Codename: Valor - Keira Andrews - E-Book

Codename: Valor E-Book

Keira Andrews

4,0

Beschreibung

Als schwuler Mann im Weißen Haus aufzuwachsen, war nicht gerade leicht für Rafael Castillo. Obwohl er den Codenamen Valor vom Secret Service bekam, fühlt er sich alles andere als tough, während er seine Homosexualität versteckt und versucht, sein letztes Jahr auf dem College möglichst unauffällig hinter sich zu bringen. Es ist bestimmt nicht Teil von Rafas Plan, diesen neuen Agenten an die Seite gestellt zu bekommen, der ein wandelnder Sex-Traum ist. Zumal Shane Kendrick ihn außerhalb der Arbeit nicht mal mit dem Hintern ansieht. Shane hat sich den Job beim Secret Service hart erarbeitet. Den langweiligen Sohn des Präsidenten zu beschützen, ist nicht gerade sein Traum-Job, aber eine leichte Aufgabe. Immerhin schenkt kaum jemand Rafa Beachtung. Bald entdeckt Shane, dass ein liebenswerter junger Mann unter der schüchternen Oberfläche steckt, die Rafa zur Schau trägt. Und obwohl er weiß, dass Rafa Gefühle für ihn hat, redet er sich ein, dass zwischen ihnen nichts ist. In Shanes Leben war noch nie Platz für Beziehungen, und er wird das bestimmt nicht für einen seiner Schützlinge ändern. Shane hat nur eine Mission: für Rafas Sicherheit zu sorgen. Um jeden Preis.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 441

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Keira Andrews

Codename: Valor

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2019

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Valor on Move

Übersetzung: Nora Bendzko

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© iko – shutterstock.com

© Andrea Izzotti – shutterstock.com

© rdrgaraphe – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-316-5

ISBN 978-3-96089-317-2 (epub)

Inhalt:

Er würde sein Leben geben, um den Sohn des Präsidenten zu beschützen. Doch nie hätte er gedacht, dass er auch sein Herz aufs Spiel setzen müsste.

Als schwuler Mann im Weißen Haus aufzuwachsen, war nicht gerade leicht für Rafael Castillo. Obwohl er den Codenamen Valor vom Secret Service bekam, fühlt er sich alles andere als tough, während er seine Homosexualität versteckt und versucht, sein letztes Jahr auf dem College möglichst unauffällig hinter sich zu bringen.

Die Präsidentschaft seines Vaters ist fast vorbei, er muss sich nur noch an seinen Plan halten. Sobald seine Familie nicht mehr im öffentlichen Interesse steht, will er sich vor seinen konservativen Eltern outen und ihnen gestehen, dass er gerne als Koch arbeiten würde. Es war bestimmt nicht Teil von Rafas Plan, diesen neuen Agenten an die Seite gestellt zu bekommen, der ein wandelnder Sex-Traum ist. Zumal Shane Kendrick ihn außerhalb der Arbeit nicht mal mit dem Hintern ansieht.

Shane hat sich den Job beim Secret Service hart erarbeitet. Den verklemmten, langweiligen Sohn des Präsidenten zu beschützen, ist nicht gerade sein Traum-Job, aber eine leichte Aufgabe. Immerhin schenkt kaum jemand Rafa Beachtung. Bald entdeckt Shane, dass ein liebenswerter junger Mann unter der schüchternen Oberfläche steckt, die Rafa zur Schau trägt. Und obwohl er weiß, dass Rafa Gefühle für ihn hat, redet er sich ein, dass zwischen ihnen nichts sei. In Shanes Leben war noch nie Platz für Beziehungen, und er würde das bestimmt nicht für einen seiner Schützlinge ändern.

Shane hat nur eine Mission: für Rafas Sicherheit zu sorgen. Um jeden Preis.

Doch je mehr Sorgen Rafa ihm bereitet, desto öfter muss Shane sich fragen: Würde er auch sein Herz riskieren, wenn es sein muss?

Dieser Gay Romance von Keira Andrews ist der erste Teil der Valor

Kapitel Eins

Wenn ihn einmal jemand fragen sollte, wie es gewesen war, im Weißen Haus aufzuwachsen, würde Rafael Castillo antworten: so berauschend, wie einem Esel die Eier zu lecken.

Und das echt nicht im guten Sinne. (Nicht, dass Rafa irgendein Interesse daran hätte, es einem Esel zu besorgen. Er war nur stark daran interessiert, selbst zum Zug zu kommen, bevor seine Eier so blau wurden, dass sie ihm verschrumpelten und abfielen.)

„Ich geh schlafen, Schatz. Es ist immerhin … Keine Ahnung, scheißfrüh am Morgen halt.“ Ashleigh gähnte laut. „Bin froh, dass du es von deinem bescheuerten Seminar sicher nach Hause geschafft hast.“

Nach Hause. Selbst nach sieben Jahren war es immer noch seltsam, so über das Weiße Haus zu denken.

„Danke. Viel Spaß dabei, wenn du Croissants isst und existenzialistische Gedichte am Ufer der Seine liest. Oder was auch immer die Leute in Paris machen, wenn sie einen Tag freihaben.“ Träge wickelte Rafa seinen Fuß im Laken ein, während er sein altes Poster von Kelly Slater betrachtete.

Seit sie hier eingezogen waren, hing es an der Wand. Seine Mutter hatte ihm verboten, Reißnägel zu benutzen. Stattdessen hatte sie darauf bestanden, das Poster in geschmackvoll rotem Holz einzurahmen, das sich von der blassen, cremefarbenen Wand abhob.

Ashleigh lachte. „Ich habe dir geschlagene zwei Stunden erzählt, was Leute in Paris machen, und nicht ein einziges Mal Gebäck oder Weltschmerz-Poesie erwähnt. Aber ich gebe es ja zu, es ist alles ziemlich glamourös. Selbst als einfache Praktikantin bin ich immer noch bei der Vogue. Letztens durfte ich sogar ein Negligé aus dem Schrank mit nach Hause nehmen. Dem berühmten Vogue-Schrank, übrigens.“

„Oh, là, là.“ Er senkte seine Stimme. „Trägst du es jetzt?“

Ihre Stimme wurde rau. „Na klar. Es ist seidig und schwarz und so gut wie durchsichtig.“ Sie machte eine Pause. „Und was trägst du, Liebster?“

Er lachte. „Das Übliche.“

Mit Ash konnte er reden und Spaß haben, ohne über jedes Wort nachdenken zu müssen. Manchmal wünschte er sich, dass es auch mit dem Rest der Welt so einfach wäre. Aber Ashleigh war nun mal die einzige Person, die ihn wirklich kannte. Sein wahres Ich.

„Hmm. Da du in deinem Zimmer bist, wo dich niemand sehen kann, vermute ich, dass du die üblichen Hosen und Kragenhemden gegen Boxershorts und ein Yankees-T-Shirt mit Essensfleck getauscht hast.“

„Fast. Es ist mein altes Erstsemester-T-Shirt von der Virginia. Der Fleck stammt von einer Pizza.“

„Scharf. Hey, sag deinem Dad noch mal Danke dafür, dass er seine Beziehungen hat spielen lassen. Okay?“

„Mach ich. Sobald er von woher auch immer heimkommt.“ Rafa schielte zu der digitalen Uhr auf seinem Nachttisch. Kurz nach elf – perfektes Timing. Unten sollte es schön ruhig sein.

„Wann hast du eigentlich das letzte Mal mit ihm geredet?“

„Ich dachte, du wolltest schlafen gehen?“

Ashleigh schnaubte, und er konnte förmlich vor sich sehen, wie sie die Augen verdrehte. „Beantworte die Frage.“

„Keine Ahnung. Vor einigen Wochen? Er war ziemlich beschäftigt. Du weißt schon – der G7-Gipfel, die Karelischen Friedensverhandlungen, und dem NRA musste er auch auf die Schulter klopfen. Jedenfalls, geh schlafen. Ich freue mich, dass du eine Freundin gefunden hast, die Renaissance-Gemälde genauso mag wie du.“

„Ja, ich mich auch. Ich glaube, es wird ein echt guter Sommer. Lieb dich, Sweetie!“

„Ich dich auch, Ash.“

Er schaltete sein Handy aus und warf es schmunzelnd neben sich aufs Bett. Ashleigh schätzte Michelangelo wie jeder andere auch, doch allmählich dürften sich die Mitarbeiter, die seine Anrufe überwachten, über ihre Leidenschaft wundern. Obwohl er wusste, dass sich weder der Secret Service noch das Personal vom Weißen Haus für sein Privatleben interessierten und nur die Familie des Präsidenten schützen wollten, hielt Rafa die Maskerade aufrecht.

