Codename: Ghost - Sawyer Bennett - E-Book

Codename: Ghost E-Book

Sawyer Bennett

5,0

Beschreibung

Ich war mir über die Risiken meiner Arbeit bewusst, als ich den Job bei der Jameson Force Security Group annahm. Ich dachte, dass meine Zeit als Marine mich auf die Gefahr vorbereiten würde, der ich mich zu stellen hatte. Aber kein Training hätte mich jemals auf die Hilflosigkeit vorbereiten können, meine Teamkollegen sterben zu sehen, den qualvollen mentalen und physischen Schmerz der Folter oder die Verzweiflung während der Gefangenschaft. Als ich nach einer fehlgeschlagenen Mission nach Pittsburgh zurückkehre, bin ich voller Schuldgefühle und werde von Albträumen heimgesucht. Ich verbringe meine Tage damit, den Teil von mir wiederzufinden, den ich in der Wüste verloren habe. Der Teil, der mich zu dem Malik Fournier gemacht hat, der ich einmal war. Während die körperlichen Auswirkungen der Folter nachlassen, erweisen sich die emotionalen als viel hartnäckiger. Trost finde ich ausgerechnet bei der Person, bei der ich niemals Mitgefühl suchen sollte, denn Anna Tate hat durch diese Mission noch mehr verloren als ich. Nun ist Anna Witwe und alleinerziehende Mutter einer Tochter, die sie kurz nach dem Tod ihres Mannes zur Welt gebracht hat. Sie bietet mir Trost, den ich nicht verdiene. Während meine Gefühle für Anna wachsen, mache ich mir Sorgen, dass sie mich verlässt, sobald sie die Wahrheit über das, was wirklich passiert ist, erfährt. Ich ziehe Anna genauso fest an mich heran, wie ich sie von mir wegschiebe. Die Hoffnung auf diese verbotene Liebe wird mich vor dem Geist retten, zu dem ich geworden bin. Teil 5 der Jameson Force Security Group-Reihe von New York Times-Bestsellerautorin Sawyer Bennett.

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Sawyer Bennett

Codename: Ghost (Jameson Force Security Group Teil 5)

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Joy Fraser

© 2020 by Sawyer Bennett

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und

Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Englischer Originaltitel: „Code Name: Ghost (Jameson Force Security Book 5)“

Covergestaltung: © Mia Schulte/Sabrina Dahlenburg

Coverfoto: © Shutterstock8

ISBN eBook: 978-3-86495-506-

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-505-1

Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Darsteller, Orte und Handlung entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig.

Dieses Buch darf ohne die ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin weder in seiner Gesamtheit noch in Auszügen auf keinerlei Art mithilfe elektronischer oder mechanischer Mittel vervielfältigt oder weitergegeben werden. Ausgenommen hiervon sind kurze Zitate in Buchrezensionen.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Autorin

Kapitel 1

Malik

Ich ziehe die Decke fester um mich und versuche, ein Zittern zu unterdrücken. Am blauschwarzen Licht um mich erkenne ich, dass die Nacht gekommen ist, doch ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, auf die Tageszeiten zu achten.

Ich weiß nur, dass ich seit Monaten in dieser Holzhütte bin, deren Ritzen mit Lehm ausgestopft sind. So viel weiß ich genau, aber nicht, wie viele Hütten es gibt.

Die Hütte ist lediglich ein Bretterverschlag auf dem steinharten Wüstenboden. Dieser ist eine geologische Besonderheit, genannt Wüstenasphalt. Steine und Sand sind fast wie Asphalt verdichtet. Einer der Gründe, warum ich annehme, mich in der syrischen Wüste zu befinden, was jedoch nicht allzu viel aussagt, da über fünfzig Prozent dieses Landes aus Wüste bestehen.

Meinen Entführern genügt es nicht, mich in dieser Hütte gefangen zu halten. Irgendwann vor meiner Ankunft haben sie ein 3 x 3 Meter großes Loch in den Boden gegraben und einen Stab in der Mitte befestigt, an dem ich nun angekettet bin. Im Stehen reicht mein Kopf kaum bis an die Decke. Selbst auf Zehenspitzen kann ich nicht mehr sehen als das Dach der Hütte. Es gibt keine Tür, nur ein Fenster ohne Scheiben oder Klappläden. Ich bin wie ein Hund angekettet. Ich frage mich oft, warum sie mich in ein Loch gesperrt haben, und die einzige Erklärung ist, dass es Teil der Folter ist. Ich muss sagen, dass es scheiße ist, weder den Himmel noch die Sonne zu sehen oder ihre Wärme zu spüren.

Die Nächte werden langsam recht kalt, weshalb ich annehme, dass in Syrien der Winter beginnt. Ich schätze, dass es nachts so um die 5 °C Grad wird. Die beiden kratzigen Wolldecken, die man mir gegeben hat, kommen dagegen nicht an. Ich kann nachts nicht schlafen, friere zu sehr und fühle mich elend, sodass ich mich mehr tagsüber ausruhe, wenn es wärmer ist.

Ich erhebe mich von meinem Lager, das nur aus den zusammengefalteten Wolldecken besteht und so weit wie möglich vom Nachttopf entfernt liegt. Nicht, dass das eine Rolle spielt. Meinen Geruchssinn habe ich schon lange verloren, was in diesem Fall ein Gottesgeschenk ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich stinken muss. Ich trage noch dieselben Klamotten, in denen ich gefangen genommen wurde, abgesehen von den Stiefeln, die sie mir weggenommen haben. Schwarze Arbeitshose, langärmeliges schwarzes Thermohemd und Baumwollsocken. Die sind steif und unbeweglich, durchtränkt von Schweiß, Blut und Urin, nach Monaten der Gefangenschaft.

Allerdings nicht von meinen Tränen.

