekt. Elena bot es die Möglichkeit, Gesprächsthema zu bleiben. Sie konnte mit der Sorte Frauen in Verbindung bleiben, auf die sie abzielte: den Frauen, die an der Supermarktkasse Klatschzeitungen kauften und sich ein anderes Leben ausmalten. Für Grace waren die Kolumnen, selbst wenn sie nicht unter eigenem Namen schrieb, eine Chance, wöchentlich Millionen von Lesern mit etwas zu erreichen, was sie kreiert hatte. Außer wenn es gerade einen handfesten Skandal gab, war Frag Elena der meistgelesene Artikel im National Flash.

»Die Scheidung selbst war schon schmerzhaft und erniedrigend. Aber Anthony und ich sind Freunde geblieben und im Leben unseres Kindes und hinsichtlich unserer geschäftlichen Interessen und Ambitionen partnerschaftlich verbunden.« Sie nahm einen großen Schluck. »Das darfst du in meiner Kolumne nicht schreiben, aber es gibt noch einen weiteren Grund. Mein Tony wird einmal der mächtigste Mann der Welt sein.«

»Moment.« Grace ließ den Stift sinken. »Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.«

Elena Craig lehnte sich über den Kristalltisch. Unter ihr perlte der Champagner in den Glasflöten. Nicht der Anflug eines Lächelns zeigte sich in ihrem Gesicht. Sie tippte auf ihre Cartier-Armbanduhr. »Wart’s nur ab, duše moje.«

3

PRAG – 2016

Grace Elliott war nur froh, dass sie den neuen Kaschmirschal im Loft in Montreal wieder aus dem Müll geklaubt hatte. Selbst hier am Flughafen, mit ihrem Koffer im Schlepptau, fühlte sie sich damit gleich viel europäischer. Sie war zum allerersten Mal außerhalb von Nordamerika unterwegs. In der Highschool hätte sie einmal auf Klassenfahrt nach Deutschland gehen dürfen, allerdings hatten ihre Eltern die nötigen anderthalbtausend Dollar nicht abzweigen können. Grace war eines von drei Kindern in der Elften gewesen, die daheimgeblieben waren, und selbst dreißig Jahre später war die Scham von damals noch lebendig.

Ihre beste Freundin Manon, deren Tante und Onkel in Frankreich lebten, hatte ihr geraten, dass sie den Jetlag am besten bekämpfe, indem sie am Reiseziel bis spät in die Nacht wach bleibe. Nicht dass der Ratschlag nötig gewesen wäre. Auch wenn sie um die Mittagszeit gelandet war und im Flugzeug, wie sich herausgestellt hatte, kein Auge hatte zumachen können, war Grace so aufgeregt, jetzt in Europa zu sein, dass an Mittagsschlaf gar nicht zu denken war.

Ihr Uber-Fahrer sprach kein Englisch, was Grace nicht davon abhielt, auf alles zu zeigen, was ihr europäisch vorkam: Autos und Busse und Notarztwagen, Bäume, Straßenschilder, Werbetafeln, Kreisverkehre.

»Ist das da kommunistisch?« Grace deutete auf einen Betonkomplex. »Wenn wir uns in Amerika über hässliche Gebäude aufregen, dann nennen wir sie kommunistisch.«

Der Fahrer, der eine schwarze Yankees-Kappe aufhatte, grunzte nur und zuckte die Achseln.

Als sie dann die Altstadt von Prag erreichten, musste Grace sich zusammenreißen, dass sie nicht vom Rücksitz des fahrenden Wagens aus verwackelte Bilder schoss. Aber wie sonst sollte man im Jahr 2016 seiner Begeisterung und Bewunderung Ausdruck verleihen?

Den Flug sowie das Zimmer im Four Seasons hatte Elena für sie übernommen. Im Hotel würde auch die Präsentation ihrer neuen Parfümlinie stattfinden. Es stellte sich heraus, dass Grace’ Zimmer erst eine Stunde später bezugsfähig sein würde. Also schlenderte sie eine Weile im winzigen Terrassengarten des Hotels herum. Es war der 25. Oktober, es wehte ein kalter Wind, und die letzten gelben Weidenblätter wirbelten zur tintenschwarzen Moldau hinunter.