Er und Ash hatten sich diesen Code ausgedacht, nachdem sie angefangen hatten, zu ‚daten‘. In ihrer Geheimsprache standen Motorräder für heiße Typen. Wenn Rafa zum Beispiel sagte: „Ich hab heute ein großartiges Gerät gesehen – eine Ducati mit rotem Lack“, meinte er, dass er einen knackigen Rotschopf gesehen hätte, den er gerne flachlegen würde. Jede Frau, die sich wie Ash für Renaissance-Gemälde interessierte, war eine Lesbe, mit der sie anbandeln wollte.

Am Anfang war es noch witzig gewesen, in Codes zu reden. Inzwischen war es normal für sie. Vor allem war es effektiv – und das war das Wichtigste. Immerhin machten sie das schon seit drei Jahren, ohne geoutet zu sein. Sie spielten ihre Rollen als junge Liebende perfekt, und es war für sie beide nützlich. Bis jetzt hatte Ashleigh noch nicht den Mut für ein Coming-out vor ihren erzkonservativen Eltern gefunden, und Rafa ging es genauso.

Der Großteil der Welt war weit gekommen, was die Rechte von Homosexuellen betraf, doch die Neokonservative in den Staaten wehrte sich heftig dagegen. Ein republikanischer Präsident, der mit seinem schwulen Sohn im Weißen Haus lebte? Es wäre ein Albtraum für seinen Vater und für Rafa sowieso.

Nur sieben Monate. Sieben Monate musste Rafa noch in Washington bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten aushalten. Und dann wäre er frei.

Er wünschte, Ash wäre bei den Young-Leader-Seminaren dabei, zu denen ihn seine Mutter nach den Uni-Prüfungen verdonnert hatte. Ohne seine beste Freundin waren die Vorlesungen einfach nicht das Gleiche.

Während seines Erstsemesters an der Virginia-Universität hatte ihn der Rest der Klasse schon bei der „Einführung zu Amerikanischen Studien“ angestarrt und verstohlen getuschelt. Abwechselnd blickten sie zwischen Rafa und den Agenten hin und her, die in Khakis und Polo-Hemden an der Rückwand des Vorlesungssaals strammstanden (und sich nicht annähernd ins Gesamtbild einfügten). Da tauchte Ashleigh neben ihm auf und begann, sich über den Wasserdruck im Studentenwohnheim zu beschweren. Außerdem hatte sie sich erkundigt, ob seine „Rowdys“ ihre schnarchende Mitbewohnerin töten und es wie einen Unfall aussehen lassen könnten.

Gähnend streckte Rafa sich auf der Matratze aus. Bevor er hier mit vierzehn eingezogen war, hatte ein Himmelbett im Zimmer gestanden, sogar mit Baldachin. Glücklicherweise war es umgestaltet worden, mit geschmackvollen, erdfarbenen Tönen, einem satten Rotbraun und Grün, und sein Bett hatte keinen Baldachin mehr. Selbst sein Badezimmer hatte man neu gestrichen, in leuchtendem Weiß und Silber. Wenn man von dem Surfer-Poster absah, hätte es ein Hotelzimmer sein können.

Er hatte komplett ausgepackt und alles sorgfältig in seinem Schrank und seiner glänzenden Mahagoni-Kommode verstaut. Das Zimmer seiner Schwester Adriana sah immer aus, als hätte ein Hurrikan es verwüstet, aber Rafa hielt seines immer ordentlich und sauber. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie die Verantwortung für ihre eigenen Räume und Badezimmer übernahmen, und je weniger Grund er ihnen lieferte, ihn zu kritisieren, umso besser.

Nachdem er aufgestanden war und sich Jeans und Sneakers übergestreift hatte, warf Rafa kurz einen Blick in den Spiegel. Er ärgerte sich über seine blöden Sommersprossen, die schon jetzt mehr hervortraten, obwohl der Sommer gerade erst begonnen hatte. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar wellte sich leicht, er hatte es nach seiner allabendlichen Dusche nicht gescheitelt und mit der extra starken Pomade, die er immer benutzte, geglättet.

Er strich die dünnen Locken aus seiner Stirn und machte sich eine gedankliche Notiz, Henry – den Chef des Personals – zu bitten, einen Friseur kommen zu lassen. Seine Haare wellten sich schon über den Ohren. Und das Letzte, was Rafa brauchte, war, wieder als Chia Pet bezeichnet zu werden.

Seine Wangen wurden immer noch rot, wenn er an dieses Internet-Meme dachte. Jemand hatte mit Photoshop ein fusseliges Keramik-Tier, aus dem Chia-Büsche wuchsen, mit seinem Gesicht zusammengeschnitten.

Er hatte gerade erst nach dem Amtsantritt seines Vaters sein neues Halbjahr an der Highschool in Washington begonnen. Mit vierzehn hieß das: schlaksig, pickelig und Mund voll Spangenmetall. Plötzlich sagten seine neuen Klassenkameraden Dinge wie: „Ch-Ch-Ch-Chia!“, wenn er in den Raum kam. Er verstand den Witz nicht einmal, bis er ihn googelte. Die Leute an seiner Schule waren immer nett zu ihm gewesen, aber dieses Meme ließ sie völlig abheben. Obwohl Rafa am nächsten Tag sein Haar um mehrere Zentimeter gekürzt hatte, war der Spitzname geblieben.

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und linste aus seinem Zimmer – offiziell als Raum 303 bekannt. Eigentlich gab es keinen Grund für Heimlichkeit. Die zweite und dritte Etage im Weißen Haus waren die einzigen Orte auf der Welt, an denen er Ruhe vor dem Secret Service hatte. Aber es war die Gewohnheit.

Das Zimmer seines ältesten Bruders, Christian, lag am Ende des Hauptflurs. Aber Chris war siebenundzwanzig und hatte nie wirklich im Weißen Haus gelebt. Jetzt war er in New York, und Rafa war alleine hier oben, wie immer. Zu seiner Linken lagen das Musikzimmer und der Trainingsraum.

Als er auf die Treppe zusteuerte, kam er an dem Zederzimmer vorbei – eine Nische, die ganz mit Zedernholz vertäfelt und früher als Lager für Winterausrüstung benutzt worden war – und dem Wäsche-Raum, der genau das war, wonach er klang. Der Spieleraum befand sich am anderen Ende des Flurs, und einige weitere Schlafzimmer waren auf dem Rest der Etage verteilt.

Hinter dem Wäscheraum kam sein liebster Ort auf der ganzen Welt – die Diet Kitchen. Laut Lexikon waren solche Küchen in Krankenhäusern eingerichtet worden, um den Patienten spezielle Mahlzeiten zuzubereiten. Franklin D. Roosevelt hatte die Diet Kitchen angeblich bauen lassen, weil er das Essen seiner Haushälterin hasste und sein eigenes kochen wollte.

Rafa ging den schmalen Korridor hinunter. Die kleine, rechteckige Küche befand sich genau über der nördlichen Kolonnade, und der Mond schien durch die Fenster in dem schrägen Dach. Zusammen mit dem Ofen, dem Kühlschrank und der Spüle nahmen der Tresen und die Geschirrschränke den Raum fast gänzlich ein.

Es war eine Standard-Küche, und er hatte keine besonderen oder schicken Geräte. Aber es war seine Küche. Zumindest jetzt. Den Großteil des Jahres steckte er im Studentenwohnheim fest, und er sehnte sich danach, wieder Butter in der Pfanne brutzeln zu hören und frische, erdige Gewürze zu riechen. Er würde erst morgen die Pasta kneten und glatt ausrollen, um Ravioli zu machen, aber mit der Füllung könnte er schon heute Nacht beginnen.

Rafa ging zum Hauptflur zurück und schlich auf Zehenspitzen in die unterste Etage, über die Treppe neben dem Aufzug, den seine Familie benutzte. Sie führte fast direkt in die Küche. Doch einer seiner Agenten tauchte auf und glättete seinen Anzug.

„Wohin des Weges?“, fragte Brent. Er war groß und ein bisschen füllig, sein dunkles Haar begann zu ergrauen.