Nicht ein Mal in meiner Gefangenschaft haben sie meine Tränen bekommen.

Steif bewege ich mich durch das Loch im Boden, halte die dicke Kette an meinem Knöchel fest, um nicht darüber zu stolpern. Ich gehe auf die Zehenspitzen und versuche, etwas zu sehen, doch es ist sinnlos. Es gab eine Zeit, da hätte ich mich mühelos aus diesem Loch stemmen können, aber jetzt fehlt mir die Kraft. Sie wurde aus mir herausgeprügelt und -gehungert. Außerdem ist da noch das Problem der Kette um meinen Knöchel.

Als ich geschnappt wurde, war ich nicht erleichtert, noch zu leben. Mir war klar, in den Händen des Feindes zu sein – höchstwahrscheinlich der ISIS –, was bedeutete, auf dem Weg in den Foltertod zu sein. Zusätzlich trauerte ich heftig um meine verlorenen Teamkameraden.

Schnell bin ich gefesselt worden, habe einen Sack über den Kopf gezogen bekommen und bin gefühlte Stunden von dem kurzen Feuergefecht weggefahren worden, in das wir geraten waren. Ich habe immer noch das qualvolle Stöhnen der Männer in den Ohren, die erschossen wurden.

Was als Nächstes kam, ist zu erwarten gewesen. Ich gehörte zur Special-Forces-Einheit der Marines, bevor ich der Privatarmee Jameson Force Security beitrat und das SERE-Training mitmachte.

Survival. Evasion. Resistance. Escape.

Überleben. Flucht. Widerstand. Ausbruch.

Ich bekam nicht die Gelegenheit, meine Überlebens- und Ausbruchsfähigkeiten zu testen. Sie warfen mich direkt in den Widerstandsteil, als sie mir den Sack vom Kopf nahmen und mit der Folter anfingen, damit ich drauflos plauderte.

Gern würde ich behaupten, ich hätte der Folter tagelang widerstanden, aber das wäre nicht die Wahrheit. Der menschliche Körper kann nur bis zu einer gewissen Grenze mithalten, doch im Grunde lag es daran, dass ich einfach nicht die Informationen hatte, die sie haben wollten. Ich gehöre ja nicht mehr dem aktiven Dienst an. Als sie begriffen, dass ich einer privaten Sicherheitseinheit angehöre und in die Hände des Feindes gefallen bin, änderte sich ihr Interesse an mir.

Bevor sie mich verlegten, sagten sie, dass ich wertvoll sein könnte, um beim Austausch von Spionen mit anderen Ländern benutzt zu werden. Oder sie könnten mich vielleicht brauchen, um eine gute alte Enthauptung ins Internet zu stellen, was sich dann viral verbreiten würde, wie die meisten solcher Videos.

Sie stülpten mir wieder einen Sack über, fuhren mich stundenlang durch die Gegend und warfen mich in dieses Loch, in dem ich seit weiß Gott wie lange hocke. Es ist schwer, den Zeitraum im Auge zu behalten, besonders in den letzten paar Wochen, seit ich immer schwächer werde. Ich schlafe viel. Und morgens und abends bin ich oft wie benebelt, und die Zeit verläuft zu gleichförmig, um sie zu begreifen.

Ob ich bei guter Gesundheit bin, ist denen nicht wichtig. Ich bekomme zu essen, aber nicht regelmäßig. Meine Rippen stehen hervor und meine Knie sind knochig. Meistens bringen sie mir Reis, manchmal ein schales und trockenes Gebäck, das sie Ka’ak nennen. Ab und zu mal etwas Ziegenfleisch. Wasser bekomme ich genug, aber es schmeckt rostig. Ich muss mich dazu zwingen, es zu trinken. Mein Urin ist so braun wie das Wasser, was bestimmt bedeutet, dass ich langsam sterbe.

Diese Tatsache habe ich inzwischen akzeptiert.

Ich lasse mich auf meiner Decke nieder, lehne mich an die kalte, schmutzige Wand und wickele die andere Decke enger um mich. Mit geschlossenen Augen denke ich an meine Familie. Ich wette, dass meine Eltern und Geschwister jeden Winkel nach mir absuchen. Und mit Sicherheit nutzt mein Boss Kynan McGrath jeden seiner Regierungskontakte, um dasselbe zu tun. Ohne Zweifel hat mich noch niemand aufgegeben, so wie ich mich selbst. Sie werden nicht ruhen, bis sie Klarheit über meinen Verbleib haben. Das tut mir leid für sie, denn mich zu finden, gefangen in einem Loch mitten in der syrischen Wüste, ist, wie eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen.

Ich bin unauffindbar.

Ich höre Stimmen draußen, aber ich verstehe kein Arabisch. Schon gar nicht kann ich Dialekte unterscheiden. Ich kann nur sagen, dass ich immer zwei Bewacher habe, die sich alle paar Tage abwechseln. Einer ist normalerweise immer wach und der andere pennt auf dem Boden der Hütte. Manchmal höre ich ein Fahrzeug kommen und wieder fahren, wahrscheinlich, um die Wachen zu wechseln und Lebensmittel zu bringen.

Nie reden sie mit mir, und zwar nicht unbedingt, weil sie kein Englisch können, sondern weil ich ein Niemand für sie bin. Nur ein Gefangener, den sie in dem Loch lassen müssen. Sie empfinden mich nicht als Bedrohung, also ignorieren wir uns einfach gegenseitig. Ich glaube, sie müssen mich nur ansehen, um zu merken, dass ich vor langer Zeit schon sämtliche Fluchtpläne aufgegeben habe.

Schritte stapfen über den Wüstenasphalt. Jemand betritt die Hütte und das Gesicht eines Mannes erscheint über mir. Bill starrt mich an.