Ein Vogelschwarm flog über die roten Dächer von Malá Strana, der »Kleinseite« am entgegengesetzten Flussufer. Zur bevorzugten Farbpalette der Prager Innenstadt schienen sämtliche Schattierungen des Sonnenscheins zu gehören. Auf der Karlsbrücke wimmelte es von Touristen, die ihre Smartphones gezückt hatten und dem Wind keinerlei Beachtung schenkten. Sie selbst würde sich nach der für vier Uhr anberaumten Pressekonferenz mit Elena auf einen Drink treffen. Grace’ Jacke steckte in ihrem Koffer im Gepäckraum, sodass sie sich gegen einen Erkundungsgang durch die Altstadt und stattdessen für den eleganten Gesellschaftsraum und die Lektüre eines hiesigen Schriftstellers entschied, um sich besser in den Prager Geist hineinzudenken: Das Schloss von Franz Kafka. Allerdings konnte sie sich nur schwer konzentrieren. Zur Aufbewahrung von Wein- und Schnapsflaschen diente im Foyer ein massiver Holzschrank mit einem Spiegel in der Mitte. Immer wieder wanderte Grace’ Blick zu ihrem Spiegelbild, zu ihrem blauen Schal und dem roten Pullover.

Zwanzig Minuten vor Beginn der Pressekonferenz schwärmten Männer und Frauen in schick-nachlässigen Outfits durch das Foyer zum Festsaal im Untergeschoss: Redakteure, Fotografen, kleinere Kamerateams. Zum festgesetzten Beginn der Präsentation ließ Grace ihr Getränk auf das Zimmer schreiben, das sie noch nicht bezogen hatte, und stieg ebenfalls die Treppe hinunter.

Der Festsaal war voll besetzt; ein junger Mann im Zweireiher las ein paar einleitende Worte von seinen Unterlagen ab. Grace schlüpfte auf einen der letzten freien Plätze in der drittletzten Reihe. Der großspurige junge Mann mit dem unüberhörbar britischen Akzent redete von Neu- und Wiedergeburt, und als er schließlich Elenas Namen nannte, trat sie durch eine Tür zu seiner Linken. Wie Journalisten nun einmal waren, gab es nur wenig Applaus, was dem theatralischen Auftritt einen Hauch Lächerlichkeit verlieh.

Die frische Spannkraft in Elenas Gesicht zeugte von der jüngsten Mini-OP zu Beginn des Sommers. Sie hatte sich für ein rotes Kleid mit asiatisch anmutenden Stickereien entschieden, und ihr Haar war strahlend blond. Aus der Entfernung hätte die sechsundsechzigjährige Elena glatt als Elena mit sechsunddreißig durchgehen können, wie man sie von alten Bildern her kannte. Sie hatte sich ihre Athletik und Körperbeherrschung bewahrt, die sie sich in ihrer Jugend als Leistungsturnerin angeeignet hatte.

»O Gott«, murmelte ein Reporter hinter Grace, als Elena innehielt, um den Blick über ihr Publikum schweifen zu lassen. Der Mann klang überheblich. Am liebsten hätte Grace sich umgedreht und ihn gefragt, was das solle. Was habe er gegen sie? Sei sie ihm zu schön? Zu glamourös? Zu stark?

»Als ich beschlossen habe, meine Duftlinie noch einmal ganz neu zu positionieren, wusste ich, dass ich meinen Namen keinem Parfüm leihen wollte, das jeder hätte kreieren können. Was Sie heute Nachmittag erleben werden, ist die Essenz der Früchte und Kräuter und Saaten und Blüten aus meinen zwei Heimatländern – Böhmen und Amerika.« Sie atmete tief ein und fing den Blick einiger Journalisten auf, ehe sie auf ihre Notizen hinabsah. »Dies ist die Geburtsstunde einer neuen Zeitrechnung, und die erfordert eine neue Duftlinie. Ich stelle Ihnen hiermit erneut vor: Elena.«

Der Weißhaarige an der Rückwand fing ein bisschen zu enthusiastisch an, Beifall zu klatschen. Als Grace sich zu ihm umdrehte, kam er ihr vage bekannt vor. Erst glaubte sie, ihn aus dem Fernsehen zu kennen, doch dann fiel es ihr wieder ein: Montreal.