„Ich hole mir nur einen Snack. Wird nicht lange dauern.“

Brent nickte. „Danke für die Info, Rafa.“

Rafa setzte seinen Weg in die dämmrige Küche fort. Sie war zum Glück leer, und er atmete aus. Wären es Adriana oder ihr Bruder Matthew gewesen, wäre Brent wahrscheinlich mitgekommen, um sicherzugehen, dass keiner von beiden sich rausschlich. Sie hätten es nicht einmal über das Tor hinausschaffen können, aber schon draußen zu sein, ohne die Agenten zu informieren, war ein No-Go. Doch Rafa hatte ohnehin nie versucht, seinen Agenten zu entwischen. Sie machten nur ihren Job, und es gab keinen Grund, ihnen das Leben schwer zu machen.

Durch die tiefstehenden Lampen unter den Wandschränken fielen Schatten über die Tresen und die breite Kücheninsel. Rafa konnte gut genug sehen, um die Oberlichter aus zu lassen. Als er die Tür zum begehbaren Kühlschrank öffnete, begann sein Puls zu rasen. Sofort breitete sich eine Gänsehaut auf seinen nackten Armen aus, und das Licht über seinem Kopf ging automatisch an. Schnell überblickte er die Fächer und durchsuchte die Behälter nach dem, was er brauchte. Er war sicher, dass Magda Prosciutto dahaben würde, und hoffte, auch mit dem Ziegenkäse Glück zu haben. Es machte ihr nie etwas aus, wenn er sich ein paar Zutaten auslieh.

Okay, streng genommen war es stehlen, nicht ausleihen.

Seine Eltern bezahlten alles an Essen, was nur für die Familie und nicht für offizielle Anlässe oder Partys verbraucht wurde. Und Rafa wusste, dass die Zutaten, die er sich unter den Nagel riss, auf ihre Rechnung gingen.

Einmal hatte Chris seine Freunde vom College für eine Party dagehabt, als ihre Eltern nicht in der Stadt waren. Eines der wenigen Male, als er einen Anflug von Rebellion gezeigt hatte. Er hatte sich Unmengen Snacks aus der Küche bestellt, und ihre Eltern hatten ihn jeden einzelnen Penny zurückzahlen lassen.

Rafa würde den Prosciutto und Käse gerne selbst kaufen, aber das würde sicher Fragen aufwerfen. Er konnte nicht einfach bei ShopRite hereinschneien. Seine Agenten würden Bescheid wissen, und er wollte nicht, dass sie lügen mussten, wenn seine Mutter nachfragte. Außerdem wäre es ziemlich dumm, sie überhaupt darum zu bitten, für ihn zu lügen. Da war es einfacher, mit seiner aktuellen Situation zurechtzukommen.

Er nahm sich einen Kanten Ziegenkäse und ging in die Tiefkühlkammer. Zitternd ließ er die Tür offen, während er die Regale nach Prosciutto absuchte. „Komm schon, komm schon …“

Er ging das Wenige, was an Fleisch gelagert wurde, durch, in der Hoffnung, dass Magda etwas Notfall-Schinken dahatte. Die meisten Zutaten waren frisch, und es sah aus, als hätte er wenig Glück.

Das Brummen des Kühlerventilators wurde von klackenden Absätzen unterbrochen, bevor er hörte: „Liebling, solltest du nicht im Bett sein?“

Er sprang erschrocken auf und blinzelte in die leere Dunkelheit der Küche, während er den Ziegenkäse in eines der Regale fallen ließ. Der hohe Umriss seiner Mutter zeigte sich im Eingang des Kühlschranks, und Rafa zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich hole mir nur einen Snack.“

Er griff nach der nächstbesten Schachtel mit Eiscreme. Hatte sie Brent bestochen, ihn zu bespitzeln? Nicht, dass das die First Lady Camila Castillo nötig hätte – sie musste nur fragen. Die meisten Leute hatten zu viel Angst, ihr nicht sofort zu gehorchen.

„Gute Idee. Deine Rippen können etwas mehr Fett vertragen.“ Sie sagte es mit einem Lächeln, aber Rafa stieg die Schamesröte heiß ins Gesicht. Im College war er fast über 1,80 gewachsen. Obwohl er in den letzten Jahren Einiges an Muskeln zugelegt hatte, fühlte es sich immer noch an, als hätte er knubbelige Knie und Ellbogen. Er zog die Schultern an und schloss die Tür zur Tiefkühlkammer.

Er ging zu einer der vielen Besteckschubladen, um sich einen Löffel zu holen. Dabei spürte er den Blick seiner Mutter auf sich. Als er aufsah, bemerkte er, dass sie mit der Perlenkette an ihrem Hals spielte. Selbst in dem gedimmten Licht glänzte sie.

Seine Mutter trug einen perfekt glatten Bleistiftrock mit weißer Bluse, ihr schwarzes Haar war elegant hochgesteckt. Manchmal glaubte er, dass sie in einer hermetisch verschlossenen Röhre schlief, die nur erschaffen worden war, damit ihr Haar nicht zerzauste.

„Immer noch am Arbeiten, Mom? Solltest du nicht auch im Bett sein?“

Camila Castillo hatte viele Regeln. Eine davon war, sich immer angemessen für ihre aktuelle Aufgabe anzuziehen. Wenn sie arbeitete, war sie tadellos gekleidet, ganz gleich, wie spät oder früh es war.

„Touché. Aber ja, vor meiner nächsten Reise habe ich noch ein paar wichtige Arbeiten zu erledigen.“

„Warum lässt du nicht dein Personal ran? Wird das nicht dafür bezahlt?“

Sie lächelte, ihre geschminkten Lippen glänzten. „Manchmal muss man eine Sache selbst tun, wenn sie gut werden soll.“

Da er in letzter Zeit selbst Einiges falsch gemacht hatte, wechselte Rafa das Thema und fragte: „Wie geht es Tante Gabby?“

„Gut. Sie besucht gerade ihre Cousins.“

Seine Mutter hatte die Angewohnheit, über ihre Verwandten zu reden, als wären sie nur die Familie ihrer Schwester und ihres Bruders – und nicht ihre eigene.

„In Mexico City? Wie lange ist sie dort?“ Rafa drehte den Löffel in seiner Hand.

Seine Großeltern waren gestorben, bevor er alt genug gewesen war, um sie wirklich kennenzulernen, er hatte Tante Gabriella seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Zugegeben, er sah sie eh nicht oft. Sie war nie mit seinem Vater zurechtgekommen, und Rafa glaubte, seine Mutter hatte das Gefühl, ihre Familie sei einfach zu … ausländisch.

„Vielleicht könnte ich –“

„Liebling, du weißt, wie gefährlich es dort sein kann. Das ist keine gute Idee.“

„Aber ich war noch nie drüben. Es kann nicht so gefährlich sein. Ich meine, du hast dort gelebt, als du klein warst.“

Der volle Name seiner Mutter war Camila Castillo de Saucedo. Aber nachdem sein Vater seine Anwaltskanzlei aufgegeben hatte und vollzeitig in die Politik gegangen war, um für das Gouverneursamt in New Jersey zu kandidieren, hatte sie nicht länger an der Tradition ihres mexikanischen Namens festgehalten. Von Beginn an hießen Rafa und seine Geschwister genauso wie sein Vater: Castillo. Seine Eltern hatten hart gearbeitet und die weißesten, harmlosesten Hispanos aus ihnen gemacht, die man sich vorstellen konnte, um sich den Republikanern verkaufen zu können. Gleichzeitig warben sie um die Stimmen der Latinos – mit großem Erfolg. Rafa war sich immer noch nicht sicher, wie sie es geschafft hatten, aber nun waren sie hier.

„Außerdem hätte ich doch meine Agenten, Mom.“

Sie neigte den Kopf und sah ihn frustriert an. „Wir haben bereits darüber besprochen. Meine Eltern haben ihre Heimat hinter sich gelassen, um uns hier in Amerika ein neues Leben zu ermöglichen.“ Kurz hatte er Angst, dass sie in eine ihrer American-Dream-Reden abdriften könnte. „Warum sollte ich jemals zurück? Oder wollen, dass meine Kinder zurückgehen? Hier ist dein Zuhause. Das beste Land auf der Welt.“

Rafa nickte, bevor sie richtig loslegen konnte. „Okay, schon verstanden. Du hast recht. Wie immer.“ Er lächelte.