Nun ja, nicht wirklich. Ich kenne deren Namen nicht, aber da ich diese Männer täglich sehe, habe ich ihnen meine eigenen Namen gegeben.

Bill ist der netteste meiner Bewacher, doch das bedeutet nicht viel. Nur, dass er mir den Behälter mit meinem Essen nicht zuwirft, sondern sich an den Rand kniet und ihn mir reicht, damit nichts ausschwappt. Außerdem ist er der Einzige, der mich ab und zu aus dem Loch holt, aber ich glaube, nicht, weil er ein Herz hat. Er lässt mich nur raus, damit ich in die Wüste kacken oder pissen kann anstatt in den Eimer, den er am Ende auskippen muss.

Diesmal hat er kein Essen dabei, sondern winkt mir nur wortlos zu, ob ich raus will, um mich zu erleichtern.

Diese Chance lasse ich nie aus, ob ich rausmuss oder nicht, also nicke ich schnell.

Bill ist ein starker Mann und weiß, dass ich es mit ihm nicht mehr aufnehmen kann. Er schwingt das Gewehr auf seinen Rücken und legt sich am Rand des Lochs auf den Bauch. Wenn er einen Befehl ruft, den ich nicht verstehe, weiß ich, dass ich meine Hände zusammenlegen soll, damit er sie mir fesseln kann. Ich trete unter ihn, halte die Hände hoch, falte die Finger zusammen, sodass er ein Seil um meine Handgelenke wickeln kann.

Wenn das getan ist, springt er in das Loch und öffnet die Klammer um meinen Knöchel, die an der dicken Kette hängt. Stumm faltet er die Hände zur Räuberleiter zusammen, und ich stelle – wie schon so oft – einen Fuß hinein, sodass er mich hochhieven kann. Er ist stark und kann mich direkt hinauskatapultieren. Meine Landung ist hart und presst mir die Luft aus den Lungen. Bill ist genauso fit wie groß und springt mühelos hinter mir aus dem Loch.

Grob packt er mich am Arm und zerrt mich auf die Beine. Er schubst mich grob und befördert mich aus dem Eingang in die Nachtluft. Es ist frostig, aber gleichzeitig erfrischend. Ich erlebe einen kurzen Moment der Klarheit und eine Welle der Kraft. Sollte ich ihn angreifen? Versuchen, ihm die Waffe abzuringen? Ich blicke zu seinem Partner, meinem anderen Wärter, den ich Mortimer genannt habe. Er sitzt neben einem kleinen Feuer und nagt an einem Knochen mit knorpeligem Fleisch. Wahrscheinlich Ziege. Ich würde töten für einen Bissen, doch ich weiß, dass ich keinen bekommen werde.

Unerwartet schubst mich Bill erneut. Ich stolpere vorwärts und falle auf ein Knie. Über die Schmach, mich nicht wehren zu können, bin ich lange hinaus. Es ist mir egal, dass ich nicht einmal die Kraft habe, stehen zu bleiben, wenn mich jemand stößt.

Bill brüllt etwas auf Arabisch und zerrt mich wieder auf die Füße. Mortimer antwortet etwas und die beiden lachen. Ich starre Bill an und frage mich, ob er eine Familie hat und warum er solche Dinge tut. Wird er gut dafür bezahlt? Glaubt er an die Ziele, die meine Entführer anstreben?

Wieder sagt er etwas zu mir, das ich in einer Million Jahre nicht verstehen werde. Genauso verstehe ich das zischende Geräusch nicht, das ich höre.

Plötzlich explodiert sein Kopf in einer Wolke aus Blut, Knochen und Hirn.

Mortimer flucht scharf. Zumindest glaube ich das, und dann höre ich noch ein zischendes Geräusch und sein Kopf explodiert ebenfalls.

Beide Männer fallen auf den Wüstenasphalt, Bill mir direkt vor die Füße. Erstarrt sehe ich zu, wie Blut aus dem herausläuft, was von seinem Kopf übrig ist, und wie die Pfütze auf meine dreckigen Socken zukommt. Sie glänzt im Mondlicht und sieht beinahe schön aus.

Und dann begreife ich.

Ich bin frei.

Ich sehe auf, blinzele in die Nacht, doch der Schein von Mortimers Lagerfeuer macht es unmöglich, viel zu sehen.

„Hände hoch“, befiehlt eine amerikanische Stimme am Rand der Dunkelheit.

Ohne zu zögern, hebe ich die gefesselten Hände und sehe mich um.

Und dann treten Schatten aus der Schwärze. Meine Teamkameraden von Jameson. Tank und Merritt, mit einer Handvoll anderer Männer, alle in Tarnkleidung und bis an die Zähne mit Gewehren und Granaten bewaffnet.

Im Juni waren Tank und Merritt zusammen mit mir auf einer Mission, um Geiseln zu befreien, als wir in eine Falle gerieten. Bis jetzt hatte ich keine Ahnung, ob sie überlebt haben. Mir wird schwindelig, als mir bewusst wird, was ich hier sehe. Ich hatte sämtliche Hoffnungen aufgegeben, dass dies je geschehen wird.

Plötzlich steht mein Freund Cage Murdock vor mir und meine Beine geben nach. Er schlingt die Arme um mich und hält mich aufrecht. Tank und Merritt kommen näher, um mich genauer zu betrachten, während die anderen Männer die Überreste von Bill und Mortimer untersuchen.

„Ich habe dich, Kumpel“, versichert mir Cage. „Keine weiteren Wächter, oder?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich habe immer nur zwei gesehen.“

Tank sieht sich um und nickt zu der Hütte, in der ich gefangen war. „Wir beobachten alles seit ein paar Tagen. Haben auch sonst niemanden gesehen, aber wir müssen sichergehen.“

„Wir sind sicher“, murmele ich, obwohl ich mir momentan über gar nichts sicher bin.