Der Conférencier wechselte mit Elena den Platz hinter dem Mikrofon. »Wir haben für alle Proben bereitgestellt.« Dann wiederholte er sein Sätzchen auf tschechisch. »Gibt es Fragen zur Duftlinie?«

Zweihundert Arme schossen gleichzeitig in die Luft.

»Lester Allan von der New York Times. Ms. Craig, was halten Sie als Amerikanerin mit ausländischen Wurzeln von den Plänen zur Einwanderungspolitik Ihres Exmanns?«

»Zu den Düften?« Der junge Mann auf dem Podium sah sich im Raum um. Ein paar Hände waren immer noch oben. »Gut, Sie bitte.«

»Anna Rocard, Agence France-Presse. Was ist Ihre Haltung als Feministin und Geschäftsfrau gegenüber den Äußerungen, die Monsieur Craig über Frauen getätigt hat, und gegenüber den gegen ihn vorgebrachten jüngsten Vorwürfen der sexuellen Belästigung? Ich meine, Sie selbst haben im Scheidungsverfahren …«

»Fragen zum Duft?« Der junge Moderator klopfte mit seinem Stift auf das Rednerpult.

Grace konnte Elena ansehen, dass es sie enorme Kraft kostete, weiter zu lächeln. Der Mann in der Reihe hinter Grace schnaubte. »Wir wären alle nicht hier – sie nicht und wir genauso wenig –, wenn es nicht um den verdammten Ex von ihr ginge. Das da ist verdammt noch mal nichts anderes als Parfüm.«

Nur noch wenige meldeten sich. »Garrick O’Byrne, BBC. Wenn Ihr Exmann gewinnt, werden Sie dann im Weißen Haus ebenfalls eine Funktion einnehmen? Er nennt Sie einen seiner höchstgeschätzten Berater. Auf welchem Gebiet beraten Sie ihn?«

Ein Mann weiter vorn rief: »Deo!« Die Reporter johlten und applaudierten.

Agence France-Presse, die BBC, die New York Times: Nach der Uni und später noch mit Anfang dreißig waren das genau die Medien gewesen, für die Grace am liebsten gearbeitet hätte – das Nonplusultra für jeden ernsthaften Journalisten. Und genau als eine solche betrachtete sie sich nach wie vor – trotz fast allem, was sie seit dem Studium getrieben hatte. Sie war einfach noch nicht am Ziel angelangt.

Die Sache in Montreal, die mit Violet Rain, hatte ihr die Kluft zwischen ihren Ambitionen – all den hehren Idealen, die sie nach wie vor für sich in Anspruch nahm – und ihrem Arbeitsalltag klar vor Augen geführt. Der National Flash war ursprünglich nur als Übergang in eine bessere Zukunft gedacht gewesen, aber schon bald würde sie zwanzig Jahre dort sein. Zwanzig Jahre! Das war eine lange Zeit für eine Zwischenlösung, eine lange Zeit voller Scham. Wann immer sie in den Vereinigten Staaten war und irgendjemand sie fragte, wo sie herkomme und was sie beruflich mache, griff Grace zu einer Lüge.

Sie sah sich im Raum um. Ein paar Journalisten witzelten immer noch prustend über das Deo. Niemand meldete sich mehr. Einige standen bereits und wollten gehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war in dem Raum ein Reisebudget von einer Million Dollar versammelt – alles nur, um sich ein Kein Kommentar abzuholen.

»Grace Elliott, National Flash.«

Wieder lautes Gelächter. Ein Schweißtröpfchen rieselte ihr das Rückgrat hinab.