„Natürlich habe ich recht.“ Sie lachte leise und war dann für einen Moment still. „Weißt du, ich wollte dir eigentlich sagen, dass ich heute ein Gespräch mit deinen Agenten hatte.“

Rafas Herz setzte einen Schlag lang aus, obwohl er gar nichts falsch gemacht hatte. „Okay?“ Er grub seinen Löffel in den Karton und stopfte seinen Mund mit Minze-Schokoladen-Eis voll, um nicht sprechen zu müssen.

Sie verzog das Gesicht. „Bitte, Rafael, eine Schüssel. Lass uns zivilisiert sein, ja?“

Mit Mund voll Eiscreme murmelte er „Sorry“ und nahm eine Schüssel aus einem der Schränke. „Willst du auch was?“

„Nein, danke, Schatz.“ Sie tätschelte ihre schmale Taille. „Wie gesagt, wird es ab morgen einige Veränderungen mit deinen Agenten geben.“

Rafa verharrte mit dem Löffel über dem Karton. „Was für Veränderungen?“

„Fünf von deinen Agenten werden neu zugeteilt, und du wirst nur noch zwei Agenten auf einmal bei dir haben.“

„Wer genau wird neu zugeteilt?“

Seine Agenten, die 24 Stunden die Woche arbeiteten, hatten drei abwechselnde Schichten. Zwei Hauptagenten blieben in seiner Nähe, wenn er sich außerhalb des Weißen Hauses befand, und zumindest ein oder zwei weitere Agenten waren in Bereitschaft, je nachdem, wohin er ging und welche Gefahrenstufe vorlag.

„Das weiß ich nicht genau.“ Sie winkte es wie nebensächlich ab. Ihre lackierten Nägel spiegelten das Licht. „Es spielt auch keine Rolle, oder?“

Er schaufelte ein paar Brocken Eiscreme in die Schüssel. „Für mich tut es das. Ich kann mich von ihnen verabschieden, oder? Ich will mich von ihnen verabschieden.“

Sie seufzte. „Liebling, du weißt, dass deine Agenten jedes Jahr genau deswegen gewechselt werden. Wir dürfen uns nicht zu sehr an sie binden. Sonst können die Agenten nicht effektiv arbeiten. Wir alle werden ausgetauscht.“

Still stand Rafa seiner Mutter gegenüber, die ihn von der anderen Seite der Kücheninsel aus ansah. Er stopfte sich wieder den Mund voll, bevor er verächtlich schnauben konnte. Der Secret Service änderte jedes Jahr seine Teams, damit die Agenten sich nicht zu sehr an sie banden, aber niemand machte sich Illusionen, dass es Camila genauso ging. Sie erinnerte sich nur an deren Namen, wenn sie ihnen irgendwelche niederen Tätigkeiten auftrug, die eigentlich nicht ihrem Aufgabengebiet entsprachen.

Er konnte sich gut vorstellen, dass ihre Agenten froh waren, neu zugeteilt zu werden. Aber Rafas Agenten schienen ihn immer gemocht zu haben. Nicht, dass sie es gezeigt hätten, wenn dem nicht so wäre.

„Aber wir haben Juni, und die Wahlen sind im November. Im Januar werden wir weg sein. Warum jetzt noch die Teams ändern? Wir sind so gut wie durch.“

„Die besten Agenten werden für die Familien der Kandidaten gebraucht, besonders, weil bald die Wahlen sind. Livingston hat sechs Kinder, ganz von seinen Enkeln abgesehen. Offensichtlich müssen sie ihre Sicherheitsvorkehrungen hochschrauben. Wir alle wissen, dass er gewinnen wird, ob wir es wollen oder nicht.“

Camila Castillo schien nicht davon angetan zu sein. Rafa schob sich einen weiteren Löffel in den Mund, damit er nicht lächelte. Seine Mutter würde vor Schock ihre Perlenkette zerreißen, wenn sie wüsste, dass er ohne Bedenken den Demokraten Stephen Livingston anstelle des Republikaners Tom Margulies wählen würde, den sein Vater als sein Nachfolger bestimmt hatte. Das Land war reif für einen Regierungswechsel, auch wenn sich nicht wirklich etwas ändern würde mit einem Kongress und einem Senat, die dermaßen parteiisch waren. Rafa, der sein halbes Leben im Zentrum der amerikanischen Regierung verbracht hatte, fand es ziemlich deprimierend, wie wenig sich immer tat.

„Trotzdem will ich mich von meinen Agenten verabschieden.“ Ihn schmerzte der Gedanke, dass Joanna oder Stuart gehen könnten. „Ich gebe aber zu, dass es Sinn macht.“

Seine Mutter seufzte, ihre Stimme war ungewöhnlich traurig. „Ja, vermutlich. Wir werden bald weg vom Fenster sein.“

Wenn es möglich wäre, würde Rafas Mutter das Weiße Haus nur über ihre Leiche aufgeben. Mit Sicherheit würde der Geist von Abraham Lincoln ihre Gesellschaft bekommen. Rafa stellte sich bereits vor, wie seine Mutter durch die leeren Flure schwebte und die chinesischen Vasen der zukünftigen First Lady bekrittelte.

„Mom, wir hatten zwei Amtsperioden. Nicht gerade schäbig. Wäre es nicht schön, nun zum normalen Leben zurückzukehren?“ Es war mehr als seltsam, sich vorzustellen, wie seine Eltern wieder nach New Jersey zogen. „Du musst es doch vermissen? Ein bisschen zumindest?“, fragte er hoffnungsvoll. Er mochte nicht den Gedanken, dass sie unglücklich sein könnte.

Sie lächelte. „Ein bisschen.“

Er lehnte sich über die Kücheninsel, den Löffel mit Eiscreme in der Hand. „Komm schon. Ein Löffel wird nicht schaden.“

„Vermutlich nicht.“ Sie ging auf ihn zu und nahm den Löffel elegant entgegen. Nachdem sie geschluckt hatte, starrte sie auf das gebogene Metall. „Es wird alles nur so … unbedeutend sein. Ich …“ Sie stockte.

Rafa hielt den Atem an und flüsterte fast unhörbar: „Was?“ Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Mutter das letzte Mal nicht vollkommen sicher und auf den Punkt gewesen war.

„Es ist ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass die wichtigsten Tage deines Lebens vorbei sind.“ Sie hielt ihren Blick auf den Löffel gesenkt. „Dass du nie wieder etwas tun wirst, das sich ansatzweise damit vergleichen lässt.“

„Mom …“ Rafa wollte nach ihr greifen, aber als er sich bewegte, schnellte ihr Blick hoch. Sie lächelte, ihre Maske wieder aufgesetzt.

„Entschuldige diesen dummen Anfall. Hast du mit Ashleigh geredet? Wie gefällt ihr Paris?“ Sie gab ihm den Löffel zurück.

Er nahm ihn und spielte mit der schmelzenden Eiscreme in seiner Schüssel herum. „Gut. Sie liebt die Stadt.“

„Wird es nicht ein einsamer Sommer ohne sie?“

„Schon in Ordnung. Wir reden ja miteinander.“

„Sorg nur dafür, dass ihr in Verbindung bleibt, Rafa. Das ist eine entscheidende Phase in eurer Beziehung. Immerhin bist du in deinem letzten Semester auf der Universität. Du musst deine Zukunft planen. Wir müssen bald darüber reden, wo du deine Karriere im neuen Jahr beginnen willst. Dein Vater und ich haben schon ein paar Ideen. Warum erzählst du mir nicht mehr über das, was du bei deinem Seminar gelernt hast? Wir haben noch nicht richtig darüber geredet.“

„Ich hab dir doch gesagt, dass es gut war.“

Sie hob eine filigran gezeichnete Augenbraue. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

Was er sagen wollte, war: Eigentlich habe ich jede Minute gehasst. Ich will kein Young Leader sein oder Kontakte knüpfen und lächeln und so tun, als würde ich mich für verdammte Politik oder die Republikanische Partei interessieren. Aber es gab Studienpunkte dafür, als habe ich mir den Arsch aufgerissen, um meinen Abschluss früher zu schaffen.

Er zuckte mit den Schultern. „Es war ganz interessant. Hat mir geholfen, über die Zukunft nachzudenken.“ Insofern, dass es seinen Entschluss gefestigt hatte, weit, weit weg von Politik und der Geschäftswelt zu bleiben.