„Gut“, antwortet Cage und lächelt, tätschelt nicht sehr hart meine Schulter. „Das bedeutet, wir können deinen Arsch nach Hause bringen. Ich wette, das gefällt dir, was?“

Ich knirsche mit den Zähnen und weiß, dass meine Antwort niemals gut genug wäre. Stattdessen gebe ich der Wüste, was ich monatelang zurückgehalten habe.

Ich lasse meinen Tränen freien Lauf.

Kapitel 2

Anna

Es ist erstaunlich, wie effizient ich geworden bin, Avery und mich morgens fertig zu machen. Nicht, dass es besonders schwer wäre, ein vier Monate altes Baby zu versorgen. Ich bade sie abends, sodass ich morgens hauptsächlich die Windel wechseln muss, ihr das niedlichste Outfit anziehe, das ich unbedingt habe kaufen müssen, und sie stillen. Letzteres dauert am längsten, aber es ist auch das Schönste. Fast meditierend sehe ich meiner Tochter zu, wie sie sich ihren Lebenssaft von mir holt.

Danach dusche ich schnell und betrachte Avery in ihrem Maxi-Cosi durch die Duschtür. Dann föhne ich mir die Haare, lege etwas Make-up auf und bin nach anderthalb Stunden aus der Tür, bringe Avery zu meiner Mutter und fahre zur Arbeit.

Ich muss daran denken, wie anders alles wäre, wenn die Umstände anders wären. Zum Beispiel wie viel einfacher, würde ich meiner Mutter nachgeben und zu ihr ziehen, damit sie sich um uns beide kümmern kann. Sie versteht einfach nicht, wie wichtig mir meine Unabhängigkeit ist.

Oder wie viel leichter es wäre, Avery zu versorgen, wenn Jimmy noch bei mir wäre.

Mein Ehemann ist vor sechs Monaten in Syrien umgekommen, als eine Mission schiefging. Jimmy ist der Typ Mann gewesen, der darauf bestanden hätte, sich ebenfalls um Avery zu kümmern. Er hätte Windeln gewechselt und sie morgens angezogen, da ich ja diejenige bin, die sie stillt. Doch auch da wäre er dabei gewesen. Er hätte sich neben mich auf die Couch gesetzt, mich in seine starken Arme genommen und sie genauso verträumt angesehen wie ich, denn sie ist unser kleines Wunder.

Zumindest glaube ich, dass er so gewesen wäre.

Die Zeit vernebelt den Menschen den Verstand, genau wie das Schicksal, schwanger mit dem ersten Kind zur Witwe zu werden. In Wahrheit hatten Jimmy und ich uns erst zwei Jahre gekannt, bevor er gestorben ist. Wir waren beide in der Army und lernten uns kennen, als wir in Ft. Bragg, North Carolina, stationiert waren. Es war eine wilde Romanze, eine versehentliche Schwangerschaft und eine schnelle Heirat. Manch einer mag sagen, dass ich gar nicht voraussagen könne, wie Jimmy als Vater gewesen wäre, denn ich kannte ihn kaum, aber das stimmt nicht. Jimmy war die Art Mensch, der Avery und mich sein ganzes Leben lang abgöttisch geliebt hätte. Nur weil er uns genommen wurde, bevor er das beweisen konnte, heißt das nicht, dass ich diese Tatsache nicht weiß.

Trotz allem will ich eins beweisen: dass ich die starke und unabhängige Frau bin, die Jimmy so bewundert hat. Das hat ihn an mir sofort angezogen. Obwohl er kein Problem damit hätte, dass ich mich auf meine Mutter stütze – was ich mit Sicherheit nach seinem Tod auch getan habe –, würde er von mir erwarten, dass ich Avery ein Vorbild dafür bin, dass man auch mit Schicksalsschlägen im Leben fertig werden kann. Und das versuche ich, indem ich einen Schritt nach dem anderen gehe und weitermache.

Täglich sage ich mir selbst: Du schaffst das, Anna.

Doch heute, während ich Avery im Auto festschnalle, habe ich meinen schwachen Moment. Einmal jeden Tag gebe ich mich der Trauer, dem Selbstmitleid und den Tränen hin. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie ich das loswerden kann, aber der Moment dauert meist nicht lange. Manchmal ist es nur ein dumpfer Schmerz in meiner Brust und ein Brennen der Tränen in den Augen, wenn ich an Jimmy denke.

An anderen Tagen kann ich mich nicht zurückhalten. Während Avery babymäßig vor sich hin plappert und eine Rassel in ihrer winzigen Faust hält, rollen mir warm die Tränen über die Wangen. Es tut weh, das heftige Schluchzen zu unterdrücken, das sich den Weg freimachen will. Ich sacke gegen den Türrahmen, atme durch und verfluche den Himmel, dass er mir den Ehemann und Avery den Vater genommen hat. Kurz gebe ich mich dem Selbstmitleid hin, denn es ist verdammt schwer, eine junge Witwe und alleinerziehende Mutter zu sein. Das habe ich nicht verdient.

Dann fällt mein Blick auf Avery und sie sieht mich nachdenklich an. Ihr Blick ist stechend, und ich glaube, sie weiß, dass ihre Mutter einen schwachen Moment hat. Mit dem Handrücken wische ich die Tränen fort, schniefe durch die Nase und lächele mein kleines Mädchen an. Sie antwortet, indem sich ihre kleinen Mundwinkel heben und sie grinst. Sie schwingt die Rassel und stößt einen kleinen Quietscher aus, der eines Tages sicher ein wunderschönes Kichern werden wird.

Und schon ist mein Moment vorbei.

Ich beuge mich vor und küsse Avery auf die Stirn, ziehe an ihren Gurten, um sicherzugehen, dass sie festsitzen, und wiederhole mein Mantra.