»Ms. Craig, würden Sie bitte kurz darauf eingehen, warum für Sie genau jetzt der richtige Zeitpunkt hinsichtlich einer Renaissance in der Parfümindustrie gekommen ist?«

»Danke. Danke, Grace. Bekommt niemand von Ihnen Kopfschmerzen, wenn er die Parfümabteilung von Saks an der Fifth Avenue betritt? Ich schon – und lassen Sie mich erklären …«

Am Ende ihres ausführlichen Vortrags über den biologischen Anbau von Duftgewächsen war nur noch eine Handvoll Journalisten übrig geblieben. Der Moderator erkundigte sich auf englisch und tschechisch, ob es noch weitere Fragen zu der neuen Duftlinie gebe, doch langsam, aber sicher war die Veranstaltung vorbei. Er geleitete Elena durch den Seitenausgang hinaus.

Grace lächelte den übrigen vier Frauen im Raum zu, die ihre Aufnahmegeräte und Notizbücher und Handys und Taschen zusammenkramten. Keine lächelte zurück. Im Vorraum hatte man Kaffee und Kekse bereitgestellt, doch bis Grace den Raum ebenfalls verlassen hatte, waren der Kaffee weg, die Kekse weg, die Parfümproben weg.

Auf der Damentoilette wurde in der Schlange mächtig über Elena hergezogen: über ihre Garderobe, ihren Akzent, ihre Frisur, die überbetonten Augen und Lippen, die Art und Weise, wie sie über sich selbst in der dritten Person sprach. Aber hauptsächlich ging es um ihren Exmann. Weil Grace das bald satthatte, stahl sie sich aus der Warteschlange. Sie kehrte ins Foyer zurück, wo der attraktive Weißhaarige von zuvor sie zu erwarten schien.

»Ms. Elliott. Darf ich Sie hinaufbegleiten?«

Jetzt fiel ihr auch wieder ein, wie er hieß: Josef Straka. Er hatte einmal mit Steadman Coe im Verwaltungsrat des Symphonieorchesters gesessen und besuchte den National Flash Jahr für Jahr zur Weihnachtsfeier. In der Kulturszene Quebecs waren die beiden Männer eher Außenseiter, aber von enormem Einfluss. »Monsieur Straka. Ich wusste gar nicht, dass Sie mit Elena befreundet sind.«

Gemeinsam betraten sie den Fahrstuhl. Er trug einen marineblauen Anzug über einem gestärkten, blütenweißen Hemd und roch dezent nach La Cure Craig. Die beiden oberen Hemdenknöpfe standen offen. Er hielt länger mit ihr Blickkontakt, als jeder andere das in einem Fahrstuhl tun würde, und Grace konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie das als verunsichernd oder väterlich auffassen sollte. Dann fragte sie sich, ob es womöglich Straka gewesen war, der 2014 ihre Frag-Elena-Kolumne bei Steadman Coe eingefädelt hatte.

Er sah sie weiter unverwandt an. Eindeutig irritierend. Dann griff er in die Jacke, zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie ihr.

Als Kafka ihr zu viel geworden war, hatte Grace im Foyer in der Hotelbroschüre geblättert. Das Four Seasons wies alle vier Baustile auf, die den vier großen Epochen der Stadt entsprachen: Barock, Renaissance, Neoklassizismus und Moderne. Sie fragte sich, welche Epoche sie auf ihrem Weg zur Präsidentensuite gerade durchschritten.

Elena stand am Panoramafenster und blickte auf den Fluss hinab. Genau wie Josef Straka war ihre Körperhaltung makellos. In Grace’ Vorstellung waren diese beiden aristokratischen Mitteleuropäer das perfekte Paar. Durch das Fenster konnte sie die Prager Burg sehen, die Karlsbrücke, den Laurenziberg. Die Nachmittagssonne spähte durch die Wolken und beleuchtete die roten Dächer von Malá Strana. Aus dem eleganten Bose-Lautsprecher in der Zimmerecke drang leise Klaviermusik. Auf dem Tisch standen eine halb volle Flasche Wodka und eine Dose Tonic Water, daneben lag eine geviertelte Zitrone.