„Hast du ein paar gute Kontakte knüpfen können? Du weißt, dass du nicht nur das Vitamin B deines Vaters nutzen kannst. Du musst dir selbst einen Namen machen. So, wie Christian es getan hat.“

„Äh, ja.“ Rafa kaute auf dem süßen Minzebrei herum, sein Magen zog sich zusammen. Er wusste, er musste seinen Eltern so bald wie möglich die Wahrheit sagen. Aber noch hatte er ein bisschen Zeit.

„Und eine reizende junge Dame wie Ashleigh wird nicht ewig darauf warten, eine Familie zu gründen. Betrachte sie nicht als selbstverständlich, Schatz.“

„Werde ich nicht. Versprochen.“

Er und Ash hatten bereits ihre Trennung für die Zeit nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten geplant. Sie waren in die Sommerschule gegangen und hatten alle möglichen Studienpunkte belegt, damit sie ihre Vorlesungen im Dezember beenden konnten. Im Januar würden sie sich beide vor ihren Eltern outen, und mit etwas Glück würde Rafa danach auf der anderen Seite des Planeten sein – ohne Agenten, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgten. Seine Eltern würden den Rest ihres Lebens mit Sicherheitskräften verbringen, doch er würde endlich frei sein. Der Gedanke an seinen geheimen Plan brachte seinen Puls zum Rasen.

Nicht mehr lange.

„Sie ist es wert, Rafael. Lass sie nicht gehen. Und tu nichts, was du bereuen würdest.“

Rafa starrte auf seine Schüssel. Der Blick seiner Mutter wog unerträglich schwer. Er war immer so gewissenhaft damit, selbst die kleinsten Anzeichen von dem, der er wirklich war, zu verbergen. Oder? Hier, in den Schatten, hatte er das untrügliche Gefühl, dass seine Mutter direkt in sein Herz schauen konnte. Und sagte sie ihm, dass er bedeckt bleiben sollte? Oder ging die Fantasie mit ihm durch?

„So, wir sollten schlafen gehen, nicht?“ Sie gab ein leises Lachen von sich. „Ich weiß, ich weiß, du bist kein Baby mehr.“

Rafa wusch die Schüssel und den Löffel in einem der Spülbecken ab. „Ich komme gleich, Mom.“ Er musste noch den Ziegenkäse aus der Tiefkühlkammer holen.

Als ob sie seine Gedanken wie einen Newsticker lesen könnte, sagte sie: „Liebling, du hast doch nicht vor, die Diet Kitchen wieder für deine kleinen … Experimente zu benutzen, oder?“

Er zuckte mit den Schultern und spülte die längst saubere Schüssel weiter ab. „Ich mache vielleicht ein paar Sachen. Nur zum Spaß.“

„Das haben wir doch besprochen. Du solltest deine Zeit lieber mit gewinnbringenden Tätigkeiten verbringen. Ich möchte, dass du diesen Sommer eine größere Rolle in der Stiftung spielst.“

„Ja, ja.“ Die Stiftung seiner Mutter leistete gute Arbeit, und solange er keine öffentlichen Reden halten musste, half er gerne aus. „Mach ich.“ Er stellte endlich die Schüssel ab, drehte den Wasserhahn zu und klatschte ein Lächeln auf sein Gesicht, ehe er sich umdrehte. „Es ist nur ein Hobby.“

„Ich wünschte, deine Schwester würde sich genauso fürs Kochen interessieren. Ihr armer zukünftiger Ehemann!“ Seine Mutter lachte kehlig. „Aber im Ernst, es ist nicht fair, Schatz, dass du auch noch die andere Küche verschmutzt. Das Putzpersonal hat schon so genug zu tun.“

Als ob du einen Scheiß auf die Belastung deines Personals gibst.

„Ich mache immer hinter mir sauber.“

Das Lächeln seiner Mutter verblasste. „Du weißt, dein Vater und ich denken, dass es keine angemessene Nutzung deiner Zeit ist. Morgen werden wir deine neuen Pflichten für die Stiftung durchgehen. Ich denke, es ist ziemlich aufregend, was wir für dich geplant haben. Okay?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Ausgezeichnet. Jetzt lass uns schlafen gehen.“

Es hatte keinen Sinn, zu diskutieren. Obwohl Camila Castillo von Hunderten männlichen Köchen bedient worden war, war Kochen kein passendes Interesse für ihren Sohn. Punkt.

Rafa ließ bedauernd den Käse in der Tiefkühlkammer zurück und folgte ihr aus der Küche in den Flur. Das Klacken ihrer High Heels auf dem polierten Boden war das einzige Geräusch. Als sie die Treppe hinaufrauschte, schnitt Brent eine mitfühlende Grimasse. Rafa warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu.

Sie kamen auf der zweiten Etage an. Seine Mutter drückte ihm einen Kuss auf die Wange, der zweifellos einen roten Fleck von ihrem glänzenden Lippenstift zurücklassen würde.

„Schlaf gut. Das ist dein letzter Sommer in Washington, und wir werden ihn unvergesslich machen. Steh früh auf, ja? Wundervoll.“

Ihren Kopf erhoben und ihren Rücken durchgestreckt wie eine Ballerina, ging sie bereits zu ihrem Schlafzimmer, als er antwortete: „Okay.“

Sein letzter Sommer in Washington.

Nach mehr als sieben Jahren war die Freiheit so nah, er glaubte fast, den Sonnenschein ferner Länder schon jetzt auf seinem Gesicht zu spüren. Nächstes Jahr würde er tausend Meilen weit weg sein, in Australien, wo er kochen lernen und endlich Männer daten würde. Der Gedanke, dass er tatsächlich Sex haben könnte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken, gefolgt von einem schmerzlichen Ziehen. Die Sehnsucht strömte ihm aus jeder Pore.

Rafa tat einen tiefen Atemzug. Bald.

Bis dahin musste er nur den Ball flachhalten. Sieben Jahre durchgestanden, und noch sieben Monate als Sohn des Präsidenten.

Das war doch ein Klacks.

Kapitel Zwei

„Oooh, ist es der heiße Typ?“

Shane ignorierte Darnell, stieg in seine engen Boxershorts und schaltete seinen elektrischen Rasierer an. Natürlich musste der eine hartnäckige kleine Pest sein. Nackt, wie Darnell war, stieß er sich vom Bett ab und lehnte sich gegen den Türrahmen des Badezimmers.

Über 1,90 groß, war er ein einziges Muskelpaket und konnte einen Blick aufsetzen, der schon mehr als einem Verdächtigen im Verhörraum ein Geständnis entlockt hatte. Er war der jüngste Kriminalbeamte in der Truppe, der afroamerikanischer Herkunft war, und hatte sich eine harte, äußerst wirksame Persona für seine Arbeit erschaffen. Aber jetzt, um fünf Uhr in Shanes winzigem Badezimmer, war er absolut im Tratsch-Modus.

„Okay, ich werte dein Schweigen als ein Nein. Oh, oh, ist es dieser Athlet? Der Schwimmer aus Berkeley? Matthew? Er ist zum Anbeißen. Hast du letztes Jahr bei den Olympischen Spielen seine Muckis gesehen? Mjam!“ Darnell bedachte den Rasierer mit einem finsteren Blick. „Schade, dass Schlafzimmer-Looks nicht erlaubt sind. Steht dir eigentlich gut.“ Er grinste. „Ich weiß noch genau, wie sich dein Bart in meinem Allerwertesten angefühlt hat. Shane Kendricks, die Dinge, die du mit deinem Mund anstellen kannst …“

Shane zog einen Mundwinkel hoch. „Sorry, die Ferien sind vorbei.“ Er hob sein Kinn und rasierte seinen Hals. Seit sich sein dunkles Haar neuerdings lichtete, hielt er es kurz geschnitten. Nicht kahlrasiert, aber nah dran. Er mochte es, mit seiner Gesichtsbehaarung ein wenig Ausgleich zu schaffen, aber das konnte er sich nur erlauben, wenn er freihatte. Das war mitunter das Beste an der letzten Woche gewesen, die zur Entspannung gedacht war, bevor er sich in seinen neuen Job stürzte. Als ob er bei dem Gedanken, bald in einem anderen Team zu arbeiten, entspannen könnte. Er platzte fast vor Adrenalin, atmete nervös aus.