„Du schaffst das, Anna.“

*

Ich gehe am zweiten Stock vorbei, wo sich mein Büro befindet, und hoch in die Gemeinschaftsküche im vierten. Dort gibt es den besten Kaffee und meistens bringt irgendjemand etwas vom Bäcker mit.

Ich arbeite erst seit ein paar Monaten bei Jameson Force Security. Es war Jimmys Job und ich war nur die Ehefrau. Seine Erfahrungen bei der Army haben ihn für den Auftrag als Spezialist für die private Sicherheitsfirma prädestiniert. Er wurde für einen Auftrag, den unsere Regierung der Firma erteilt hatte, eingeteilt. In Syrien Helfer retten, die als Geiseln genommen worden waren.

Meine Rolle ist weit weniger heldenhaft, doch ich bin für sie wie geschaffen. Bei der Army bin ich im Büro tätig gewesen, was mich als Assistentin des Bosses qualifiziert. Kynan McGrath und seine Frau Joslyn haben mir nach Jimmys Tod sehr geholfen. Ständig haben sie sich nach mir erkundigt, mich besucht und mir versichert, dass sie für immer für mich und meine Tochter da sein werden.

Das habe ich nicht unbedingt gewollt, aber Kynan hat nicht gezögert, als ich ihn um eine Arbeitsstelle bat. Ich brauchte etwas, was mir das Gefühl gab, etwas wert zu sein. Seltsamerweise war es genau das, was ich brauchte, für die Firma zu arbeiten, in deren Auftrag mein Mann ums Leben kam.

Jameson ist eine interessante Firma. Sie wurde in Vegas von Kynans bestem Freund Jerico Jameson gegründet. Vor ein paar Jahren hat er sie an Kynan verkauft. Der verlegte das Hauptquartier nach Pittsburgh, damit er an der Ostküste war und näher an der Regierung in D.C.

Die Firma wickelt eine breite Spannweite an Sicherheitsservices ab. Wir haben Technik-Teams, die einfache Sachen wie das Installieren von Haus-Alarmsystemen übernehmen, bis hin zu Teams, die sogar in gefährliche Länder gehen und Menschen retten. Letzteres tun wir erstaunlich oft, denn die sprichwörtlichen Hände unserer Regierung sind oft gebunden, wenn es darum geht, wohin sie ihre Truppen schicken kann. In solchen Fällen, wenn etwas erledigt werden muss, und zwar vollkommen inoffiziell und geheim, heuern sie Privatfirmen an. Ich bin ein bisschen stolz, zu sagen, dass sie sich meistens an Jameson wenden.

Mom kann nicht verstehen, wieso ich bei der Firma arbeite, bei der mein Mann umgekommen ist. Ich habe versucht, es ihr zu erklären, doch sie wird es nie nachvollziehen können. Jimmy hat seinen Auftrag nicht vollenden können. Er hat sein Leben gegeben, als er etwas sehr Wichtiges tat. Das Leben Unschuldiger retten. Wenn ich dieser Firma irgendwie helfen kann, ihre Ziele zu erreichen, habe ich das Gefühl, Jimmy zu helfen, seine Mission zu Ende zu bringen.

Außerdem ist Jimmy nicht das einzige Opfer gewesen. Sein Teamkamerad Sal Mezzina wurde ebenfalls getötet. Und vielleicht noch schlimmer: Sein anderer Teamkamerad, Malik Fournier, war in Gefangenschaft geraten und monatelang festgehalten worden.

Vor zwei Wochen ist Malik jedoch befreit worden. Ich kann gar nicht in Worte fassen, welche Bürde das von meinen Schultern genommen hat.

Aus irgendeinem Grund bin ich sehr in die Suche nach Malik verstrickt worden. Monatelang hatte Jameson Hunderttausende Dollars in geheime Reisen nach Syrien investiert. Wir bezahlten Informanten, verstießen gegen die Wünsche unserer Regierung, von Befreiungsversuchen abzusehen, und durchsuchten das ganze Land nach ihm. Erst nachdem Kynan eine Million Dollar für brauchbare Informationen über Maliks Aufenthaltsort – tot oder lebendig – aussetzte, bekamen wir endlich einen soliden Beweis seiner Gefangenschaft.

Kynan traf die mutige Entscheidung, unser Team zu schicken, das Malik vor seinen Entführern rettete – die Mithilfe unserer Regierung vermeidend oder besser gesagt die Behinderung, denn die müssen immer nach bestimmten Regeln vorgehen.

Diese Nachricht hat mich glücklicher gemacht, als ich seit einer ganzen Weile war. Ich hatte das Gefühl, dass Jimmy und Sal ihre leitenden Hände über unserem Team hatten, das Malik erfolgreich nach Hause gebracht hat.

Seit zwei Wochen befindet sich Malik in Montreal und erholt sich bei seiner Familie. Da seine Mutter Amerikanerin ist und sein Vater Franko-Kanadier, besitzt er beide Staatsbürgerschaften. Sicherlich würde jeder an seiner Stelle eine Weile zu Hause bleiben wollen, um sich von den Strapazen zu erholen. Doch Kynan sagte, dass er bald wieder zur Arbeit komme, und ich kann es kaum erwarten, ihn zu sehen. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass Wunder geschehen können und dass Jimmys Tod vielleicht doch nicht ganz umsonst war.

Wie erwartet liegt eine Schachtel voller Donuts auf dem Tresen der großen Küche, die in den Gemeinschaftsraum übergeht. Auf dieser Etage befinden sich ein paar kleine Apartments, in denen unsere alleinstehenden Kollegen wohnen. In der Küche finden große Team-Essen statt, Zusammenkünfte, und der Aufenthaltsbereich ist wie ein großes Wohnzimmer, ausgestattet mit bequemen Sofas, Fernsehsesseln und einem riesigen Fernseher. Hier veranstaltet Kynan immer eine umwerfende Superbowl-Party, wurde mir erzählt.