Elena hielt ein Glas in der Hand und nippte daran. »Duše moje«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

»Es tut mir so leid, was da unten passiert ist.« Grace hatte keine Bedenken, offen zu reden, trotzdem wäre sie mit Elena jetzt lieber allein gewesen. Sie waren nicht richtig Freundinnen, aber Grace sah sich gern so. Dass die Story mit Violet Rain abgeblasen worden war, hatte immerhin einen Vorzug: Grace hatte dadurch Elenas Vertrauen nicht erschüttert. Anstatt in der Küchennische der Suite herumzuwerkeln oder zumindest mit seinem Handy zu spielen, starrte Straka reglos zu ihnen beiden herüber.

»Danke, meine Liebe. Ich hatte schon befürchtet, dass es schlimm werden könnte, und so war es dann auch. Aber die Leute haben ja recht. Ich will immer beides sein – die selbständige Frau und jene Frau. Das ist mein großer Fehler.«

Straka sagte etwas auf tschechisch.

»Nein, Josef, es ist so. Fehler ist genau der richtige Ausdruck.« Elena drehte sich um. Grace hatte mit Tränen gerechnet, zumindest mit Traurigkeit oder bitterer Enttäuschung, doch von alledem keine Spur. In ihrem Blick lag der blanke Trotz.

Ihr letztes Treffen hatte im Frühling in den Hamptons stattgefunden. Anthony Craig war gerade voraussichtlicher Präsidentschaftskandidat der Republikaner geworden, und Elena hatte sich von allem ferngehalten, »um der Integrität der Wahlkampfkampagne willen«. Gemeinsam hatten sie mit einer Flasche Gosset Grand Blanc de Blancs auf dem Balkon gesessen, übers Meer geblickt und am nächsten Schwung Frag-Elena-Texten gearbeitet. Es war warm, aber bewölkt gewesen, und am Strand unten hatte es leicht genieselt. Das blau vertäfelte Strandhaus mit den sechs Schlafzimmern stand inmitten einer Anlage, die Leuten gehörte, die alle eine slawische Sprache sprachen, die gleichen Trainingsanzüge trugen, ständig rauchten, Range Rover und Porsche fuhren und bis tief in die Nacht zechten und zu Techno aus den späten Neunzigern tanzten.

Grace hatte sie noch nie so trübsinnig erlebt. Sie ging davon aus, dass Elena im Präsidentschaftswahlkampf eine größere Rolle hatte spielen wollen und sich nun brutal aus der Maschinerie ausgeschlossen fühlte. Nachdem die Flasche Gosset geleert war, hatte Elena ihr jedoch erzählt, dass sie durchaus zum Parteitag eingeladen worden sei. Sie habe sogar als Rednerin auftreten sollen, aber sie habe abgelehnt. Was ihr gar nicht ähnlich sah, wie Grace fand. Immer wieder äußerte Elena etwas Abfälliges über ihre spezielle Nachbarschaft hier in der Wohnanlage, aber sobald Grace fragte, was das für Leute seien, wechselte sie das Thema. Sie redeten über Anthony Craigs derzeitige Frau und über Violet Rain. Grace kam nicht dahinter, ob Elena eifersüchtig war oder ob sie etwas anderes störte.

Es war bei weitem das bislang seltsamste Treffen mit ihr gewesen.

Liebe Elena,

Ihr Exmann ist voraussichtlicher Präsidentschaftskandidat der Republikaner und tritt im Herbst bei den Wahlen an. Er könnte, wie Sie vor langer Zeit einmal prophezeit haben, der mächtigste Mann der Welt werden. Sie sind nach wie vor Geschäftspartner und irgendwie auch Freunde. Warum verhalten Sie sich also, als wäre gerade Ihr Hund gestorben?

Verwundert aus Westhampton Beach

Hier und jetzt im Four Seasons trat Elena an Grace heran und zog sie mit zu sich ans Fenster der Präsidentensuite. Gemeinsam sahen sie schweigend auf das dunstige, herbstliche Prag hinaus. Die Klaviermusik bildete den perfekten Soundtrack zu der melancholischen Szenerie. Grace hätte sie nur zu gern zum Wahlkampf befragt, aber das hatten heute schon genügend Leute getan.