„Und?“

„Und was?“

Darnell hob die Augenbrauen. „Ist es nun der Schwimmer oder nicht?“

„Nein.“

„Oh. Also der andere.“ Darnell blies hörbar die Luft aus und winkte ab. „Was war noch mal sein Name … Bohnenstange oder so.“

„Rafael.“ Shane drehte den Kopf, achtete darauf, jedes Haar auf seiner Wange zu erwischen. Er ratterte die Info, die er bei seiner Einweisung bekommen hatte, herunter. „Einundzwanzig Jahre alt. Hat gerade sein drittes Jahr an der Virginia-Universität abgeschlossen. Sein Hauptfach sind Amerikanische Studien – was zur Hölle das auch immer ist. Freundin ist Ashleigh Hastings, Tochter eines verdammt reichen Zahnarztes aus South Carolina. Blond und dralle Titten. Zurzeit in Paris. Rafael verbringt seine meiste Zeit im Studentenwohnheim und arbeitet für die Uni. Diesen Sommer hilft er ehrenamtlich für die Stiftung seiner Mutter aus – die Castillo Healthy Children’s Council.“

Darnell quetschte sich an ihm vorbei, um in die Toilette zu pinkeln. „Klingt, als würde das ein Heidenspaß werden.“

„Und wie.“

Aber es war ein wichtiger Schritt nach oben. Das Kind eines Präsidenten zu beschützen, hieß, den Agenten des Präsidenten selbst näherzukommen. Er hatte all seine Pflichten getan, indem er auf Außenstellen gearbeitet und eine Dienstperiode im ländlichen Montana verbracht hatte. Letztes Jahr in Washington hatte er Senatoren und kirchliche Würdenträger, die auf Besuch waren, beschützt. Jetzt war er bereit für das Weiße Haus. Wenn das hieß, ein langweiliges Kind zu überwachen, war es ihm das wert.

Darnell schubste ihn am Waschbecken zur Seite und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er klapste Shane auf den Hintern und griff nach einem Handtuch. „Danke für den Fick. War genau das, was ich letzte Nacht gebraucht habe.“

„Ich auch.“ Shane grinste ihn im Spiegel an. „Ich hoffe, du bist nicht allzu wund?“

„Doch, aber fühlt sich gut an. Kriegst du alles beim nächsten Mal wieder. Dann werde ich dir zur Abwechslung den schneeweißen Arsch versohlen.“ Darnell grinste zurück, bevor er sich zum Gehen wandte. „Hey, kommst du am Wochenende vorbei, um das Orioles-Spiel anzuschauen?“

„Ich muss erst sehen, wie mein Arbeitsplan ist. Von jetzt an werde ich viel öfter in Bereitschaft sein. Außerdem ist dir klar, dass noch nicht Juli ist? Gerade sind die Orioles topfit, aber es ist ein bisschen früh zum Feiern.“

„Und da haben wir sie wieder. Deine lebensfreudige, optimistische Art, mit der du dir so viele Freunde machst und noch mehr Menschen beeindruckst.“

„Das sagt genau der Richtige, Kommissar Oberarsch.“

„Aber mein Arsch ist süß und saftig, wie du weißt. Hab einen guten ersten Tag, Mann. Weißt du, ich erinnere mich noch genau, wie ich dich das erste Mal getroffen habe. Du hast trainiert. Und du hast mir gesagt, dass du eines Tages den Präsidenten beschützen wirst. Ich weiß, du bist noch nicht ganz da, aber du hast verdammt hart hierfür gearbeitet. Versuch, es zu genießen, okay?“

„Wie du meinst. Es ist Arbeit.“ Shane zuckte mit den Schultern.

Darnell rollte mit den Augen. „Mag sein, aber du hast dir echt den Hintern abgearbeitet. Also gebührt dir auch Anerkennung. Die darfst du haben, weißt du? Du könntest sogar stolz auf dich sein oder so.“ Er zögerte. „Ich weiß, dass du nicht gerne darüber redest, aber sie wären sehr stolz auf dich.“

Shane konzentrierte sich auf sein Kinn, während er den Rasierer darüber zog. Er schluckte schwer. „Danke.“

Darnell drückte Shanes Schulter. Als er nun sprach, war seine Stimme wieder fest. „Und Alter, du rockst das Fitnessstudio härter denn je. Siehst knackig aus, mein Freund.“

„Danke.“ Shane schob den Gedanken an seine Eltern beiseite. Es brachte ihm nichts, wenn er sentimental wurde. „Ich verzichte auf möglichst viele Kohlehydrate.“ Er war nicht wirklich dick gewesen, hatte aber trotzdem das Training angezogen. Und musste zugeben, dass er stolz auf die neuen Rillen in seinem Sixpack war.

„Ich wünschte, ich könnte das auch tun. Aber du weißt ja, wie sehr ich meine Pasta liebe.“

„Zum Glück kannst du ein ganzes Buffet verschlingen und immer noch wie die Königin des Fitnessstudios aussehen.“ Er murmelte: „Arschloch.“

Darnell lächelte ihn mit leuchtend weißen Zähnen an. „Haters gonna hate. Oder was immer die Kiddies heute sagen.“

„Fang ein paar böse Jungs. Du solltest eine ziemlich gute Auswahl in Washington haben.“

Als Darnell ein paar Minuten später die Haustür hinter sich schloss, rief er: „Los, Orioles!“

Shane lachte leise in die Stille. Der gute alte Darnell.

Er war ein toller Freund, und gelegentlich ein guter Fick. Es war nie mehr als das gewesen und würde es auch nie sein, und genauso wollten sie es haben. Sie gingen auf die Vierzig zu und waren auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren. Jetzt aus ihrer Freundschaft mehr zu machen, würde alles zunichtemachen. Wahrscheinlich würden sie sich nach einer Woche schon gegenseitig umbringen wollen.

Unwillkürlich hörte Shane die Stimme seiner Mutter in sich, wie aus weiter Ferne. An dem Tag, als Darnell ihn und seine Eltern, die auf Besuch waren, aus Monticello gefahren hatte, sagte sie: „Warum nur Freunde bleiben? Er ist so attraktiv und intelligent. Und er hat auch einen guten Job. Worauf wartest du, Shane? Auf Weihnachten?“

Das war einige Jahre her, und seitdem hatte er nie jemanden getroffen, neben dem er jeden Tag aufwachen wollte.

Shane ging ins Schlafzimmer und bemerkte, dass Darnell ihm etwas aufs Bett gelegt hatte. Er lachte laut auf, als er das gebundene Buch aufhob. Es war, als würde es ein Druckventil in ihm öffnen. Ein gelber Notizzettel klebte auf der Vorderseite.

Experten-Tipp: Kein Furzen oder Rülpsen. Und bohr auch nicht in deiner Nase.

Der Titel des Buches war United States Protocol: Der Leitfaden für taktvolle Netiquette, laut Klappentext „Der perfekte Leitfaden für jedes öffentliche Event“. Shane atmete tief ein, als ihm seine blöden Nerven wieder durchzugehen drohten. Er würde tatsächlich im Weißen Haus arbeiten.

Und nicht nur mit einem festen Posten vor Ort, als Wachmann für Gelegenheiten wie State Dinners. Er würde, metaphorisch gesprochen, mitten im Schloss des Königs sein. Sogar der Krone unterstehen – der Familie des Präsidenten. Auch wenn das Team von Rafael Castillo wohl todlangweilig war, das war es wert.

Er sah auf seine Uhr und nahm schnell seinen Anzug aus dem Schrank. Nachdem er die Gurte des Pistolenhalfters festgezurrt hatte, schloss er die Metallbox auf, in der er seine Sig Sauer aufbewahrte, und prüfte die Waffe kurz auf ihre Funktionen. Danach brachte er seine Dienstmarke an seinem Gürtel an, zusammen mit seinen Handschellen.

Der Geruch von Kaffee strömte ihm aus der Küche entgegen, und er ging sich eine Tasse einschenken. Während er eilig Rührei mit Putenschinken zubereitete, warf er den Fernseher an, um sich abzulenken. Das Apartment hatte er komplett möbliert bekommen, gemeinsam mit dem riesigen Wandfernseher, wegen dem er letztendlich zugeschlagen hatte. Sonst hingen Landschaftsbilder an den Wänden, wie sie für Hotels typisch waren.

Nicht wirklich Shanes Geschmack, aber er war sich auch nicht sicher, was sein Geschmack war. Es gab keinen Grund, großartig zu dekorieren oder Wurzeln zu schlagen, wenn er jederzeit versetzt werden konnte. Er kaute auf einer Gabelladung Ei herum, während sein Blick zu der einzigen Dekoration wanderte, die von ihm war. Sie stand auf dem Beistelltisch neben der geblümten Couch.