Ich schaue auf meine Uhr und sehe, dass ich noch fünfzehn Minuten bis zu meiner Morgenbesprechung unten mit Kynan habe, in der wir seine Termine und Aufgaben für den Tag durchgehen. Ich nehme mir eine Tasse Kaffee, einen Ahornsirup-Donut, setze mich an die Kücheninsel und checke mein Handy. Schon hat Mom mir drei Fotos von Avery geschickt, die ich mir eine Weile ansehe, während ich dabei meinen Donut futtere.

Der frühere Lastenaufzug hält im vierten Stock und die Tür gleitet auf. Ich sehe nicht einmal von meinem Handy hoch, da ich annehme, es wäre Kynan, der sich Kaffee und einen Donut holen will.

„Hi, Kynan“, sage ich und blättere zum ersten Foto von Avery zurück, auf dem sie eine kleine Spuckeluftblase vor den Lippen hat. „Sieh dir das an.“ Ich hebe den Kopf, drehe ihm das Handy zu, und dann bleibt mir der Mund offen stehen wegen des Mannes, der aus dem Aufzug tritt. Er hat eine große Militärtasche über der Schulter.

Malik Fournier.

Wir haben uns erst ein Mal gesehen. An dem Abend vor dem Einsatz, doch die Unterschiede zwischen diesem Mann und dem, der jetzt vor mir steht, sind mehr als deutlich.

Malik war ein großer Mann, und das trifft auf seine Höhe immer noch zu. Doch als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er muskulös. Ein straffes Paket, und er schien genau zu wissen, wie er seine Kraft einsetzen kann. Der Mann vor mir ist viel dünner, auch wenn er in den letzten zwei Wochen bei seinen Eltern sicherlich gut zugenommen hat. Seine Wangen sind leicht eingefallen und seine Augen haben Ringe. Vielleicht dauert es länger als zwei Wochen, um den Schlaf aufzuholen, den er sicherlich in der Gefangenschaft nicht bekommen hat.

Ich weiß, dass es ihm schlecht ergangen ist, denn ich habe Cage nach allen schrecklichen Details ausgefragt, als er nach der Rettung wieder in Pittsburgh war. Erst hat er sich geweigert, aber dann nachgegeben. Weil Cage ein sehr guter Freund geworden ist und besser als jeder andere weiß, wie sehr ich in Maliks Rettung verstrickt war, um endlich inneren Frieden zu finden und über Jimmys Tod hinwegzukommen.

Cage hat mir alle Details erzählt. Nachdem er damit fertig war, wünschte ich, er hätte es nicht getan. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie jemand so etwas überleben kann.

Und dennoch … ihn jetzt vor mir zu sehen, noch nicht wieder ganz der Alte und doch so stark, dass er die Gefangenschaft überlebt hat, trifft es mich so, wie ich es erwartet habe. Es ist wie Balsam für meine Seele, zu wissen, was für ein Wunder es ist, dass er überlebt hat. Obwohl es Jimmys Tod nicht leichter zu akzeptieren macht, nimmt es mir definitiv einen Teil der Trauer und ersetzt sie durch echte Freude, dass Malik das Unmögliche geschafft hat.

Wir sehen uns eine Weile an, dann blickt Malik auf das Handy.

„Süßes Kind.“

Kapitel 3

Malik

Natürlich ist es ein süßes Kind. Es ist das Produkt von Jimmy und Anna, die ein ungewöhnlich schönes Paar waren. Ich habe Anna erst ein Mal vor dem Einsatz getroffen, bei einem Jameson-Treffen auf ein paar Drinks am Abend, bevor wir abgeflogen sind. Ich habe mit Jimmy fast einen Monat gearbeitet und trainiert, seine Frau vorher aber noch nicht kennengelernt.

Ich weiß alles über das kleine Mädchen, das mich vom Display auf Annas Handy ansieht. Von dem Moment an, als ich von meinen Kameraden befreit wurde, konnte ich nicht aufhören, Fragen zu stellen. Cage musste mir wiederholt jedes schmerzvolle Detail, das er über Jimmy und Sal wusste, erzählen, und ich verglich es mit meinen eigenen Erinnerungen. Wie sie gestorben sind und wie ihre Leichen geborgen wurden. Sal ist an einer Schusswunde in die Hauptschlagader verblutet und Jimmy starb an einem Genickschuss.

Die Schuld an den beiden Toden erdrückt mich, und ich kann nichts tun, um diesen Schmerz zu lindern. Vielleicht interessieren mich Anna und ihr Baby Avery deshalb so sehr. Wie übersteht eine Frau es, ihren Ehemann zu verlieren und täglich seine Tochter zu sehen? Als ich vor ihr stehe und sie mich gelassen und willkommen heißend anlächelt, kann ich mir vorstellen, dass es ein anstrengender Akt sein muss.

Ich fühle mich ein bisschen unwohl.

In den letzten zwei Wochen habe ich viel nachgedacht. Erst habe ich mich hauptsächlich ausgeruht. Dann jede Menge gegessen, um meinen Körper wieder aufzubauen. Bei meinen Eltern zu Hause in Montreal zu sein, war genau, was ich brauchte, denn meine Familie steht sich sehr nah und kennt mich ganz genau. Sie umsorgten mich nicht übertrieben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sehr meine Eltern und Geschwister getrauert und sich gesorgt haben mussten, doch sie machten keinen Wirbel um mich, weil sie wussten, dass ich das gehasst hätte.