Straka hinter ihnen räusperte sich. »Ms. Elliott kennt mich.«

»Aus Montreal«, sagte Grace. »Er ist mit meinem Chef befreundet, mit Steadman Coe.«

Elena schüttelte den Kopf. »Ich frage mich manchmal, ob unser lieber Mr. Coe sich nicht ein bisschen zu sehr bemüht, für Tony Begeisterung aufzubringen. Was glaubst du? Ist es zu viel des Guten?«

»Er glaubt, dass es da Überschneidungen unseres Publikums gibt.«

Elena nahm Grace bei der Hand. »Ich hatte eigentlich gehofft, heute Abend mit dir an Frag Elena weiterzuarbeiten, bei Wodka und Tonic und irgendwas Leckerem, Fettigem vom Zimmerservice. Aber mir steht heute nicht der Sinn danach. Die Präsentation war ein Fehler.« Sie seufzte. »Wenn er gewinnt, wischt er ihnen das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht.«

Straka füllte Elenas Glas mit Wodka auf. Tonic und Zitrone überging er ebenso geflissentlich, wie Grace einen Drink anzubieten.

»Morgen, duše moje, fahre ich in meine Heimatstadt.«

»Nach Mladá Boleslav?«

»Du erinnerst dich daran, sehr gut. Du kommst mit. Unterwegs arbeiten wir an Frag Elena. Ja?«

»Ich freue mich darauf.«

Straka legte Grace die linke Hand auf den Rücken und dirigierte sie mit der rechten zur Tür. Es fühlte sich verkehrt an, Elena mit ihm allein zu lassen, auch wenn sie den Grund nicht recht hätte benennen können.

»Ist alles in Ordnung, Ms. Craig?«

»Morgen um zehn, duše moje. Bis dahin geht es mir wieder gut.«

Grace hatte keine Wahl. Sie ließ sich von dem Mann nach draußen begleiten. »Wenn Sie irgendetwas brauchen, ich bin in Zimmer …«

»Sie weiß, wo sie Sie findet, Ms. Elliott«, sagte er an der Schwelle. »Einen schönen Abend.«

Grace hielt noch kurz inne und sah Elena in der zusehends dunklen Präsidentensuite stehen, ehe Josef Straka die Tür ins Schloss schob.

4

MLADÁ BOLESLAV – 1968

Als sie bei der Landesmeisterschaft vom Schwebebalken fiel, wusste Elena Klimentová, dass ihr Leben sich in just diesem Moment geändert hatte. Sie würde nicht unter die drei Besten kommen. Nicht einmal unter die ersten dreißig. Bei ihrem Salto vom Sprungbrett hatte es an Selbstvertrauen gefehlt, und dann hatte sie noch ihre Kür am Stufenbarren verpatzt.

Den Wunsch, die Welt im Gymnastiktrikot zu bereisen, hatte sie von klein auf. Und jetzt, wo Věra Čáslavská in Mexico City sechs Medaillen gewonnen hatte, schien Elenas Traum greifbar zu sein. Sie steht mit gelben Blumen in der Hand auf dem Siegerpodest in Frankreich, Amerika oder Korea. Bescheiden hebt sie den Arm. Kde domov můj ertönt aus riesigen, schwarzen Lautsprechern. Jemand öffnet eine Flasche Sekt, und die Menge johlt, während die tschechoslowakische Fahne wie ein Tuch um ihre Schultern liegt.

Als sie jetzt in Richtung Norden zurück nach Mladá Boleslav fuhren, war der Wind so stark, dass Elena befürchtete, der kleine, blaue Škoda würde von der vereisten Straße in den Graben rutschen. Eisregen trommelte auf die Windschutzscheibe. Ihr Traum, die Hunderte, Tausende Stunden, die sie damit verbracht hatte, alles hatte in einer großen Demütigung geendet.

Ihr war ganz übel davon. Nur zu, dachte sie, flieg in den Graben.