Der Rahmen war silbern, und als Shane ihn hob und mit den Fingerspitzen über die Kanten strich, sah er, dass er poliert werden musste. Es war ein Foto von seinem College-Abschluss. Er stand zwischen seinen Eltern, größer als sie beide. Besonders seine Mutter, die ihm nur bis an die Schultern reichte. Sie hatte sich den schwarzen Doktorhut von seinem Kopf geschnappt und ihn sich selbst aufgesetzt. Die gelbe Quaste hing ihr ins Gesicht. Sie alle drei lachten. Shanes Vater trug einen neuen Anzug, den er nur für diesen Anlass gekauft hatte, obwohl Shane ihm versichert hatte, dass es keine große Sache sei.

„Blödsinn. Es ist der Abschluss meines einzigen Kindes. Größer könnte eine Sache für mich nicht sein, mein Junge.“

Sein Frühstück schmeckte plötzlich wie Schlamm, als er den Rahmen von sich weggedrehte und auf den Tisch stellte. Sechs Jahre war es schon her, auch wenn es sich manchmal wie eine Ewigkeit anfühlte. Es gab Tage, da traf ihn die Erkenntnis so hart wie eine Wagenladung Ziegelsteine. Fahrig rieb er seine stechenden Augen. Wenn ich da gewesen wäre …

Nein. Das war verdammt noch mal nicht der Tag dafür. Es war der Tag, an dem er seine neue Stelle anfing. Der Tag, an dem er sein Bestes geben würde.

Und sein Bestes war nicht … das.

Eine rote Schlagzeile leuchtete während den Nachrichten von CNN auf und schrie ihn an, dass Leben und Freiheit der Vereinigten Staaten durch einen nahenden Sturm bedroht seien. Shane stand im Eingang der geräumigen Küche und betrachtete die verkniffenen Gesichter der Nachrichtensprecher. Er machte sich nicht die Mühe, den Ton anzuschalten.

Auch ohne GPS ging die Fahrt zum Hauptquartier in der H Street schnell. Zum Glück war der frühe Morgen die einzige Zeit in Washington, zu der der Verkehr kein absoluter Albtraum war.

Nachdem er durch die Sicherheitskontrolle gegangen war, fuhr er seinen silbernen Yukon in die Garage unter dem Gebäude. Er lächelte, als er Alan Pearce erblickte, wie er gegen seinen schwarzen Chevrolet lehnte. Die meisten der Firmenwagen waren Chevrolets oder Sedans, mit einigen Limos zusammengewürfelt. Alle schwarz, natürlich.

Nachdem Shane geparkt und sich zu ihm gesellt hatte, breitete Alan grinsend die Arme aus. „Bereit für die große Show, Agent Kendrick? Okay, es ist mehr eine Vorrunde, aber immerhin. Tut verdammt gut, dich zu sehen.“ Alan streckte die Hand aus, zog Shane in eine Umarmung und klopfte ihm auf die Schulter. „Sieht aus, als würdest du schon wieder mit mir festsitzen. Wir können unsere Glanzzeiten vom Außendienst im Albany-Gebirge wiederholen.“

Shane trat einen Schritt zurück und musterte ihn von oben bis unten. Übertrieben ausgiebig. „Wie lange ist es her? Du siehst alt aus.“

Scheiße. Gerade als der Witz seinen Mund verlassen hatte, erkannte er, dass er Alan zum letzten Mal bei Jessicas Beerdigung gesehen hatte.

Aber Alan lachte nur. „Ja, fick dich auch. Ich bin einundvierzig, und wenn ich mich richtig entsinne, liegst du nicht weit hinter mir.“

Alan sah tatsächlich verdammt heiß aus mit den grauen Strähnen, die ihm aus seinem straßenköterblonden Haar auf die Schläfen fielen. Seine grünen Augen leuchteten immer noch, und sein Grinsen hatte etwas Jugendliches behalten. Mit der schlaksigen Figur füllte er seinen dunklen Anzug gut aus. Keine Frage, wenn Alan schwul wäre, hätte Shane seinen Arsch schon vor Jahren vernascht.

Soll ich fragen? Ist es unhöflich, nicht zu fragen? Oder eher, zu fragen?

„Wie geht es Jules und Dylan?“

Alans Lächeln wurde schmaler, er ließ eine Schulter kreisen. „Ganz gut. Wir tun unser Bestes. Ein Fuß vor den anderen und so.“ Er schob die Hände in seine Hosentaschen und presste die Lippen zusammen. „Aber es ist hart. Besonders jetzt, wo Dylan diagnostiziert wurde.“

Verfluchte Kacke.

Das Leben verstand es eben, bestimmten Menschen immer und immer wieder in die Eier zu treten. Seine Eltern zu verlieren, war härter gewesen, als Shane je gedacht hätte, aber es war immer noch der Lauf der Dinge. Er konnte nur erahnen, wie es sich für Alan anfühlte, seine Tochter zu verlieren – und nun vielleicht auch seinen Sohn.

„Gott, das tut mir leid. Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“

„Nein, aber danke. Es ist genetisch.“ Er lachte rau. „Meine Gene, um genau zu sein. Ich musste diese Scheißkrankheit weitergeben, aber mir selbst geht es gut. Ich werde nur meine eigenen Kinder töten. War wohl besser so, dass Jules und ich nur zwei hatten.“

„Scheiße, und die Ärzte können nichts machen?“

Alan bohrte mit der Spitze seines Lederschuhs im Betonboden der Garage herum. „Es gibt da eine alternative Therapie. Schwedischer Arzt. Wir sparen dafür.“

Shane hatte niemals Kinder gehabt und nie wirklich über sie nachgedacht. Aber er hatte Jessica getroffen, als sie ein Baby gewesen war. Sie hatte seinen Finger gepackt und ein schiefes, kleines Grinsen gezeigt. Sein Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, dass dieses Lächeln nun fort war. Er konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, wie es war, das eigene Kind zu verlieren. Es dahinsiechen sehen zu müssen.

„Wenn ich helfen kann, gib Bescheid.“

Er konnte kein klares Bild von Dylan in sich heraufbeschwören, aber der Kleine müsste jetzt um die sieben Jahre alt sein. Shane konnte sich nicht an den Namen der seltenen Krankheit, die ihn plagte, erinnern, aber er würde sicher nicht danach fragen.

„Danke. Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken. Sonst fällt es mir schwerer, aus dem Bett zu kommen. Wenn es dir also nichts ausmacht, würde ich mich lieber auf den Job konzentrieren. Oder über Sport reden. Oder sogar Politik. So ziemlich alles andere.“

„Klar.“

Alan warf ihm die Schlüssel mit einem Lächeln zu. „Los geht’s. Showtime!“

Am südwestlichen Tor des Weißen Hauses angelangt, kam die Sonne gerade hinter dem Ostflügel hervor. Ein Officer der Uniformed Division trat aus dem Wachhaus. Dieses Tor war für alle, die bereits eine Genehmigung hatten, trotzdem musste das Auto noch untersucht werden. Shane kurbelte sein Fenster herunter, übergab ihre Ausweise und wartete, während ein Spürhund eifrig schnüffelnd seiner Aufgabe nachging.

„Ihr seid die neuen Wachmänner fürs Valor-Team, ja?“, fragte der Officer. Mit seinem pickeligen Kinn sah er um die sechzehn Jahre alt aus, obwohl er mindestens einundzwanzig für den Secret Service sein musste. Nur Officer konnten lediglich die Highschool abgeschlossen haben und hatten die Tendenz, jünger zu sein.

Trotz der Beleidigung behielt Shane seinen Ton bei. „Jepp.“

Der schnellste Weg, einen Agenten anzupissen, war, ihn als „Wachmann“ zu bezeichnen. Shane hatte gehört, dass es einige Spannungen in der Uniformed Division gab, aber er konnte anderen ihren Neid nicht verübeln. Sie waren kleine Fische in einem großen Teich.

„Die graue Maus wird euch keinen Ärger machen. Die Leute hier sagen, dass er sogar braver sei, als Chelsea Clinton es jemals war.“ Der Officer gähnte und schaute ins Wachhaus zu seinen Leuten. Diese sahen ihre Beglaubigungsschreiben durch, während der Hund seine Arbeit tat.

Shane beobachtete das Tier im Seitenspiegel.