Meine Geschwister kamen einzeln, um mich zu besuchen. Max und Lucas sind professionelle Eishockey-Spieler und kamen vorbei, als sie in Ottawa spielten. Meine Schwester Simone und ihr Mann Van – ein früherer Hockey-Spieler bei den Cold Fury – kamen für eine Woche, doch genau wie meine Brüder hingen sie nicht die ganze Zeit an mir und betrauerten die Tatsache, dass ich fünf Monate lang ein Gefangener im Mittleren Osten gewesen bin. Van und ich spielten zusammen viel auf der Xbox und Simone kochte mir all meine Lieblingsgerichte. Meine Eltern sahen mich oft nachdenklich an, doch das konnte ich ihnen nicht verübeln. Sicherlich konnten sie genauso wenig glauben, dass ich überlebt habe, wie ich selbst.

Doch dann wurde es Zeit, wieder nach Pittsburgh zu fliegen. Zu meinem Job. Erst da äußerten meine Eltern ihre Meinung und ihre Bedenken. Zwar begründeten sie es mit Worten wie Vielleicht solltest du dich noch eine Weile ausruhen, doch ich wusste, dass sie Angst hatten, dass ich auf die nächste gefährliche Mission gehen und sterben würde.

Das verstehe ich vollkommen, aber sie wissen auch eine andere Sache über mich. Ich laufe nicht vor meinen Ängsten davon und verstecke mich nicht hinter Was-wäre-wenn. Ich stelle mich den Dingen, und der einzige Weg, Syrien hinter mir zu lassen, ist, mir Pittsburgh und meinen Job vorzunehmen.

Allerdings machte ich einen kleinen Umweg und flog erst nach New York zu Sals Familie. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder, also wurde es ein trauriger Besuch bei seinen alternden Eltern, die sich erstaunlich gleichgültig über seinen Tod gaben. Sie waren ziemlich überrascht, mich vor der Tür stehen zu sehen, ließen mich aber freundlich rein. Einen ganzen Nachmittag sprachen wir über Sal. Zwar habe ich ihn nicht allzu gut gekannt, doch ich hätte mein Leben für ihn riskiert. Sie haben mich nicht danach gefragt, was genau geschehen ist an dem Abend, als ich gefangen wurde, was gut so war. Ich habe meinen Bericht noch nicht abgegeben und hätte sowieso keine Details verraten dürfen. Und ich war froh, ihnen nicht erzählen zu müssen, dass es meine Schuld war, dass er und Jimmy sterben mussten.

Ich betrachte das Foto von Jimmys Tochter Avery und frage mich, ob es einmal so weit kommen würde, dass sie erfährt, welche Rolle ich beim Tod ihres Vaters gespielt habe. Anna wird ihr vielleicht alles erzählen, oder auch nicht, und bisher weiß ich noch gar nicht, was Anna genau darüber weiß. Da sie hier arbeitet, ist sie ein bisschen anders und wird wahrscheinlich manche Dinge eher für sich behalten.

Bevor ich Kynan nicht Bericht erstattet habe, kann ich ihr sowieso nicht sagen, was ich in der Wüste alles getan habe. Momentan muss ich meine Trauer und das schlechte Gewissen unter Verschluss halten.

Mein Blick schweift von Avery zu Anna. Sie ist eine unglaublich hübsche Frau mit goldenem Haar und ungewöhnlich blaugrauen Augen, die je nach Lichteinfall die Farbe zu ändern scheinen. In der Bar, in der wir an dem letzten Abend abhingen, hielt ich sie für kornblumenblau, doch in dem Neonlicht der Küche scheinen sie fast silbern mit einem Hauch Himmelblau zu sein.

„Also, du arbeitest jetzt hier, was?“ Die lahmste Begrüßung, die es überhaupt gibt. Ich weiß, dass sie hier arbeitet, denn ich habe Cage gefragt, weil ich wissen musste, ob ich sie zerstört habe, als ich ihren Mann sterben ließ.

„Ja.“ Sie lacht leise, streicht sich Haare hinters Ohr und legt das Handy ab. Ihr Ausdruck wird trauriger und sie senkt kurz den Blick. „Ich musste einfach ein Teil hiervon werden, nachdem …“ Ihre Worte hängen schwer in der Luft, und in meiner Kehle bildet sich ein Kloß. „Das klingt bestimmt albern, oder?“ Sie sieht mich wieder an und versucht, gelassen zu lächeln.

„Nein, gar nicht“, versichere ich ihr und denke mir, jetzt kann ich auch gleich sagen, was gesagt werden muss. Ich räuspere mich. „Hör zu, Anna, das mit Jimmy tut mir furchtbar leid. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es für dich sein muss.“

Ich wappne mich für Tränen und bin überrascht, als ihr Ausdruck weicher wird, ihre Finger mit dem Handy spielen und sie den Blick senkt.

„Für dich war es auch hart. Ich freue mich wirklich, dass du wieder da bist. Das macht alles ein bisschen …“

Sie bricht ab, als ob sie nicht sicher wäre, was das alles zu bedeuten hat. Ich kenne das Gefühl. Den Verlust der Richtung und die Frage, was zum Geier sich das Schicksal dabei gedacht hat, diese Umstände zu erschaffen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt sie den Kopf und sieht mich wieder an. Obwohl ich diese Frau nicht kenne, sind wir durch das Geschehen in der Wüste miteinander verbunden. Es fühlt sich wie ein wichtiger Moment an, und ich habe keine Ahnung, wie ich darauf eingehen soll.

Anstatt etwas Vages zu sagen oder das Gespräch in harmlosere Gefilde zu leiten, sprudelt die brutale Wahrheit aus mir heraus. „Es fällt mir schwer, mit dir zu reden.“

Anna blinzelt erstaunt und runzelt dann die Stirn.