Es ähnelte einem deutschen Schäferhund, war aber ein … Sein Kopf drehte sich. Heilige Scheiße, wie nennt man das noch mal? Er zermarterte sich sein Hirn, das erschreckend leer war.

Er wusste das. Er wusste das einfach. Ohne Zweifel! Er hatte es seit Jahren gewusst.

Als es ihm endlich kam, musste er den Drang unterdrücken, zu rufen: A-ha!

Es war ein Belgischer Malinois. Eine Rasse, bei der der Secret Service festgestellt hatte, dass sie zu den besten Spür- und Kampfhunden gehörten.

Mann, dieses Flattern in seinem Bauch war völlig bescheuert. Seit dem Training war er nicht so nervös gewesen. Alan neben ihm wirkte ganz ruhig. Er war längst Teil der „kleinen Show“, wie er das Team des Vizepräsidenten genannt hatte. Das hier war wohl ein alter Hut für ihn.

Der Hund beendete seine Inspektion, und der Wachmann zog einen Ball aus seiner Tasche. „Jetzt darf er ein wenig spielen“. Er gab ihnen ihre Ausweise zurück und klopfte auf das Dach des Chevrolets. „Habt Spaß da drinnen.“

Das Tor schloss sich hinter ihnen, und Shane parkte auf dem Platz, dessen Nummer ihnen zugewiesen worden war. Er und Alan liefen um den Westflügel, bevor sie durch den Palmen-Raum in die Unterkünfte gingen. Sie betraten den Hauptflur der ersten Etage, die eigentlich als Keller behandelt wurde, da die Unterkünfte höher lagen.

Der dicke, orange Teppich schluckte die Geräusche ihrer Lederschuhe, während sie unter dem gewölbten Dach hindurchgingen. Alle paar Meter hing ein schlichter Kronleuchter. Büsten aus Marmor standen überall Wache.

Shane vibrierte fast, so geladen war er mit Energie. Er würde regelmäßig im Weißen Haus arbeiten. Im September würde Rafael Castillo zwar wieder auf der Schule in Virginia sein, aber im Sommer würde Shane die Chance bekommen, im Herzen des präsidentiellen Heims zu sein.

Sie passierten die Küche zu ihrer Linken, und Shanes Puls wurde schneller, als sie die Tür zur Kommandozentrale des Secret Service erreichten.

„Komm, lass uns unseren neuen Boss treffen.“ Alan ging voraus.

Im Büro angekommen, sahen sie sich einer kleinen, asiatischen Frau gegenüber, die ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie stand auf und streckte ihre Hand aus. „Kendrick – schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Sandra Nguyen, SAIC. Ich hoffe, die Wachleute haben euch nicht zu sehr belästigt? Sie können recht dreist zu neuen Agenten sein.“

„Nein“, antwortete Shane. „Alles gut.“

Er hoffte, dass Sandra als führende Spezialagentin so anspruchsvoll und fair war, wie man es ihr nachsage. Es hatte Jahre gedauert, bis der Club der alten weißen Männer endlich mehr Diversität gewichen war.

Sie stellte ihn einigen anderen Agenten vor, welche die Geräte und Fernsehwände mit den Übertragungen der Sicherheitskameras besetzten. Nachdem sie die Protokolle durchgegangen war, gab sie Shane und Alan ihre Hörkapseln, Mikrofone und Funksender zur Befestigung an ihren Gürteln. Ein Kabel verband Hörer und Sender unter ihren Anzügen.

Als sie alles eingerichtet hatten, trat ein älterer Agent ein und stellte sich als Brent Harris vor. „Ich bleibe als der neue Anführer vom Valor-Team. Wenn Sie Fragen haben, nur heraus damit. Und gut, Sie in einem Stück wiederzusehen, Pearce.“

„Danke“, sagte Alan. „Gibt es etwas, worauf wir achten müssen? Hat Valor seit Neustem irgendwelche Tricks drauf?“

Einer der Agenten an den Überwachungsgeräten kicherte, und Brent antwortete: „Ganz und gar nicht. Der Junge ist eine verdammte Maus. Virtue und Velocity sind die Einzigen, auf die wir achten müssen. Aber sie kommen nur noch ein paar Mal im Jahr nach Washington, also nicht unser Problem.“

Shane ging die Liste in seinem Kopf durch. Virtue war Adriana Castillo. Fünfundzwanzig Jahre alt. Nach dem College war sie gereist und hatte international irgendwelche „Praktika“ bei PR-Firmen belegt. Sie führte nun eine Firma in Los Angeles, die mit Filmstars arbeitete. Ein echtes Partyhäschen.

Velocity war Matthew Castillo. Dreiundzwanzig, Star-Schwimmer an der Uni von Kalifornien. Fast wäre er für seinen Freestyle und seine Kraul-Technik ins Team für die Olympischen Spiele gekommen. Blieb in Kalifornien, um nach seinem Abschluss zu trainieren. Mitglied des nationalen Schwimmerteams.

„Was ist mit Vacation?“, fragte Shane.

Christian Castillo – siebenundzwanzig, Anwalt in New York, verheiratet mit einer langbeinigen Blondine, die als Model und Schauspielerin arbeitete. Einer der Männer, welche die People letztes Jahr zu ihren Sexiest Men Alive gekürt hatte. Und Shane konnte es nicht bestreiten.

„Ist er auch nicht oft hier?“

„Nein. War er noch nie, und er hat auch nie Probleme gemacht“, antwortete Sandra. „Er ist das Goldkind von Vagabond und Venus.“

Vagabond war der Präsident und Venus die First Lady.

„Was ist mit Valor?“, fragte Shane. „Wie ist seine Beziehung zu ihm?“

Sandra und Harris tauschten einen Blick miteinander aus.

„Er ist ein wirklich guter Junge“, sagte Harris. „Schüchtern. Verdammt verletzlich. Tut nie etwas Falsches und sagt nicht viel. Vagabond scheint ihm nicht viel Beachtung zu schenken, und Venus war immer mit ihren anderen Kindern beschäftigt. Aber nun, da es aussieht, als hätte Virtue ihre Party-Tage hinter sich gelassen und würde nicht mehr wegen Kokain-Missbrauchs verhaftet werden, wendet Venus sich mehr ihrem Jüngsten zu.“

„Eigentlich klingt das, als wäre sie ganz angenehm. Stimmen denn die Geschichten?“, fragte Alan.

Die Agenten im Raum machten zustimmende Geräusche, inklusive Sandra, die seufzte. „Ehrlich gesagt kann sie eine ziemliche Bitch sein. Sie behandelt dich wie eine Hilfskraft und dankt dir nicht für den kleinsten Scheiß. Aber sie ist fair, das muss ich ihr lassen. Sie mag nicht Danke sagen, aber sie lässt dich nicht grundlos buckeln. Und wenn ihre Agenten sagen, dass sie zu weit geht, hört sie zu. Sie ist eine ziemlich intelligente Frau, und sie macht niemandem das Leben schwer, nur weil sie es kann. Aber Freundlichkeit ist nicht gerade ihre Stärke.“

„Sie gehört zu diesen Menschen, die immer auf Draht sind“, sagte Brent. „Weißt du, was ich meine? Ihre Leibwachen haben nie Ruhe. Vielleicht oben in den Familiengemächern, doch wenn man ihren Untergebenen Glauben schenken darf, nicht mal dort.“

„Alles klar.“ Shane nickte.

„Valor schleicht sich nachts höchstens in die Küche“, sagte Brent. „Aber er wird Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten. Wenn seine Eltern weg sind, verwüstet er immer die Diet Kitchen auf der dritten Etage, aber er muss die Zutaten aus der Hauptküche holen. Das Personal soll Venus informieren, wenn er es tut, aber alle decken ihn.“

Shane runzelte die Stirn. „Warum darf er denn nicht kochen?“

Sandra rollte mit den Augen. „Wer weiß? Seiner Position nicht würdig? Nicht machomäßig genug? Er hat sich immer dafür interessiert, aber seine Mutter versucht, es ihm auszutreiben, seit er ein Kind ist.“

„Wovor hat sie Angst? Er ist nicht schwul, oder?“, fragte Alan.

Er warf einen Seitenblick auf Shane. Der erwartete fast, dass Alan hinzufügen würde: Nicht, dass daran etwas falsch sei. Solange Shane keine Regenbogenflaggen schwenkte, hatte er nie Probleme mit Agenten wie Alan gehabt, die über seine sexuelle Neigung Bescheid wussten.