Ich schüttele den Kopf und halte eine Hand hoch. „Es ist nur, weil … ich lebe noch und Jimmy ist tot. Ich hoffe, du weißt, dass ich sofort meinen Platz mit Jimmy tauschen würde, wenn ich die Möglichkeit hätte, alles noch einmal zu machen.“

Anna richtet sich alarmiert kerzengrade auf. „Das würde ich nie von dir verlangen. Von niemandem. Und du darfst nicht so denken. Sei dankbar, dass du am Leben bist. Das musst du feiern, Malik. Ich tue es jedenfalls.“

Tja, das ist leichter gesagt als getan. Arme Anna, die mit dem Tod ihres Mannes und der Erziehung ihres Kindes allein fertig werden muss. Sie wird nie verstehen, warum ich niemals über Jimmys Tod hinwegkommen werde.

Auf ihre Worte hin bringe ich ein Lächeln zustande, unterstütze es noch durch ein leichtes Kopfnicken und hoffe, dass es reicht, um sie von Trauer und Schuld abzulenken.

Dann nicke ich Richtung Flur hinter der Küche, wo sich die privaten Apartments befinden. „Ich werde eine Weile hier wohnen. Kynan hat mir gerade den Schlüssel gegeben, also richte ich mich mal eben häuslich ein.“

In meinem Ton schwingt etwas Endgültiges mit, was anzeigt, dass das Gespräch jetzt beendet ist.

Nickend greift Anna nach ihrem Kaffee. „Okay, klar. Ich wollte dich nicht aufhalten und muss jetzt auch nach unten an die Arbeit. Der Boss ist ziemlich fordernd und so.“

Anna nimmt sich ihre Handtasche, noch einen Donut und ihre Kaffeetasse. Noch ein Lächeln, das ich mit einem kurzen Heben meines Kinns beantworte, und sie ist fort.

Seltsamerweise war dieses Gespräch, auch wenn es mir schwergefallen ist, das ehrlichste seit meiner Befreiung. Ein Teil von mir wünscht sich mehr davon.

*

Mich in meinem neuen Apartment einzurichten, dauert ganze fünf Minuten. Ich muss nur meine Klamotten in die Kommode legen und in die Küchenschränke schauen, um festzustellen, was an Lebensmitteln da ist.

Als ich nach Pittsburgh gekommen bin, um bei Jameson zu arbeiten, habe ich keine Zeit gehabt, mich nach einer Bleibe umzusehen. Ich habe auf der Couch eines alten Marines-Kumpels gepennt, der am Rand der Stadt wohnt. Und dann bin ich sofort für die Mission in Syrien eingeteilt worden, wo Geiseln befreit werden sollten. Ich hielt es nicht für eine zu schnelle Veränderung, von den Marines zu einer Befreiungsmission im Mittleren Osten überzugehen. Ehrlich gesagt, kam es mir eher wie ein alter Hut vor.

Jetzt weiß ich nicht, was die Zukunft für mich bereithält, aber für den Moment ist es die Arbeit bei Jameson, und das Angebot für dieses Apartment ist eine praktische Sache. Ich hätte mit demselben Mitbewohner von vorher zusammenziehen können, will aber diesmal lieber allein sein.

Ich bin hier, um das sprichwörtliche Pferd wieder zu besteigen und ein wertvolles Mitglied des Teams zu sein. Es ist wichtig, hier erfolgreich zu sein, denn bisher habe ich nur versagt, was mehr über mich aussagt, als ich akzeptieren kann.

Ein Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken. Vor allem, weil ich fünf Monate in einem Erdloch gehaust habe. Das Konzept von geschlossenen Türen und Privatraum ist mir ein bisschen fremd geworden.

Ich gehe durch das kleine Wohnzimmer zur Tür und öffne sie schwungvoll. Kynan steht davor. Ich bitte ihn wortlos herein, indem ich zur Seite trete.

„Hast du dich schon eingerichtet?“, fragt er beim Eintreten.

„Fertig und zu allen Schandtaten bereit.“ Ich schließe die Tür und verriegele sie. Nicht aus Gewohnheit, sondern aus Vorsicht. Vielleicht auch nur aus purer Freude, eine richtige Tür zu haben, die man abschließen kann.

Kynan geht zur Couch und setzt sich, nickt zu dem Sessel, der ihm gegenüber steht. Das Apartment ist zwar klein, aber gemütlich ausgestattet. Die Möbel sind hochwertig. Zierleisten an den Decken in jedem Raum und die Küchengeräte sind top. Es ist die schönste Wohnung, in der ich je allein gelebt habe. Ich setze mich mit dem Hintern vorn auf die Kante, falte die Hände vor mir, lege die Ellbogen auf die Knie und sehe Kynan erwartungsvoll an.

„Debriefing morgen früh um 08:00“, sagt er direkt.

Ich nicke und halte seinen Blick. Zwar ist es das Letzte, was ich will, noch einmal alles durchzugehen, was geschah, aber es ist nun mal ein wichtiger Teil jeder Mission. So lernen wir aus unseren Fehlern, dokumentieren alles offiziell und verbergen das, was nicht öffentlich werden und nicht mal an die Regierung gelangen darf, die uns beauftragt hat.

„Kein Problem“, sage ich. „Danach werde ich meinen schriftlichen Bericht auch schnell fertig haben.“

Kynan nickt, reibt sich das Kinn und sieht mich prüfend an. „Corinne wird dabei sein.“

Ich beiße die Zähne zusammen. „Das gehört nicht zum Standardablauf.“

„Vielleicht nicht beim Militär, aber das hier ist meine private Firma“, antwortet er, ohne den Tonfall zu verändern.

Verfickt noch mal.

Corinne Ellery ist die Psychologin für Jamesons Mitarbeiter. Bevor ich den Job hier angenommen habe, musste ich mich von ihr testen lassen. Ich bin nicht blöd … er will, dass sie dabei ist, um zu beurteilen, wie ich mit der Gefangenschaft umgehe.